C-431/12 - Rafinaria Steaua Romana

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URTEIL DES GERICHTSHOFS (Zehnte Kammer)

24. Oktober 2013(*)

„Steuerwesen – Mehrwertsteuer – Erstattung des Mehrwertsteuerüberschusses durch Verrechnung – Aufhebung der Verrechnungsbescheide – Verpflichtung zur Zahlung von Verzugszinsen an den Steuerpflichtigen“

In der Rechtssache C‑431/12

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht von der Înalta Curte de Casaţie şi Justiţie (Rumänien) mit Entscheidung vom 21. Juni 2012, beim Gerichtshof eingegangen am 24. September 2012, in dem Verfahren

Agenţia Naţională de Administrare Fiscală

gegen

SC Rafinăria Steaua Română SA

erlässt

DER GERICHTSHOF (Zehnte Kammer)

unter Mitwirkung des Präsidenten der Zehnten Kammer E. Juhász in Wahrnehmung der Aufgaben des Kammerpräsidenten sowie der Richter A. Rosas und C. Vajda (Berichterstatter),

Generalanwältin: J. Kokott,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

–        der SC Rafinăria Steaua Română SA, vertreten durch D. Dascălu, avocat,

–        der rumänischen Regierung, vertreten durch R. H. Radu, E. Gane und A.‑L. Crişan als Bevollmächtigte,

–        der Europäischen Kommission, vertreten durch L. Keppenne und L. Lozano Palacios als Bevollmächtigte,

aufgrund des nach Anhörung der Generalanwältin ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,

folgendes

Urteil

1        Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 183 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. L 347, S. 1, im Folgenden: Mehrwertsteuerrichtlinie).

2        Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Agenţia Naţională de Administrare Fiscală (rumänische Staatliche Steuerverwaltungsagentur, im Folgenden: Agenţia) und der SC Rafinăria Steaua Română SA (im Folgenden: Steaua Română) wegen Zahlung von Zinsen für die verspätete Erstattung des Mehrwertsteuerüberschusses, den die Steaua Română als Vorsteuer auf die von ihr geschuldete Mehrwertsteuer gezahlt hatte.

 Rechtlicher Rahmen

 Unionsrecht

3        Art. 183 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie bestimmt:

„Übersteigt der Betrag der abgezogenen Vorsteuer den Betrag der für einen Steuerzeitraum geschuldeten Mehrwertsteuer, können die Mitgliedstaaten den Überschuss entweder auf den folgenden Zeitraum vortragen lassen oder nach den von ihnen festgelegen Einzelheiten erstatten.“

4        Art. 252 Abs. 2 der Mehrwertsteuerrichtlinie lautet:

„Der Steuerzeitraum kann von den Mitgliedstaaten auf einen, zwei oder drei Monate festgelegt werden.

Die Mitgliedstaaten können jedoch andere Zeiträume festlegen, sofern diese ein Jahr nicht überschreiten.“

 Rumänisches Recht

5        Das Steuerverfahren wurde durch die Verordnung Nr. 92 der Regierung über die Steuerverfahrensordnung (Ordonanţa Guvernului nr. 92 privind Codul de procedură fiscală) vom 24. Dezember 2003 (Monitorul Oficial al României, Teil I, Nr. 941 vom 29. Dezember 2003, neu veröffentlicht im Monitorul Oficial al României, Teil I, Nr. 513 vom 31. Juli 2007) in der für das Ausgangsverfahren maßgeblichen Fassung (im Folgenden: Steuerverfahrensordnung) eingeführt.

6        Art. 124 der Steuerverfahrensordnung sieht in Abs. 1 vor:

„Für die aus öffentlichen Geldern zu erstattenden oder zurückzuzahlenden Beträge hat der Steuerschuldner Anspruch auf Zinsen ab dem auf den Ablauf der … vorgesehenen Frist folgenden Tag … Die Zinsen werden auf Antrag des Abgabenschuldners gewährt.“

7        Der Erlass Nr. 1857/2007 des Ministers für Wirtschaft und Finanzen vom 1. November 2007 (Monitorul Oficial al României, Teil I, Nr. 785 vom 20. November 2007) zur Genehmigung der Durchführungsvorschriften betreffend die Entscheidung über Steuererklärungen mit Vorsteuerüberschuss und Erstattungsoption bestimmt in Kapitel 1 Abschnitt B Nr. 6:

„Über die Erstattungsanträge wird innerhalb einer Frist von höchstens 45 Kalendertagen, die mit der Einreichung der Steuererklärung mit Vorsteuerüberschuss und Erstattungsoption zu laufen beginnt, in der zeitlichen Reihenfolge ihrer Registrierung bei der Steuerbehörde entschieden.“

 Sachverhalt des Ausgangsverfahrens und Vorlagefrage

8        Die Steuererklärungen der Steaua Română für die Monate Dezember 2007 und Januar 2008 wiesen einen Vorsteuerüberschuss in Höhe von 3 697 738 rumänischen Lei (RON) aus, die die Agenţia nach einer Prüfung als erstattungsfähig anerkannte.

9        Im Anschluss an diese Prüfung erließ die Agenţia jedoch einen Steuerbescheid, mit dem sie rechtswidrig zulasten der Steaua Română zwei zusätzliche Steuerforderungen in Höhe von 19 002 767 RON als Mehrwertsteuer und 5 374 404 RON als Verzugszinsen festsetzte. Sie erließ anschließend zwei Bescheide, mit denen sie den Mehrwertsteuerüberschuss mittels Verrechnung erstattete und so die Erfüllung dieser beiden Steuerpflichten bewirkte.

10      Da die Einsprüche der Steaua Română gegen den Steuerbescheid und die Verrechnungsbescheide zurückgewiesen wurden, erhob sie Klagen bei der Curte de Apel Ploiești, die die genannten Bescheide mit Urteilen vom 4. Dezember 2008 und 14. Oktober 2009 aufhob. Die von der Agenţia gegen diese Urteile eingelegten Berufungen wurden von der Înalta Curte de Casaţie şi Justiţie mit Urteilen vom 9. Juni 2009 und 13. Mai 2010 zurückgewiesen. Die Agenţia sah sich somit gezwungen, der Steaua Română den als Hauptanspruch geltend gemachten Betrag von 3 697 738 RON zu erstatten.

11      Unter Berufung auf die Rechtswidrigkeit der Verrechnungsbescheide und der verspäteten Erstattung des rechtswidrigerweise verrechneten Mehrwertsteuerbetrags verlangte die Steaua Română von der Agenţia ferner die Zahlung von Zinsen auf diesen Betrag, berechnet ab dem Ablauf der für die Bearbeitung von Mehrwertsteuererklärungen vorgesehenen gesetzlichen Frist von 45 Tagen bis zur tatsächlichen Rückzahlung des genannten Betrags. Sie bezifferte den Betrag dieser Zinsen auf 1 793 972 RON.

12      Da die Agenţia sich zu dieser Forderung nicht innerhalb der in den anwendbaren Vorschriften festgelegten Frist geäußert hatte, legte die Steaua Română zweimal Einspruch ein, mit dem sie die Zahlung von gesetzlichen Zinsen in Höhe eines Gesamtbetrags von 1 793 972 RON beantragte.

13      Diese Forderung wurde von der Agenţia mit Entscheidung vom 30. September 2010 zurückgewiesen; die Curte de Apel Bucureşti hob diese Entscheidung mit Urteil vom 14. Februar 2011 auf und verurteilte die Agenţia, an die Steaua Română bis zum 27. Juli 2009 1 793 972 RON an gesetzlichen Zinsen zu zahlen.

14      Die Agenţia legte gegen dieses Urteil bei der Înalta Curte de Casaţie şi Justiţie ein Rechtsmittel ein.

15      Mit diesem Rechtsmittel macht die Agenţia u. a. geltend, dass die Curte de Apel Bucureşti einen Rechtsfehler begangen habe, als sie sie zur Zahlung von 1 739 972 RON an gesetzlichen Zinsen verurteilt habe, da die anwendbaren Vorschriften nicht die Art und Weise der Bearbeitung der von den Steuerpflichtigen eingereichten Anträge mit einer Sanktion belegten, sondern lediglich die Überschreitung der Frist für die Bearbeitung dieser Anträge. Die Mehrwertsteuererklärungen sowie die anderen Anträge der Steaua Română seien jedoch innerhalb der vorgesehenen Fristen geprüft worden. Für den Zeitraum, in dem die Verrechnungsbescheide gültig gewesen seien, seien somit keine Verzugszinsen zu zahlen.

16      Die Steaua Română wies unter Berufung auf das Urteil vom 12. Mai 2011, Enel Maritsa Iztok 3 (C‑107/10, Slg. 2011, I‑3873), darauf hin, dass der Gerichtshof in diesem Urteil ausdrücklich über die Auslegung und Anwendung des Grundsatzes der Neutralität der Mehrwertsteuer unter dem Aspekt der Beachtung des Anspruchs der Steuerpflichtigen auf Zinsen für die verspätete Erstattung des Vorsteuerüberschusses entschieden habe. Die Steaua Română beantragte daher, das Rechtsmittel als unbegründet zurückzuweisen, und machte im Wesentlichen geltend, dass die Agenţia die Fristen für die Erstattung der Mehrwertsteuer nicht beachtet habe.

17      Unter diesen Umständen hat die Înalta Curte de Casaţie și Justiţie, da sie sich als letztinstanzliches Rechtsmittelgericht gemäß Art. 267 Abs. 3 AEUV für verpflichtet hielt, den Gerichtshof anzurufen, beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:

Verstößt die Auslegung von Art. 124 des Cod de procedură fiscală dahin, dass der Staat auf mit einer Mehrwertsteuererklärung beantragte Beträge für den Zeitraum zwischen dem Zeitpunkt von deren Verrechnung und dem Zeitpunkt der Aufhebung des Verrechnungsakts durch eine gerichtliche Entscheidung keine Zinsen schuldet, gegen Art. 183 der Richtlinie 2006/112?

 Zur Vorlagefrage

18      Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 183 der Mehrwertsteuerrichtlinie in dem Sinne auszulegen ist, dass es ihm zuwiderläuft, wenn ein Steuerpflichtiger, der die Erstattung des Vorsteuerüberschusses beantragt hat, den er auf die von ihm geschuldete Mehrwertsteuer gezahlt hat, von der Steuerverwaltung eines Mitgliedstaats keine Verzugszinsen wegen der von ihr verspätet geleisteten Erstattung für den Zeitraum verlangen kann, in dem Verwaltungsakte gültig waren, die die Erstattung ausgeschlossen hatten, die aber anschließend durch Gerichtsentscheidungen aufgehoben wurden.

19      Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass Art. 183 der Mehrwertsteuerrichtlinie zwar weder eine Verpflichtung zur Zahlung von Zinsen auf den zu erstattenden Mehrwertsteuerüberschuss, noch den Zeitpunkt vorsieht, ab dem solche Zinsen geschuldet werden, dieser Umstand allein jedoch nicht den Schluss erlaubt, dass dieser Artikel dahin auszulegen ist, dass die von den Mitgliedstaaten festgelegten Einzelheiten hinsichtlich der Erstattung des Mehrwertsteuerüberschusses von jeglicher unionsrechtlichen Kontrolle freigestellt sind (Urteil Enel Maritsa Iztok 3, Randnrn. 27 und 28 und die dort angeführte Rechtsprechung).

20      Zwar fällt die Durchführung des in Art. 183 der Mehrwertsteuerrichtlinie vorgesehenen Anspruchs auf Erstattung des Mehrwertsteuerüberschusses grundsätzlich in die Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten; dies ändert jedoch nichts daran, dass diese Autonomie durch die Grundsätze der Äquivalenz und Effektivität begrenzt wird (Urteil Enel Maritsa Iztok 3, Randnr. 29).

21      Nach der Rechtsprechung ergeben sich im Übrigen aus Art. 183 der Mehrwertsteuerrichtlinie, ausgelegt im Hinblick auf den Regelungszusammenhang und die im Bereich der Mehrwertsteuer geltenden allgemeinen Grundsätze, bestimmte spezifische Regeln, die die Mitgliedstaaten bei der Durchführung des Anspruchs auf Erstattung des Mehrwertsteuerüberschusses beachten müssen. Das Recht der Steuerpflichtigen, von der von ihnen geschuldeten Mehrwertsteuer die Mehrwertsteuer abzuziehen, die bereits als Vorsteuer die von ihnen erworbenen Gegenstände und empfangenen Dienstleistungen belastet hat, ist nämlich ein fundamentaler Grundsatz des durch das Unionsrecht geschaffenen gemeinsamen Mehrwertsteuersystems. Dieses Recht ist integraler Bestandteil des Mechanismus der Mehrwertsteuer und kann grundsätzlich nicht eingeschränkt werden. Es kann für die gesamte Steuerbelastung der vorausgehenden Umsatzstufen sofort ausgeübt werden (Urteil Enel Maritsa Iztok 3, Randnrn. 30 bis 32 und die dort angeführte Rechtsprechung).

22      Vor diesem Hintergrund hat der Gerichtshof bereits entschieden, dass die Einzelheiten der Erstattung des Mehrwertsteuerüberschusses den Grundsatz der Neutralität des Mehrwertsteuersystems nicht dadurch beeinträchtigen dürfen, dass der Steuerpflichtige ganz oder teilweise mit dieser Steuer belastet wird, was insbesondere impliziert, dass die Erstattung innerhalb einer angemessenen Frist erfolgt (Urteil Enel Maritsa Iztok 3, Randnr. 33).

23      Aus diesen Gründen verlangt der Grundsatz der Neutralität des Mehrwertsteuersystems, dass die finanziellen Verluste, die dem Steuerpflichtigen, wenn ihm der Mehrwertsteuerüberschuss nicht innerhalb einer angemessenen Frist erstattet wird, durch die fehlende Verfügbarkeit der fraglichen Geldbeträge entstehen, durch die Zahlung von Verzugszinsen ausgeglichen werden.

24      Aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs ergibt sich insoweit, dass es grundsätzlich gegen die Anforderungen von Art. 183 der Mehrwertsteuerrichtlinie verstößt, wenn der Berechnung der von der Staatskasse geschuldeten Zinsen nicht der Tag als Verzinsungsbeginn zugrunde gelegt wird, an dem der Mehrwertsteuerüberschuss gemäß dieser Richtlinie hätte ausgeglichen werden müssen (Urteil Enel Maritsa Iztok 3, Randnr. 51). Nach dem Vorlagebeschluss sehen die anwendbaren nationalen Vorschriften im Ausgangsverfahren grundsätzlich vor, dass Verzugszinsen ab dem Ablauf einer für die Bearbeitung der Mehrwertsteuererklärungen festgelegten Frist von 45 Tagen berechnet werden.

25      Im Übrigen ist festzustellen, dass der Grund für die verspätete Erstattung des Mehrwertsteuerüberschusses aus der Sicht des Steuerpflichtigen keine Rolle spielt. Es gibt in diesem Kontext keinen relevanten Unterschied zwischen einer verspäteten Erstattung aufgrund einer nicht fristgemäßen Bearbeitung des Antrags durch die Verwaltung und einer verspäteten Erstattung aufgrund von Verwaltungsakten, die rechtswidrigerweise die Erstattung ausschließen und anschließend durch eine Gerichtsentscheidung aufgehoben werden.

26      Angesichts dieser Erwägungen ist auf die vorgelegte Frage zu antworten, dass Art. 183 der Mehrwertsteuerrichtlinie in dem Sinne auszulegen ist, dass es ihm zuwiderläuft, wenn ein Steuerpflichtiger, der die Erstattung des Vorsteuerüberschusses beantragt hat, den er auf die von ihm geschuldete Mehrwertsteuer gezahlt hat, von der Steuerverwaltung eines Mitgliedstaats keine Verzugszinsen wegen einer von ihr verspätet geleisteten Erstattung für den Zeitraum verlangen kann, in dem Verwaltungsakte gültig waren, die die Erstattung ausgeschlossen hatten, die aber anschließend durch Gerichtsentscheidungen aufgehoben wurden.

 Kosten

27      Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Zehnte Kammer) für Recht erkannt:

Art. 183 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem ist in dem Sinne auszulegen, dass es ihm zuwiderläuft, wenn ein Steuerpflichtiger, der die Erstattung des Vorsteuerüberschusses beantragt hat, den er auf die von ihm geschuldete Mehrwertsteuer gezahlt hat, von der Steuerverwaltung eines Mitgliedstaats keine Verzugszinsen wegen der von ihr verspätet geleisteten Erstattung für den Zeitraum verlangen kann, in dem Verwaltungsakte gültig waren, die die Erstattung ausgeschlossen hatten, die aber anschließend durch Gerichtsentscheidungen aufgehoben wurden.

Unterschriften


* Verfahrenssprache: Rumänisch.