C-35/90 - Kommission / Spanien

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EUR-Lex - 61990C0035 - DE

61990C0035

Schlussanträge des Generalanwalts Tesauro vom 7. Mai 1991. - KOMMISSION DER EUROPAEISCHEN GEMEINSCHAFTEN GEGEN KOENIGREICH SPANIEN. - MEHRWERTSTEUER - RICHTLINIE 77/388/EWG - NATIONALE RECHTSVORSCHRIFTEN, DIE NICHT DER RICHTLINIE ENTSPRECHEN. - RECHTSSACHE C-35/90.

Sammlung der Rechtsprechung 1991 Seite I-05073


Schlußanträge des Generalanwalts


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Herr Präsident,

meine Herren Richter!

1. Mit der vorliegenden Klage wird die Feststellung begehrt, daß das Königreich Spanien dadurch gegen Artikel 2 Absatz 1 der Sechsten Richtlinie (77/388/EWG) des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern - Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage (ABl. L 145, S. 1; nachstehend: Richtlinie) und somit gegen seine Verpflichtungen aus dem EWG-Vertrag verstossen hat, daß es die beruflichen Dienstleistungen - einschließlich solcher, für die als Gegenleistung Urheberrechtsgebühren gezahlt werden - der bildenden Künstler, Schriftsteller, literarischen, graphischen und photographischen Mitarbeiter von Zeitungen und Zeitschriften, Komponisten, Autoren von Theaterstücken und Verfasser von Texten, Bearbeitungen, Drehbüchern oder Dialogen audiovisueller Werke von der Mehrwertsteuer befreit hat.

2. Ich möchte kurz auf einige Umstände des vorliegenden Falles hinweisen, die für den weiteren Vortrag erheblich sind, und im übrigen auf den Sitzungsbericht verweisen.

Das spanische Gesetz Nr. 30 vom 2. August 1985, durch das das Mehrwertsteuersystem eingeführt wurde, bestimmte in Artikel 7 Absatz 2, daß die genannten beruflichen Dienstleistungen der Mehrwertsteuer zum ermässigten Satz von 6 % unterliegen.

Zwei Jahre später wurden diese Dienstleistungen jedoch durch ein Gesetz über das geistige Eigentum (Gesetz Nr. 22 vom 11. November 1987) von der Mehrwertsteuer befreit.

Diese Befreiung erachtet die Kommission als Verstoß gegen den Grundsatz der allgemeinen Anwendbarkeit der Steuer nach Artikel 2 Nr. 1 der Richtlinie, die Gegenstand der vorliegenden Klage ist.

3. Die spanische Regierung macht geltend, daß die Steuerbefreiung, um die es gehe, aufgrund der Ausnahmeregelung nach Artikel 28 Absatz 3 Buchstabe b der Richtlinie gerechtfertigt sei.

Nach dieser Bestimmung können die Mitgliedstaaten während der Übergangszeit (die am 1. Januar 1983 beendet sein sollte, jedoch später verlängert wurde) "die in Anhang F aufgeführten Umsätze unter den in den Mitgliedstaaten bestehenden Bedingungen weiterhin befreien". Zu den Leistungen, die nach Anhang F befreit werden können, gehören gerade die "Dienstleistungen der Autoren, Künstler und Interpreten von Kunstwerken".

Nach Ansicht der spanischen Regierung ermächtigt diese Bestimmung alle Mitgliedstaaten, einschließlich derjenigen, die der Gemeinschaft später beigetreten sind, während der Übergangszeit nach Artikel 28 Absatz 4 die bei Inkrafttreten der Sechsten Richtlinie geltenden Steuerbefreiungen beizubehalten.

Da die dem Mehrwertsteuersystem vorausgegangene spanische Regelung die Dienstleistungen, um die es im vorliegenden Verfahren gehe, nicht der Steuer unterworfen habe, sei Spanien somit ermächtigt, in bezug auf diese Dienstleistungen eine vorübergehende Befreiungsregelung gemäß Artikel 28 anzuwenden.

4. Die Kommission weist diesen Standpunkt zurück und stützt sich hierfür auf zwei Argumente. Erstens könne Artikel 28 Absatz 3 wegen seines Ausnahmecharakters in Ermangelung einer speziellen Bestimmung in der Beitrittsakte nicht auf Staaten angewandt werden, die der Gemeinschaft später beigetreten seien. Dies werde e contrario dadurch bestätigt, daß im Falle Portugals in der Beitrittsakte ausdrücklich die Möglichkeit aufgeführt worden sei, einige der Umsätze im Sinne des Artikels 28 Absatz 3 Buchstabe b von der Mehrwertsteuer zu befreien. In der Akte über den Beitritt Spaniens finde sich hingegen keine Verweisung auf die betreffende Bestimmung, daß die Möglichkeit, sich zur Rechtfertigung der streitigen Steuerbefreiungen auf Artikel 28 Absatz 3 Buchstabe b zu berufen, ausgeschlossen werden müsse.

Zweitens macht die Kommission geltend, daß selbst dann, wenn festgestellt würde, daß sich Spanien auf die betreffende Ausnahmebestimmung berufen könne, die Steuerbefreiung, die Gegenstand des vorliegenden Verfahrens sei, jedenfalls nicht in den Anwendungsbereich der Bestimmung falle und in dieser keine Rechtfertigung finde. Die fragliche Bestimmung erlaube, wie eindeutig aus ihrem Wortlaut hervorgehe, nur, bestimmte Umsätze "weiterhin [zu] befreien". Sie ermögliche somit nur, eine bestehende Befreiungsregelung beizubehalten, jedoch nicht, wenn die Mehrwertsteuer einmal auf bestimmte Dienstleistungen erhoben worden sei, später eine Ausnahmeregelung einzuführen. Im vorliegenden Fall stehe nun fest, daß in Spanien aufgrund des Gesetzes Nr. 30 vom 2. August 1985 bis zum Inkrafttreten des Gesetzes Nr. 22 vom 11. November 1987, also mehr als zwei Jahre lang, die Tätigkeiten, um die es gehe, der allgemeinen Mehrwertsteuerregelung nach der Sechsten Richtlinie unterlegen hätten. Die Steuerbefreiung nach dem Gesetz von 1987 stelle also eindeutig eine neue Steuerbefreiung dar, die überhaupt nicht nach Artikel 28 Absatz 3 Buchstabe b gerechtfertigt sei.

5. Von den beiden Argumenten der Kommission erscheint mir das zweite maßgebend.

Der Wortlaut der Bestimmung ist überaus klar. Er erlaubt nur, bestimmte Umsätze "unter den in den Mitgliedstaaten bestehenden Bedingungen" weiterhin zu befreien. Hingegen ermächtigt diese Bestimmung nicht dazu, schlicht und einfach irgendwelche Umsätze, die vor dem Inkrafttreten der Richtlinie nicht der Steuer unterlagen, von der Steuer zu befreien. Mit anderen Worten, sobald ein Mitgliedstaat - wie gerade Spanien im vorliegenden Fall - in Durchführung der Richtlinie bestimmte Tätigkeiten der Mehrwertsteuer unterworfen hat, kann er sich später nicht auf Artikel 28 Absatz 3 Buchstabe b berufen, um eine Befreiung derselben Tätigkeiten von der Mehrwertsteuer einzuführen und diese der Anwendung der gemeinsamen Steuerregelung zu entziehen. Im übrigen wäre es mit den Grundsätzen der allgemeinen Anwendung und der Neutralität der Steuer, die der Richtlinie zugrunde liegen und die, wie die Kommission zu Recht ausgeführt hat, den Hauptschlüssel zum Verständnis der Bestimmungen mit Ausnahmecharakter darstellen, nicht zu vereinbaren, wenn den Mitgliedstaaten eine solche Möglichkeit geboten würde, abgesehen davon, daß sie durch den eindeutigen Wortlaut der Bestimmung nicht gerechtfertigt wäre.

Die vorgeschlagene Auslegung dürfte ausserdem völlig mit den Ausführungen des Gerichtshofes im Urteil vom 8. Juli 1986 in der Rechtssache 73/85 (Kerrutt, Slg. 1986, 2219) in Einklang stehen, wonach "diese Vorschrift ... schon ihrem Wortlaut nach der Einführung neuer Befreiungstatbestände oder der Ausweitung bereits bestehender Befreiungen nach dem Inkrafttreten der Richtlinie entgegensteht".

6. Im Lichte dieser Ausführungen gelange ich zu dem Ergebnis, daß der vorliegenden Klage stattgegeben werden kann, ohne daß es erforderlich wäre, das weitere Argument der Kommission näher zu prüfen, daß der beitretende Mitgliedstaat sich wegen des Schweigens der Beitrittsakte nicht auf Artikel 28 Absatz 3 Buchstabe b berufen könne. Dieses Argument erscheint mir im übrigen deshalb nicht überzeugend, weil der beitretende Mitgliedstaat in Ermangelung besonderer Beschränkungen oder Vorbehalte alle sich aus dem acquis communautaire ergebenden Rechte und Pflichten übernimmt, wozu in bezug auf die Sechste Richtlinie notwendigerweise auch die Bestimmungen des Artikels 28 gehören.

7. Ich schlage daher abschließend vor, der Klage stattzugeben und dem beklagten Mitgliedstaat die Kosten des Verfahrens aufzuerlegen.

(*) Originalsprache: Italienisch.