C-18/92 - Bally / Belgischer Staat

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EUR-Lex - 61992C0018 - DE

61992C0018

Schlussanträge des Generalanwalts Gulmann vom 3. März 1993. - CHAUSSURES BALLY SA GEGEN BELGISCHER STAAT, MINISTERE DES FINANCES. - ERSUCHEN UM VORABENTSCHEIDUNG: TRIBUNAL DE PREMIERE INSTANCE DE BRUXELLES - BELGIEN. - MEHRWERTSTEUER - SECHSTE RICHTLINIE - BESTEUERUNGSGRUNDLAGE. - RECHTSSACHE C-18/92.

Sammlung der Rechtsprechung 1993 Seite I-02871


Schlußanträge des Generalanwalts


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Herr Präsident,

meine Herren Richter!

1. Das Tribunal de première instance Brüssel hat dem Gerichtshof zwei Fragen zur Auslegung des Artikels 11 Teil A der Sechsten Mehrwertsteuerrichtlinie(1) zur Vorabentscheidung vorgelegt. Diese Fragen stellen sich im Rahmen einer Klage, die die belgische Gesellschaft Chaussures Bally S. A. gegen die belgischen Steuerbehörden erhoben hat, um eine von diesen getroffene Entscheidung aufheben zu lassen.

2. Das vorlegende Gericht hat in seinem Beschluß dargelegt, daß die Klägerin Bally-Schuhe über ein Netz von Läden in Belgien vertreibe und im übrigen folgendes festgestellt:

Die Kunden der von der Klägerin betriebenen Geschäfte entrichten den Preis für ihre Einkäufe bar, per Scheck oder auch mit Kreditkarten wie 'American Expreß' , 'Diners' usw.

Um mögliche Kunden, die als Zahlungsmittel eine Kreditkarte verwenden wollen, zufriedenzustellen, hat die Klägerin mit Instituten, die Kreditkarten ausgeben, Vereinbarungen der Kategorie 'magasin' (Geschäft) geschlossen.

Diese Institute behalten zu Lasten der angeschlossenen Kaufleute eine Provision ein, die im allgemeinen ungefähr 5 % des Betrages der Zahlung beträgt, die sie an die Kaufleute nach der Benutzung ihrer Kreditkarten tätigen (...).

Dieser Abzug bildet das Entgelt für die Dienstleistungen, die das Institut Diners den ihm angeschlossenen Einrichtungen garantiert.

So ziehen es einige Kreditkarten ausgebende Institute vor, eine Gesamtdienstleistung in Rechnung zu stellen (American Expreß), während andere der Auffassung sind, daß sich die Dienstleistung punktül auf jeden einzelnen Kauf beziehe (Diners); indessen wird die Provision oder der Abzug immer auf der Grundlage des Gesamtumsatzes in den Beziehungen zwischen der angeschlossenen Einrichtung und dem Ausgabeinstitut berechnet.

3. Aus dem Vorlagebeschluß ergibt sich weiterhin,

° daß sich Bally zum angegebenen Zeitpunkt an die belgische Steuerbehörde mit der Frage gewandt hatte, ob sie die Mehrwertsteuer auf den Gesamtkaufpreis zu entrichten habe oder ob sie nur bezueglich des Betrages, der ihr von den Kreditkarteninstituten nach Abzug von deren Provision gezahlt werde, steuerpflichtig sei, und

° daß im Rahmen des Ausgangsverfahrens die belgischen Steuerbehörden geltend machten, daß Besteuerungsgrundlage der erstgenannte Betrag sei, während Bally die Auffassung vertrete, daß Besteuerungsgrundlage der letztgenannte Betrag sei.

4. Die erste Vorlagefrage lautet wie folgt:

1. Artikel 11 Absatz 1 Buchstabe a der Sechsten Richtlinie:

Ist im Rahmen eines Verkaufs, bei dem die Zahlung mit einer Kreditkarte erfolgt, davon auszugehen, daß die Gegenleistung, die der dem Kreditkartensystem angeschlossene Händler vom Kreditinstitut für die Lieferung eines Gegenstandes erhält, sich auf eben den Betrag beschränkt, den der angeschlossene Händler von diesem Institut erhalten hat?

5. Artikel 11 der Richtlinie enthält Vorschriften über die Besteuerungsgrundlage. Artikel 11 Teil A stellt Regeln über die Besteuerungsgrundlage bei Umsätzen im Inland auf. Absatz 1 lautet:

"Die Besteuerungsgrundlage ist:

a) bei Lieferungen von Gegenständen ... alles was den Wert der Gegenleistung bildet, die der Lieferer ... für diese Umsätze vom Abnehmer oder Dienstleistungsempfänger oder von einem Dritten erhält oder erhalten soll ..."

Absätze 2 und 3 des Artikels 11 Teil A legen für bestimmte Fälle fest, was in die Besteuerungsgrundlage einzubeziehen (z. B. andere Abgaben mit Ausnahme der Mehrwertsteuer selbst sowie Verpackungs-, Beförderungs- und Versicherungskosten) und was nicht in die Besteuerungsgrundlage einzubeziehen ist (z. B. die Preisnachlässe durch Skonto für vorzeitige Zahlungen).

6. Es ist vielleicht hilfreich, wenn man anhand einiger Zahlen die praktischen Auswirkungen der verschiedenen Standpunkte, mit denen wir es zu tun haben, veranschaulicht.

Zum Beispiel ergibt sich, wenn

° der Mehrwertsteuersatz 20 % beträgt,

° der Kaufpreis vor Steuern 100 ECU beträgt und

° die vom Kreditkarteninstitut bei der Zahlung an den Käufer abgezogene Provision sich auf 5 % beläuft,

daß aufgrund der Auffassung der belgischen Behörden die Besteuerungsgrundlage für das Unternehmen 100 ECU beträgt, d. h. daß die geschuldete Mehrwertsteuer sich auf 20 ECU beläuft, während nach der Auffassung von Bally die Besteuerungsgrundlage lediglich 95 ECU beträgt, d. h. daß die geschuldete Mehrwertsteuer 19 ECU beträgt.

Sinnvoll kann ferner der Hinweis sein,

° daß der Verkäufer dem Käufer, d. h. dem Endverbraucher, die Mehrwertsteuer nach dem Gesamtbetrag berechnet und der Käufer einen "Zahlungsbeleg" über 120 ECU unterzeichnet hat,

° daß das Kreditkarteninstitut Bally 114 ECU zahlt, wobei die Provision von 5 % nach den Akten nach einem Verkaufspreis einschließlich Mehrwertsteuer berechnet wird, wie dies den Vereinbarungen zwischen Bally und den Kreditkarteninstituten entspricht, sowie

° daß nach Aktenlage aufgrund einer in der Richtlinie vorgesehenen Ausnahmebestimmung die Provision der Kreditkarteninstitute in Belgien nicht der Mehrwertsteuer unterliegt.

7. Bally weist in ihren schriftlichen Erklärungen gegenüber dem Gerichtshof im wesentlichen darauf hin, daß sie in Wahrheit von den Kreditkarteninstituten, wenn wir bei den Zahlen des Beispiels bleiben, als Bezahlung für die verkaufte Ware lediglich 95 ECU sowie 19 ECU erhält, die der Mehrwertsteuer auf die zur Bezahlung der Ware tatsächlich erhaltene Summe entspricht, daß mithin die 95 ECU als Gegenleistung zu betrachten sind, die sie von Dritten aus Anlaß des Verkaufs der Ware erhalten hat, und daß folglich diese Gegenleistung gemäß Artikel 11 Teil A die Besteuerungsgrundlage darstelle. Bally weist ferner darauf hin, daß in erster Linie die Karteninhaber, d. h. die Käufer, von der Dienstleistung der Kreditkarteninstitute profitierten, und daß es mithin nicht gerechtfertigt sei, daß das Unternehmen die Mehrwertsteuer nach den an die Kreditkarteninstitute gezahlten Beträgen zu entrichten habe, nur weil diese steuerbefreit seien.

Das belgische Finanzministerium, die englische Regierung und die Kommission gehen einvernehmlich davon aus, daß Artikel 11 Teil A so auszulegen sei, daß Besteuerungsgrundlage die Gesamtheit der Gegenleistung, d. h. 100 ECU, sei. Bei den Gründen, die für diese Auffassung angeführt werden, sind bestimmte Unterschiede festzustellen. Sie erklären sich insbesondere aus dem Unterschied der Standpunkte in der Frage, ob der Gegenwert für die gelieferte Ware vom Käufer oder von Dritten stammt, d. h. von den Kreditkarteninstituten.

8. Meines Erachtens lässt sich nicht mit guten Gründen in Zweifel ziehen, daß Artikel 11 Teil A dahin auszulegen ist, daß Besteuerungsgrundlage der Betrag ist, nach dem Bally den Käufern die Mehrwertsteuer berechnet, auch wenn diese mit Kreditkarte bezahlen.

Zweck des Artikels 11 Teil A ist in erster Linie die Besteuerungsgrundlage ° den steuerbaren Wert ° für Gegenstände festzulegen, die ein Lieferant einem Käufer liefert, so daß der letztgenannte die Mehrwertsteuer nach dem in dem Mitgliedstaat geltenden Satz auf der Grundlage der so festgelegten Besteuerungsgrundlage zahlt. Die Mehrwertsteuer wird letztlich vom Endverbraucher in Höhe eines Prozentsatzes der Besteuerungsgrundlage "gezahlt", wie dies Artikel 12 Absatz 3 der Richtlinie entspricht. Die ins einzelne gehenden Vorschriften des Artikels 11 Teil A Absätze 1 bis 3 wollen in erster Linie die Probleme lösen, die sich in der Praxis häufig stellen, wenn der steuerpflichtige Lieferant gegenüber demjenigen, der die Mehrwertsteuer für den gelieferten Gegenstand zu entrichten hat, die Besteuerungsgrundlage zu ermitteln hat(2).

9. Folgte man dem Standpunkt von Bally, so könnte dies auf einen möglichen Unterschied zwischen der Besteuerungsgrundlage, die verwandt wird, um die Mehrwertsteuer gegenüber dem Endverbraucher geltend zu machen, und der Besteuerungsgrundlage hinauslaufen, die für die Festsetzung der vom Steuerpflichtigen an die Behörden zu entrichtenden Mehrwertsteuer maßgebend ist. Einen solchen Unterschied als möglich einzuräumen, scheint mir mit dem System der Richtlinie schwer vereinbar zu sein. Auf jeden Fall ist Bally nicht der Nachweis gelungen, daß im konkreten Fall ein solcher Unterschied bestehen müsste.

10. Es gibt meiner Auffassung nach keine zwingenden Gründe, sich dem Standpunkt des Unternehmens anzuschließen. Im vorliegenden Fall wirft die Annahme, daß die Provision, die das Kreditkarteninstitut von dem Betrag auf dem Zahlungsbeleg abzieht, eine Zahlung von Bally für Dienstleistungen darstellt, die ihm das Kreditkarteninstitut erbringt, keine Probleme auf. Es steht fest, daß die zu zahlende Provision in einer Vereinbarung zwischen Bally und dem Kreditkarteninstitut festgelegt ist, auf deren Inhalt der Inhaber der Kreditkarte, d. h. der Käufer der Waren, keinen Einfluß nehmen kann. Bally hat sich somit ihrer Verpflichtung zur Zahlung der Provision ebenfalls in Höhe des Gesamtbetrags auf dem Zahlungsbeleg, d. h. nach Maßgabe des Verkaufspreises einschließlich Mehrwertsteuer, entledigt.

Bally befindet sich meines Erachtens ebenfalls im Irrtum, wenn sie die Meinung vertritt, daß der Steuerfreiheit der Dienstleistungen der Kreditkarteninstitute bei der Prüfung des vorlegenden Falles eine wesentliche Bedeutung zukommt. Wenn diese Dienstleistungen steuerpflichtig wären, hätte dies auf den ersten Blick lediglich zur Folge, daß die Provision von 5 % zu versteuern wäre und Bally infolgedessen den Kreditkarteninstituten einen höheren Betrag zahlen müsste.

11. Die englische Regierung hat in der mündlichen Verhandlung zu Recht darauf hingewiesen, daß der Gerichtshof darauf achten sollte, daß die Gründe für seine Antwort auf die Vorlagefrage nicht so ausfallen sollten, daß sie die rechtliche Qualifikation der in anderer Hinsicht sehr komplizierten Rechtsverhältnisse zwischen den Karteninhabern, den Kreditkarteninstituten und den diesen angeschlossenen Händlern beeinflussen könnten. Die Gründe, die ich zur Stützung meines Vorschlags einer Antwort vorgetragen habe, scheinen mir einen bestimmten Standpunkt bezueglich der Qualifikation der Rechtsverhältnisse zwischen den Parteien ausserhalb des Bereichs der Mehrwertsteuer nicht zu stützen und sind auf jeden Fall nicht in diesem Sinne gemeint.

12. Die Kommission hat in ihrer schriftlichen Erklärung dargelegt, daß in bestimmten Fällen ° insbesondere dann, wenn ein Händler den Kunden, die bar zahlen, generell einen Rabatt in Höhe des Betrages der vom Kreditkarteninstitut einbehaltenen Provision gewähre ° eine andere Lösung als die von der Kommission im vorliegenden Fall vorgeschlagene in Betracht gezogen werden könnte. Die englische Regierung hat in der mündlichen Verhandlung erklärt, daß sie in diesem Punkt nicht mit der Kommission übereinstimme. Meines Erachtens braucht sich der Gerichtshof zu dieser Frage im vorliegenden Fall nicht zu äussern, da sich aus dem Vorlagebeschluß eindeutig ergibt, daß die von der Kommission angeführten Umstände hier nicht gegeben sind.

13. Die zweite Frage des vorlegenden Gerichts lautet wie folgt:

Artikel 11 Absatz 3 Buchstabe c der Sechsten Richtlinie:

Ist der Betrag der Provision oder des Abzugs, den das Kreditkarteninstitut vom angegebenen Preis einbehält, als eine Erstattung der Beträge, die für Rechnung des angeschlossenen Händlers verauslagt wurden, um ihm eine gesicherte Zahlung zu garantieren, anzusehen und deshalb nach Artikel 11 Absatz 3 Buchstabe c der Sechsten Richtlinie nicht in die Besteuerungsgrundlage einzubeziehen?

14. Artikel 11 Teil A Absatz 3 Buchstabe c bestimmt, daß in die Besteuerungsgrundlage nicht einzubeziehen sind

"die Beträge, die ein Steuerpflichtiger von seinem Abnehmer oder dem Empfänger seiner Dienstleistung als Erstattung der in ihrem Namen und für ihre Rechnung verauslagten Beträge erhält und die in seiner Buchführung als durchlaufende Posten behandelt sind ..."

15. Diese Vorschrift kann nicht als Stütze der Auffassung herangezogen werden, daß Bally als Besteuerungsgrundlage gegenüber den Steuerbehörden den Betrag heranziehen könne, den sie von dem Kreditkarteninstitut erhalte.

Wie ich bereits früher ausgeführt habe, soll Absatz 3 festlegen, daß der Lieferer von Gegenständen bestimmte Beträge nicht in die Besteuerungsgrundlage aufzunehmen hat, die er gegenüber dem Abnehmer heranzieht. Die Vorschrift in Buchstabe c soll so festlegen, daß es Beträge gibt, die der Lieferant sicherlich in der Praxis vom Käufer erhält, die er indessen nicht in die Besteuerungsgrundlage aufzunehmen hat, weil sie ausschließlich als Erstattung von Kosten anzusehen sind, die der Lieferant im Interesse des Abnehmers übernommen hat und die folglich nicht als Teil der Gegenleistung für den gelieferten Gegenstand angesehen werden können.

Der vorliegende Fall betrifft einen ganz anderen Sachverhalt, da der Käufer die Mehrwertsteuer aufgrund einer Besteuerungsgrundlage bezahlt hat, bei der ein "Abzug" nach Artikel 11 Teil A Absatz 3 Buchstabe c nicht vorgenommen worden ist.

Hinzu kommt, wie ich bereits vorstehend ausgeführt habe, daß es nicht natürlicher Betrachtungsweise entspricht, wenn man die gezahlte Provision als einen "im Namen und für Rechnung" des Käufers verauslagten Betrag betrachtet.

Ergebnis

16. Ich schlage folglich dem Gerichtshof vor, die vom Tribunal de première instance Brüssel vorgelegten Fragen wie folgt zu beantworten:

Artikel 11 Teil A der Sechsten Richtlinie des Rates ist dahin auszulegen, daß Besteuerungsgrundlage, wenn ein Käufer eine Ware mit Kreditkarte bezahlt, der Kaufpreis ° ohne Mehrwertsteuer ° ist, der auf dem Zahlungsbeleg vermerkt ist, den der Käufer beim Kauf der Ware unterzeichnet, und nicht der Betrag, den der Händler vom Kreditkarteninstitut nach Abzug einer Provision erhält.

(*) Originalsprache: Dänisch.

(1) ° Sechste Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern ° Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage (ABl. L 145, S. 1).

(2) ° Die Rechtsprechung des Gerichtshofes über die Auslegung des Artikels 11 Teil A befasst sich im übrigen mit solchen Situationen, siehe z. B. Urteil vom 12. Juli 1988 in den verbundenen Rechtssachen 138/86 und 139/86 (Direct Cosmetics, Slg. 1988, 3937) und Urteil vom 23. November 1988 in der Rechtssche 230/87 (Naturally Yours Cosmetics, Slg. 1988, 6365).