C-50/87 - Kommission / Frankreich

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EUR-Lex - 61987C0050 - DE

61987C0050

Schlussanträge des Generalanwalts Sir Gordon Slynn vom 25. Mai 1988. - KOMMISSION DER EUROPAEISCHEN GEMEINSCHAFTEN GEGEN FRANZOESISCHE REPUBLIK. - VERTRAGSVERLETZUNG EINES MITGLIEDSTAATS - ARTIKEL 17 BIS 20 DER RICHTLINIE 77/388/EWG DES RATES VOM 17. MAI 1977 - EINSCHRAENKUNG DES RECHTS ZUM ABZUG DER MEHRWERTSTEUER FUER VERMIETETE GRUNDSTUECKE. - RECHTSSACHE 50/87.

Sammlung der Rechtsprechung 1988 Seite 04797
Schwedische Sonderausgabe Seite 00599
Finnische Sonderausgabe Seite 00615


Schlußanträge des Generalanwalts


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Herr Präsident,

meine Herren Richter!

Nach den Artikeln 233 A bis 233 E der französischen allgemeinen Abgabenordnung in die das französische Dekret Nr . 79-310 vom 9 . April 1979 ( JORF vom 19 . 4 . 1979, S . 902 ) übernommen wurde, können Unternehmen, die Gebäude vermieten, nur einen Teil der Mehrwertsteuer, die für den Erwerb oder die Bebauung der betreffenden Grundstücke zu entrichten war, abziehen, wenn der Betrag der jährlichen Mieteinnahmen ein Fünfzehntel des Grundstückswertes unterschreitet . Als Grundstückswert gilt die mehrwertsteuerrechtliche Besteuerungsgrundlage des Grundstücks abzueglich des Geländewertes und der Finanzierungskosten . Die Regelung enthält eine Formel zur Berechnung des abziehbaren Teils und für die in bestimmten Fällen vorzunehmenden Berichtigungen; nähere Angaben dazu finden sich im Sitzungsbericht, so daß ich hier darauf nicht weiter einzugehen brauche .

Die Kommission hält diese Regelung für mit der Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17 . Mai 1977 ( ABl . 1977, L 145, S . 1 ) über die einheitliche mehrwertsteuerpflichtige Bemessungsgrundlage (" Sechste Richtlinie ") unvereinbar . Nachdem die Kommission einförmliches Aufforderungsschreiben vom 27 . März 1985 gemäß Artikel 169 EWG-Vertrag abgesandt und eine mit Gründen versehene Stellungnahme vom 14 . Mai 1986 abgegeben hatte, erhob sie am 18 . Februar 1987 vor dem Gerichtshof die vorliegende Klage, mit der sie beantragt, festzustellen, daß Frankreich dadurch gegen seine Verpflichtungen aus den Artikeln 99 und 100 EWG-Vertrag verstossen hat, daß es eine steuerrechtliche Regelung eingeführt und beibehalten hat, wonach für bestimmte Steuerpflichtige das Recht auf Abzug der entrichteten Mehrwertsteuer (" Vorsteuer ") bei Entstehen des Anspruchs auf die abziehbare Steuer eingeschränkt wird, und daß es der Sechsten Richtlinie, insbesondere den Artikeln 17 bis 20, nicht nachgekommen ist .

Frankreich macht mit einem ersten Einwand die Unzulässigkeit der Klage geltend . In dem förmlichen Aufforderungsschreiben sei die Unvereinbarkeit mit der Sechsten Richtlinie gerügt worden, während in der mit Gründen versehenen Stellungnahme und in der Klageschrift darauf abgestellt werde, daß Frankreich gegen die Artikel 99 und 100 EWG-Vertrag verstossen habe, weil es das Dekret erlassen und der Sechsten Richtlinie nicht nachgekommen sei .

Meines Erachtens weist Frankreich zu Recht auf die Bedeutung des förmlichen Aufforderungsschreibens hin, das den Mitgliedstaat, an den es gerichtet ist, angemessen über den Gegenstand des gegen ihn erhobenen Vorwurfs unterrichten soll . Die Kommission hat in diesem ersten Stadium klar und eindeutig die Rechtsgrundlage für ihr Vorbringen, daß ein Mitgliedstaat gegen seine Vertragspflichten verstossen habe, anzugeben ( Schlussanträge in der Rechtssache 254/83, Kommission/Italien, Slg . 1984, 3395, 3401 f ., und in der Rechtssache 193/80, Kommission/Italien, Slg . 1981, 3019, 3039 f .).

Im vorliegenden Fall ist es jedoch offensichtlich, daß sowohl in dem Aufforderungsschreiben als auch in der mit Gründen versehenen Stellungnahme sowie in der Klageschrift im wesentlichen ein Verstoß der französischen Regelung gegen die Sechste Richtlinie gerügt wird . Frankreich hatte in allen Verfahrensstadien genügend Gelegenheit, sich zu diesem Vorbringen zu äussern, so daß ihm meines Erachtens nicht seine Rechte im Rahmen des Verfahrens nach Artikel 169 beschnitten wurden ( Rechtssache 211/81, Kommission/Dänemark, Slg . 1982, 4547 ). Bei dem in der mit Gründen versehenen Stellungnahme und der Klageschrift enthaltenen Hinweis auf die Artikel 99 und 100 EWG-Vertrag, auf denen die Sechste Richtlinie beruht, dürfte es sich um eine - vielleicht falsch aufgefasste - Formalität handeln, die jedenfalls in der mündlichen Verhandlung nicht aufgegriffen wurde . Ich für meinen Teil halte die Klage für zulässig .

Sowohl im schriftlichen Verfahren als auch in der mündlichen Verhandlung hat Frankreich sich bemüht, die Einschränkung des Mehrwertsteuerabzugs zu begründen und die aufgestellte Formel durch Zahlenbeispiele zu rechtfertigen, die - wie mehrfach ausgeführt wurde - Steuerhinterziehungen verhüten oder, allgemeiner gesagt, den Abzug der Mehrwertsteuer in den Fällen ausschließen soll, in denen Räumlichkeiten von bestimmten Unternehmen an verbundene Unternehmen oder von Gebietskörperschaften aus in Wirklichkeit sozialen Erwägungen gegen unrealistisch niedrige Mieten vermietet werden : Wenn ein vollständiger Abzug der für die Errichtung oder den Erwerb eines Gebäudes entrichteten Vorsteuer anläßlich einer Vermietung gegen eine sehr niedrige Miete gestattet würde, könne das betreffende Unternehmen weit mehr abziehen, als es zu zahlen habe, und sich auf diese Weise zu Lasten der Staatskasse einen Vorteil verschaffen .

Wenn, wie Frankreich behauptet, eine derartige Regelung getroffen werden darf, dann erscheinen die vorgelegten konkreten Zahlen auf den ersten Blick überzeugend . Es ist jedoch gerade fraglich, ob eine solche Regelung nach der Sechsten Richtlinie zulässig ist .

Nach Ansicht der Kommission enthält die Sechste Richtlinie keine Bestimmung, die eine derartige Rgelung erlaubte .

Ausgangspunkt unserer Prüfung muß meines Erachtens Artikel 4 Absatz 1 der Sechsten Richtlinie sein, wonach "als Steuerpflichtiger gilt, wer eine der in Absatz 2 genannten wirtschaftlichen Tätigkeiten selbständig und unabhängig von ihrem Ort ausübt, gleichgültig zu welchem Zweck und mit welchem Ergebnis ". Derartige Tätigkeiten "sind alle Tätigkeiten eines Erzeugers, Händlers oder Dienstleistenden ". "Als wirtschaftliche Tätigkeit gilt auch eine Leistung, die die Nutzung von körperlichen oder nicht körperlichen Gegenständen zur nachhaltigen Erzielung von Einnahmen umfasst ." Nach Artikel 4 Absatz 3 können ausserdem "die Mitgliedstaaten ... auch solche Personen als Steuerpflichtige betrachten, die gelegentlich eine der in Absatz 2 genannten Tätigkeiten ausüben ". Wenn also die fraglichen Unternehmen die betreffenden Vermietungen nur gelegentlich vornähmen, hätte Frankreich dafür optieren können, sie nicht als Steuerpflichtige zu betrachten . Wenn hingegen die Tätigkeiten regelmässig und nicht nur gelegentlich ausgeuebt werden, dann ist das betreffende Unternehmen ein Steuerpflichtiger .

Die Richtlinie gestattet den Mitgliedstaaten jedoch, die Vermietung und Verpachtung von Grundstücken ( mit bestimmten Ausnahmen ) "unter den Bedingungen, die sie zur Gewährleistung einer korrekten und einfachen Anwendung der ... Befreiungen sowie zur Verhütung von Steuerhinterziehungen, Steuerumgehungen und etwaigen Mißbräuchen festsetzen", von der Steuer zu befreien ( Artikel 13 Teil B Buchstabe b ). Die Mitgliedstaaten können ferner ihren Steuerpflichtigen das Recht einräumen, bei der Vermietung und Verpachtung von Grundstücken für eine Besteuerung zu optieren ( Artikel 13 Teil C Buchstabe a ).

Sobald der Anspruch auf Mehrwertsteuer entsteht, gilt die grundlegende Vorschrift des Artikels 17 : "1 ) Das Recht auf Vorsteuerabzug entsteht, wenn der Anspruch auf die abziehbare Steuer entsteht . 2 ) Soweit die Gegenstände und Dienstleistungen für Zwecke seiner besteuerten Umsätze verwendet werden, ist der Steuerpflichtige befugt, von der von ihm geschuldeten Steuer folgende Beträge abzuziehen : a ) die geschuldete oder entrichtete Mehrwertsteuer für Gegenstände und Dienstleistungen, die ihm von einem anderen Steuerpflichtigen geliefert wurden oder geliefert werden bzw . erbracht wurden oder erbracht werden ... " Die Durchführungsbestimmungen zu dieser grundlegenden Vorschrift finden sich in den Artikeln 17 bis 20 der Sechsten Richtlinie .

Die Richtlinie gestattet zwei Abweichungen von dieser grundsätzlichen Vorschrift . Erstens enthält Artikel 20 detaillierte Regeln für die unter bestimmten Umständen vorzunehmende Berichtigung früher gewährter Vorsteuerabzuege . Insbesondere kann nach Artikel 20 Absatz 1 Buchstabe a eine Berichtigung vorgenommen werden, wenn der Vorsteuerabzug in Wirklichkeit höher oder niedriger ist als der, zu dessen Vornahme der Steuerpflichtige berechtigt war . Zweitens kann der Rat nach Artikel 27 jeden Mitgliedstaat ermächtigen, von der Richtlinie abzuweichen, "um die Steuererhebung zu vereinfachen oder Steuerhinterziehungen oder -umgehungen zu verhüten ".

Vorbehaltlich dieser möglichen Abweichungen ist Artikel 17 so zu verstehen - und ich halte in der Tat allein diese Auslegung für möglich -, daß das Recht auf Vorsteuerabzug in vollem Umfang zu dem Zeitpunkt entsteht, zu dem der Anspruch auf die abziehbare Steuer entsteht . Solange keine besondere Genehmigung gemäß Artikel 27 vorliegt, kann weder dieser Artikel noch irgendeine andere Bestimmung der Richtlinie so ausgelegt werden, als ermächtigte sie einen Mitgliedstaat, während einer bestimmten Anzahl von Jahren lediglich den Abzug eines Teils der Vorsteuer zu gestatten .

Dagegen spricht nicht Artikel 13 Teil B, wonach die Mitgliedstaaten die Vermietung und Verpachtung von Grundstücken "unter den Bedingungen, die sie zur Gewährleistung einer korrekten und einfachen Anwendung der ... Befreiungen sowie zur Verhütung von Steuerhinterziehungen, Steuerumgehungen und etwaigen Mißbräuchen festsetzen", von der Steuer befreien . In dieser Bestimmung geht es meines Erachtens um die Voraussetzungen, die vorliegen müssen, bevor das Recht auf Vorsteuerabzug entsteht; sie kann nicht das Recht auf Vorsteuerabzug einschränken, wenn dieses erst einmal entstanden ist .

Ich finde auch weder im Wortlaut noch in der Zielsetzung der in den Artikeln 17 bis 20 enthaltenen Regelung über den Vorsteuerabzug einen Anhaltspunkt dafür, daß es zulässig wäre, Steuerpflichtigen nur den Abzug eines Teils der entrichteten Mehrwertsteuer zu gestatten . Eine dahin gehende Auslegung stuende meines Erachtens jedenfalls im Widerspruch zu den Urteilen des Gerichtshofes in der Rechtssache 15/81 ( Gaston Schul Douane Expediteur BV/Inspecteur der Invörrechten en Accijnzen, Slg . 1982, 1409, 1426, Randnr . 10 ) und in der Rechtssache 268/83 ( Rompelman/Minister van Financien, Slg . 1985, 655, 663 f ., Randnr . 16 ). In der letztgenannten Rechtssache hat der Gerichtshof ausgeführt, es sei "ein grundlegendes Element des Mehrwertsteuersystems, daß bei allen Umsätzen die Mehrwertsteuer abzueglich des Mehrwertsteuerbetrags geschuldet wird, der die verschiedenen Kostenelemente der Gegenstände und Dienstleistungen unmittelbar belastet . Ferner ist der Mechanismus des Vorsteuerabzugs so ausgestaltet, daß allein die Steuerpflichtigen befugt sind, von der von ihnen geschuldeten Mehrwertsteuer die Mehrwertsteuer abzuziehen, mit der die Gegenstände bereits vorher belastet worden sind ." Durch die Regelung über den Vorsteuerabzug soll der Unternehmer von der im Rahmen seiner wirtschaftlichen Tätigkeit geschuldeten oder entrichteten Mehrwersteuer vollständig entlastet werden, so daß alle wirtschaftlichen Tätigkeiten, sofern sie der Mehrwertsteuer unterliegen, unabhängig von ihrem Zweck und ihrem Ergebnis in völlig neutraler Weise steuerlich belastet werden ( Randnr . 19 des Urteils Rompelman ). Dies steht nicht im Einklang mit der - für die Argumentation der Französischen Republik zentralen - These, die Ausübung des Rechts auf Vorsteuerabzug könne gegebenenfalls teilweise aufgeschoben werden .

Die Französische Republik beruft sich weiter auf Artikel 2 Absatz 2 der Richtlinie 67/227/EWG ( ABl . vom 14 . 4 . 1967, S . 1301; "Erste Richtlinie "), wonach "bei allen Umsätzen ... die Mehrwertsteuer, die nach dem auf den Gegenstand oder die Dienstleistung anwendbaren Steuersatz auf den Preis des Gegenstands oder der Dienstleistung errechnet wird, abzueglich des Mehrwertsteuerbetrags geschuldet (( wird )), der die verschiedenen Kostenelemente unmittelbar belastet hat ". Aufgrund dieser Bestimmung dürfe ein Mitgliedstaat das Recht auf Vorsteuerabzug einschränken, wenn er nachweisen könne, daß der Abzug sich auf Gegenstände oder Dienstleistungen beziehe, deren Kosten nicht auf den Preis des besteuerten Umsatzes aufgeschlagen würden .

Ich halte dieses Argument nicht für stichhaltig . Dieser Artikel der Ersten Richtlinie muß im Lichte des weiter verfeinerten, in der Sechsten Richtlinie enthaltenen harmonisierten Mehrwertsteuersystems ausgelegt werden . Meines Erachtens geht aus den söben zitierten Passagen der Urteile des Gerichtshofes in den Rechtssachen Gaston Schul und Rompelman klar hervor, daß die Mehrwertsteuer auf einen Umsatz nur abzueglich der Vorsteuer geschuldet wird und daß der Unternehmer von der im Rahmen seiner wirtschaftlichen Tätigkeit geschuldeten oder entrichteten Mehrwertsteuer vollständig entlastet werden soll . Ein Mitgliedstaat ist somit nicht befugt, das Recht auf Vorsteuerabzug dann einzuschränken, wenn er nachweisen kann, daß sich der Abzug auf Gegenstände und Dienstleistungen bezieht, deren Kosten nicht auf den Preis des besteuerten Umsatzes abgewälzt wird . Wenn er dazu berechtigt wäre, bliebe der Steuerpflichtige mit der von ihm als Vorsteuer entrichteten Mehrwertsteuer belastet, was eindeutig im Widerspruch zu der Auslegung stuende, die der Gerichtshof unter Bezugnahme auf die Zielsetzung und Funktionsweise der Regelung über den Vorsteuerabzug bereits gegeben hat .

Die Richtlinie sieht also bestimmte Optionen für bestimmte wirtschaftliche Situationen vor : in Artikel 4, in Artikel 13 Teil A, Teil B und Teil C, in Artikel 20 und in Artikel 27 . Weitere Optionen sind daneben nicht möglich, wie praktisch oder wirtschaftlich vertretbar sie auch immer erscheinen mögen . Die Mitgliedstaaten müssen sich für eine der in der Richtlinie vorgesehenen Optionen entscheiden, um das von ihnen verfolgte Ziel soweit wie möglich zu erreichen .

Das Dekret Nr . 79-310 ist folglich nicht mit der durch die Sechste Richtlinie festgelegten einheitlichen Bemessungsgrundlage vereinbar .

Der Klage der Kommission auf eine dahin gehende Feststellung ist daher meines Erachtens stattzugeben; der französischen Regierung sind die Kosten des Verfahrens aufzuerlegen .

(*) Aus dem Englischen übersetzt .