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SCHLUSSANTRÄGE DER GENERALANWÄLTIN

ELEANOR SHARPSTON

vom 12. Mai 2011(1)

Rechtssache C-397/09

Scheuten Solar Technology GmbH

gegen

Finanzamt Gelsenkirchen-Süd

(Vorabentscheidungsersuchen des Bundesfinanzhofs [Deutschland])

„Steuerwesen – Zahlungen von Zinsen zwischen verbundenen Unternehmen verschiedener Mitgliedstaaten – Abzugsfähigkeit von Zahlungen bei der Festsetzung der Bemessungsgrundlage für die Besteuerung des die Zinsen zahlenden Unternehmens“






1.        Mit dem vorliegenden Vorabentscheidungsersuchen des Bundesfinanzhofs (Deutschland) wird der Gerichtshof erstmals um Auslegung von Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie 2003/49(2) ersucht, die es den Mitgliedstaaten verbietet, Zahlungen von Zinsen oder Lizenzgebühren zu besteuern, die von verbundenen Unternehmen in verschiedenen Mitgliedstaaten getätigt werden. Den Mitgliedstaaten steht es jedoch nach Art. 1 Abs. 10 frei, die Steuerbefreiung nicht anzuwenden, wenn die Unternehmen nicht für einen Zeitraum von mindestens zwei Jahren verbunden waren.

2.        Im vorliegenden Verfahren geht es in erster Linie um die Frage, ob die Richtlinie 2003/49 einer nationalen Regelung entgegensteht, wonach Zinszahlungen bei der Festsetzung der Steuerbemessungsgrundlage für das die Zinsen zahlende Unternehmen nicht in vollem Umfang abzugsfähig sind.

 Rechtsvorschriften

 Richtlinie 2003/49

3.        Die Richtlinie 2003/49 enthält u. a. folgende Erwägungsgründe:

„(1) Im europäischen Binnenmarkt, der die Merkmale eines Inlandsmarktes aufweist, sollten Finanzbeziehungen zwischen Unternehmen verschiedener Mitgliedstaaten nicht gegenüber gleichartigen Beziehungen zwischen Unternehmen ein und desselben Mitgliedstaats steuerlich benachteiligt werden.

(2) Diese Forderung ist bei Zahlungen von Zinsen und Lizenzgebühren gegenwärtig nicht erfüllt; die nationalen Steuervorschriften, gegebenenfalls in Verbindung mit bilateralen oder multilateralen Übereinkünften, können nicht immer die Beseitigung der Doppelbesteuerung gewährleisten, und ihre Anwendung bringt für die Unternehmen oftmals Belastungen durch Verwaltungsaufwand sowie Cashflow-Probleme mit sich.

(3) Es muss gewährleistet sein, dass Einkünfte in Form von Zinsen und Lizenzgebühren einmal in einem Mitgliedstaat besteuert werden.

(4) Das geeignetste Mittel, um die genannten Belastungen und Probleme zu beseitigen und die steuerliche Gleichbehandlung innerstaatlicher und grenzübergreifender Finanzbeziehungen zu gewährleisten, besteht darin, die Steuern – unabhängig davon, ob sie an der Quelle abgezogen oder durch Veranlagung erhoben werden – bei Zahlungen von Zinsen und Lizenzgebühren in dem Mitgliedstaat, in dem diese Einkünfte anfallen, zu beseitigen; besonders notwendig ist die Beseitigung dieser Steuern bei Zahlungen zwischen verbundenen Unternehmen verschiedener Mitgliedstaaten sowie zwischen Betriebsstätten derartiger Unternehmen.

…“

4.        In Art. 1 („Anwendungsbereich und Verfahren“) lauten die einschlägigen Bestimmungen wie folgt:

„(1) In einem Mitgliedstaat angefallene Einkünfte in Form von Zinsen oder Lizenzgebühren werden von allen in diesem Staat darauf erhebbaren Steuern – unabhängig davon, ob sie an der Quelle abgezogen oder durch Veranlagung erhoben werden – befreit, sofern der Nutzungsberechtigte der Zinsen oder Lizenzgebühren ein Unternehmen eines anderen Mitgliedstaats oder eine in einem anderen Mitgliedstaat belegene Betriebsstätte eines Unternehmens eines Mitgliedstaats ist.

(2) Eine Zahlung, die von einem Unternehmen eines Mitgliedstaats oder einer in einem Mitgliedstaat belegenen Betriebsstätte eines Unternehmens eines anderen Mitgliedstaats getätigt wurde, gilt als in dem betreffenden Mitgliedstaat (im Folgenden ‚Quellenstaat‘ genannt) angefallen.

(3) Eine Betriebsstätte wird nur insoweit als Zahler von Zinsen oder Lizenzgebühren behandelt, als die entsprechenden Zahlungen in dem Mitgliedstaat, in dem sie belegen ist, für sie eine steuerlich abzugsfähige Betriebsausgabe darstellen.

(7) Dieser Artikel findet nur Anwendung, wenn das Unternehmen, das Zahler der Zinsen oder Lizenzgebühren ist, oder das Unternehmen, dessen Betriebsstätte als Zahler der Zinsen oder Lizenzgebühren behandelt wird, ein verbundenes Unternehmen des Unternehmens ist, das Nutzungsberechtigter ist oder dessen Betriebsstätte als Nutzungsberechtigte dieser Zinsen oder Lizenzgebühren behandelt wird.

(9) Dieser Artikel hindert einen Mitgliedstaat nicht, bei der Anwendung seines Steuerrechts Zinsen oder Lizenzgebühren zu berücksichtigen, die seine Unternehmen, die Betriebsstätten seiner Unternehmen oder in dem genannten Staat belegene Betriebsstätten erhalten.

(10) Es steht den Mitgliedstaaten frei, diese Richtlinie nicht auf ein Unternehmen eines anderen Mitgliedstaats oder die Betriebsstätte eines Unternehmens eines anderen Mitgliedstaats anzuwenden, wenn die in Artikel 3 Buchstabe b) genannten Voraussetzungen während eines ununterbrochenen Zeitraums von mindestens zwei Jahren nicht erfüllt waren.

…“

5.        Nach Art. 2 Buchst. a bezeichnet für die Zwecke der Richtlinie 2003/49 der Ausdruck „‚Zinsen‘ Einkünfte aus Forderungen jeder Art, auch wenn die Forderungen durch Pfandrechte an Grundstücken gesichert oder mit einer Beteiligung am Gewinn des Schuldners ausgestattet sind, insbesondere Einkünfte aus öffentlichen Anleihen und aus Obligationen einschließlich der damit verbundenen Aufgelder und der Gewinne aus Losanleihen; Zuschläge für verspätete Zahlung gelten nicht als Zinsen“.

6.        Die Begriffe „Unternehmen“, „verbundenes Unternehmen“ und „Betriebsstätte“ sind in Art. 3 definiert:

„Für die Zwecke dieser Richtlinie bezeichnet der Ausdruck

a) ‚Unternehmen eines Mitgliedstaats‘ jedes Unternehmen, das

i) eine der in der Liste im Anhang aufgeführten Rechtsformen aufweist[(3)] und

ii) nach dem Steuerrecht eines Mitgliedstaats in diesem Mitgliedstaat niedergelassen ist und nicht nach einem zwischen dem betreffenden Staat und einem Drittstaat geschlossenen Abkommen über die Doppelbesteuerung von Einkünften für steuerliche Zwecke als außerhalb der Gemeinschaft niedergelassen gilt und

iii) einer der nachstehend aufgeführten Steuern oder einer mit diesen Steuern identischen oder weitgehend ähnlichen Steuer, die nach dem Zeitpunkt des Inkrafttretens dieser Richtlinie anstelle der bestehenden Steuern oder ergänzend zu ihnen eingeführt wird, unterliegt, ohne von ihr befreit zu sein:

– Körperschaftssteuer in Deutschland[(4)],

b) ‚verbundenes Unternehmen‘ jedes Unternehmen, das wenigstens dadurch mit einem zweiten Unternehmen verbunden ist, dass

i) das erste Unternehmen unmittelbar mindestens zu 25 % am Kapital des zweiten Unternehmens beteiligt ist oder

ii) das zweite Unternehmen unmittelbar mindestens zu 25 % an dem Kapital des ersten Unternehmens beteiligt ist oder

iii) ein drittes Unternehmen unmittelbar mindestens zu 25 % an dem Kapital des ersten Unternehmens und dem Kapital des zweiten Unternehmens beteiligt ist.

Die Beteiligungen dürfen nur Unternehmen umfassen, die im Gemeinschaftsgebiet niedergelassen sind.

Den Mitgliedstaaten steht es jedoch frei, das Kriterium einer Mindestkapitalbeteiligung durch das Kriterium eines Mindestanteils an den Stimmrechten zu ersetzen;

…“

7.        Art. 9 lautet: „Diese Richtlinie berührt nicht die Anwendung einzelstaatlicher oder bilateraler Bestimmungen, die über die Bestimmungen dieser Richtlinie hinausgehen und die Beseitigung oder Abschwächung der Doppelbesteuerung von Zinsen und Lizenzgebühren bezwecken.“

 Mutter-Tochter-Richtlinie(5)

8.        Die Mutter-Tochter-Richtlinie ist im vorliegenden Verfahren nicht unmittelbar einschlägig. Sie muss jedoch bei der Prüfung der vom nationalen Gericht aufgeworfenen Fragen berücksichtigt werden.

9.        Die Mutter-Tochter-Richtlinie bezweckt, durch Schaffung eines gemeinsamen Steuersystems die grenzüberschreitende Zusammenarbeit zwischen Gesellschaften verschiedener Mitgliedstaaten zu erleichtern.(6) Daher sieht ihr Art. 5 Abs. 1 zur Vermeidung der Doppelbesteuerung vor, dass im Staat der Tochtergesellschaft bei der Gewinnausschüttung an deren Muttergesellschaft eine Befreiung vom Steuerabzug an der Quelle gewährt wird.(7)

10.      Nach Art. 3 Abs. 1 Buchst. a der Mutter-Tochter-Richtlinie gilt als Muttergesellschaft jede Gesellschaft eines Mitgliedstaats, die bestimmte, in Art. 2 aufgeführte Bedingungen erfüllt und einen Anteil von wenigstens 20 % am Kapital einer Gesellschaft eines anderen Mitgliedstaats besitzt. Nach Art. 3 Abs. 2 zweiter Gedankenstrich der Richtlinie haben die Mitgliedstaaten abweichend von Abs. 1 die Möglichkeit, „von dieser Richtlinie ihre Gesellschaften auszunehmen, die nicht während eines ununterbrochenen Zeitraums von mindestens zwei Jahren im Besitz einer Beteiligung bleiben, aufgrund deren sie als Muttergesellschaften gelten, oder an denen eine Gesellschaft eines anderen Mitgliedstaats nicht während eines ununterbrochenen Zeitraums von mindestens zwei Jahren eine solche Beteiligung hält“.

 Nationales Recht

11.      Die Richtlinie 2003/49 wurde in Deutschland durch § 50g des Einkommensteuergesetzes (EStG) umgesetzt.

12.      In Deutschland wird die Körperschaftsteuer von den Bundesbehörden nach dem Körperschaftsteuergesetz erhoben. Die Gewerbesteuer ist eine Gemeindesteuer.(8) Ein besonderes Merkmal der Gewerbesteuer besteht darin, dass der Gewerbeertrag zunächst als der nach den Vorschriften des Einkommensteuergesetzes oder des Körperschaftsteuergesetzes ermittelte Gewinn festgesetzt wird.(9) Dieser Gewinn wird dann um bestimmte Beträge vermehrt und um bestimmte Beträge vermindert. Mit diesen Hinzurechnungen und Kürzungen soll der objektive Gewerbeertrag unabhängig davon ermittelt werden, ob er auf dem Einsatz von Eigen- oder Fremdkapital beruht.(10) Die Körperschaftsteuer und die Gewerbesteuer bestehen nebeneinander und werden beide auf den Unternehmensgewinn erhoben. Der vorliegende Fall betrifft die von der Gemeinde Gelsenkirchen-Süd nach Maßgabe des Gewerbesteuergesetzes in der 2002 geltenden Fassung (GewStG 2002) erhobene Steuer.(11)

13.      Nach § 1 GewStG 2002 können die Gemeinden die Gewerbebetriebe mit einer Gemeindesteuer belegen.

14.      § 2 GewStG 2002 bestimmt:

„(1) Der Gewerbesteuer unterliegt jeder stehende Gewerbebetrieb, soweit er im Inland betrieben wird. Unter Gewerbebetrieb ist ein gewerbliches Unternehmen im Sinne des Einkommensteuergesetzes zu verstehen. Im Inland betrieben wird ein Gewerbebetrieb, soweit für ihn im Inland oder auf einem in einem inländischen Schiffsregister eingetragenen Kauffahrteischiff eine Betriebsstätte unterhalten wird.

(2) Als Gewerbebetrieb gilt stets und in vollem Umfang die Tätigkeit der Kapitalgesellschaften (Aktiengesellschaften, Kommanditgesellschaften auf Aktien, Gesellschaften mit beschränkter Haftung) …“

15.      Nach § 6 GewStG 2002 ist Besteuerungsgrundlage für die Gewerbesteuer der Gewerbeertrag.

16.      In § 7 GewStG 2002 ist Gewerbeertrag definiert als

„der nach den Vorschriften des Einkommensteuergesetzes oder des Körperschaftsteuergesetzes zu ermittelnde Gewinn aus dem Gewerbebetrieb …, vermehrt und vermindert um die in den §§ 8 und 9 bezeichneten Beträge“.

17.      § 8 GewStG 2002 bestimmt:

„Dem Gewinn aus Gewerbebetrieb (§ 7) werden folgende Beträge wieder hinzugerechnet, soweit sie bei der Ermittlung des Gewinns abgesetzt worden sind[(12)]:

1. Die Hälfte der Entgelte für Schulden, die wirtschaftlich mit der Gründung oder dem Erwerb des Betriebs (Teilbetriebs) oder eines Anteils am Betrieb oder mit einer Erweiterung oder Verbesserung des Betriebs zusammenhängen oder der nicht nur vorübergehenden Verstärkung des Betriebskapitals dienen …“

18.      § 10a GewStG 2002 sieht hinsichtlich der Bemessungsgrundlage für die Gewerbesteuer vor, dass Verluste von den nach § 8 GewStG 2002 ermittelten Gewinnen abgezogen werden können.

 Sachverhalt, Verfahren und Vorlagefragen

19.      Die Klägerin des Ausgangsverfahrens, die Scheuten Solar Technology GmbH (im Folgenden: Scheuten) ist eine in Deutschland ansässige Gesellschaft, die Solarpaneele herstellt. Ihre alleinige Anteilseignerin ist seit 2003 die Scheuten Solar Systems B.V. (im Folgenden: Solar Systems) mit Sitz in den Niederlanden.

20.      Solar Systems gewährte Scheuten mit elf weitgehend gleichlautenden Verträgen, die in der Zeit zwischen dem 27. August 2003 und dem 1. Dezember 2004 abgeschlossen wurden, Darlehen über insgesamt 5 180 000 Euro zu einem Zinssatz von 5 %. Die Rückzahlung der Darlehen sollte auf Abruf von Solar Systems erfolgen. Scheuten zahlte im Streitjahr 2004 Darlehenszinsen in Höhe von 154 584 Euro an Solar Systems.

21.      Mit einer Entscheidung nach § 8 Nr. 1 GewStG 2002 teilte das Finanzamt mit, dass Scheuten nicht zum Abzug der Hälfte dieses Betrags (77 292 Euro) von ihrem Gewinn aus Gewerbebetrieb berechtigt sei, und veranlagte auf dieser Grundlage die Gesellschaft zur Gewerbesteuer für das Jahr 2004. Scheuten war der Ansicht, dass der gesamte Zinsbetrag, den sie 2004 an Solar Systems gezahlt habe, von ihrem Gewinn aus Gewerbebetrieb abziehbar sein müsse und sich der Steuermessbetrag dementsprechend vermindere. Scheuten erhob daher Klage gegen die Entscheidung des Finanzamts.

22.      Mit Urteil vom 22. Februar 2008 wies das Finanzgericht Münster die Klage von Scheuten ab.

23.      Scheuten legte Revision beim Bundesfinanzhof ein. Sie beantragt, das Urteil des Finanzgerichts aufzuheben und den Bescheid über den Gewerbesteuermessbetrag zu ändern. Sie macht geltend, dass sich ihr Gewerbeertrag (nach vollem Abzug der 2004 von ihr gezahlten Zinsen) auf 3 187 Euro belaufe, sie einen Verlustvortrag in Höhe von 5 313 Euro in Anspruch nehmen könne und die Bemessungsgrundlage daher null betrage. Der Bundesfinanzhof ersucht um Vorabentscheidung folgender Fragen:

1.      Steht Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie 2003/49/EG einer Regelung entgegen, wonach die von einem Unternehmen eines Mitgliedstaats an ein verbundenes Unternehmen eines anderen Mitgliedstaats gezahlten Darlehenszinsen bei dem erstgenannten Unternehmen der Bemessungsgrundlage für die Gewerbesteuer hinzugerechnet werden?

2.      Falls die erste Frage bejaht wird: Ist Art. 1 Abs. 10 der Richtlinie 2003/49 dahin auszulegen, dass es den Mitgliedstaaten auch dann freisteht, die Richtlinie nicht anzuwenden, wenn die in Art. 3 Buchst. b dieser Richtlinie genannten Voraussetzungen für das Vorliegen eines verbundenen Unternehmens zum Zeitpunkt der Zinszahlung noch nicht während eines ununterbrochenen Zeitraums von mindestens zwei Jahren erfüllt waren?

      Können sich die Mitgliedstaaten in diesem Fall gegenüber dem zahlenden Unternehmen unmittelbar auf Art. 1 Abs. 10 der Richtlinie 2003/49 berufen?

24.      Schriftliche Erklärungen sind von Scheuten, der belgischen, der dänischen, der deutschen, der italienischen, der niederländischen, der portugiesischen und der schwedischen Regierung, der Regierung des Vereinigten Königreichs sowie von der Kommission eingereicht worden. Scheuten, das Finanzamt Gelsenkirchen-Süd, die deutsche, die estnische und die schwedische Regierung sowie die Kommission haben in der Sitzung vom 16. September 2010 mündliche Ausführungen gemacht.

 Würdigung

 Vorbemerkung

25.      Scheuten macht geltend, dass mit dem Bescheid, wonach die Hälfte des von ihr an Solar Systems gezahlten Zinsbetrags der Bemessungsgrundlage für die Gewerbesteuer hinzuzurechnen sei, ihr in den Art. 43 EG (jetzt Art. 49 AEUV) und 48 EG (jetzt Art. 54 AEUV) verankertes Recht auf freie Niederlassung verletzt werde.(13)

26.      Meines Erachtens ist dieses Vorbringen von Scheuten jedoch nicht mehr haltbar, denn sie hat in der mündlichen Verhandlung (auf Befragen durch den Gerichtshof) eingeräumt, dass die innerstaatlichen Vorschriften keine Diskriminierung beinhalten, da die Regelung über die Hinzurechnung der Hälfte der Zinszahlungen zum Gewinn aus Gewerbebetrieb nicht zwischen innerstaatlichen und grenzüberschreitenden Finanzbeziehungen unterscheidet.

27.      Da das nationale Gericht jedenfalls keine Fragen nach der Anwendung der Art. 43 EG und 48 EG gestellt hat, will ich diesem Punkt nicht weiter nachgehen.

 Frage 1

28.      Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die Richtlinie 2003/49 einer nationalen Regelung entgegensteht, wonach die Zinszahlungen, die ein Unternehmen an ein verbundenes Unternehmen eines anderen Mitgliedstaats leistet, bei der Festsetzung der Bemessungsgrundlage für die Gewerbesteuer des die Zinsen zahlenden Unternehmens nicht als abzugsfähige Betriebsausgabe behandelt werden können.

29.      Meines Erachtens steht die Richtlinie 2003/49 der fraglichen nationalen Regelung nicht entgegen.

 Anwendungsbereich der Richtlinie 2003/49

30.      Die Voraussetzungen für das Eingreifen der Richtlinie 2003/49 scheinen auf den ersten Blick erfüllt zu sein. Scheuten ist ein Unternehmen eines Mitgliedstaats im Sinne von Art. 3 Buchst. a, das Zinsen an ein verbundenes Unternehmen (Solar Systems) im Sinne von Art. 3 Buchst. b der Richtlinie 2003/49 gezahlt hat. Allerdings bedarf es einer näheren Prüfung der tatsächlichen Auswirkungen, die die streitige nationale Regelung auf diese Zinszahlungen hat.

–       Auswirkungen der nationalen Regelung

31.      Nach § 6 GewStG 2002 hat Scheuten Gewerbesteuer auf den Gewerbeertrag zu entrichten.(14) Der Begriff des Gewerbeertrags ist in § 7 GewStG 2002 definiert, der vorsieht, dass der Gewinn aus dem Gewerbebetrieb nach § 8 vermehrt und/oder nach § 9 vermindert wird.(15) Der als Gewerbesteuer zu entrichtende Betrag wird dann anhand dieses Wertes festgesetzt. Die Bemessungsgrundlage für die Gewerbesteuer unterscheidet sich daher von der Besteuerungsgrundlage sowohl der Einkommensteuer als auch der Körperschaftsteuer.(16) In gewisser Weise ist es falsch, zu sagen, dass die fraglichen Zinszahlungen dem Gewinn „wieder hinzugerechnet“ werden. In Wirklichkeit sieht die Regelung vor, dass die Zahlungen bei der Festsetzung der Gewerbesteuer nicht vom Gewinn abgezogen werden.

32.      Aus § 8 Nr. 1 GewStG 2002 ergeben sich de facto zwei steuerliche Konsequenzen. Erstens wird die Hälfte der Zinsen, die Scheuten an Solar Systems gezahlt hat, nicht als anrechnungsfähige Betriebsausgabe vom Gewinn abgezogen. Zweitens erhöht sich infolge der Einbeziehung der nicht abzugsfähigen Zinszahlungen für Scheuten die Besteuerungsgrundlage für die Gewerbesteuer.(17)

33.      Bei den von Scheuten gezahlten Zinsen handelt es sich eindeutig um eine Betriebsausgabe des Unternehmens. Nach den streitigen nationalen Rechtsvorschriften ist die Hälfte dieser Ausgabe bei der Festlegung der Bemessungsgrundlage einer bestimmten Steuer, nämlich der Gewerbesteuer, nicht abzugsfähig. Fällt eine Bestimmung, die regelt, was unter anrechnungsfähigen Aufwendungen zu verstehen ist, in den Anwendungsbereich der Richtlinie 2003/49?

34.      Im Gegensatz zum Bereich der indirekten Steuern enthält der Vertrag keine speziellen Bestimmungen zur Harmonisierung der direkten Steuern (wie der Einkommensteuer und der Körperschaftsteuer).(18) Dementsprechend sind bislang noch keine Bestimmungen zur Harmonisierung der nationalen Steuerregelungen und der komplizierten Systeme der von Mitgliedstaat zu Mitgliedstaat unterschiedlichen Besteuerungsgrundlagen erlassen worden.(19)

35.      Nach Ansicht von Scheuten bewirkt Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie 2003/49 die Beseitigung jedweder Besteuerung der vom Zinszahler getätigten Zinszahlungen. § 8 Nr. 1 GewStG 2002 komme der Auferlegung einer Steuer gleich, da die Hälfte der von Scheuten an Solar Systems gezahlten Zinsen in die für Scheuten geltende Steuerbemessungsgrundlage einbezogen werde.

36.      Die deutsche Regierung und das Finanzamt Gelsenkirchen-Süd, unterstützt durch die Kommission, machen geltend, dass es sich bei § 8 Nr. 1 GewStG 2002 um eine Regelung über die Steuerbemessungsgrundlage handele. Darin seien die Elemente festgelegt, die bei der Ermittlung des Gewinns zu berücksichtigen seien, auf den die Gewerbesteuer erhoben werden dürfe; insbesondere sei darin die Frage geregelt, ob Zinszahlungen abzugsfähige Betriebsausgaben seien. Regelungen dieser Art fielen nicht unter die Richtlinie 2003/49. Die erste Frage des vorlegenden Gerichts sei daher zu verneinen.

37.      Fünf der Mitgliedstaaten, die schriftliche Erklärungen eingereicht haben (Dänemark, Italien, die Niederlande, Portugal und Schweden), vertreten eine ähnliche Auffassung wie die deutsche Regierung und die Kommission. In der mündlichen Verhandlung hat sich auch Estland dieser Ansicht angeschlossen. Die Regierung des Vereinigten Königreichs macht ebenfalls – wenn auch aus anderen Gründen – geltend, dass die erste Frage zu verneinen sei. Die Richtlinie 2003/49 betrifft ihrer Ansicht nach die steuerliche Behandlung des Nutzungsberechtigten der Zinsen und nicht die steuerliche Behandlung des diese Zinsen zahlenden Unternehmens.

38.      Die belgische Regierung verfolgt einen anderen Ansatz. § 8 Nr. 1 GewStG 2002 komme der Auferlegung einer Steuer gleich. Die Richtlinie 2003/49 stehe dem jedoch nicht entgegen, wenn mit der Einbeziehung von Zinszahlungen in die Bemessungsgrundlage einer Unterkapitalisierung der Unternehmen entgegengewirkt werden solle.

39.      Ich schließe mich der Kommission und den Mitgliedstaaten an, die der Meinung sind, dass der vorliegende Fall nicht von der Richtlinie 2003/49 erfasst wird.

40.      Voraussetzung für die Anwendbarkeit von Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie 2003/49 ist zunächst ein Steuertatbestand. Im Hinblick auf diesen Steuertatbestand besteht dann eine Befreiung für die Zahlung von Zinsen, wenn deren Nutzungsberechtigter ein Unternehmen oder eine Betriebsstätte in einem anderen Mitgliedstaat ist. Die Befreiung setzt daher beim Steuertatbestand und nicht bei der Festlegung der Bemessungsgrundlage an (bei der es sich um einen der Steuererhebung vorgelagerten Vorgang handelt).

41.      Erstens ist zu beachten, dass sowohl Regelungen, mit denen Steuertatbestände geschaffen werden, als auch Regelungen, die die Bemessungsgrundlage betreffen, selbstverständlich steuerliche Konsequenzen nach sich ziehen. Diese Regelungen sind jedoch wesensmäßig verschieden. Regelungen über Steuertatbestände begründen eine Steuerpflicht, die an ein bestimmtes Ereignis anknüpft (etwa die Zahlung von Dividenden einer Tochtergesellschaft an ihre Muttergesellschaft). Regelungen über die Bemessungsgrundlage legen fest, was als zu besteuernde Einkünfte oder Gewinne zu behandeln ist (z. B. in welchem Umfang das Einkommen einer Person besteuert wird oder welche Aufwendungen oder Verluste bei der Ermittlung der Steuerschuld einer Gesellschaft oder einer natürlichen Person abziehbar sind).

42.      Da die direkten Steuern in der Union nicht harmonisiert worden sind, gibt es auch keine Unionsmaßnahmen zur Harmonisierung der Bemessungsgrundlage in den nationalen Steuerordnungen.(20) Der Gerichtshof entscheidet allerdings in ständiger Rechtsprechung, dass „die direkten Steuern zwar in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten fallen, dass diese ihre Befugnisse jedoch unter Wahrung des Gemeinschaftsrechts ausüben müssen“(21). Diese Beschränkung könnte etwa dann zum Tragen kommen, wenn die nationale Maßnahme innerstaatliche und grenzüberschreitende Finanzbeziehungen unterschiedlich behandeln und dadurch die Ausübung der Niederlassungsfreiheit behindern würde. Aus den in den Vorbemerkungen zu dieser Würdigung genannten Gründen braucht diese Frage im vorliegenden Fall jedoch nicht untersucht zu werden.

43.      Zweitens enthält der Wortlaut der Richtlinie 2003/49 – wie die Kommission zu Recht anmerkt – keine Anhaltspunkte für eine Absicht des Gesetzgebers, eine Regelung über die Steuerbemessungsgrundlage zu erlassen. In Art. 1 Abs. 3 ist zwar von einer „steuerlich abzugsfähigen Betriebsausgabe“ die Rede. Der Begriff „abzugsfähig“ knüpft hier jedoch an die Definition und die Behandlung einer „Betriebsstätte“ an. Art. 1 Abs. 3 enthält keine Bestimmungen über die steuerliche Bemessungsgrundlage.

44.      Ich meine daher, dass in Ermangelung einer ausdrücklichen Rechtsvorschrift über die Modalitäten der Ermittlung des Gewinns als Steuerbemessungsgrundlage der Schluss unzulässig ist, dass sich der Geltungsbereich der Richtlinie 2003/49 über die in Art. 1 Abs. 1 vorgesehene Steuerbefreiung hinaus erstreckt.

–       Zur Frage der Heranziehung der Rechtsprechung des Gerichtshofs zur Mutter-Tochter-Richtlinie

45.      Nach Ansicht von Scheuten ergibt sich aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs zur Mutter-Tochter-Richtlinie, dass eine Bestimmung wie § 8 Nr. 1 GewStG 2002, wonach abzugsfähige Aufwendungen in die Bemessungsgrundlage der von einem Unternehmen zu entrichtenden Steuer einzubeziehen seien, als Auferlegung einer Steuer im Sinne von Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie 2003/49 anzusehen sei. Erstens beruft sich Scheuten auf das Urteil Athinaiki Zithopiia (im Folgenden: Griechische Brauereien)(22). In jener Rechtssache hatte eine griechische Tochtergesellschaft Gewinne an ihre niederländische Muttergesellschaft ausgeschüttet. Bei der Bestimmung des steuerbaren Gewinns der Tochtergesellschaft versagten die griechischen Steuerbehörden bestimmte Steuerbefreiungen, die gegolten hätten, wenn keine Ausschüttung an eine ausländische Muttergesellschaft erfolgt und der Gewinn bei der Tochtergesellschaft verblieben wäre. Dementsprechend wurden bei der Berechnung der Bemessungsgrundlage für die von der Tochtergesellschaft zu entrichtende Steuer Einkünfte, die einer besonderen, zum Erlöschen der Steuerschuld führenden Besteuerung unterliegen, sowie nichtsteuerbare Einkünfte berücksichtigt.(23) Der Gerichtshof hatte zu entscheiden, ob die in jener Rechtssache streitige nationale Maßnahme einen nach Art. 5 Abs. 1 der Mutter-Tochter-Richtlinie verbotenen Steuerabzug an der Quelle darstellt.

46.      Meines Erachtens unterscheidet sich der vorliegende Fall von der Rechtssache Griechische Brauereien. Mit jenem Urteil hat der Gerichtshof entschieden, dass die Entscheidung der nationalen Behörden, der Tochtergesellschaft bestimmte Steuerbefreiungen zu versagen – was zu einer Erweiterung ihrer Besteuerungsgrundlage und damit zu einer Erhöhung ihrer steuerlichen Belastung geführt hatte – einen Steuerabzug an der Quelle darstelle. Dabei hat er sein Ergebnis, dass die Muttergesellschaft einem Steuerabzug an der Quelle unterworfen worden sei, auf mehrere Indizien gestützt: i) Die Steuerlast der Tochtergesellschaft erhöhte sich nur deswegen, weil sie Ausschüttungen an ihre Muttergesellschaft vornahm – dies war der die Steuer auslösende Tatbestand; ii) Bemessungsgrundlage war der ausgeschüttete Gewinn; iii) der wirtschaftliche Effekt einer Besteuerung der Tochtergesellschaft entsprach einer Besteuerung der Muttergesellschaft, da die Steuer von der ausschüttenden Gesellschaft einbehalten und unmittelbar abgeführt wurde und sich daher der Betrag der an die Muttergesellschaft ausgeschütteten Gewinne verminderte; iv) im Gegensatz zur üblichen Rechtslage im Rahmen der Körperschaftsteuer berücksichtigte die fragliche innerstaatliche Regelung nicht einen Verlustvortrag aus vergangenen Jahren.(24)

47.      Im vorliegenden Fall liegt keiner der vom Gerichtshof im Urteil Griechische Brauereien genannten Faktoren vor. Erstens regeln die fraglichen nationalen Bestimmungen die Abzugsfähigkeit von Aufwendungen und keinen Steuertatbestand. Zweitens entspricht die Bemessungsgrundlage nicht den von Scheuten gezahlten Zinsen. Die Bemessungsgrundlage richtet sich nach den einschlägigen Vorschriften des GewStG 2002(25) – die nicht abziehbaren Zinszahlungen sind lediglich ein Element dieser Bemessungsgrundlage. Drittens wirkt sich die nationale Regelung wirtschaftlich nicht auf die Muttergesellschaft aus, an die die Zinsen gezahlt werden. Solar Systems erhält die fälligen Zinsen in voller Höhe, und dieser Betrag wird in Deutschland nicht besteuert. Schließlich kommt es auch nicht zwangsläufig dazu, dass Scheuten selbst Steuer auf die Zinsen zu entrichten hat, die in die Bemessungsgrundlage für ihre Besteuerung einbezogen werden. Dieses Element kann nämlich mit anderen abziehbaren Aufwendungen verrechnet werden. Wenn die Abzüge höher als die Gewinneinkünfte sind, entsteht keine Steuerschuld.(26)

48.      Darüber hinaus beruft sich Scheuten auf das Urteil Burda(27), in dem der Gerichtshof zur Mutter-Tochter-Richtlinie entschieden hat, dass eine Abgabe nur dann als Steuerabzug an der Quelle bezeichnet werden kann, wenn die nachstehenden drei Voraussetzungen kumulativ erfüllt sind. Erstens muss auslösender Tatbestand der Steuer die Zahlung von Dividenden oder anderen Erträgen von Wertpapieren sein, zweitens müssen Besteuerungsgrundlage dieser Steuer die Erträge dieser Wertpapiere sein, und drittens muss der Steuerpflichtige der „Inhaber dieser Wertpapiere“ sein.(28)

49.      Im vorliegenden Fall scheint keine dieser drei kumulativen Voraussetzungen erfüllt zu sein. Wie bereits in Bezug auf das Urteil Griechische Brauereien dargelegt, sind die von Scheuten geleisteten Zinszahlungen als solche nicht der auslösende Tatbestand. Der gezahlte Zinsbetrag stellt auch nicht die Bemessungsgrundlage dar – die Vorschriften besagen vielmehr, dass die Hälfte der gezahlten Zinsen nicht als Ausgaben abgezogen werden können. Schließlich ist im Fall des Steuerabzugs an der Quelle die Muttergesellschaft, die Inhaberin der Anteile an der Tochtergesellschaft ist, der Steuerpflichtige. Hier hingegen ist Solar Systems (die Muttergesellschaft, die die „Inhaberin dieser Wertpapiere“ ist) nicht der nach dem GewStG 2002 Steuerpflichtige.

50.      In den Urteilen Griechische Brauereien und Burda des Gerichtshofs ging es generell um die Frage, ob die jeweils in Rede stehenden nationalen Regelungen de facto einen Steuerabzug an der Quelle darstellten. Der vorliegende Fall betrifft eine Regelung über die Abziehbarkeit von Aufwendungen und über die Besteuerungsgrundlage. Meines Erachtens lässt sich aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs zur Mutter-Tochter-Richtlinie und insbesondere den beiden genannten Urteilen nicht ableiten, dass die hier fragliche Regelung de facto einem Steuerabzug an der Quelle gleichkommt.

51.      Folglich ist meiner Meinung nach dem Gerichtshof bei der Entscheidung über das Wesen der nationalen Regelung über die Abziehbarkeit im Rahmen der Richtlinie 2003/49 die Rechtsprechung zur Mutter-Tochter-Richtlinie nicht von Nutzen.

–       Ergebnis zu Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie 2003/49 und ihrem Anwendungsbereich

52.      Meines Erachtens beschränkt sich Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie 2003/49 auf die Vorschrift, dass Zinszahlungen zwischen verbundenen Unternehmen, die in unterschiedlichen Mitgliedstaaten ansässig sind, von der Steuer befreit sind. Nationale Vorschriften über die Festlegung der Besteuerungsgrundlage wie etwa eine Regelung über die Abziehbarkeit von Aufwendungen fallen nicht in den Anwendungsbereich der Richtlinie 2003/49. Scheuten hat jedoch eine Reihe weiterer Argumente angeführt, die im Vorlagebeschluss angesprochen werden und auf dem Wortlaut, der Systematik und dem Zweck der Rechtsvorschriften beruhen. Ich wende mich jetzt diesen Aspekten zu.

 Wortlaut und Systematik der Richtlinie 2003/49

–       Zur Bedeutung des Begriffs „Zahlung“ („payment“)

53.      Das vorlegende Gericht hat Zweifel an der Eindeutigkeit von Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie 2003/49. Seiner Meinung nach kann der Wortlaut in zweierlei Sinn verstanden werden. Es könne (entsprechend dem Ergebnis, zu dem ich vorstehend gekommen bin) gemeint sein, dass sich die Steuerbefreiung auf die Besteuerung der Zinszahlungen beziehe, die beim Nutzungsberechtigten als Einkünfte anfallen. Möglicherweise könne die Vorschrift aber auch dahin ausgelegt werden, dass die vom Zahler geleisteten Zinsen als steuerlich abzugsfähige Betriebsausgabe dieses zahlenden Unternehmens zu behandeln seien.

54.      Eine Wendung im Sinne von „Zinszahlungen“ findet sich in allen Sprachfassungen der Richtlinie 2003/49, die zum Zeitpunkt ihres Erlasses existierten, mit Ausnahme der deutschen Sprachfassung, in der es „Einkünfte in Form von Zinsen“ heißt.

55.      Nach Auffassung des vorlegenden Gerichts spricht die deutsche Sprachfassung für die These, dass die in Art. 1 Abs. 1 vorgesehene Steuerbefreiung nur vom Nutzungsberechtigten der Zinsen in Anspruch genommen werden könne – eine These, der sich auch das Vereinigte Königreich anschließt.

56.      Scheuten hingegen ist der Ansicht, dass das Wort „Zahlung“ ein neutraler Begriff sei und sich sowohl auf die vom Zahler der Zinsen (Schuldner) getätigten Zahlungen als auch auf die vom Nutzungsberechtigten (Gläubiger) erhaltenen Zahlungen beziehe.

57.      Nach ständiger Rechtsprechung sind die verschiedenen sprachlichen Fassungen, in denen die Vorschriften des Unionsrechts abgefasst sind, gleichermaßen verbindlich.(29) Die Formulierungen im deutschen Text legen (deutlicher als in den anderen Sprachfassungen) nahe, dass Art. 1 Abs. 1 ausschließlich auf die Lage des Nutzungsberechtigten (des die Zinsen empfangenden Unternehmens – hier Solar Systems) abstellt. Damit allein lässt sich jedoch nicht begründen, dass Art. 1 Abs. 1 in diesem Sinne auszulegen ist. Vielmehr muss der Wortlaut unter dem Gesichtspunkt der Systematik und des Zwecks der Richtlinie geprüft werden.(30)

58.      Es trifft zwar zu, dass sich das Wort „Zahlungen“ an sich entweder auf eine Zinszahlung, die der Nutzungsberechtigte erhält, oder auf eine Zahlung beziehen kann, die das die Zinsen zahlende Unternehmen vornimmt. Im Gesamtzusammenhang der Richtlinie 2003/49 ist der Begriff „Zahlung“ jedoch nicht mehrdeutig. Er kann sich nur auf die Zinszahlung beziehen, die beim Nutzungsberechtigten eingeht.

59.      Erstens ist nämlich in Art. 2 Buchst. a der Begriff „Zinsen“ definiert als „Einkünfte aus Forderungen jeder Art“. Einkünfte aus einer Forderung kann nur der Nutzungsberechtigte erzielen. Rein begrifflich kann, wer die Zinsen zahlt, keine Einkünfte aus der Forderung erzielen. Aus seiner Sicht sind die Zahlungen von Zinsen keine Einkünfte, sondern Ausgaben.

60.      Wie die Kommission anmerkt, spricht auch der Wortlaut von Art. 1 Abs. 10 dafür, dass die Richtlinie 2003/49 die Befreiung der an den Nutzungsberechtigten gezahlten Zinsbeträge von der Steuer und nicht die Bemessungsgrundlage für die Besteuerung des zinszahlenden Unternehmens zum Gegenstand hat. Nach Art. 1 Abs. 10 können die Mitgliedstaaten Ausnahmen von der in Art. 1 Abs. 1 vorgeschriebenen Steuerbefreiung vorsehen, wenn bestimmte Voraussetzungen nicht erfüllt sind.(31) In Art. 1 Abs. 10 wird ausdrücklich „ein Unternehmen eines anderen Mitgliedstaats oder die Betriebsstätte eines Unternehmens eines anderen Mitgliedstaats“ als derjenige bezeichnet, auf den die Befreiung nach Art. 1 Abs. 1 nicht angewendet wird, falls von der Ausnahmemöglichkeit Gebrauch gemacht wird. Der Zahler der Zinsen wird hingegen in Art. 1 Abs. 10 nicht erwähnt.

61.      Folglich kann die in Art. 1 Abs. 1 vorgesehene Steuerbefreiung nur dem in einem anderen Mitgliedstaat ansässigen Nutzungsberechtigten zugutekommen.

–       Doppelbesteuerung

62.      Art. 9 der Richtlinie 2003/49, wonach die Richtlinie nicht die Anwendung einzelstaatlicher oder völkerrechtlicher Bestimmungen berührt, die über die Bestimmungen der Richtlinie hinausgehen und die Beseitigung oder Abschwächung der „Doppelbesteuerung“ von Zinsen bezwecken, ist weiterer Beleg dafür, dass die Steuerbefreiung nur für den Nutzungsberechtigten gilt.

63.      Der Begriff der „Doppelbesteuerung“ ist in der Richtlinie 2003/49 nicht definiert. Er wird jedoch gemeinhin dahin verstanden, dass er das Vorhandensein von zwei möglichen Besteuerungsebenen bezeichnet. Die Folgen hat Generalanwalt Geelhoed in seinen Schlussanträgen in der Rechtssache ACT(32) anschaulich erläutert: „Diese zwei möglichen Besteuerungsebenen können zu einer wirtschaftlichen (zweimalige Besteuerung desselben Einkommens in den Händen zweier verschiedener Steuerzahler) oder zu einer rechtlichen Doppelbesteuerung (zweimalige Besteuerung desselben Einkommens in den Händen desselben Steuerzahlers) führen. Wirtschaftliche Doppelbesteuerung liegt vor, wenn beispielsweise dieselben Gewinne zunächst in den Händen der Gesellschaft in Form der Körperschaftsteuer und dann in den Händen des Anteilseigners in Form der Einkommensteuer besteuert werden. Rechtliche Doppelbesteuerung liegt vor, wenn beispielsweise ein Anteilseigner erst die Quellensteuer und dann die Einkommensteuer zu tragen hat, die von verschiedenen Staaten auf denselben Gewinn erhoben werden.“

64.      Nach Ansicht des vorlegenden Gerichts umfasst der Begriff „Doppelbesteuerung“ im Sinne der Richtlinie 2003/49 sowohl die wirtschaftliche als auch die rechtliche Doppelbesteuerung. Meines Erachtens ist nur die rechtliche Doppelbesteuerung erfasst.

65.      Regelungsgegenstand der Mutter-Tochter-Richtlinie ist eindeutig die wirtschaftliche Doppelbesteuerung – Besteuerung desselben Einkommens (Gewinnausschüttungen) zunächst in den Händen der Tochtergesellschaft und dann noch einmal in den Händen der Muttergesellschaft. Die Richtlinie 2003/49 hingegen trägt dem Umstand Rechnung, dass ein und dieselbe Person – der Nutzungsberechtigte – potenziell zweimal dasselbe Einkommen zu versteuern hat, und zwar im Quellenstaat (dem Staat des die Zinsen zahlenden Unternehmens) durch Steuerabzug an der Quelle oder durch Veranlagung und noch einmal im Staat des Nutzungsberechtigten. In der Richtlinie 2003/49 ist also nicht der Fall geregelt, dass eine Steuer bei zwei Personen erhoben wird, sondern der Fall, dass eine zweimalige Erhebung bei ein und derselben Person erfolgt. Der Nutzungsberechtigte ist die einzige Person, die einer Doppelbesteuerung unterworfen sein könnte(33); die Richtlinie 2003/49 betrifft daher ausschließlich die rechtliche Doppelbesteuerung.

66.      Der Vollständigkeit halber erinnere ich daran, dass der Vorschlag der Kommission für die Richtlinie 2003/49 vom OECD-Musterabkommen(34) beeinflusst wurde, mit dem im Wesentlichen ein Instrument zur einheitlichen Lösung der häufigsten Probleme im Bereich der internationalen rechtlichen Doppelbesteuerung bereitgestellt werden soll. Ziel ist die Einführung eines Systems, das sicherstellt, dass der Nutzungsberechtigte Steuer in seinem Heimatstaat entrichtet, sowie die Minimierung der Besteuerung und des damit verbundenen Verwaltungsaufwands des Nutzungsberechtigten, der die grenzüberschreitend gezahlten Zinsen erhält.

67.      Ich meine daher, dass sich der Begriff „Doppelbesteuerung“ im Sinne der Richtlinie 2003/49 nur auf eine Besteuerung von Einkünften beziehen kann, die der Nutzungsberechtigte in Form von Zinsen erzielt. Dementsprechend ist derjenige, der die Zinsen zahlt, in die in Art. 1 Abs. 1 vorgesehene Steuerbefreiung nicht einbezogen.

68.      Im vorliegenden Fall ergeben sich aus den Zinszahlungen von Scheuten an ihre niederländische Muttergesellschaft Solar Systems zwei steuerliche Konsequenzen. Erstens erhöht sich die Bemessungsgrundlage für die von Scheuten zu entrichtende Gewerbesteuer, weil die Hälfte der von ihr gezahlten Zinsen nicht als abzugsfähige Betriebsausgabe anerkannt wird. Wie bereits dargelegt(35), führt dies nicht zwangsläufig zu einer Steuerschuld: Wenn sich bei der Berechnung ergibt, dass die Abzüge höher als die Gewinne sind, entsteht keine Gewerbesteuerschuld. Zweitens könnte Solar Systems (die Nutzungsberechtigte) in den Niederlanden beim Empfang der Zinszahlungen besteuert werden.

69.      Dieses Zusammentreffen steuerlicher Konsequenzen stellt als solches aber weder eine wirtschaftliche noch eine rechtliche Doppelbesteuerung dar, was ein weiteres Indiz dafür ist, dass der dem vorliegenden Verfahren zugrunde liegende Sachverhalt nicht vom Anwendungsbereich der Richtlinie 2003/49 erfasst wird.

–       „Steuerabzug an der Quelle oder Steuererhebung durch Veranlagung“

70.      Schließlich wirft das vorlegende Gericht die Frage auf, ob sich aus dem Umstand, dass die Richtlinie 2003/49 für Zinszahlungen eine Befreiung von durch Abzug an der Quelle oder durch Veranlagung erhobene Steuern vorsieht, herleiten lässt, dass sowohl der Nutzungsberechtigte als auch der Zahler der Zinsen in den Anwendungsbereich der Richtlinie fallen. Das vorlegende Gericht weist darauf hin, dass insoweit der Anwendungsbereich der Richtlinie 2003/49 weiter als der der Mutter-Tochter-Richtlinie sei, da in Letzterer lediglich von Quellensteuern auf von einer Tochtergesellschaft an ihre Muttergesellschaft ausgeschüttete Gewinne die Rede sei.

71.      Die Kommission sowie außer Belgien alle anderen Mitgliedstaaten, die schriftliche Erklärungen eingereicht haben, machen geltend, aus der ausdrücklichen Einbeziehung der Erhebung von Steuern durch Veranlagung folge weder, dass sich der Anwendungsbereich der Richtlinie 2003/49 sowohl auf den Zahler als auch den Nutzungsberechtigten erstrecke, noch, dass die Besteuerungsgrundlage durch die Richtlinie geregelt sei.

72.      Dem stimme ich zu.

73.      Erstens bezeichnet die Wendung „oder durch Veranlagung“ einfach eine bestimmte Modalität der Begründung einer Steuerschuld. Ich kann mir nicht vorstellen, dass dies für die Annahme genügt, die Richtlinie 2003/49 regele die Bemessungsgrundlage für die Besteuerung des die Zinsen zahlenden Unternehmens.

74.      Zweitens steht die Einbeziehung zweier Methoden zur Begründung einer Steuerschuld – Steuerabzug an der Quelle und Steuererhebung durch Veranlagung – im Einklang mit der Zielsetzung der Richtlinie 2003/49, die Beseitigung der Doppelbesteuerung von Zinszahlungen zwischen verbundenen Unternehmen verschiedener Mitgliedstaaten zu gewährleisten.(36) Dadurch, dass die Richtlinie 2003/49 beide Verfahren zur Begründung einer Steuerschuld erfasst, kann sie dieses Ziel eher erreichen.

75.      Somit lässt sich meines Erachtens aus der unterschiedlichen Terminologie der Richtlinie 2003/49 und der Mutter-Tochter-Richtlinie nicht herleiten, dass sowohl der Nutzungsberechtigte als auch der Zahler der Zinsen in den Anwendungsbereich der in Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie 2003/49 vorgesehenen Steuerbefreiung fallen.

–       Ergebnis zum Wortlaut und zur Systematik der Richtlinie 2003/49

76.      Ich bin daher der Ansicht, dass die Wendung „Einkünfte in Form von Zinsen“ nach Wortlaut und Systematik der Regelung dahin zu verstehen ist, dass die beim Nutzungsberechtigten eingehenden Zinszahlungen von der Steuer befreit werden. Weder bezieht sich die Richtlinie 2003/49 auf denjenigen, der die Zinsen zahlt, noch regelt sie die Frage, ob die Zahlungen im Rahmen der Ermittlung der Bemessungsgrundlage für die Besteuerung des Zinsschuldners abzugsfähig sind.

 Zielsetzung der Richtlinie 2003/49

77.      Für das Ergebnis, dass die Richtlinie 2003/49 ausschließlich die steuerlichen Konsequenzen der Zinszahlungen für den Nutzungsberechtigten der Zinsen regelt, spricht schließlich auch die Zielsetzung der Richtlinie.

78.      In den Erwägungsgründen 1 bis 4 der Richtlinie 2003/49 heißt es, dass nationale Maßnahmen und völkerrechtliche Übereinkünfte nicht immer die Doppelbesteuerung grenzüberschreitender Zinszahlungen beseitigen, dass Einkünfte in Form von Zinsen nur einmal besteuert werden sollten und dass bei Zinszahlungen die Beseitigung der Steuern in dem Mitgliedstaat, in dem die Einkünfte anfallen, das geeignetste Mittel zur Erreichung dieses Ziels ist. Auch die Kommission erklärt in ihrem Bericht über die Funktionsweise der Richtlinie 2003/49, dass mit der Besteuerung des Nutzungsberechtigten im Mitgliedstaat seines Wohnsitzes oder im Mitgliedstaat, in dem er gelegen ist, gewährleistet werden soll, dass Zinseinkünfte in dem Steuergebiet besteuert werden, in dem die damit verbundenen Ausgaben abzugsfähig sind (d. h. bei Zinseinkünften die Finanzierungskosten).(37)

79.      Ziel der Richtlinie 2003/49 ist somit, die möglichen Nachteile einer Doppelbesteuerung des Nutzungsberechtigten, bei dem die grenzüberschreitenden Zinszahlungen eingehen, zu beseitigen sowie zu gewährleisten, dass solche Finanzbeziehungen nicht gegenüber gleichartigen inländischen Beziehungen benachteiligt werden. Die Richtlinie regelt nicht die Bemessungsgrundlage für die Besteuerung der die Zinsen zahlenden Person.

80.      Demnach ist meines Erachtens auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie 2003/49 nicht einer Regelung entgegensteht, wonach die von einem Unternehmen eines Mitgliedstaats an ein verbundenes Unternehmen eines anderen Mitgliedstaats gezahlten Darlehenszinsen bei dem erstgenannten Unternehmen der Bemessungsgrundlage für die Gewerbesteuer gemäß dem GewStG 2002 hinzugerechnet werden.

 Frage 2

81.      In Anbetracht dieser Antwort auf die erste Frage braucht die zweite Frage nicht beantwortet zu werden. Um jedoch alle Möglichkeiten in Betracht zu ziehen, will ich kurz darauf eingehen.

82.      Mit seiner zweiten Frage ersucht das vorlegende Gericht um Hinweise zur Auslegung von Art. 1 Abs. 10 der Richtlinie 2003/49. Für den Fall, dass Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie 2003/49 der Hinzurechnung der Zinsen zu der Bemessungsgrundlage für die Steuer bei Scheuten entgegensteht (der Zinsbetrag also in voller Höhe als Ausgabe steuerlich abzugsfähig ist), möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die Steuerbehörden von der Ausnahmeregelung des Art. 1 Abs. 10 Gebrauch machen könnten mit der Folge, dass Art. 1 Abs. 1 nicht zur Anwendung käme und die Zinsen nicht abzugsfähig wären.

83.      Nach Ansicht von Scheuten ist Art. 1 Abs. 10 dahin auszulegen, dass die Zinsen von der Steuer befreit sind, selbst wenn die betroffenen Unternehmen nicht während eines ununterbrochenen Zeitraums von mindestens zwei Jahren verbunden waren.

84.      Nur die Kommission und drei der Mitgliedstaaten, die im vorliegenden Verfahren Erklärungen eingereicht haben, schlagen eine Antwort auf die zweite Frage vor.

85.      Belgien und Estland sind der Ansicht, dass die zweite Frage zu bejahen sei, während die italienische Regierung und die Kommission die gegenteilige Auffassung vertreten.

86.      Art. 1 Abs. 10 gibt den Mitgliedstaaten die Möglichkeit, die Steuerbefreiung für Zinsen nicht anzuwenden, wenn der Zahler und der Nutzungsberechtigte der Zinsen nicht während eines ununterbrochenen Zeitraums von mindestens zwei Jahren verbundene Unternehmen(38) waren. Im vorliegenden Verfahren waren Scheuten und Solar Systems zum Zeitpunkt der Zinszahlung weniger als zwei Jahre verbunden gewesen.

87.      Art. 3 Abs. 2 zweiter Gedankenstrich der Mutter-Tochter-Richtlinie und Art. 1 Abs. 10 der Richtlinie 2003/49 sind ähnlich formuliert. In der erstgenannten Vorschrift findet sich ebenfalls eine Ausnahmeregelung, nämlich die Nichtanwendung der nach Art. 5 Abs. 1 der Mutter-Tochter-Richtlinie vorgesehenen Befreiung vom Steuerabzug an der Quelle, wenn die Tochtergesellschaft Gewinne an ihre Muttergesellschaft ausschüttet.(39)

88.      Meines Erachtens sind bei Art. 1 Abs. 10 der Richtlinie 2003/49 ebenso wie bei Art. 3 Abs. 2 zweiter Gedankenstrich der Mutter-Tochter-Richtlinie zwei Auslegungen möglich.(40) Art. 1 Abs. 10 könnte einerseits dahin verstanden werden, dass die in Art. 1 Abs. 1 vorgesehene Befreiung unter der Voraussetzung Anwendung finden soll, dass der Zahler und der Nutzungsberechtigte der Zinsen zum Zeitpunkt der Zinszahlung während eines ununterbrochenen Zeitraums von zwei Jahren verbundene Unternehmen waren. Andererseits könnte Art. 1 Abs. 10 auf einer Linie mit der Entscheidung des Gerichtshofs in den Rechtssachen Denkavit u. a. zur Mutter-Tochter-Richtlinie dahin ausgelegt werden, dass der Zahler und der Nutzungsberechtigte der Zinsen während des genannten Mindestzeitraums verbunden sein müssen, ohne dass es erforderlich ist, dass dieser Zeitraum bei der Zahlung der Zinsen bereits abgelaufen ist, sofern nur diese Mindestbeteiligungszeit später noch eingehalten wird.(41)

89.      Bei der Auslegung von Art. 3 Abs. 2 zweiter Gedankenstrich der Mutter-Tochter-Richtlinie hat der Gerichtshof im Urteil Denkavit u. a. auf die Verwendung des Präsens in allen Sprachfassungen außer der dänischen – in der das Imperfekt verwendet wird – abgestellt.(42) In den anderen damals verfügbaren Sprachfassungen heißt es: „… nicht während eines ununterbrochenen Zeitraums von mindestens zwei Jahren eine solche Beteiligung hält“. Art. 1 Abs. 10 der Richtlinie 2003/49 ist anders formuliert. Die englische Fassung lautet: „…have not been maintained for an uninterrupted period of at least two years“, und die verschiedenen Sprachfassungen der Richtlinie verwenden nicht alle dieselbe Zeitform.(43)

90.      Angesichts der sprachlichen Abweichungen erscheint es mir angebrachter, bei der Auslegung von Art. 1 Abs. 10 auf den Zweck des Rechtsakts abzustellen, der darin besteht, die steuerrechtliche Regelung bei grenzüberschreitenden Zinszahlungen zu lockern, und nicht darin, den Mitgliedstaaten die einseitige Einführung von Hemmnissen für solche Finanzbeziehungen zu gestatten.(44) Eine Auslegung, der zufolge die Mitgliedstaaten verlangen können, dass zum Zeitpunkt der Zinszahlung eine ununterbrochene Mindestbeteiligungszeit bereits zurückgelegt sein muss, liefe meines Erachtens dem Zweck der Richtlinie 2003/49 zuwider.(45)

91.      Ich meine daher, dass der vom Gerichtshof im Urteil Denkavit u. a. verfolgte Ansatz auf den vorliegenden Fall übertragen werden sollte.

92.      Die zweite Frage des vorlegenden Gerichts scheint auf der Vorstellung zu beruhen, dass sich die deutschen Steuerbehörden (theoretisch) möglicherweise auf Art. 1 Abs. 10 berufen wollen, da der Zahler und der Nutzungsberechtigte der Zinsen zum Zeitpunkt der Zinszahlung weniger als zwei Jahre verbundene Unternehmen waren. Deutschland hat jedoch keine Bestimmungen zur Umsetzung der in Art. 1 Abs. 10 der Richtlinie 2003/49 vorgesehenen Ausnahmeregelung erlassen.

93.      Mit dem zweiten Teil der zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht offenbar wissen, ob sich die Mitgliedstaaten unmittelbar auf Art. 1 Abs. 10 berufen können, selbst wenn sie keine Bestimmungen erlassen haben, um von der in der genannten Vorschrift enthaltenen Ausnahmemöglichkeit Gebrauch zu machen. Das vorlegende Gericht erläutert seine Frage jedoch wie folgt. Für den Fall, dass Art. 1 Abs. 1 und 10 im Streitfall eingreife, sei zweifelhaft, ob sich Scheuten unmittelbar auf Art. 1 Abs. 1 berufen könne, mit anderen Worten, ob Art. 1 Abs. 1 unmittelbare Wirkung entfalte.

94.      Meiner Meinung nach ist Art. 1 Abs. 1 inhaltlich unbedingt und hinreichend genau, um unmittelbare Wirkung zu entfalten. Außerdem schließt die Tatsache, dass den Mitgliedstaaten ein gewisser Gestaltungsspielraum bleibt, nach ständiger Rechtsprechung nicht die unmittelbare Wirkung einer Richtlinienbestimmung aus, wenn es möglich ist, Mindestrechte zu bestimmen.(46)

95.      Somit hat Art. 1 Abs. 1 – ungeachtet Art. 1 Abs. 10 – unmittelbare Wirkung.

96.      Gleichwohl erscheint die zweite Frage hypothetisch. Erstens unterscheidet sich der vorliegende Fall insofern von den Rechtssachen Denkavit u. a., als es keine nationalen Vorschriften zur Umsetzung der in Art. 1 Abs. 10 vorgesehenen Ausnahmemöglichkeit gibt. Zweitens berufen sich die deutschen Steuerbehörden nicht auf Art. 1 Abs. 10. Der Gerichtshof braucht daher die zweite Frage nicht zu beantworten.

 Ergebnis

97.      Dementsprechend schlage ich dem Gerichtshof vor, die vom Bundesfinanzhof vorgelegten Fragen wie folgt zu beantworten:

Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie 2003/49/EG vom 3. Juni 2003 über eine gemeinsame Steuerregelung für Zahlungen von Zinsen und Lizenzgebühren zwischen verbundenen Unternehmen verschiedener Mitgliedstaaten steht einer Regelung nicht entgegen, wonach die von einem Unternehmen eines Mitgliedstaats an ein verbundenes Unternehmen eines anderen Mitgliedstaats gezahlten Darlehenszinsen bei dem erstgenannten Unternehmen der Bemessungsgrundlage für die Gewerbesteuer hinzugerechnet werden.


1 – Originalsprache: Englisch.


2 – Richtlinie 2003/49/EG des Rates vom 3. Juni 2003 über eine gemeinsame Steuerregelung für Zahlungen von Zinsen und Lizenzgebühren zwischen verbundenen Unternehmen verschiedener Mitgliedstaaten (ABl. L 157, S. 49). Die Richtlinie 2003/49 ist eine von drei Maßnahmen zur Eindämmung des schädlichen Steuerwettbewerbs. Bei den beiden anderen handelt es sich um die Richtlinie 2003/48/EG des Rates vom 3. Juni 2003 im Bereich der Besteuerung von Zinserträgen (ABl. L 157, S. 38), die auf natürliche Personen Anwendung findet, sowie den rechtlich nicht bindenden Verhaltenskodex zur Beseitigung des schädlichen Steuerwettbewerbs (ABl. 1998, C 2, S. 1).


3 –      Im Anhang der Richtlinie 2003/49 sind die Arten der unter Art. 3 Buchst. a fallenden Gesellschaften aufgeführt. Als Gesellschaften deutschen Rechts sind erfasst die „Aktiengesellschaft“, die „Kommanditgesellschaft auf Aktien“, die „Gesellschaft mit beschränkter Haftung“ und die „bergrechtliche Gewerkschaft“.


4 –      Betrifft nur die englische Fassung.


5 – Richtlinie 90/435/EWG des Rates vom 23. Juli 1990 über das gemeinsame Steuersystem der Mutter- und Tochtergesellschaften verschiedener Mitgliedstaaten (ABl. L 225, S. 6, im Folgenden: Mutter-Tochter-Richtlinie).


6 – Urteil vom 26. Juni 2008, Burda (C-284/06, Slg. 2008, I-4571, Randnr. 51); vgl. auch die dort angeführte Rechtsprechung.


7 – Die Mitgliedstaaten erheben in der Regel Steuern auf Gewinnausschüttungen von Gesellschaften, d. h. auf an die Aktionäre gezahlte Dividenden. Diese Steuern haben normalerweise die Form von Abzug- oder Quellensteuern, die die Gesellschaft, die die Zahlung vornimmt, für Rechnung der Steuerbehörden an der Quelle erhebt. Quellensteuern dienen im inländischen Zusammenhang oft dazu, die Erfüllung der Steuerpflicht durchzusetzen und die Steuererhebung zu vereinfachen; durch die an der Quelle einbehaltene Steuer wird im Allgemeinen die Steuerschuld von Empfängern, bei denen es sich um gebietsansässige Steuerpflichtige handelt, beglichen, oder sie wird auf diese Schuld angerechnet. Quellensteuern auf grenzüberschreitend gezahlte Dividenden stellen eine zusätzliche Besteuerung von Gebietsfremden durch den sie erhebenden Staat dar, möglicherweise ohne dass die Betroffenen in dem Staat, in dem sie ansässig sind, deswegen eine Erleichterung erlangen können. Vgl. z. B. Schlussanträge von Generalanwalt Jacobs in den Rechtssachen Denkavit u. a. (C-283/94, C-291/94 und C-292/94, Urteil vom 17. Oktober 1996, Slg. 1996, I-5063, Nr. 7).


8 – Die Gewerbesteuer gilt als eine Steuer, die es nur in Deutschland gibt. Allerdings hat die italienische Regierung in ihren schriftlichen Erklärungen angegeben, dass in Italien eine Steuer erhoben werde, die ähnliche Merkmale wie die Gewerbesteuer aufweise.


9 – Siehe unten, Nr. 16.


10 – Vgl. z. B. Urteil vom 26. Oktober 1999, Eurowings Luftverkehr (C-294/97, Slg. 1999, I-7447, Randnr. 6).


11 – Zum maßgebenden Zeitpunkt galten die in den Nrn. 13 bis 18 dargestellten Bestimmungen des GewStG 2002.


12 –      Siehe unten, Nrn. 31 bis 33.


13 – Gemäß Art. 48 EG stehen die nach den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats gegründeten Gesellschaften, die ihren satzungsmäßigen Sitz, ihre Hauptverwaltung oder ihre Hauptniederlassung innerhalb der Gemeinschaft haben, den natürlichen Personen gleich, die Angehörige der Mitgliedstaaten sind.


14 – Siehe oben, Nr. 15.


15 – Siehe oben, Nr. 16.


16 – Ebd.


17 – Siehe oben, Nr. 17.


18 – Vgl. Art. 93 EG (jetzt Art. 113 AEUV), der den Erlass von Harmonisierungsvorschriften für bestimmte Formen der indirekten Steuern vorsieht. Besondere Aufmerksamkeit galt bisher der Unternehmensbesteuerung als wichtigem Element der Errichtung und Verwirklichung des Binnenmarkts. So wurden verschiedene Maßnahmen nach Art. 94 EG (jetzt Art. 115 AEUV) erlassen – vgl. z. B. die Mutter-Tochter-Richtlinie (in Fn. 5 angeführt), die Richtlinie 90/434/EWG des Rates vom 23. Juli 1990 über das gemeinsame Steuersystem für Fusionen, Spaltungen, die Einbringung von Unternehmensteilen und den Austausch von Anteilen, die Gesellschaften verschiedener Mitgliedstaaten betreffen (ABl. L 225, S. 1) und das Übereinkommen 90/436/EWG vom 23. Juli 1990 über die Beseitigung der Doppelbesteuerung im Falle von Gewinnberichtigungen zwischen verbundenen Unternehmen (ABl. L 225, S. 10, im Folgenden: Schiedsübereinkommen). Das Schiedsübereinkommen trat am 1. Januar 1995 für einen Zeitraum von fünf Jahren in Kraft. Mit einem Protokoll zum Schiedsübereinkommen (ABl. 1999, C 202, S. 1) wurde dieser Zeitraum vom 1. Januar 2000 bis 31. Dezember 2004 verlängert, danach trat das Schiedsübereinkommen außer Kraft.


19 – Bereits seit 1962 ist die Harmonisierung der Körperschaftsteuerregelungen der Mitgliedstaaten Gegenstand mehrerer Studien und Berichte: vgl. z. B. den Neumark-Bericht (1962), den Tempel-Bericht (1970) und den Ruding-Bericht (1992). Bisher wurden jedoch nur Maßnahmen zur Lösung bestimmter Probleme erlassen (siehe oben, Fn. 2 und 18).


20 – Siehe oben, Nr. 34.


21 – Urteil vom 12. Dezember 2006, Test Claimants in Class IV of the ACT Group Litigation (C-374/04, Slg. 2006, I-11673, Randnr. 36, im Folgenden: Urteil ACT); vgl. auch die dort angeführte Rechtsprechung.


22 – Urteil vom 4. Oktober 2001 (C-294/99, Slg. 2001, I-6797).


23 – Urteil Griechische Brauereien, in Fn. 22 angeführt, Randnrn. 26 bis 29; vgl. auch Schlussanträge von Generalanwalt Alber in jener Rechtssache, Nr. 1.


24 – Urteil Griechische Brauereien, in Fn. 22 angeführt, Randnrn. 28 f.; vgl. auch Schlussanträge von Generalanwalt Alber in jener Rechtssache, Nrn. 24 bis 33.


25 – Siehe oben, Nrn. 15 bis 18.


26 – Vgl. z. B. § 10a GewStG 2002 und oben, Nr. 18.


27 – Vgl. Urteil Burda, in Fn. 6 angeführt.


28 – Urteil Burda, Randnr. 52.


29 – Urteil vom 6. Oktober 1982, Cilfit u. a. (283/81, Slg. 1982, 3415, Randnrn. 18 bis 20), und Schlussanträge von Generalanwalt Geelhoed in der Rechtssache Länsstyrelsen i Norrbottens län (C-289/05, Urteil vom 8. März 2007, Slg. 2007, I-1965, Nr. 33).


30 – Vgl. Urteil vom 1. April 2004, Borgmann (C-1/02, Slg. 2004, I-3219, Randnr. 25).


31 – Siehe unten, Nrn. 82 ff. im Rahmen meiner Prüfung der zweiten Frage.


32 – Nr. 5 der Schlussanträge (Urteil in Fn. 21 angeführt).


33 – Zu den steuerlichen Folgen, die grenzüberschreitende Zinszahlungen für den Nutzungsberechtigten haben, vgl. z. B. Urteil vom 22. Dezember 2008, Truck Center (C-282/07, Slg. 2008, I-10767). In jener Rechtssache, die aus der Zeit vor Inkrafttreten der Richtlinie 2003/49 stammt, ging es um die Erhebung einer Quellensteuer auf Zinsen, die eine belgische Tochtergesellschaft an ihre Muttergesellschaft in Luxemburg zahlte. Der Fall wurde unter dem Gesichtspunkt der Vertragsbestimmungen über die Niederlassungsfreiheit (jetzt Art. 49 AEUV bzw. Art. 54 AEUV) entschieden. Generalanwältin Kokott führt in ihren Schlussanträgen in jener Rechtssache, Nr. 32, aus, dass für die Pflicht zur Entrichtung des Steuervorabzugs die steuerliche Situation des die Zinsen empfangenden Unternehmens maßgebend ist (die Pflicht bestand nur, wenn der Zinsempfänger außerhalb Belgiens ansässig war).


34 – OECD-Musterabkommen zur Vermeidung von Doppelbesteuerung von Einkommen und Vermögen in der Fassung von 1996. Die achte Fassung wurde von der OECD im Jahr 2010 veröffentlicht und ist im Internet unter www.oecdbookshop.org abrufbar. Vgl. auch Vorschlag vom 4. März 1998 für eine Richtlinie des Rates über eine gemeinsame Steuerregelung für Zahlungen von Zinsen und Lizenzgebühren zwischen verbundenen Unternehmen verschiedener Mitgliedstaaten (KOM[1998] 67 endg.), S. 6.


35 – Siehe oben, Nr. 47.


36 – Vgl. den oben in Nr. 3 wiedergegebenen dritten Erwägungsgrund.


37 – Vgl. Bericht der Kommission über die Funktionsweise der Richtlinie 2003/49 (KOM[2009] 179), Nr. 3.1, S. 3.


38 – Vgl. den oben in Nr. 6 wiedergegebenen Art. 3 Buchst. b der Richtlinie 2003/49.


39 – Siehe oben, Nr. 10.


40 – Vgl. Urteil Denkavit u. a., in Fn. 7 angeführt, Randnrn. 18 bis 23, sowie Schlussanträge von Generalanwalt Jacobs in jenen Rechtssachen, Nr. 37, wo er Art. 3 Abs. 2 zweiter Gedankenstrich der Mutter-Tochter-Richtlinie als mehrdeutig bezeichnet.


41 – Urteil Denkavit u. a., Randnrn. 25 ff.


42 – Urteil Denkavit u. a., Randnrn. 24 bis 27 und 32.


43 – So wird z. B. in der niederländischen, der französischen, der deutschen und der italienischen Sprachfassung das Imperfekt, in der portugiesischen und der spanischen das Präsens und in der englischen das Perfekt verwendet.


44 – Siehe oben, Nrn. 78 f. Vgl. auch Urteil Denkavit u. a., in Fn. 7 angeführt, Randnr. 26, und Schlussanträge von Generalanwalt Jacobs in jenen Rechtssachen, Nr. 38.


45 – Laut Bericht der Kommission über die Funktionsweise der Richtlinie 2003/49, in Fn. 37 angeführt, hatten von den 20 Mitgliedstaaten, die zur Umsetzung der Richtlinie 2003/49 bis zum 1. Januar 2004 verpflichtet waren, elf von der Möglichkeit Gebrauch gemacht, die Richtlinie nur anzuwenden, wenn die vorgesehene Mindestdauer der Beteiligung eingehalten wurde. Drei dieser Mitgliedstaaten verlangen, dass diese Beteiligungsbedingung zum Zeitpunkt der Zinszahlung erfüllt sein muss, wobei keine Möglichkeit besteht, die Bedingung zu einem späteren Zeitpunkt rückwirkend zu erfüllen.


46 – Vgl. z. B. Urteile vom 14. Juli 1994, Faccini Dori (C-91/92, Slg. 1994, I-3325, Randnrn. 19 bis 23), und Denkavit u. a., in Fn. 7 angeführt, Randnrn. 38 f.; aus jüngerer Zeit vgl. Urteil vom 12. Februar 2009, Cobelfret (C-138/07, Slg. 2009, I-731, Randnrn. 49 f.).