C-96/08 - CIBA

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SCHLUSSANTRÄGE DER GENERALANWÄLTIN

ELEANOR SHARPSTON

vom 17. Dezember 2009 1(1)

Rechtssache C‑96/08

CIBA Speciality Chemicals Central and Eastern Europe Szolgáltató, Tanácsadó és Kereskedelmi Kft.

gegen

Adó- és Pénzügyi Ellenőrzési Hivatal (APEH) Hatósági Főosztály

(Vorabentscheidungsersuchen des Pest Megyei Bíróság [Ungarn])

„Steuerrecht – Niederlassungsfreiheit – Festsetzung einer Steuer, deren Bemessungsgrundlage die Lohnkosten für Arbeitnehmer, einschließlich der Arbeitnehmer in einer Zweigniederlassung in einem anderen Mitgliedstaat, bilden“





1.        Im vorliegenden Fall geht es um zwei heikle Fragen. Die erste lautet, inwieweit die mitgliedstaatlichen Befugnisse im Bereich der direkten Steuern durch den EG-Vertrag begrenzt sind.(2) Die zweite Frage betrifft die Funktion des Gerichtshofs bei der Beseitigung von Doppelbesteuerung.(3) Das Pest Megyei Bíróság (Komitatsgericht Pest) möchte wissen, ob die Art. 43 EG und 48 EG den ungarischen Steuerbehörden die Erhebung einer „Berufsausbildungsabgabe“ (im Folgenden: Abgabe) verwehren, deren Bemessungsgrundlage die Lohnkosten unter Berücksichtigung der Anzahl der Arbeitnehmer bilden, und zwar unter Einbeziehung auch derjenigen Arbeitnehmer, die in einer Zweigniederlassung in einem anderen Mitgliedstaat beschäftigt sind, in dem das Unternehmen in Bezug auf diese Beschäftigten seinen Abgaben- und Beitragszahlungspflichten nachkommt.

 Rechtlicher Rahmen

 EG-Vertrag

2.        Nach Art. 43 EG sind die Beschränkungen der freien Niederlassung von Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats verboten. Gemäß Art. 48 EG gilt dieses Verbot auch in Bezug auf die nach den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats gegründeten Gesellschaften, die ihren satzungsmäßigen Sitz, ihre Hauptverwaltung oder ihre Hauptniederlassung innerhalb der Gemeinschaft haben, da diese den natürlichen Personen gleichstehen, die Angehörige der Mitgliedstaaten sind.(4)

 Abkommen

3.        Das Abkommen zwischen der Republik Ungarn und der Tschechischen Republik zur Vermeidung der Doppelbesteuerung und zur Verhinderung der Umgehung der Steuerzahlung auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen(5) (im Folgenden: Abkommen) regelt – wie sich aus seinem Titel ergibt – sowohl Steuererhebungs- als auch Steuerumgehungstatbestände in Fällen, in denen natürliche oder juristische Personen potenziell der Besteuerung in beiden Unterzeichnerstaaten unterliegen.

4.        Gemäß seinem Art. 1 und 2(6) findet das Abkommen Anwendung auf Personen, die in Ungarn, in der Tschechischen Republik oder in beiden Staaten ansässig sind, hinsichtlich Steuern von Einkommen und Vermögen, einschließlich der Steuern für die Gesamtsumme der durch die Unternehmen gezahlten Löhne und Gehälter.

 Einschlägige ungarische Rechtsvorschriften

5.        In Art. 1 des Gesetzes Nr. LXXXVI von 2003 über die Berufsausbildungsabgabe und die Förderung der Entwicklung der Ausbildung ist u. a. als Ziel genannt, Personen den Erwerb von Qualifikationen zu ermöglichen, die von den ungarischen Behörden anerkannt werden und die zur Ausübung einer Tätigkeit oder eines Berufs als abhängig Beschäftigter erforderlich sind.

6.        Nach Art. 2 sind Unternehmen mit Sitz in Ungarn zur Zahlung der Abgabe verpflichtet. Auch im Ausland niedergelassene juristische Personen sind zur Zahlung der Abgabe verpflichtet, wenn sie über eine ungarische Zweigniederlassung verfügen.

7.        Nach Art. 3 bilden die durch die ungarischen Rechtsvorschriften (Gesetz Nr. C von 2000 über die Rechnungslegung) festgelegten Lohnkosten die Bemessungsgrundlage der Abgabe.

8.        Unternehmen, die sich für die Zahlung der Abgabe unmittelbar an die Steuerbehörden entscheiden, haben den Abgabenbetrag in voller Höhe zu entrichten. Art. 4 Abs. 1 und 2 des Gesetzes LXXXVI gibt ihnen jedoch die Möglichkeit, ihre Verhältnisse so zu regeln, dass sich ihre Gesamtschuld mindert (im Folgenden: Anrechnungsregelung). Ein Unternehmen, das von dieser Anrechnungsregelung Gebrauch machen will, hat die Wahl zwischen vier Optionen: (i) Abschluss eines Kooperationsvertrags mit einer Hochschuleinrichtung, die die Voraussetzungen des Gesetzes Nr. LXXXVI von 1993 über die Berufsausbildung erfüllt, (ii) Abschluss eines Ausbildungsvertrags, in dessen Rahmen ein Praktikum und anschließend eine Einweisungszeit an einer technischen Berufsschule absolviert wird, (iii) Gewährung einer Förderungsleistung an eine Berufsausbildungseinrichtung und (iv) Abschluss eines Vertrags mit einer anerkannten Stelle über die Ausbildung der eigenen Arbeitnehmer.(7)

 Ausgangsverfahren und Vorlagefrage

9.        Die CIBA Speciality Chemicals Central and Eastern Europe Szolgáltató, Tanácsadó és Kereskedelmi Kft. (im Folgenden: CIBA) ist eine im Chemiesektor tätige Gesellschaft mit Sitz in Ungarn. Sie unterhält eine Zweigniederlassung in der Tschechischen Republik, in der ein Teil ihrer Arbeitnehmer beschäftigt ist. CIBA kommt der Pflicht zur Zahlung von Steuern und Beiträgen hinsichtlich der in der Tschechischen Republik tätigen Arbeitnehmer in der Tschechischen Republik nach.

10.      Die ungarische Steuerbehörde, das Adó- és Pénzügyi Ellenőrzési Hivatal (im Folgenden: APEH), führte eine Steuerprüfung bei CIBA für die Jahre 2003 und 2004 durch. Das APEH stellte einen Fehlbetrag in den von CIBA für diese Jahre abgegebenen Steuererklärungen fest. CIBA habe nämlich bei der Berechnung des von ihr zu zahlenden Abgabenbetrags versäumt, sowohl ihre eigenen vollen Lohnkosten in Ungarn als auch diejenigen ihrer Zweigniederlassung in der Tschechischen Republik zu berücksichtigen.

11.      CIBA erhob Klage beim Pest Megyei Bíróság mit der Begründung, sie habe in der Tschechischen Republik für ihre tschechischen Arbeitnehmer bereits eine der ungarischen Berufsausbildungsabgabe ähnliche Abgabe gezahlt(8).

12.      Das Pest Megyei Bíróság hat entschieden, dass CIBA nach nationalem Recht in Ungarn die Abgabe sowohl für die Arbeitnehmer ihrer Zweigniederlassung in der Tschechischen Republik als auch für ihre Arbeitnehmer in Ungarn zu zahlen habe. CIBA habe zwar in der Tat die Sozialversicherungsbeiträge und die Berufsausbildungsabgabe in der Tschechischen Republik für den Zeitraum 1. April 2000 bis 22. August 2006 entrichtet, jedoch fiel die Zahlung der ungarischen Abgabe nicht in den Anwendungsbereich des Abkommens.

13.      Das Gericht hat das Verfahren jedoch ausgesetzt und folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:

Kann aufgrund der Auslegung des Grundsatzes der Niederlassungsfreiheit gemäß Art. 43 und 48 EG eine Rechtsvorschrift beanstandet werden, wonach eine Gesellschaft mit Sitz in Ungarn auch dann die Berufsausbildungsabgabe zu zahlen hat, wenn sie in ihren ausländischen Zweigniederlassungen Arbeitnehmer beschäftigt und in Bezug auf diese Beschäftigten im Land der Zweigniederlassung ihren Abgaben- und Beitragszahlungspflichten nachkommt?

14.      CIBA, die ungarische Regierung und die Kommission haben schriftliche Erklärungen eingereicht. Diese drei Verfahrensbeteiligten sowie das Vereinigte Königreich haben in der Sitzung mündlich verhandelt.

 Würdigung

15.      CIBA macht geltend, dass die Verpflichtung zur Zahlung der Berufsausbildungsabgabe nach dem Beitritt Ungarns zur Europäischen Union am 1. Mai 2004(9) mit dem Grundsatz der Niederlassungsfreiheit unvereinbar sei. Durch diese Verpflichtung würden ungarische Unternehmen bei der Ausübung einer mit dem Vertrag gewährten Grundfreiheit benachteiligt, da sie eine vergleichbare Abgabe für dieselben Arbeitnehmer zweimal zu zahlen hätten: an die ungarischen Steuerbehörden (da die Muttergesellschaft ihren Sitz in Ungarn habe) und an die tschechischen Steuerbehörden (da die Zweigniederlassung ihren Sitz in der Tschechischen Republik habe).(10) Dies stelle eine Beschränkung der durch die Art. 43 EG und 48 EG garantierten Niederlassungsfreiheit dar.

 Genaue Einordnung der Abgabe

16.      Zwischen den Verfahrensbeteiligten ist streitig, ob es sich bei der Berufsausbildungsabgabe um eine Steuer handelt. Die korrekte Einordnung der Abgabe ist selbstverständlich für die Frage erheblich, ob sie in die im Bereich der direkten Steuern bestehende Zuständigkeit der Mitgliedstaaten fällt, was wiederum entscheidend dafür ist, inwieweit CIBA ihre Rüge der Rechtswidrigkeit der ihr entstehenden Doppelbelastung auf die Art. 43 EG und 48 EG stützen kann.

17.      Die Regierungen Ungarns und des Vereinigten Königreichs halten die berufsbezogene Abgabe für eine Steuer. Die Festsetzung der Bemessungsgrundlage falle somit in die steuerliche Zuständigkeit der Mitgliedstaaten. Dass es infolge der gleichzeitigen Verpflichtung zur Zahlung der Berufsausbildungsabgabe in Ungarn und eines vergleichbaren Beitrags in der Tschechischen Republik zu einer Doppelbelastung komme, sei schlicht eine Konsequenz der parallelen Ausübung der Steuerhoheit durch zwei Mitgliedstaaten. Daher könne keine Beschränkung im Sinne der Art. 43 EG und 48 EG vorliegen.

18.      CIBA ist der Auffassung, dass es sich bei der Abgabe formal nicht um eine Steuer handele und dass die Doppelbelastung sehr wohl eine Beschränkung im Sinne der Art. 43 EG und 48 EG darstelle.

19.      Die Kommission bezeichnet die Abgabe als „Sondersteuer“, die gleichwohl die Niederlassungsfreiheit behindere, da CIBA in der Tschechischen Republik einen ähnlichen auf den Gehaltskosten für Arbeitnehmer beruhenden Beitrag zu zahlen habe. In der mündlichen Verhandlung hat die Kommission hierzu ausgeführt, dass die Abgabe deshalb als „Sondersteuer“ anzusehen sei, weil ein direkter Bezug zwischen der erhobenen Steuer und der vom Staat erbrachten Leistung bestehe: Die ungarische Regierung verwende das Abgabenaufkommen speziell für die Berufsausbildung. Insofern bestehe ein Unterschied (beispielsweise) zur Körperschaftsteuer, wo kein solcher unmittelbarer Bezug zwischen den durch die Steuer aufgebrachten Mitteln und deren möglichem Verwendungszweck feststellbar sei. Nach Ansicht der Kommission sollte daher der Gerichtshof im Rahmen der Niederlassungsfreiheit die bereits nach Art. 49 EG geltenden Grundsätze (Dienstleistungsfreiheit) entsprechend heranziehen, um die Behinderung der Freizügigkeit zu beseitigen.

20.      Es liegt auf der Hand, dass die Abgabe nicht die Merkmale der Körperschaft- oder Einkommensteuer aufweist, da mit ihr keine Gewinn- oder Einkommensquelle besteuert wird.(11) Die Abgabe bemisst sich vielmehr nach den Lohnkosten, also einem Ausgabenposten. Außerdem dient sie einem bestimmten Zweck, nämlich der Finanzierung des Berufsausbildungswesens in Ungarn.

21.      Andererseits hat CIBA, obwohl die Abgabe diesem Zweck dient, nicht dargelegt (noch hat das nationale Gericht festgestellt), dass ein unmittelbarer Bezug zwischen der Verpflichtung zur Zahlung der Abgabe und einer an einen individuellen Arbeitgeber vom Staat erbrachten individuellen Leistung zugunsten von dessen Arbeitnehmern besteht.

22.      Ich verstehe die Abgabe daher als einen vom Arbeitgeber geleisteten finanziellen Beitrag, der zur Finanzierung der allgemeinen Berufsausbildung erhoben wird, ohne dass ein unmittelbarer Bezug zwischen der entrichteten Abgabe und einem vom Arbeitgeber hinsichtlich seiner eigenen Arbeitnehmer erlangten Vorteil besteht.

23.      Zu der in der Tschechischen Republik gezahlten Abgabe liegen dem Gerichtshof keine Angaben vor, die eine Beurteilung des Wesens der Abgabe ermöglichen.

24.      Nach Feststellung des nationalen Gerichts fällt die ungarische Abgabe nicht in den Anwendungsbereich des Abkommens. Daher (und trotz der nachgewiesenen Zahlung einer entsprechenden Abgabe in der Tschechischen Republik) kann die Doppelbelastung durch Eingreifen des Abkommens nicht in der gleichen Weise beseitigt werden, wie dies bei bestimmten anderen direkten Steuern der Fall ist.

25.      Bis heute ist im Rahmen der Gemeinschaft keine Maßnahme der Vereinheitlichung oder Harmonisierung zum Zweck der Beseitigung von Doppelbesteuerungstatbeständen erlassen worden.(12) Die Verpflichtung zur Zahlung der Abgabe allein verstößt daher nicht gegen das Gemeinschaftsrecht(13) und beschränkt an sich noch nicht die Ausübung der Niederlassungsfreiheit(14).

26.      Allerdings ist in der Rechtsprechung des Gerichtshofs anerkannt, dass kumulative Belastungen, die sich infolge der parallelen Ausübung der mitgliedstaatlichen Steuerhoheit ergeben, grenzüberschreitende Tätigkeiten „beschränken“. An dieser Stelle schließe ich mich der Analyse von Generalanwalt Geelhoed in der Rechtssache ACT(15) an, der zufolge es bei näherer Betrachtung zwei Arten von „Beschränkungen“ gibt, die in solchen Fällen auftreten können. Die Beschränkungen der ersten Art (die der Generalanwalt „Quasibeschränkungen“ nennt) resultieren unvermeidlich aus dem Nebeneinander nationaler Steuersysteme. Unbestreitbar führen sie zu „Verzerrungen der wirtschaftlichen Betätigung aufgrund des Umstands, dass verschiedene Rechtsordnungen nebeneinander existieren müssen“, und das Resultat kann, worauf Generalanwalt Geelhoed hingewiesen hat, für die Wirtschaftsteilnehmer von Vorteil oder von Nachteil sein.(16) Bei den Beschränkungen der zweiten Art (die der Generalanwalt „echte“ Beschränkungen nennt) handelt es sich um „Beschränkungen, die über das hinausgehen, was sich unvermeidlich aus dem Nebeneinander nationaler Systeme ergibt“. Generalanwalt Geelhoed vertritt die Auffassung, dass „im Wesentlichen alle ‚echten‘ beschränkenden nationalen Maßnahmen der direkten Besteuerung in der Praxis auch als unmittelbar oder mittelbar diskriminierende Maßnahmen einzustufen sind“. Im Weiteren unterscheidet er zwischen „Hemmnisse[n] für die Niederlassungsfreiheit, die auf Unterschieden zwischen den Steuersystemen von zwei oder mehr Mitgliedstaaten beruhen“ – die seiner Meinung nach nicht in den Anwendungsbereich von Art. 43 EG, durchaus aber in den des Vertrags fallen – und „Hemmnissen aufgrund einer Diskriminierung …, die das Ergebnis der Regelung eines einzigen Steuergesetzgebers ist“(17).

27.      Es gibt zwei Meinungsrichtungen zu der Frage, ob der Gerichtshof auf eine Verpflichtung zur Beseitigung von Beschränkungen der ersten Kategorie erkennen sollte.

28.      So vertritt Generalanwalt Geelhoed (unter Verweis auf das Urteil des Gerichtshofs in der Rechtssache Schempp(18)) die Auffassung, dass sich Art. 43 EG auf die echten Beschränkungen, nicht jedoch auf die Quasibeschränkungen beziehe: „Wenn eine Beschränkung der Niederlassungsfreiheit nur auf dem Nebeneinander nationaler Steuerverwaltungen, Unterschieden zwischen nationalen Steuersystemen oder der Aufteilung der Besteuerungskompetenz zwischen zwei Steuersystemen (einer Quasibeschränkung) beruht, dürfte dies nicht unter Artikel 43 EG fallen. Dagegen fallen ‚echte‘ Beschränkungen, d. h. Beschränkungen der Niederlassungsfreiheit, die über diejenigen hinausgehen, die sich unvermeidlich aus dem Vorhandensein nationaler Steuersysteme ergeben, unter das Verbot des Artikels 43 EG, sofern sie nicht gerechtfertigt sind … [E]ine nachteilige steuerliche Behandlung [fällt] nur dann unter Artikel 43 EG, wenn sie sich aus einer Diskriminierung aufgrund der Bestimmungen eines Steuergesetzgebers, nicht aber aus Unterschieden oder der Aufteilung der Besteuerungszuständigkeiten auf (zwei oder mehr) Steuersysteme von Mitgliedstaaten ergibt.“(19)

29.      Nach der Gegenmeinung sollte der Gerichtshof in Fällen, in denen die infolge einer Doppelbesteuerung kumulativ entstandenen Belastungen einer Beschränkung gleichkommen, durch die grenzüberschreitende Tätigkeiten behindert werden, seine Rechtsprechung zu den Grundfreiheiten entsprechend heranziehen, um derartige Hindernisse zu beseitigen.(20) Auf den Punkt gebracht wird argumentiert, dass jede Behinderung der Ausübung einer Grundfreiheit „eine schlechte Sache“ sei. Unter dem Gesichtspunkt, dass letztendlich ein echter Binnenmarkt geschaffen werden soll, leuchtet mir diese Argumentation ein. Es erscheint mir jedoch wichtig, darauf hinzuweisen, dass es derzeit keine Gemeinschaftsregelung gibt, die festlegt, welcher Mitgliedstaat in solchen Fällen mit seiner Besteuerung Vorrang hat. Wie der Gerichtshof im Urteil Saint-Gobain ZN(21)ausgeführt hat, sind die Mitgliedstaaten in Ermangelung gemeinschaftlicher Maßnahmen zur Vereinheitlichung oder Harmonisierung weiterhin dafür zuständig, die Kriterien für die Besteuerung des Einkommens und des Vermögens festzulegen, um gegebenenfalls im Vertragswege die Doppelbesteuerung zu vermeiden, unterliegen dabei aber den gemeinschaftlichen Rechtsvorschriften.

30.      Meines Erachtens handelt es sich bei der hier fraglichen ungarischen Abgabe nicht um eine „Quasibeschränkung“, die auf dem Nebeneinander nationaler Steuersysteme beruht. Gewiss ist es eine heikle und auch bedeutsame Frage, wie der Gerichtshof mit Beschränkungen umgeht, die sich aus dem bloßen Vorliegen einer Doppelbesteuerung ergeben. Ich meine jedoch, dass der Gerichtshof zur Lösung des vorliegenden Falls nicht in diese Diskussion einzutreten braucht.

31.      Ich halte es hier für ausreichend, die von Generalanwalt Geelhoed vorgenommene Beschreibung der von ihm so genannten „echten Beschränkungen“ zum Ausgangspunkt zu nehmen, „d. h. Beschränkungen, die über das hinausgehen, was sich unvermeidlich aus dem Nebeneinander nationaler Systeme ergibt; sie werden von Artikel 43 EG erfasst“(22).

 Kennzeichnung der Beschränkung unter dem Gesichtspunkt der Art. 43 EG und 48 EG

32.      Die Kommission geht bei ihrem Lösungsansatz von der Frage aus, ob die Verpflichtung zur Zahlung der Abgabe in Ungarn und eines entsprechenden Beitrags in der Tschechischen Republik zur Begründung eines Verstoßes gegen das Gemeinschaftsrecht ausreicht. Sie trägt vor, dass diese Verpflichtung ungarische Gesellschaften von der Gründung ausländischer Tochtergesellschaften abhalte, da Gesellschaften, die von ihrem Recht auf freie Niederlassung im Ausland keinen Gebrauch machten, der Doppelverpflichtung zur Zahlung der Abgabe und des ihr entsprechenden Beitrags nicht unterlägen. Die Kommission räumt zwar ein, dass das bloße Vorliegen einer Doppelbesteuerung nicht gegen Art. 43 verstoße, schlägt dem Gerichtshof jedoch vor, sein Urteil Arblade u. a.(23) entsprechend heranzuziehen.

33.      In der Rechtssache Arblade u. a. ging es um zwei Gesellschaften mit Sitz in Frankreich, die Bauaufträge in Belgien ausführten und dabei einige ihrer französischen Arbeitnehmer vorübergehend in Belgien einsetzten. Die belgischen Behörden gingen wegen Nichteinhaltung der belgischen Sozialversicherungsbestimmungen gegen diese Gesellschaften vor.(24) Der Gerichtshof hat dazu entschieden: „Eine nationale Regelung, die den als Dienstleistenden im Sinne des Vertrages handelnden Arbeitgeber verpflichtet, zusätzlich zu den bereits von ihm an den Fonds des Mitgliedstaats, in dem er ansässig ist, abgeführten Beiträgen Arbeitgeberbeiträge an den Fonds des Aufnahmemitgliedstaats zu entrichten, stellt eine Beschränkung des freien Dienstleistungsverkehrs dar. Eine solche Verpflichtung verursacht nämlich den in einem anderen Mitgliedstaat ansässigen Unternehmen zusätzliche administrative und wirtschaftliche Kosten und Belastungen, so dass diese Unternehmen den im Aufnahmemitgliedstaat ansässigen Arbeitgebern unter dem Gesichtspunkt des Wettbewerbs nicht gleichgestellt sind und somit von der Erbringung von Dienstleistungen im Aufnahmemitgliedstaat abgehalten werden können.“(25)

34.      Die Kommission argumentiert, dass die Verpflichtung zur Zahlung der Abgabe in Ungarn und zur Leistung eines ähnlichen Beitrags in der Tschechischen Republik Unternehmen wie CIBA zusätzliche administrative und wirtschaftliche Belastungen verursache. In der mündlichen Verhandlung hat die Kommission hierzu ausgeführt, dass in Fällen, in denen ein Beitrag zur Finanzierung einer konkret definierten Leistung diene, ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen der Beitragszahlung und dieser Leistung bestehe. Ungarn könne daher eine Gesellschaft nicht zur Zahlung eines Beitrags verpflichten, der sich auf Tätigkeiten in der Tschechischen Republik, dem Aufnahmemitgliedstaat, beziehe, da Ungarn als Herkunftsmitgliedstaat nicht für die Erbringung dieser Leistung in der Tschechischen Republik zuständig sei.

35.      Meines Erachtens sollte der Gerichtshof dem Vorschlag der Kommission, das Urteil Arblade u. a. entsprechend heranzuziehen, nicht folgen.

36.      Erstens halte ich die Verpflichtung des Arbeitgebers in der Rechtssache Arblade u. a. zur Zahlung eines Beitrags zu einer Markenregelung ihrer Natur nach nicht für mit der Verpflichtung von CIBA zur Zahlung der Abgabe vergleichbar. In der genannten Rechtssache bestand potenziell ein unmittelbarer Bezug zwischen der Zahlung des Beitrags (in Form von Marken) und einer von Belgien (möglicherweise) gewährten sozialen Vergünstigung für diejenigen Arbeitnehmer, zu deren Gunsten die Zahlung erfolgte.(26) Die fraglichen Arbeitnehmer waren von ihren in Frankreich ansässigen Arbeitgebern jedoch nur vorübergehend nach Belgien entsandt worden. Sie waren daher bereits im Rahmen der französischen Sozialversicherung durch die von ihren Arbeitgebern an die französischen Behörden entrichteten Beiträge geschützt. Dass ihre Arbeitgeber gleichwohl zur Entrichtung von Sozialversicherungsbeiträgen in Belgien verpflichtet waren, wurde daher zu Recht als zusätzliche Kosten und wirtschaftliche Belastungen verursachend angesehen, durch die ihre Arbeitgeber bei der Erbringung von Dienstleistungen gegenüber belgischen Arbeitgebern (die für ihre belgischen Arbeitnehmer lediglich die belgischen Beiträge zu entrichten hatten) einen Wettbewerbsnachteil erlitten.(27)

37.      Ein solch unmittelbarer Bezug zwischen der Zahlung der Abgabe und einer an den individuellen Arbeitnehmer erbrachten Leistung besteht im vorliegenden Fall nicht.(28) CIBA entrichtet an die ungarischen Behörden keine Sozialversicherungsbeiträge für ihre tschechischen Arbeitnehmer (und übrigens auch keine für ihre ungarischen Arbeitnehmer), die gewährleisten sollen, dass jeder Arbeitnehmer einen Anspruch auf eine bestimmte Leistung des ungarischen Staats erhält. Im Gegenteil, CIBA ist zur Entrichtung einer Steuer in Ungarn verpflichtet, die für die Berufsausbildung der ungarischen Arbeitskräfte in ihrer Allgemeinheit verwendet wird. Dieser Sachverhalt unterscheidet sich daher von dem in der Rechtssache Arblade u. a..

38.      Zweitens sehe ich hier eine andere Beschränkung „aufgrund der Bestimmungen eines Steuergesetzgebers“ als diejenige, auf die die Kommission hinweist.

39.      Nach ständiger Rechtsprechung sind als Beschränkungen der Niederlassungsfreiheit alle Maßnahmen anzusehen, die die Ausübung dieser Freiheit verbieten, behindern oder weniger attraktiv machen.(29) Nach dem Urteil des Gerichtshofs in der Rechtssache Hartlauer(30) gilt dieser Grundsatz auch dann, wenn keine Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit vorliegt. Auch wenn die Art. 43 EG und 48 EG nach ihrem Wortlaut darauf hindeuten, dass sie die Inländerbehandlung im Aufnahmemitgliedstaat sichern sollen, verbieten sie es doch ebenfalls, dass der Herkunftsmitgliedstaat die Niederlassung eines seiner Staatsangehörigen oder einer nach seinem Recht gegründeten Gesellschaft in einem anderen Mitgliedstaat behindert.(31)

40.      Im vorliegenden Fall ergibt sich insofern ein neuer Aspekt, als der Gerichtshof nicht zur Entscheidung einer typischen Frage der steuerlichen Diskriminierung angerufen worden ist – wie etwa der Frage, ob Rechtsschutz in Fällen wirtschaftlicher Doppelbesteuerung gewährt werden sollte, die auf einer unterschiedlichen steuerlichen Behandlung von im Inland erzielten Einkommen gegenüber im Ausland erzielten Einkommen beruht.(32)

41.      Bei Betrachtung der ungarischen Rechtsvorschriften ergibt sich meines Erachtens eine Beschränkung aus der Regelung eines einzigen Steuersystems, das eindeutig Gesellschaften benachteiligt, die von ihrer Niederlassungsfreiheit Gebrauch machen wollen. Ich sehe die Benachteiligung darin, dass eine Gesellschaft bei ihrer Entscheidung, sich im Ausland niederzulassen, eine Steuerpflicht im Herkunftsmitgliedstaat in ihre Überlegungen einbeziehen muss, die sich zum Teil nach den Gehaltskosten für ihre Arbeitnehmer im Aufnahmemitgliedstaat bemisst. Diese Steuerpflicht kann (wie im vorliegenden Fall) zusätzlich zu einer ähnlichen finanziellen Belastung in dem Mitgliedstaat der Zweigniederlassung bestehen. Schließlich kann die Gesellschaft unter Umständen nicht die Anrechnungsregelung(33) in Anspruch nehmen, um die Höhe der im Herkunftsmitgliedstaat (Ungarn) zu zahlenden Abgabe zu senken. Zur Beurteilung des letztgenannten Punkts bedarf es einer Auslegung der ungarischen Rechtsvorschriften, die selbstverständlich letztlich Sache des nationalen Gerichts ist.

42.      Nach den ungarischen Bestimmungen hat eine ungarische Muttergesellschaft die Abgabe sowohl in Bezug auf ihre Beschäftigten in Ungarn als auch in Bezug auf ihre Arbeitnehmer ihrer tschechischen Zweigniederlassung zu zahlen. Hinsichtlich ihrer Beschäftigten in Ungarn kann sie die Anrechnungsregelung genauso wie jede andere Gesellschaft in Ungarn nutzen. Offenbar besteht aber keine entsprechende Anrechnungsmöglichkeit in der Tschechischen Republik für ihre dortigen Beschäftigten, da alle Anrechnungsmöglichkeiten nur unter den Voraussetzungen des ungarischen Rechts gegeben sind.(34) Die Muttergesellschaft muss daher entweder Abgaben in voller Höhe für ihre Beschäftigten in Tschechien zahlen (und verliert damit die Möglichkeit, über die Anrechnungsregelung eine für ihre eigenen Geschäftszwecke relevantere Ausbildung zu finanzieren und den Gesamtbetrag ihrer Steuerschuld zu reduzieren), oder sie muss die tschechischen Beschäftigten, wenn sie im Rahmen der Anrechnungsregelung entsprechende Vorkehrungen in Ungarn getroffen hat, mit zusätzlichem praktischen und finanziellen Aufwand von der Tschechischen Republik nach Ungarn befördern und dort unterbringen, damit sie in den Genuss der Ausbildung kommen, zu deren Finanzierung die Muttergesellschaft beigetragen hat.

43.      Ungarn trägt vor, dass im Rahmen seiner Vorschriften alle Gesellschaften – einschließlich der Gesellschaften mit ausländischen Zweigniederlassungen – gleichbehandelt würden und dass daher keine Diskriminierung vorliege. CIBA sei (ebenso wie eine ausschließlich in Ungarn ansässige Gesellschaft) berechtigt, ihre steuerliche Gesamtschuld durch Inanspruchnahme der Anrechnungsregelung zu reduzieren.

44.      Das ist zwar zweifellos richtig, scheint mir aber neben der Sache zu liegen.

45.      Eine Gesellschaft, die die Anrechnungsregelung nutzen will, muss die speziellen Voraussetzungen der ungarischen Bestimmungen erfüllen, die vier Anrechnungsmöglichkeiten vorsehen. Lassen Sie uns diese Optionen jeweils kurz betrachten.

46.      Option (i) besteht im Abschluss eines Kooperationsvertrags mit einer Hochschuleinrichtung, die die Voraussetzungen des Gesetzes Nr. LXXXVI von 1993 erfüllt. Dieses Gesetz ist offenbar so formuliert, dass nur eine ungarische Hochschuleinrichtung diese Voraussetzungen erfüllen und daher als Vertragspartner in Frage kommen kann.

47.      Option (ii) besteht im Abschluss eines „Ausbildungsvertrags“, in dessen Rahmen ein „Praktikum“ und anschließend eine Einweisungszeit an einer technischen Berufsschule absolviert wird. Unklar ist, ob das anfängliche Praktikum auch an einem Ort in der Tschechischen Republik anstatt in Ungarn durchgeführt werden könnte. Jedenfalls hat es den Anschein, dass zumindest der zweite Teil der Maßnahme an einer technischen Berufsschule stattfinden muss, die von den ungarischen Behörden anerkannt ist. Damit dürfte der Besuch einer technischen Berufsschule in der Tschechischen Republik wohl ausgeschlossen sein.

48.      Option (iii) besteht in der Gewährung einer Förderungsleistung an eine Berufsausbildungseinrichtung. Nach den dem Gerichtshof vorliegenden Unterlagen scheint diese Option auf Einrichtungen in Ungarn beschränkt zu sein.

49.      Bei Option (iv) schließlich muss die Gesellschaft mit einer anerkannten Stelle einen Vertrag über die Ausbildung ihrer eigenen Arbeitnehmer abschließen. Auch insoweit ergibt sich aus den dem Gerichtshof zur Verfügung stehenden Unterlagen, dass mit „anerkannter Stelle“ eine nach ungarischem Recht anerkannte Stelle gemeint ist. Selbst wenn man unterstellt, dass eine solche Stelle zum Abschluss eines Vertrags über die Ausbildung der tschechischen Arbeitnehmer von CIBA in der Tschechischen Republik bereit ist und dass dies nach ungarischem Recht zulässig ist, kann man wohl davon ausgehen, dass die Stelle hierfür ein höheres Entgelt fordern würde als für die Durchführung einer entsprechenden Ausbildung in Ungarn.

50.      Somit lässt sich vertreten, dass die Anrechnungsregelung im Wesentlichen nur dann zur Verfügung steht, wenn eine Gesellschaft eine ungarische Einrichtung als Ausbildungspartner wählt. Meines Erachtens wird damit einer grenzüberschreitend tätigen Gesellschaft in der Praxis die Möglichkeit genommen, die Anrechnungsmöglichkeit für denjenigen Teil ihres Personals zu nutzen, der in einem anderen Mitgliedstaat eingesetzt wird.

51.      Letztlich ist es jedoch Sache des nationalen Gerichts (das besseren Zugang zu den einschlägigen nationalen Vorschriften hat), zu überprüfen, ob a) es CIBA nach den ungarischen Bestimmungen gestattet wäre, eine der vier Maßnahmen im Rahmen der Anrechnungsregelung zu nutzen, indem sie Ausbildungspartner in der Tschechischen Republik anstatt in Ungarn beauftragt, und ob b) die Kosten für eine solche Nutzung dann mit den Kosten vergleichbar sind, die bei der Nutzung der Anrechnungsregelung durch Beauftragung eines Ausbildungspartners in Ungarn entstehen.

52.      Wenn ich richtig sehe, ergeben sich für eine solche Gesellschaft im Vergleich mit einer Gesellschaft, die ausschließlich in Ungarn tätig ist, mindestens drei (miteinander zusammenhängende) Nachteile. Erstens hat sie nicht die Möglichkeit, sich zwischen einerseits der Finanzierung einer bestimmten Ausbildung für ihre Arbeitnehmer in der Tschechischen Republik, die für ihren eigenen Unternehmensbedarf unmittelbar relevant ist, und andererseits der Abgabenpflicht in voller Höhe zu entscheiden – sie hat also weniger Spielraum bei der Wahl ihrer Strategie. Zweitens stellt sich für sie nach Entrichtung der Abgabe (die dann zur Verbesserung der Qualifizierung der ungarischen Arbeitskräfte allgemein verwendet wird) immer noch die Frage, ob sie zusätzlich Ausbildungsmaßnahmen finanzieren muss, um die Qualifizierung ihrer eigenen Arbeitnehmer zu verbessern. Dies kann dazu führen, dass sie nicht nur die beiden Ausbildungsabgaben (nach ungarischem und nach tschechischem Recht) zahlt, sondern darüber hinaus auch einen weiteren Betrag für eine arbeitsplatzspezifische Ausbildung (was bei einer Gesellschaft, die ausschließlich in Ungarn ansässig ist und die Anrechnungsregelung nutzen kann, im Allgemeinen nicht der Fall sein wird). Drittens muss sie, sollte sie die Anrechnungsregelung dazu nutzen, in Ungarn Ausbildungsmaßnahmen für ihre tschechischen Arbeitnehmer zu organisieren, die zusätzlichen Kosten und administrativen Belastungen tragen, die anfallen, wenn sie die tschechischen Beschäftigten nach Ungarn befördert, damit diese an dem Ausbildungsprogramm teilnehmen können, wenn sie die Beschäftigten während ihres dortigen Aufenthalts unterbringt und wenn sie dort für ihre Lebenshaltung aufkommt.

53.      Ich komme daher zu dem Ergebnis, dass die Modalitäten der Abgabenpflicht – die unmittelbar auf den Steuervorschriften eines einzigen Mitgliedstaats, nämlich Ungarns, beruhen – zu einer Beschränkung führen, da sie die Ausübung der Niederlassungsfreiheit weniger attraktiv machen.(35)

54.      Eine solche Beschränkung der Niederlassungsfreiheit kann statthaft sein, wenn sie auf objektive, durch zwingende Gründe des Allgemeininteresses gerechtfertigte Gesichtspunkte gestützt ist und wenn sie geeignet ist, die Erreichung des fraglichen Ziels zu gewährleisten, und nicht über das hinausgeht, was hierzu erforderlich ist.(36)

55.      Die ungarische Regierung hat in ihren schriftlichen Erklärungen keine Rechtfertigungsgründe vorgetragen. Als ihr in der mündlichen Verhandlung ausdrücklich anheimgestellt wurde, sich zur Frage der Rechtfertigung zu äußern, hat sie von dieser Möglichkeit keinen Gebrauch gemacht.

56.      Demnach schlage ich dem Gerichtshof vor, auf das Vorliegen einer Beschränkung der Niederlassungsfreiheit zu erkennen, für die kein Rechtfertigungsgrund angeführt wurde.

 Ergebnis

57.      Ich bin daher der Auffassung, dass der Gerichtshof die vom Pest Megyei Bíróság vorgelegte Frage wie folgt beantworten sollte:

Die Festsetzung einer Berufsausbildungsabgabe, deren Bemessungsgrundlage die Lohnkosten für die Beschäftigten einer Gesellschaft – einschließlich der Lohnkosten für die Arbeitnehmer in einer Zweigniederlassung in einem anderen Mitgliedstaat – bilden (obwohl die Gesellschaft ihrer Pflicht zur Zahlung von Steuern und Beiträgen hinsichtlich der in dem Staat der Zweigniederlassung tätigen Arbeitnehmer ordnungsgemäß nachkommt), stellt eine Beschränkung im Sinne der Art. 43 EG und 48 EG dar, wenn dadurch die Ausübung der Niederlassungsfreiheit weniger attraktiv gemacht wird.


1 – Originalsprache: Englisch.


2 – Vgl. Urteil vom 13. Dezember 2005, Marks and Spencer (C‑446/03, Slg. 2005, I‑10837, Randnr. 29 und die dort angeführte Rechtsprechung), und aus jüngerer Zeit Urteil vom 6. Dezember 2007, Columbus Container Services (C‑298/05, Slg. 2007, I‑10451, Randnr. 28 und die dort angeführte Rechtsprechung).


3 – Unter Doppelbesteuerung in Bezug auf Steuern vom Einkommen versteht man entweder die rechtliche Doppelbesteuerung (zweimalige Besteuerung desselben Einkommens in den Händen desselben Steuerzahlers) oder die wirtschaftliche Doppelbesteuerung (zweimalige Besteuerung desselben Einkommens in den Händen zweier verschiedener Steuerzahler – z. B. wenn dieselben Gewinne zunächst in Form der von der Gesellschaft entrichteten Körperschaftsteuer und dann bei der Ausschüttung an den Anteilseigner in Form der Einkommensteuer besteuert werden). Vgl. Schlussanträge von Generalanwalt Geelhoed in der Rechtssache Test Claimants in Class IV of the ACT Group Litigation („ACT“, C‑374/04, Urteil vom 12. Dezember 2006, Slg. 2006, I‑11673, Nrn. 4 f.), in denen er diese Begriffe erörtert.


4 – Vgl. z. B. Urteil vom 18. Juni 2009, Aberdeen Property Fininvest Alpha (C‑303/07, Slg. 2009, I‑0000, Randnr. 37).


5 – Unterzeichnet am 14. Januar 1993 in Prag; es stammt also aus der Zeit vor dem Beitritt der genannten Mitgliedstaaten zur Europäischen Union.


6 – Das Abkommen wurde in Ungarn mit dem Gesetz Nr. XCIII von 1996 ratifiziert.


7 – Ich habe den Regelungsgehalt der Art. 1 und Art. 4 Abs. 1 und 2 des Gesetzes Nr. LXXXVI von 2003 anhand des Anhangs der schriftlichen Erklärungen von CIBA zusammengefasst. Die Optionen (i) und (ii) sind in Art. 4 Abs. 1 des Gesetzes Nr. LXXXVI von 2003 aufgeführt. Die Optionen (iii) und (iv) werden in den Schriftsätzen beider Parteien im Ausgangsverfahren angesprochen.


8 – Nach Maßgabe des Gesetzes Nr. 589/1992 über Sozialversicherungsbeiträge und Beiträge zur staatlichen Beschäftigungspolitik in der Tschechischen Republik.


9 – Das nationale Gericht untersucht die Steuerschuld von CIBA für die Jahre 2003 und 2004. Es liegt jedoch auf der Hand, dass eine Unvereinbarkeit mit dem Gemeinschaftsrecht vor dem Beitritt Ungarns zur EU nicht in Frage kommt: vgl. Urteil vom 10. Januar 2006, Ynos (C‑302/04, Slg. 2006, I‑371, Randnrn. 35 f.).


10 – Im Ausgangsverfahren legte CIBA ein beglaubigtes Gutachten vor, aus dem die Zahlung einer ähnlichen Abgabe in der Tschechischen Republik hervorgeht, deren Bemessungsgrundlage ebenfalls die Lohnkosten für Arbeitnehmer bilden. Nach den ungarischen Rechtsvorschriften unterläge CIBA auch dann der Abgabenpflicht, wenn es sich bei ihr um eine tschechische Gesellschaft mit Sitz in Prag und einer Tochtergesellschaft in Budapest handelte (vgl. oben, Nr. 6).


11 – Ich führe die Körperschaftsteuer und Einkommensteuer als offenkundige Beispiele direkter Steuern an, da beide Steuerformen in allen Mitgliedstaaten existieren.


12 – Vgl. Urteile Columbus Container Services, in Fn. 2 angeführt, Randnr. 45, und vom 14. November 2006, Kerckhaert und Morres (C‑513/04, Slg. 2006, I‑10967, Randnr. 22).


13 – Die Berufsausbildungsabgabe fällt nicht in den Geltungsbereich der bisher erlassenen Maßnahmen zur teilweisen Harmonisierung, nämlich der Richtlinie 90/435/EWG des Rates vom 23. Juli 1990 über das gemeinsame Steuersystem der Mutter- und Tochtergesellschaften verschiedener Mitgliedstaaten (ABl. L 225, S. 6), des Übereinkommens vom 23. Juli 1990 über die Beseitigung der Doppelbesteuerung im Falle von Gewinnberichtigungen zwischen verbundenen Unternehmen (ABl. L 225, S. 10) sowie der Richtlinie 2003/48/EG des Rates vom 3. Juni 2003 im Bereich der Besteuerung von Zinserträgen (ABl. L 157, S. 38).


14 – Vgl. z. B. Urteil vom 23. Oktober 2008, Krankenheim Ruhesitz am Wannsee‑Seniorenheimstatt (C‑157/07, Slg. 2008, I‑8061, Randnr. 50).


15 – Bei den nachstehenden Ausführungen greife ich im Großen und Ganzen (und mit Dankbarkeit) auf die Gedanken in Abschnitt IV A 2 a („Anwendung von Artikel 43 EG auf Regelungen der direkten Besteuerung: Einführung“) der Schlussanträge von Generalanwalt Geelhoed in der Rechtssache ACT, in Fn. 3 angeführt, Nrn. 32 bis 41, zurück.


16 – Es überrascht nicht, dass es – wie Generalanwalt Geelhoed in Nr. 38 seiner Schlussanträge ausgeführt hat – bei einem vorteilhaften Resultat in der Regel nicht zu einem Rechtsstreit vor den nationalen Gerichten zwischen einem beschwerten Steuerpflichtigen und den Steuerbehörden und daher auch nicht zu einem Vorabentscheidungsverfahren kommt.


17 – Nr. 46 seiner Schlussanträge; vgl. auch in der Rechtssache Deutsche Shell (C‑293/06, Urteil vom 28. Februar 2008, Slg. 2008, I‑1129) Nrn. 40 bis 44 meiner Schlussanträge und Randnrn. 28 bis 30 des Urteils.


18 – Urteil vom 12. Juli 2005 (C‑403/03, Slg. 2005, I‑6421, Randnr. 45).


19 – Nr. 55 (Hervorhebung nur hier).


20 – Vgl. z. B. Vanistendael, F., „Does the ECJ have the power of interpretation to build a tax system compatible with the fundamental freedoms?“, EC Tax Review 2008/2, S. 52.


21 – Urteil vom 21. September 1999 (C‑307/97, Slg. 1999, I‑6161, Randnrn. 56 f.).


22 – Schlussanträge von Generalanwalt Geelhoed in der Rechtssache ACT, in Fn. 3 angeführt, Nr. 40.


23 – Urteil vom 23. November 1999 (C‑369/96 und C‑376/96, Slg. 1999, I‑8453).


24 – Die fraglichen belgischen Vorschriften sahen Verpflichtungen vor, nämlich zur Zahlung von „timbres-intempéries“ und „timbres-fidilité“ (Beiträge in Form von Marken zu Schlechtwetter- und Treuemarkensystemen), auf die es der Kommission, wenn ich sie richtig verstehe, bei ihren Ausführungen im vorliegenden Fall ankommt.


25 – Vgl. Urteil Arblade u. a., in Fn. 23 angeführt, Randnr. 50 (in der speziell auf die Entrichtung von Beiträgen zu den Schlechtwetter- und Treuemarkensystemen eingegangen wird).


26 – Nach Maßgabe des Urteils hatte das nationale Gericht zu prüfen, ob die in Belgien verlangten Beiträge für die betreffenden Arbeitnehmer dort einen Anspruch auf eine tatsächliche soziale Vergünstigung begründen: vgl. Randnr. 53 des Urteils.


27 – Dieser Sicht liegt offenbar z. T. der Gedanke zugrunde, dass die „entsandten“ Arbeitnehmer keine zusätzlichen Leistungen in Belgien benötigten und/oder auch nicht unbedingt erhielten: vgl. Randnrn. 51 bis 54 des Urteils.


28 – Vgl. oben, Nr. 21.


29 – Vgl. Urteil Columbus Container Services, in Fn. 2 angeführt, Randnr. 34 und die dort angeführte Rechtsprechung.


30 – Urteil vom 10. März 2009 (C‑169/07, Slg. 2009, I‑0000, Randnr. 33).


31 – Vgl. Urteil vom 15. Mai 2008, Lidl Belgium (C‑414/06, Slg. 2008, I‑3601, Randnrn. 18 f. und die dort angeführte Rechtsprechung); vgl. auch Urteil vom 12. September 2006, Cadbury Schweppes und Cadbury Schweppes Overseas (C‑196/04, Slg. 2006, I‑7995, Randnrn. 41 f.).


32 – Vgl. Urteil vom 15. Juli 2004, Lenz (C‑315/02, Slg. 2004, I‑7063), wonach die Möglichkeit, eine bestimmte einkommensteuerliche Behandlung von im Inland ausgeschütteten Dividenden in Anspruch zu nehmen, auch für im Ausland bezogene Dividenden gelten muss. Vgl. auch Urteil vom 14. Dezember 2006, Denkavit Internationaal und Denkavit France (C‑170/05, Slg. 2006, I‑11949), dem zufolge die Art. 43 EG und 48 EG nationalen Rechtsvorschriften entgegenstehen, die eine gebietsfremde Muttergesellschaft mit einer Steuer auf Dividenden belasten, gebietsansässige Muttergesellschaften aber fast völlig davon befreien.


33 – Vgl. oben, Nr. 8.


34 – Hierauf gehe ich unten, Nrn. 45 bis 49, näher ein.


35 – Bei meiner Würdigung kommt es nicht darauf an, ob Ungarn oder der Tschechischen Republik Vorrang bei der Erhebung der Berufsausbildungsabgabe zuzuerkennen ist (wie dies bei einem Vergleich von zwei Steuersystemen in zwei unterschiedlichen Mitgliedstaaten der Fall wäre). Die Beschränkung ergibt sich allein aus der Ausgestaltung der ungarischen Vorschriften.


36 – Vgl. Urteil Lidl Belgium, in Fn. 31 angeführt, Randnr. 27.