C-429/97 - Kommission / Frankreich

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EUR-Lex - 61997C0429 - DE

61997C0429

Schlussanträge des Generalanwalts Fennelly vom 13. Januar 2000. - Kommission der Europäischen Gemeinschaften gegen Französische Republik. - Vertragsverletzung eines Mitgliedstaats - Mehrwertsteuer - Achte Richtlinie - Erstattung der Mehrwertsteuer, die in einem anderen Mitgliedstaat gezahlt wurde - Sechste Richtlinie - Ort der Leistung - Dienstleistungen des Einsammelns, des Sortierens, der Beförderung und der Beseitigung von Abfällen. - Rechtssache C-429/97.

Sammlung der Rechtsprechung 2001 Seite I-00637


Schlußanträge des Generalanwalts


1. Dieses Vertragsverletzungsverfahren betrifft die Behandlung grenzüberschreitender Umsätze nach der Mehrwertsteuerregelung der Gemeinschaft. Frankreich lehnt es ab, gemäß der Achten Mehrwertsteuer-Richtlinie die französische Mehrwertsteuer zu erstatten, die von deutschen Entsorgungsunternehmen für Dienstleistungen gezahlt wurde, die von in Frankreich ansässigen Subunternehmern für sie erbracht worden waren. Soweit die Achte Richtlinie anwendbar ist, sieht sie eine Erstattung der von einem Steuerpflichtigen eines anderen Mitgliedstaats gezahlten Mehrwertsteuer anstelle des Abzugs dieses Betrages als Vorsteuer vor. Die Lösung des Problems hängt von der Auslegung der für Dienstleistungen geltenden Regelung über den Ort des steuerbaren Umsatzes in Artikel 9 der Sechsten Mehrwertsteuer-Richtlinie ab.

I - Rechtlicher und tatsächlicher Hintergrund

2. Nach der zweiten Begründungserwägung besteht der Zweck der Achten Richtlinie darin, zu vermeiden, dass ein in einem Mitgliedstaat ansässiger Steuerpflichtiger die Steuer, die in einem anderen Mitgliedstaat für die Lieferung von Gegenständen oder die Inanspruchnahme von Dienstleistungen in Rechnung gestellt oder für die Einfuhr in diesem anderen Mitgliedstaat entrichtet worden ist, endgültig tragen muss und damit einer Doppelbesteuerung unterliegt". Die Artikel 1 und 2 der Achten Richtlinie stellen für die Entstehung des Erstattungsanspruchs zwei Voraussetzungen auf. Erstens muss der Antragsteller in einem anderen Mitgliedstaat ansässig sein und darf weder den Sitz seiner wirtschaftlichen Tätigkeit noch eine feste Niederlassung, von wo aus seine geschäftlichen Aktivitäten bewirkt werden, in dem Mitgliedstaat haben, von dem er die Erstattung verlangt; zweitens darf er im betreffenden Zeitraum im Inland keine ... Dienstleistungen erbracht" haben. Der Erstattungsanspruch umfasst die Mehrwertsteuer, mit der die ihm von anderen Steuerpflichtigen im Inland [dem Staat, von dem er die Erstattung verlangt] erbrachten Dienstleistungen ... belastet wurden ..., soweit diese ... Dienstleistungen [für Zwecke seiner wirtschaftlichen Tätigkeiten in dem Mitgliedstaat, in dem er ansässig ist] verwendet werden". Um zu bestimmen, ob der betreffende Antragsteller Dienstleistungen im Inland erbracht zu haben gilt, ist es erforderlich, die Regelungen der Sechsten Richtlinie über den Ort der Leistung zu prüfen.

3. Artikel 9 der Sechsten Richtlinie betrifft den Ort der Dienstleistung. Sein Absatz 1 legt folgenden Grundsatz fest:

Als Ort einer Dienstleistung gilt der Ort, an dem der Dienstleistende den Sitz seiner wirtschaftlichen Tätigkeit oder eine feste Niederlassung hat, von wo aus die Dienstleistung erbracht wird, oder in Ermangelung eines solchen Sitzes oder einer solchen festen Niederlassung sein Wohnort oder sein üblicher Aufenthaltsort."

Artikel 9 Absatz 2 enthält jedoch eine Reihe von Sonderregelungen für bestimmte Kategorien von Dienstleistungen. Artikel 9 Absatz 2 Buchstabe c nennt einige weit gefasste Kategorien von Dienstleistungen, für die als Ort der Dienstleistung der Ort gilt, an dem diese Dienstleistungen tatsächlich bewirkt werden". Einschlägig ist im vorliegenden Fall die unter Artikel 9 Absatz 2 Buchstabe c vierter Gedankenstrich fallende Kategorie der Arbeiten an beweglichen körperlichen Gegenständen".

4. Diese Vorschrift ist durch Artikel 259-A-4° des Code Général des Impôts (Allgemeines Steuergesetzbuch; nachfolgend: CGI) in französisches Recht umgesetzt worden, dem zufolge für Dienstleistungen, die tatsächlich in Frankreich bewirkt werden, einschließlich Arbeiten an und Bewertungen von beweglichen körperlichen Gegenständen", Frankreich als Ort der Dienstleistung gilt. Unstreitig ist, dass diese Vorschrift Artikel 9 Absatz 2 Buchstabe c vierter Gedankenstrich ordnungsgemäß in französisches Recht umsetzt. Der vorliegende Streit entzündet sich jedoch an einem Verwaltungsrundschreiben (nachfolgend: Rundschreiben), das 1992 von der Abteilung für Steuergesetzgebung der französischen Finanzverwaltung erlassen und an alle mit der Erhebung der Mehrwertsteuer betrauten Abteilungen der nationalen Verwaltung gerichtet wurde. In Bezug auf Abfallbehandlungsverträge weist das Rundschreiben die betroffenen Stellen darauf hin, dass gemäß Artikel 9 Absatz 2 Buchstabe c der Sechsten Richtlinie und Artikel 259-A-4° CGI nicht nur in Frankreich bewirkte Abfallbeseitigungsmaßnahmen der französischen Mehrwertsteuer unterliegen, sondern auch die Dienstleistungen, die der Hauptunternehmer für seine Abnehmer erbringt, sofern er ihnen sämtliche Kosten der Dienstleistung berechnet, die der Vertrag vorsieht, dessen wesentlicher Bestandteil in dem Preis besteht, den der Hauptunternehmer dem Betreiber der Anlage in Frankreich gezahlt hat, der dort die Arbeiten für ihn tatsächlich bewirkt hat. Die Tatsache, dass der Hauptunternehmer keine Abfallbeseitigungsmaßnahmen durchführt, ist unerheblich, wenn sie an einen Subunternehmer vergeben werden. Das Rundschreiben hat zur Folge, dass in einem anderen Mitgliedstaat ansässigen Hauptunternehmern die Erstattung versagt wird.

5. Was den tatsächlichen Hintergrund angeht, so geht es im Kern um die Weigerung der französischen Stellen, einer Reihe von deutschen Steuerpflichtigen die französische Mehrwertsteuer zu erstatten. Diese deutschen Unternehmen schlossen mit örtlichen Behörden, Industrieunternehmen und öffentlichen oder privaten Einrichtungen Verträge über die Sammlung, Sortierung, Lagerung und Beseitigung von Abfällen ab. Sie vergaben einen Teil dieser Arbeiten an Unternehmen weiter, die auf Abfallbeseitigung spezialisiert sind. Da letztere in Frankreich ansässig sind, berechneten sie französische Mehrwertsteuer auf ihre Leistungen. Die deutschen Unternehmen stellten ihren Abnehmern deutsche Mehrwertsteuer auf den Gesamtpreis in Rechnung. Da sie die französische Mehrwertsteuer in Deutschland nicht abziehen konnten, beantragten sie deren Erstattung bei den französischen Stellen; diese wurde abgelehnt.

6. Die betreffenden Hauptunternehmer beschwerten sich bei der Kommission über die Ablehnung der Erstattung. Die Kommission setzte Frankreich mit Schreiben vom 23. Oktober 1992 von der Beschwerde in Kenntnis und bat um eine Erklärung darüber, auf welcher Grundlage die betreffende Erstattung abgelehnt worden sei. Bei einem Treffen am 17. November 1992 und in einer Mitteilung an die Kommission vom 7. Januar 1993 machten die französischen Stellen geltend, dass die Regelung des Artikels 259-A-4° CGI und des Artikels 9 Absatz 2 Buchstabe c der Sechsten Richtlinie über den Ort des steuerbaren Umsatzes anzuwenden sei. Aus ihrer Sicht sei das wesentliche Merkmal eines Abfallbehandlungsvertrags der hier in Rede stehenden Art unabhängig davon, ob ein Teil der damit verbundenen Arbeiten an Subunternehmer weitervergeben worden sei, die Beseitigung oder Behandlung der betreffenden Abfälle. Die Tatsache allein, dass solche Arbeiten in Frankreich von dort ansässigen Steuerpflichtigen ausgeführt würden, sei unerheblich, da der gesamte Vertrag als eine Einheit anzusehen sei und die in Frankreich ausgeführten Arbeiten als von den Hauptunternehmern dort ausgeführt gelten sollten. Letztere unterlägen daher zutreffenderweise der Mehrwertsteuer in Frankreich und hätten keinen Erstattungsanspruch nach der Achten Richtlinie.

II - Außergerichtliches Verfahren

7. Die Kommission sandte Frankreich am 8. Juni 1993 eine schriftliche Aufforderung zur Äußerung, in der sie das Vorbringen der französischen Stellen zurückwies und erklärte, der Hauptvertrag über die Abfallbehandlung sei als eigenständig gegenüber dem Subunternehmervertrag anzusehen.

8. Frankreich behielt mit Schreiben vom 6. August 1993 seinen Standpunkt bei. Die betreffenden Unternehmer könnten sich jedoch in Frankreich als mehrwertsteuerpflichtig eintragen lassen und auf diese Weise ein Recht auf Vorsteuerabzug nach Artikel 17 der Sechsten Richtlinie im Hinblick auf die französische Mehrwertsteuer geltend machen, die ihnen von ihren Subunternehmern berechnet werde.

9. Am 10. April 1996 erließ die Kommission eine mit Gründen versehene Stellungnahme, in der sie sich insbesondere gegen die Ansicht der französischen Stellen wandte, der Hauptvertrag und die Subunternehmerverträge könnten einander gleichgestellt werden, so dass der Hauptunternehmer als verantwortlich für die von den Subunternehmern in Frankreich ausgeführten Abfallbehandlungsarbeiten gelte.

10. Frankreich kam der mit Gründen versehenen Stellungnahme nicht nach, sondern übermittelte der Kommission am 12. Juni 1996 eine weitere Erklärung, in der es vor allem darauf beharrte, dass die Abfallbehandlungsverträge als ein Ganzes zu sehen seien, insbesondere weil die örtlichen Behörden und andere Abnehmer, die solche Aufträge vergäben, einen Gesamtpreis für das bezahlten, was sie als eine einheitliche Dienstleistung in Form der Behandlung ihrer Abfälle betrachteten.

11. Am 16. September 1997 hat die Kommission gemäß Artikel 169 EG-Vertrag (jetzt Artikel 226 EG) die vorliegende Klage erhoben, mit der sie beantragt,

a) festzustellen, dass Frankreich dadurch gegen seine Verpflichtungen aus der Achten Richtlinie, insbesondere aus deren Artikel 2, verstoßen hat, dass es die Erstattung der Mehrwertsteuer an nicht in Frankreich ansässige Steuerpflichtige abgelehnt hat, wenn diese einen Teil ihrer Arbeiten an einen in Frankreich ansässigen Steuerpflichtigen weitervergeben haben;

b) der Französischen Republik die Kosten aufzuerlegen.

IV - Würdigung

A - Zulässigkeit

i) Einrede der teilweisen Unzulässigkeit

12. Frankreich meint, die Klage sei unzulässig, soweit mit ihr eine allgemeine Feststellung beantragt werde, die über den Fall der Abfallbehandlungsverträge hinausgehe und sich auf alle Dienstleistungen beziehe, die von in Frankreich ansässigen Subunternehmern erbracht würden und Arbeiten an beweglichen körperlichen Gegenständen beträfen. Die Kommission habe weder in der Klage noch im Laufe des außergerichtlichen Verfahrens angegeben, auf welcher tatsächlichen oder rechtlichen Grundlage sie eine solche allgemeine Feststellung begehre.

13. In ihrer Erwiderung führt die Kommission aus, die Frage nach der auf Abfallbehandlungsverträge anzuwendenden Mehrwertsteuer-Regelung lasse sich nicht von der allgemeinen Frage nach der zutreffenden Auslegung des Artikels 9 Absatz 2 Buchstabe c vierter Gedankenstrich der Sechsten Richtlinie trennen. Dies zeige sich daran, dass sich Frankreich in der Klagebeantwortung mit der Auslegung dieser Vorschrift befasse, die, wie Frankreich einräume, nicht notwendigerweise auf solche Verträge beschränkt sei. Die Kommission erinnert an die Kritik, die der Gerichtshof an ihrem eng gefassten Klageantrag in einer früheren Rechtssache Kommission/Frankreich geäußert habe, die eine vergleichbare Grundsatzfrage aufgeworfen habe, in der sie aber eine Feststellung beantragt habe, die auf eine einzelne Branche beschränkt gewesen sei. Außerdem seien Frankreichs Verteidigungsrechte nicht beeinträchtigt worden, da der Umfang ihrer Rügen im Laufe des außergerichtlichen Verfahrens und im Rahmen ihrer Klage gleich geblieben seien.

14. Frankreich bringt in seiner Gegenerwiderung vor, die Tatsache, dass der Gerichtshof seine Feststellung im Steuerguthabenfall auf die in der Klage der Kommission genannte Branche beschränkt habe, zeige, dass die Kommission nach Artikel 169 EG-Vertrag keine allgemeine Feststellung beim Gerichtshof beantragen könne, sofern sie nicht während des außergerichtlichen Verfahrens entsprechend umfassende Vorwürfe erhoben habe. In der mündlichen Verhandlung hat der Bevollmächtigte der Kommission erklärt, die französische Auslegung des Artikels 9 Absatz 2 Buchstabe c vierter Gedankenstrich könnte über den Bereich der Abfallbehandlungsverträge hinaus angewandt werden.

(ii) Würdigung der Einrede der teilweisen Unzulässigkeit

15. Der Gerichtshof hat wiederholt entschieden, dass das Vorverfahren ... dem betroffenen Mitgliedstaat Gelegenheit geben [soll], sowohl seinen gemeinschaftsrechtlichen Verpflichtungen nachzukommen als auch seine Verteidigungsmittel gegenüber den Rügen der Kommission wirkungsvoll geltend zu machen", dass folglich der Gegenstand einer Klage nach Artikel 169 EG-Vertrag durch das in dieser Bestimmung vorgesehene Vorverfahren eingegrenzt" wird und dass die Klage daher nicht auf andere als die in der mit Gründen versehenen Stellungnahme angeführten Rügen gestützt werden" kann. Für die Wahrung der Verfahrensrechte kommt es" im Kern ausschließlich darauf an, dass die in der Klage und in der mit Gründen versehenen Stellungnahme enthaltenen Rügen identisch sind ...". Ich bin der Meinung, dass die vorliegende Klage diesen Anforderungen genügt und Frankreich nicht ernsthaft behaupten kann, dass es sich der allgemeinen Natur des von der Kommission hier erhobenen Vorwurfs nicht bewusst gewesen sei.

16. Die Rüge in Bezug auf die Auslegung des Artikels 9 Absatz 2 Buchstabe c der Sechsten Richtlinie betrifft insbesondere, aber nicht ausschließlich die Behandlung komplexer Abfallbehandlungsverträge. Die mit Gründen versehene Stellungnahme wirft ganz allgemein die Frage nach der zutreffenden Auslegung des Artikels 9 Absatz 2 Buchstabe c auf. Die förmliche Feststellung am Ende der Stellungnahme hat den gleichen allgemein gehaltenen Wortlaut wie die förmliche Feststellung, die die Kommission nunmehr beim Gerichtshof beantragt. Dementsprechend kann das vorliegende Vertragsverletzungsverfahren nicht wegen fehlender Übereinstimmung zwischen der Klage und dem, was die Kommission während des außergerichtlichen Verfahrens dargelegt hat, für unzulässig erklärt werden.

17. Aus der Zulässigkeit der Klage folgt jedoch nicht, dass sie in ihrer weiten Fassung auch begründet ist.

18. Hilfreich ist es, sich zu vergegenwärtigen, aus welchem Grund der Gerichtshof im Steuerguthabenfall sein Bedauern über die Entscheidung der Kommission geäußert hat, ihre Rüge auf die Anwendung der streitigen Steuerregelung in der Versicherungsbranche zu beschränken, weil ihr ungeachtet dessen, dass die Regelung eindeutig allgemein anwendbar sei, Beschwerden nur aus diesem Bereich" zugegangen seien. Der Gerichtshof erklärte, es sei bedauerlich, dass die vorliegende Klage dadurch, dass sie sich auf Versicherungsgesellschaften beschränkt, die Probleme unter Voraussetzungen aufwirft, die nur einen Teil des Anwendungsbereichs der fraglichen französischen Rechtsvorschriften abdecken". Hier liegt der Fall jedoch anders. Nicht Artikel 259-A-4° CGI, sondern seine Anwendung durch ein Rundschreiben wird als mit dem Gemeinschaftsrecht unvereinbar beanstandet. Die erweiterte Rüge in der Klage mag durchaus begründet sein; meines Erachtens ist diese Frage jedoch untrennbar mit der Auslegung des Artikels 9 der Sechsten Richtlinie verbunden und sollte vom Gerichtshof bei der Prüfung der Begründetheit entschieden werden.

B - Begründetheit

19. Grenzüberschreitende Umsätze führen unvermeidlich, wie es in der siebten Begründungserwägung der Sechsten Richtlinie heißt, zu Kompetenzkonflikten zwischen den Mitgliedstaaten". Diese Gefahr entsteht insbesondere, wenn ein in einem Mitgliedstaat ansässiger Dienstleistender Dienstleistungen in einem anderen Mitgliedstaat erbringt.

20. Artikel 9 der Sechsten Richtlinie enthält ziemlich allgemeine Regeln, mit denen, so der Gerichtshof im Urteil Dudda, wie sich aus Artikel 9 Absatz 3 - wenn auch nur für Sonderfälle - ergibt, Kompetenzkonflikte, die zu einer Doppelbesteuerung führen könnten, sowie die Nichtbesteuerung von Einnahmen verhindert werden" sollen. Er ordnet die Steuerpflicht mit Hilfe zweier Arten von Regeln zu. Artikel 9 Absatz 1 enthält eine allgemeine Regel" insoweit, als der Ort, an dem der Dienstleistende den Sitz seiner wirtschaftlichen Tätigkeit hat, ein vorrangiger Anknüpfungspunkt ist ...". Artikel 9 Absatz 2 tritt in einer Reihe von speziellen Fällen an die Stelle dieser Regel. Der Gerichtshof hat jedoch auch entschieden, dass eine Auslegung des Artikels 9 keinen Vorrang des Absatzes 1 gegenüber Absatz 2 ergibt. In jedem Einzelfall stellt sich vielmehr die Frage, ob eine der Bestimmungen des Artikels 9 Absatz 2 einschlägig ist; andernfalls gilt Absatz 1".

21. Es ist jeweils zu prüfen, ob der Fall besondere Anknüpfungspunkte enthält, während [andernfalls] in Absatz 1 insoweit eine allgemeine Regel niedergelegt ist". Auch wenn Artikel 9 Absatz 1 nicht vorgeht, hat Artikel 9 Absatz 2 in gewissem Sinne den Charakter einer Abweichung von der Regel. Es genügt die Feststellung, dass Artikel 9 Absatz 2 nicht alle Dienstleistungen erfasst, daher das Vorliegen eines speziellen Falles eindeutig nachzuweisen ist und andernfalls die allgemeine, auf den Sitz abstellende Regel des Artikels 9 Absatz 1 gilt.

22. Die Ansichten der Kommission und Frankreichs zu Inhalt und Wesen der streitigen Abfallbehandlungsverträge im Hinblick auf Artikel 9 der Sechsten Richtlinie gehen weit auseinander. Nach Auffassung der Kommission handelt es sich um die Erbringung einer komplexen Gesamtheit von Leistungen, von denen nur einige mit Arbeiten an beweglichen körperlichen Gegenständen" im Sinne von Artikel 9 Absatz 2 Buchstabe c vierter Gedankenstrich verbunden seien. Frankreich bestreitet nicht, dass die Verträge komplex sind. Es macht jedoch geltend, sie erhielten ihr wesentliches Gepräge durch die Beseitigung und Wiederverwertung von Abfällen, die Zweck aller anderen Leistungen sei, und diese prägenden Teile der Arbeiten würden in Frankreich bewirkt. Die Abfallbehandlungsverträge sollten als einheitlicher Vorgang behandelt und nicht in die zum Zwecke der Beseitigung erbrachten Einzelleistungen zerlegt werden. Die prägenden Leistungen seien Arbeiten an beweglichen körperlichen Gegenständen. Sie würden in Frankreich erbracht und gäben dem Vertrag sein wesentliches Gepräge. Folglich gelte Artikel 9 Absatz 2 Buchstabe c für sämtliche aufgrund des Hauptvertrags vorgesehenen Arbeiten.

23. Diese Forderung, einen der in Artikel 9 Absatz 2 der Sechsten Richtlinie aufgeführten besonderen Fälle anzuwenden, macht es nach dem Urteil Dudda erforderlich, zunächst das französische Vorbringen zu prüfen.

24. Es ist wichtig, zwei einfache Gesichtspunkte nicht aus den Augen zu verlieren. Unstreitig sind die von den französischen Subunternehmern erbrachten Dienstleistungen in Frankreich zu besteuern; der Streit betrifft allein den von den Hauptunternehmern gemäß der Achten Richtlinie eingereichten Erstattungsantrag. Darüber hinaus geht es um die Einstufung des Hauptvertrags als Ganzes. Nach Frankreichs Auffassung ist die Gesamtheit der aufgrund dieses Vertrages erbrachten Dienstleistungen als Arbeiten an beweglichen körperlichen Gegenständen" anzusehen, die genauso als vom Hauptunternehmer in Frankreich bewirkt zu gelten hätten, als wenn er selbst diese Arbeiten dort unmittelbar bewirkt hätte. Die Weitervergabe der Arbeiten ändere daran nichts, da ein umfassender Ansatz zu wählen sei.

25. Bevor ich die Frage im Licht von Systematik, Zweck und Wirkung des Artikels 9 der Sechsten Richtlinie untersuche, muss ich mich zwei besonderen Argumenten widmen, die Frankreich im Rahmen seiner Rechtsausführungen vorgebracht hat.

26. Zum einen stützt Frankreich sein Eintreten für einen umfassenden Ansatz auf die Definition der Abfallbewirtschaftung in den Abfallrichtlinien: das Einsammeln, die Beförderung, die Verwertung und die Beseitigung der Abfälle, einschließlich der Überwachung dieser Vorgänge sowie der Überwachung der Deponien nach deren Schließung". Diese Vorgänge entsprechen zweifellos ganz oder teilweise den aufgrund der Hauptverträge erbrachten Dienstleistungen, aber sie erleichtern meines Erachtens nicht die Entscheidung, ob Artikel 9 Absatz 2 Buchstabe c der Sechsten Richtlinie anwendbar ist, weil einige Leistungen Arbeiten an beweglichen körperlichen Gegenständen" sind und andere nicht. Die Definition hat auch keinerlei Bezug zum letztgenannten Begriff. Der Gerichtshof hat gelegentlich auf eine Definition in einer Vorschrift des Gemeinschaftsrechts Bezug genommen, um die Bedeutung eines Begriffes in einer anderen Bestimmung zu erhellen. Dieser Fall bietet sich hierfür nicht an. Die Definition der Abfallbehandlung kann die Bedeutung der Wendung Arbeiten an beweglichen körperlichen Gegenständen" nicht erhellen. Das Einsammeln und die Beförderung gehören nicht zu solchen Arbeiten, obwohl sie von der Definition umfasst werden. Das Sortieren und Lagern sind nicht in der Definition enthalten, obwohl sie zum Gegenstand der Hauptverträge gehören. Die Definition bestätigt eher noch die Verschiedenartigkeit der von ihr umfassten Vorgänge. Ich werde hierauf in Nummer 32 zurückkommen.

27. Zum anderen beruft sich Frankreich auf zwei Vertragsverletzungsverfahren betreffend Leistungen auf dem Gebiet der Werbung" im Sinne von Artikel 9 Absatz 2 Buchstabe e zweiter Gedankenstrich der Sechsten Richtlinie. Der Gerichtshof hat in diesen Rechtssachen entschieden, Frankreich und Luxemburg hätten durch den Ausschluss (im ersten Fall durch ein Verwaltungsrundschreiben, im zweiten in der Praxis) bestimmter Arten von Werbeleistungen (die bestimmte Warenlieferungen einschlossen) aus der Definition der Leistungen auf dem Gebiet der Werbung" ihre Verpflichtungen aus der Sechsten Richtlinie verletzt. Die Urteile berühren jedoch in keiner Weise die im vorliegenden Fall zu entscheidende Frage, ob ein Vertrag über die Erbringung von Dienstleistungen, dessen Einzelleistungen zum Teil unter die Sondertatbestände des Artikels 9 Absatz 2 fallen und zum Teil nicht, Artikel 9 Absatz 1 oder Artikel 9 Absatz 2 zuzuordnen ist.

28. Weder die Definition der Abfallbewirtschaftung" noch die Entscheidungen in den Werbeleistungsfällen erleichtern die Beantwortung dieser grundlegenden Frage.

29. Der französische Standpunkt besteht im Kern darin, dass der Hauptvertrag als unteilbar behandelt und je nach seinem angegebenen Schwerpunkt zugeordnet werden müsse. Obwohl eine erhebliche Anzahl der von diesem Vertrag umfassten Vorgänge keine Arbeiten an beweglichen körperlichen Gegenständen" betrifft und nicht in Frankreich tatsächlich bewirkt wird, müssten demnach sämtliche aufgrund des Vertrages zu erbringenden Dienstleistungen als in Frankreich erbracht gelten.

30. Aus der Sicht Frankreichs sollte der deutsche Hauptunternehmer folglich, wie es in der mündlichen Verhandlung ausführte, eine Erklärung abgeben und nach Artikel 21 der Sechsten Richtlinie einen steuerlichen Vertreter ernennen. Dann würde sich die Frage nach der Erstattung gemäß der Achten Richtlinie nicht stellen. Die für Dienstleistungen der französischen Subunternehmer bezahlte Mehrwertsteuer würde einfach nach dem normalen Verfahren des Artikels 17 der Sechsten Richtlinie als Vorsteuer abgezogen.

31. Auf den ersten Blick erscheint es seltsam, dass ein in Deutschland ansässiger Steuerpflichtiger seinen deutschen Abnehmern für Dienstleistungen, die er in Deutschland für sie erbringt, französische Mehrwertsteuer berechnen müsste. Die allgemeine Regel des Artikels 9 Absatz 1 der Sechsten Richtlinie würde vollständig verdrängt. Wie die Kommission ausgeführt hat, würde dies die deutschen Endabnehmer eines solchen Steuerpflichtigen der Ungewissheit über den zu zahlenden Mehrwertsteuersatz aussetzen, da die Nichtanwendbarkeit des Artikels 9 Absatz 1 davon abhängen würde, ob der Vertrag als Ganzes als durch diejenigen seiner Einzelleistungen geprägt angesehen werden kann, die Arbeiten an beweglichen körperlichen Gegenständen" darstellen.

32. Der Gerichtshof hat in der Rechtssache Linthorst Gelegenheit gehabt, sich mit der Anwendbarkeit des Artikels 9 Absatz 2 Buchstabe c vierter Gedankenstrich der Sechsten Richtlinie zu befassen. Er hat dort entschieden, dass tierärztliche Behandlungen von Tieren keine Arbeiten an beweglichen körperlichen Gegenständen" sind. Diese Wendung bezeichnet aus seiner Sicht im Allgemeinen einen lediglich körperlichen Eingriff in bewegliche körperliche Gegenstände, der ... nicht wissenschaftlicher oder intellektueller Natur ist". Der Gerichtshof betonte, dass die Hauptfunktionen des Tierarztes ... grundsätzlich ... in der Heilbehandlung von Tieren nach wissenschaftlichen Regeln" bestehen; dass diese Behandlung möglicherweise gelegentlich einen körperlichen Eingriff erfordert, genügt", so der Gerichtshof weiter nicht, um sie als ,Arbeit zu bezeichnen". Während Frankreich diese Entscheidung als Beleg für seine These anführt, dass das Einsammeln, Zusammentragen, Lagern, Sortieren, Aufbewahren, Behandeln und Verbrennen und die meisten Verwertungsmaßnahmen Arbeiten an beweglichen körperlichen Gegenständen" seien, glaube ich vielmehr, dass die Entscheidung den sehr begrenzten Anwendungsbereich des letztgenannten Begriffes zeigt. Der Begriff rein körperlicher Eingriff" schließt meines Erachtens keine der von Frankreich aufgezählten Leistungen ein, abgesehen möglicherweise vom Verbrennen und Verwerten. Abfallbehandlungsarbeiten gehören, worauf die Kommission zutreffend hinweist, nicht zu einem der Sondertatbestände in Artikel 9 Absatz 2 . Das Urteil Linthorst stützt außerdem nicht den umfassenden Ansatz für die Zuordnung von Verträgen zu Artikel 9 Absatz 1 oder Absatz 2. Folglich fallen nur einige der mit der Abfallbehandlung verbundenen Umsätze in den Anwendungsbereich des Artikels 9 Absatz 2 Buchstabe c. Vermutlich handelt es sich dabei um einen Teil der Arbeiten, die von den Subunternehmern ausgeführt werden, die in die Erfuellung der dieser Rechtssache zugrunde liegenden Verträge eingeschaltet sind. Diese Umsätze werden in Frankreich besteuert, aber nicht notwendigerweise aufgrund des Artikels 9 Absatz 2 Buchstabe c; denn insoweit ist kein Anwendungskonflikt zwischen Absatz 1 und Absatz 2 des Artikels 9 entstanden.

33. Frankreichs These stellt jedenfalls aus den oben in Nummer 31 dargelegten Gründen eine gekünstelte Auslegung des Hauptvertrags dar. Indem fingiert wird, dass der Hauptunternehmer die Dienstleistungen erbringt, die er an andere zur unabhängigen Ausführung weitervergibt, behandelt diese Auslegung ihn so, als ob er Dienstleistungen an sich selbst erbrächte. Die Lieferung an sich selbst kann sich selbstverständlich ausdrücklich aus einer Bestimmung ergeben, namentlich aus Artikel 6 Absatz 2 der Sechsten Richtlinie. Wenn jedoch tatsächlich zwei Steuerpflichtige beteiligt sind, gibt es hierfür keine Grundlage. Damit würde die für das System der Mehrwertsteuer grundlegende Selbständigkeit der Dienstleistungen innerhalb der Vertriebskette verkannt.

34. Darüber hinaus weist die Kommission darauf hin, dass als logische Folge des von Frankreich vorgeschlagenen Systems die französische Mehrwertsteuer auf den Gesamtwert des Hauptvertrags gezahlt würde, obwohl nur ein Teil der damit verbundenen Arbeiten in Frankreich ausgeführt wird. Zwar hat Frankreich in der mündlichen Verhandlung behauptet, systematisch zumindest werde nur der Teil der Arbeiten, der tatsächlich in Frankreich ausgeführt werde, dort besteuert. Es hat aber nicht erklärt, wie dies auf eine Weise erreicht werden soll, die mit der seinem Ansatz zugrunde liegenden Voraussetzung einer umfassenden" Auslegung des Hauptvertrags auf der Grundlage seines wesentlichen Gepräges vereinbar ist. Ich glaube, dass die Furcht der Kommission vor den Gefahren der Doppelbesteuerung daher wohlbegründet ist. Der Hauptunternehmer erbringt eine umfassende Abfallbehandlungsleistung für seine deutschen Abnehmer und ist, da er in Deutschland ansässig ist, normalerweise verpflichtet, dort Mehrwertsteuer zu entrichten. Frankreichs Berufung auf das Urteil Genius Holdings für seinen Vorschlag, die Mitgliedstaaten ... [sollten] vorsehen, dass jede zu Unrecht in Rechnung gestellte Steuer berichtigt werden kann, wenn der Aussteller der Rechnung seinen guten Glauben nachweist", geht fehl. Dieses obiter dictum betrifft allein die dort beschriebenen Umstände, nämlich die Auswirkungen fehlerhafter Rechnungen. Es ersetzt nicht die korrekte Anwendung des Artikels 9 der Sechsten Richtlinie.

35. Meiner Ansicht nach stellt Artikel 9 in Verbindung mit der Achten Richtlinie ein kohärentes System zur Lösung von Kompetenzkonflikten bereit. Wenn einer der in Artikel 9 Absatz 2 aufgelisteten besonderen Fälle vorliegt, aber auch nur dann, wird die Dienstleistung in der Tat dem Mitgliedstaat zugeordnet, in dem sie erbracht wird. Die Achte Richtlinie ermöglicht die Erstattung der Steuer, die ein Steuerpflichtiger in einem anderen Mitgliedstaat an den betreffenden Dienstleistungserbringer gezahlt hat. Dadurch soll die innerhalb eines einzelnen Mitgliedstaats geltende Vorsteuerabzugsregelung ersetzt werden. Die Übernahme eines anderen Ansatzes für die Fälle, in denen zwei Mitgliedstaaten betroffen sind, würde die Regelung eher komplizieren als vereinfachen. Der Hauptdienstleistungserbringer (hier der Hauptunternehmer) wäre, wie die Kommission erklärt hat, gezwungen, eine nur pro forma bestehende oder fiktive Niederlassung in einem zweiten Mitgliedstaat zu eröffnen.

36. Folglich lehnt Frankreich meiner Meinung nach eindeutig zu Unrecht die Erstattung nach der Achten Richtlinie ab. Seine Ablehnung beruht auf einer fehlerhaften Auslegung des Artikels 9 Absatz 2 Buchstabe c vierter Gedankenstrich.

37. Andererseits hat die Kommission nicht nachgewiesen, dass Frankreich die fraglichen Regelungen auch auf andere Bereiche als Abfallbehandlungsverträge zu Unrecht angewandt hätte. Tatsächlich bezieht sich das betreffende Rundschreiben offenbar nur auf Abfallbehandlungsverträge. Zwar wäre eine weiter gehende Anwendung des gleichen Grundsatzes ebenfalls ein Verstoß Frankreichs gegen seine Verpflichtungen aus der Achten Richtlinie; die Kommission hat aber keine solche Anwendung bewiesen. Ich schlage dem Gerichtshof deswegen vor, die von der Kommission beantragte Feststellung zu treffen, sie aber auf die Art und Weise zu beschränken, in der Frankreich die hier streitigen Verträge behandelt.

V - Ergebnis

38. Meines Erachtens sollte der Gerichtshof

1. feststellen, dass Frankreich dadurch gegen seine Verpflichtungen aus der Achten Richtlinie, insbesondere aus deren Artikel 2, verstoßen hat, dass es die Erstattung der Mehrwertsteuer an nicht in Frankreich ansässige Steuerpflichtige abgelehnt hat, wenn diese einen Teil ihrer Arbeiten im Rahmen eines komplexen Abfallbehandlungsvertrags an einen in Frankreich ansässigen Steuerpflichtigen weitervergeben haben;

2. der Französischen Republik die Kosten auferlegen.