C-203/87 - Kommission / Italien

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EUR-Lex - 61987C0203 - DE

61987C0203

Schlussanträge des Generalanwalts Mischo vom 2. Dezember 1988. - KOMMISSION DER EUROPAEISCHEN GEMEINSCHAFTEN GEGEN ITALIENISCHE REPUBLIK. - VERTRAGSVERLETZUNGSVERFAHREN - VORUEBERGEHENDE ABWEICHUNG VON DER MEHRWERTSTEUERREGELUNG. - RECHTSSACHE 203/87.

Sammlung der Rechtsprechung 1989 Seite 00371


Schlußanträge des Generalanwalts


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Herr Präsident,

meine Herren Richter!

1 . Am 3 . November 1981 erließ der Rat auf Ersuchen der italienischen Regierung die Entscheidung 81/890 zur Ermächtigung der Italienischen Republik, im Rahmen der Hilfe zugunsten der Erdbebenopfer in Süditalien vorübergehend von der Mehrwertsteuerregelung abzuweichen ( ABl . L 322, S . 40 ).

2 . Durch Artikel 1 dieser Entscheidung wurde die Italienische Republik ermächtigt, bis zum 31 . Dezember 1981 eine Steuerbefreiung mit Erstattung der auf der vorausgehenden Stufe entrichteten Steuern auf die Umsätze, deren Verzeichnis nebst den Bedingungen für die Steuerbefreiungen im Anhang der Entscheidung aufgeführt war, anzuwenden . Es handelt sich um verschiedene Umsätze bei der Lieferung von Gegenständen und der Erbringung von Dienstleistungen, die als solche unstreitig in den Anwendungsbereich der Sechsten Richtlinie 77/388 ( ABl . L 145, S . 1 ) des Rates fallen, wie er in Artikel 2 definiert ist . Nach diesem Artikel unterliegen der Mehrwertsteuer :

1)Lieferungen von Gegenständen und Dienstleistungen, die ein Steuerpflichtiger als solcher im Inland gegen Entgelt ausführt;

2 ) die Einfuhr von Gegenständen ".

3 . Diese Ermächtigung wurde bis zum 31 . Dezember 1982 durch die Entscheidung 82/424 des Rates vom 21 . Januar 1982 ( ABl . L 184, S . 26 ) und bis zum 31 . Dezember 1983 durch die Entscheidung 84/87 des Rates vom 6 . Februar 1984 ( ABl . L 40, S . 30 ) verlängert . Die Italienische Republik behielt die abweichende Regelung jedoch durch aufeinanderfolgende Decreti-legge von 1984, 1985 und 1986 bei; sie hat dem Gerichtshof in Beantwortung einer Frage mitgeteilt, daß die abweichende Regelung bis zum 31 . Dezember 1988 in Kraft bleibe . Die Kommission hat deshalb gegen die Italienische Republik eine Klage gemäß Artikel 169 EWG-Vertrag erhoben, zu deren Begründung sie geltend macht, daß ein Verstoß gegen Artikel 2 der Sechsten Mehrwertsteuerrichtlinie vorliege .

4 . Die Klägerin macht geltend, daß der Umstand, daß die Italienische Republik Umsätze von der Steuer befreie, für die nach der Richtlinie Mehrwertsteuer erhoben werden müsste, eine Abweichung darstelle, für die kein Rechtsgrund vorliege . Von der Richtlinie könne nämlich nur in den im Abschnitt X der Richtlinie vorgesehenen Fällen oder aufgrund einer Ad-hoc-Ermächtigung des Rates abgewichen werden . Diese Ermächtigung bestehe seit dem 31 . Dezember 1983 nicht mehr, und die von Italien bis zum 31 . Dezember 1988 beibehaltene Steuerbefreiung sei nicht durch Abschnitt X gedeckt . Der Verstoß gegen die Richtlinie und insbesondere gegen deren Artikel 2 sei somit eindeutig und unbestreitbar .

5 . Die Italienische Republik trägt verschiedene Argumente in bezug auf Art und Zweck der in der Sechsten Richtlinie vorgesehenen Steuerbefreiungen vor .

6 . Die Beklagte vertritt die Ansicht, entgegen der Auffassung der Kommission sei Abschnitt X nicht erschöpfend . Es gebe mit anderen Worten Abweichungen von der Richtlinie, die trotz des Umstands, daß sie nicht in den in diesem Abschnitt enthaltenen Artikeln 13 bis 16 aufgeführt seien, zulässig seien . Daß Abweichungen der hier in Rede stehenden Art nicht angeführt seien, deute nur darauf hin, daß sie nicht zu den von der Richtlinie selbst berücksichtigten Sachverhalten gehörten .

7 . Ich kann diesen Standpunkt nicht teilen, zu dem im übrigen das Verhalten der Beklagten im Widerspruch steht, die selbst den Rat um Ermächtigung zu einer Abweichung von der Richtlinie ersucht hat . Sie war also sehr wohl der Ansicht, daß die Maßnahmen, die sie ergreifen wollte, in den von der Richtlinie geregelten Bereich fielen .

8 . Ferner geht der erschöpfende Charakter des Abschnitts X der Richtlinie ebenso deutlich aus der Begründung des Vorschlags für die Sechste Richtlinie hervor, den die Kommission dem Rat am 29 . Juni 1973 vorlegte . Dort heisst es nämlich, daß "die Aufstellung dieser gemeinsamen Regeln darin (( besteht )), einen Anwendungsbereich der Mehrwertsteuer festzulegen, der in den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften identisch definiert ist, insbesondere hinsichtlich ... der steuerpflichtigen oder steuerbefreiten Umsätze ..." ( 1 ). Die Kommission fügt in ihrer Kommentierung zu Abschnitt X hinzu : "Während in Artikel 10 Absatz 3 der Zweiten Richtlinie vom 11 . April 1967 den Mitgliedstaaten bezueglich der Steuerbefreiungen ... völlig freie Hand gelassen werden konnte, macht die Festlegung einer einheitlichen steuerpflichtigen Bemessungsgrundlage, die zur Gewährleistung der Gleichmässigkeit bei der Erhebung der Eigenmittel der Gemeinschaften in den einzelnen Mitgliedstaaten unerläßlich ist, auch eine einheitliche Festlegung der Fälle von Steuerbefreiungen erforderlich . ( 2 )"

9 . Es ist klar, daß dieses Ziel der Einheitlichkeit nicht erreicht würde, wenn die Bestimmungen des Abschnitts X nicht als erschöpfend angesehen würden und es den Mitgliedstaaten infolgedessen freistuende, Steuerbefreiungen ihrer Wahl zu gewähren .

10 . Die Beklagte macht unter Berufung auf die elfte Begründungserwägung der Richtlinie noch geltend, daß die Einheitlichkeit der Erhebung der Eigenmittel gerade deren wesentliches Ziel darstelle . Die von ihr ergriffenen Maßnahmen zur Steuerbefreiung beachteten dieses Ziel voll und ganz, denn sie seien entsprechend den vom Rat festgelegten Voraussetzungen so geregelt worden, daß jede Auswirkung auf die Eigenmittel ausgeschlossen sei .

11 . Hier halte ich zwei Bemerkungen für erforderlich . Jedenfalls beachtet die Italienische Republik nicht alle vom Rat festgesetzten Voraussetzungen, da sie die fraglichen Steuerbefreiungen weiterhin über die von diesem gesetzte Frist hinaus gewährt .

12 . Zweitens ist das Ziel der einheitlichen Erhebung der Eigenmittel zwar wichtig, es stellt jedoch nicht das einzige Ziel dar, das mit der Richtlinie verfolgt wird, wie insbesondere die vierte Begründungserwägung zeigt, die von der langfristigen Verwirklichung eines gemeinsamen Marktes spricht, auf dem ein gesunder Wettbewerb herrscht und der mit einem echten Binnenmarkt vergleichbare Merkmale aufweist . Der Gerichtshof hat ausserdem jüngst hierauf hingewiesen ( 3 ).

13 . Die Italienische Republik führt auch aus, daß die ausserordentlichen und zeitlich begrenzten Umstände, von denen die Ermächtigungsentscheidung des Rates bei ihrem Erlaß geleitet worden sei, immer noch vorlägen . Die Kommission vertritt die Ansicht, daß drei Jahre nach dem Erdbeben die Wiederaufbauarbeiten im wesentlichen hätten abgeschlossen sein müssen und daß deshalb eine Verlängerung der Steuerbefreiungen nicht mehr gerechtfertigt sei . Ich denke, daß der Kommission hierbei kein offensichtlicher Beurteilungsirrtum unterlaufen ist .

14 . Die Beklagte führt schließlich aus, daß die Kommission ihr logischerweise einen Verstoß gegen die letzte Entscheidung des Rates und nicht gegen Artikel 2 der Richtlinie hätte vorwerfen müssen . Ich teile selbstverständlich die Auffassung der Kommission, daß die Italienische Republik, nachdem die Rechtsgrundlage für die ihr gewährte Abweichung entfallen ist, wieder dem einschlägigen Gemeinschaftsrecht, nämlich der Richtlinie 77/388, unterliegt . Artikel 2 dieser Richtlinie enthält den Grundsatz, wonach alle Lieferungen von Gegenständen und Dienstleistungen sowie die Einfuhr von Gegenständen der Mehrwertsteuer unterliegen .

15 . Die Beklagte darf deshalb nicht Umsätze, die der Richtlinie nach deren Artikel 2 unterliegen und die nicht in die erschöpfende Aufzählung des Abschnitts X aufgenommen worden sind, unter dem Vorwand von der Steuer befreien, daß es unter den mit der Richtlinie verfolgten Zwecken einen gebe, gegen den ihr Verhalten nicht verstosse .

16 . In der mündlichen Verhandlung hat die Italienische Republik noch geltend gemacht, daß die beibehaltenen Steuerbefreiungen durch Artikel 92 Absatz 2 Buchstabe b EWG-Vertrag gedeckt seien, wonach "Beihilfen zur Beseitigung von Schäden, die durch Naturkatastrophen oder sonstige aussergewöhnliche Ereignisse entstanden sind", mit dem Gemeinsamen Markt vereinbar sind . Nach Artikel 42 § 2 der Verfahrensordnung des Gerichtshofes können jedoch neue Angriffs - und Verteidigungsmittel im Laufe des Verfahrens nicht mehr vorgebracht werden, es sei denn, daß sie auf rechtliche oder tatsächliche Gründe gestützt würden, die erst während des schriftlichen Verfahrens zutage getreten sind . Dies ist hier nicht der Fall .

17 . Aus allen diesen Gründen schlage ich Ihnen vor, der Klage der Kommission stattzugeben und

- festzustellen, daß die Italienische Republik dadurch gegen Artikel 2 der Richtlinie 77/388 des Rates vom 17 . Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern - Gemeinsames Mehrwertsteuersystem : einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage ( Sechste Mehrwertsteuerrichtlinie ) verstossen hat, daß sie von 1984 bis einschließlich 1988 eine Befreiung von der Mehrwertsteuer mit Erstattung der auf der vorangegangenen Stufe gezahlten Umsatzsteuern für bestimmte Umsätze zugunsten der Opfer des Erdbebens in Kampanien und der Basilicata gewährt hat, und

- der Italienischen Republik die Kosten des Verfahrens aufzuerlegen .

(*) Originalsprache : Französisch .

( 1 ) Siehe das Bulletin der Europäischen Gemeinschaften - Beilage 11/73, S . 7 .

( 2 ) A . a . O ., S . 16 .

( 3 ) Siehe unter anderem das Urteil vom 12 . Juli 1988 in den verbundenen Rechtssachen 138 und 139/86, Direct Cosmetics u . a ., Slg . 1988, 3937, Randnr . 23, und das Urteil vom 5 . Juli 1988 in der Rechtssache 289/86, Vereniging Happy Family, Slg . 1988, 3655, Randnr . 16 .