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61990J0347

URTEIL DES GERICHTSHOFES (SECHSTE KAMMER) VOM 7. MAI 1992. - ALDO BOZZI GEGEN CASSA NAZIONALE DI PREVIDENZA ED ASSISTENZA A FAVORE DEGLI AVVOCATI E DEI PROCURATORI LEGALI. - ERSUCHEN UM VORABENTSCHEIDUNG: PRETURA DI MILANO, SEZIONE LAVORO - ITALIEN. - AUSLEGUNG VON ARTIKEL 33 DER SECHSTEN MEHRWERTSTEUERRICHTLINIE. - RECHTSSACHE C-347/90.

Sammlung der Rechtsprechung 1992 Seite I-02947


Leitsätze
Entscheidungsgründe
Kostenentscheidung
Tenor

Schlüsselwörter


++++

Steuerrecht - Harmonisierung - Umsatzsteuern - Gemeinsames Mehrwertsteuersystem - Verbot, andere nationale Steuern zu erheben, die den Charakter von Umsatzsteuern haben - Zweck - Begriff der "Umsatzsteuern" - Beitrag von der Art des italienischen "contributo integrativo" zugunsten der Cassa di Previdenza für Anwälte - Ausschluß

(Richtlinie 77/388 des Rates, Artikel 33)

Leitsätze


Zwar verbietet Artikel 33 der Richtlinie 77/388 die Beibehaltung oder Einführung von Abgaben, die die wesentlichen Merkmale der Mehrwertsteuer aufweisen, um die Einführung von Steuern, Abgaben und Gebühren zu verhindern, die das Funktionieren des gemeinsamen Mehrwertsteuersystems dadurch beeinträchtigen würden, daß sie den Waren- und Dienstleistungsverkehr in einer mit der Mehrwertsteuer vergleichbaren Weise belasten, doch steht er der Beibehaltung oder Einführung anderer Arten von Steuern, Abgaben und Gebühren, denen diese Merkmale fehlen, nicht entgegen.

Artikel 33 steht daher der Einführung oder Beibehaltung eines Beitrags nicht entgegen, der die Merkmale des zusätzlichen Beitrags ("contributo integrativo") aufweist, den die Rechtsanwälte und Procuratori legali in Italien an die Cassa di Previdenza zu zahlen haben, und der grundsätzlich als prozentualer Zuschlag zu den Vergütungen errechnet wird, die zum Umsatz dieser Personengruppe gehören. Der zusätzliche Beitrag stellt nämlich keine Abgabe dar, die allgemeinen Charakter hat; er ist nicht immer proportional zu der Vergütung, die der Mandant für die berufliche Dienstleistung zu entrichten hat; er wird nur auf einer Stufe erhoben, und es gibt dabei keine Abzugsmöglichkeit.

Entscheidungsgründe


1 Der Pretore von Mailand hat mit Beschluß vom 14. Dezember 1989, beim Gerichtshof eingegangen am 28. November 1990, gemäß Artikel 177 EWG-Vertrag eine Frage nach der Auslegung des Artikels 33 der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern - Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage (ABl. L 145, S. 1; im folgenden: Sechste Richtlinie des Rates) zur Vorabentscheidung vorgelegt.

2 Diese Frage stellt sich in einem Rechtsstreit des Rechtsanwalts Aldo Bozzi, Mailand, gegen die Cassa Nazionale di Previdenza ed Assistenza a favore degli Avvocati e dei Procuratori legali (im folgenden: Cassa di Previdenza) wegen der Regelung, mit der in Italien zugunsten der Cassa di Previdenza ein zusätzlicher Beitrag ("contributo integrativo") eingeführt wurde, den die Anwälte und Procuratori legali zu zahlen haben.

3 Aus den Akten ergibt sich, daß alle Anwälte und Procuratori legali, die ständig in Italien tätig sind, der Cassa di Previdenza angeschlossen sein müssen, die durch das Gesetz Nr. 6 vom 8. Januar 1952 (GURI Nr. 16 vom 19. Januar 1952) geschaffen worden ist. Vorschriften über die der Cassa di Previdenza zu zahlenden Beiträge und ihre Leistungen finden sich im Gesetz Nr. 576 vom 20. September 1980 ("Reform der Vorsorgeordnung für Rechtsanwälte", GURI Nr. 266 vom 27. September 1980; im folgenden: Gesetz Nr. 576/1980).

4 Der zusätzliche Beitrag ist in Artikel 11 des Gesetzes Nr. 576/1980 geregelt. Dieser bestimmt folgendes: a) Alle zugelassenen Anwälte und Procuratori legali sowie die der Cassa di Previdenza angeschlossenen Praktikanten wenden auf alle Vergütungen, die für die Zwecke der Mehrwertsteuer zum Jahresumsatz gehören, einen bestimmten Zuschlagsprozentsatz an und leiten den entsprechenden Betrag, unabhängig davon, ob er vom Schuldner gezahlt worden ist, an die Cassa weiter. Der Zuschlag kann auf den Schuldner abgewälzt werden; b) die Berufsverbände oder -gesellschaften wenden den Zuschlag hinsichtlich der Anteile an, die den als Anwälten oder Procuratori legali zugelassenen Mitgliedern zustehen. Der jährliche Gesamtbetrag der Zuschläge, die von jedem Angehörigen des Berufs an die Cassa zu zahlen sind, wird nach einem Prozentsatz vom Umsatz des Verbands oder der Gesellschaft berechnet, der dem prozentualen Anteil am Gewinn entspricht, den diese Mitglieder erhalten; c) jeder der Cassa Angeschlossene hat jährlich als zusätzlichen Beitrag einen Mindestbetrag zu entrichten, der sich aus der Anwendung des Prozentsatzes auf einen Umsatz ergibt, der dem fünfzehnfachen des in Artikel 10 Absatz 2 genannten, für dasselbe Jahr geschuldeten Mindestbeitrags entspricht; d) der Zuschlagsprozentsatz beträgt 2 %, und e) der zusätzliche Beitrag unterliegt weder der Einkommensteuer noch der Mehrwertsteuer, und er wird bei der Berechnung des beruflichen Einkommens nicht berücksichtigt.

5 Rechtsanwalt Bozzi ist der Ansicht, die Einführung eines solchen zusätzlichen Beitrags sei rechtswidrig, weil dies gegen Artikel 33 der Sechsten Richtlinie des Rates verstosse. Er hat daher beim Pretore von Mailand Klage auf Rückzahlung der Beträge erhoben, die er als zusätzliche Beiträge entrichtet hat. Der Pretore von Mailand hat folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:

Ist Artikel 33 der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17. Mai 1977 dahin auszulegen, daß er die Unanwendbarkeit der Regelung eines Mitgliedstaats zur Folge hat, durch die ein von den Rechtsanwälten (Avvocati e Procuratori legali) an die Cassa Nazionale di Previdenza ed Assistenza a favore degli Avvocati e Procuratori legali zu zahlender zusätzlicher Beitrag eingeführt wird, dessen Bemessungsgrundlage die vom Mandanten für die erbrachten beruflichen Leistungen geschuldete Vergütung darstellt, die bereits der Mehrwertsteuer unterworfen ist, der ausserdem bei der Ausstellung einer jeden Rechnung gemeinsam mit und zusätzlich zu der zu Lasten des Mandanten anzusetzenden Mehrwertsteuer aufzuführen ist und dem schließlich eine Vorsorgefunktion nur über einen gemeinsamen Solidaritätsfonds und zugunsten der Allgemeinheit der beitragleistenden Rechtsanwälte, nicht aber unmittelbar gegenüber dem einzelnen Beitragleistenden zukommt, da er bei der Rentenberechnung nicht berücksichtigt wird und, falls kein Rentenanspruch erworben wird, nicht zurückverlangt werden kann?

6 Wegen weiterer Einzelheiten des Sachverhalts des Ausgangsverfahrens und insbesondere der Vorschriften über die Cassa di Previdenza, des Verfahrensablaufs sowie der beim Gerichtshof eingereichten schriftlichen Erklärungen wird auf den Sitzungsbericht verwiesen. Der Akteninhalt wird im folgenden nur insoweit wiedergegeben, als die Begründung des Urteils dies erfordert.

7 Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht im wesentlichen wissen, ob Artikel 33 der Sechsten Richtlinie des Rates der Einführung oder Beibehaltung eines Beitrags entgegensteht, der die Merkmale des zusätzlichen Beitrags, ("contributo integrativo") aufweist, der in Italien von den Anwälten und Procuratori legali an die Cassa di Previdenza zu zahlen ist.

8 Für die Beantwortung dieser Frage ist zunächst darauf hinzuweisen, daß nach Artikel 33 der Sechsten Richtlinie: "[u]nbeschadet anderer Gemeinschaftsbestimmungen ... die Bestimmungen dieser Richtlinie einen Mitgliedstaat nicht daran [hindern], Abgaben auf Versicherungsverträge, auf Spiele und Wetten, Verbrauchssteuern, Grunderwerbssteuern, sowie ganz allgemein alle Steuern, Abgaben und Gebühren, die nicht den Charakter von Umsatzsteuern haben, beizubehalten oder einzuführen".

9 Sodann ist hervorzuheben, daß es nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofes (vgl. zuletzt Urteil vom 31. März 1992 in der Rechtssache C-200/90, Dansk Denkavit u. a., Slg. 1992, I-2217, Randnr. 11) Zweck des Artikels 33 ist, die Einführung von Steuern, Abgaben und Gebühren zu verhindern, die das Funktionieren des gemeinsamen Mehrwertsteuersystems dadurch beeinträchtigen würden, daß sie den Waren- und Dienstleistungsverkehr in einer mit der Mehrwertsteuer vergleichbaren Weise belasten. Auf jeden Fall ist von Steuern, Abgaben und Gebühren, die die wesentlichen Merkmale der Mehrwertsteuer aufweisen, anzunehmen, daß sie den Waren- und Dienstleistungsverkehr in einer mit der Mehrwertsteuer vergleichbaren Weise belasten.

10 Daraus folgt, daß Artikel 33 der Beibehaltung oder Einführung anderer Arten von Steuern, Abgaben und Gebühren, denen die wesentlichen Merkmale der Mehrwertsteuer fehlen, nicht entgegensteht.

11 Um beurteilen zu können, ob von dem in Artikel 33 verankerten Verbot ein Beitrag wie der im vorliegenden Fall maßgebliche zusätzliche Beitrag erfasst wird, ist also zu prüfen, ob die erwähnte Abgabe die wesentlichen Merkmale der Mehrwertsteuer aufweist und daher als Umsatzsteuer in dem Sinne, in dem dieser Ausdruck in Artikel 33 verwendet wird, anzusehen ist.

12 Dazu ist zunächst hervorzuheben, daß die Mehrwertsteuer, wie der Gerichtshof schon verschiedentlich ausgeführt hat (vgl. insbesondere Urteile vom 3. März 1988 in der Rechtssache 252/86, Bergandi, Slg. 1988, 1343, Randnr. 15, vom 13. Juli 1989 in den verbundenen Rechtssachen 93/88 und 94/88, Wisselink, Slg. 1989, 2671, Randnr. 18, vom 19. März 1991 in der Rechtssache C-109/90, Giant, Slg. 1991, I-1385, Randnrn. 11 und 12, und vom 31. März 1992, Dansk Denkavit u. a., a. a. O., Randnr. 11), die folgenden wesentlichen Merkmale aufweist: Die Mehrwertsteuer gilt ganz allgemein für alle sich auf Gegenstände und Dienstleistungen beziehenden Geschäfte. Sie ist proportional zum Preis dieser Gegenstände und Dienstleistungen. Sie wird auf jeder Stufe der Erzeugung und des Vertriebs erhoben, und sie bezieht sich schließlich auf den Mehrwert der Gegenstände und Dienstleistungen, d. h., es wird die bei einem Geschäft fällige Steuer unter Abzug der Steuer berechnet, die bei dem vorhergehenden Geschäft schon entrichtet worden ist.

13 Danach ist festzustellen, daß ein Beitrag wie der in der vorliegenden Rechtssache vom nationalen Gericht beschriebene diese wesentlichen Merkmale der Mehrwertsteuer nicht aufweist.

14 Erstens stellt der zusätzliche Beitrag keine Abgabe dar, die allgemeinen Charakter hat. Zum einen betrifft das Gesetz Nr. 576/1980 nur die Rechtsanwälte und Procuratori legali, und zum anderen gilt der in Artikel 11 dieses Gesetzes vorgesehene Zuschlag nicht hinsichtlich der Honorare für alle von den Anwälten und Procuratori legali erbrachten Leistungen, denn er erfasst - wie in der mündlichen Verhandlung erklärt worden ist - nur die Tätigkeit bei Gericht. Auch wenn im übrigen, wie sich aus den Akten ergibt, für andere freie Berufe eine ähnliche Regelung gilt, so kann doch davon nicht bei allen diesen Berufen und nicht bei allen Personen, die gewerbsmässig Dienste leisten, gesprochen werden.

15 Zweitens ist der zusätzliche Beitrag nicht immer proportional zu der Vergütung, die der Mandant für die berufliche Dienstleistung zu entrichten hat. Zwar bestimmt Artikel 11 des Gesetzes Nr. 576/1980 grundsätzlich, daß die Höhe des zusätzlichen Beitrags einem Prozentsatz der Gegenleistungen entspricht, die für die Zwecke der Mehrwertsteuer zum Jahresumsatz gehören; er enthält aber auch zwei wichtige Ausnahmen. Die erste bezieht sich auf die Berufsverbände und -gesellschaften, bei denen der zusätzliche Beitrag einem Prozentsatz der dem betroffenen Berufsangehörigen zustehenden Gewinne entspricht. In diesem Fall wird offensichtlich die Bemessungsgrundlage des zusätzlichen Beitrags nach anderen Maßstäben gebildet als den von den Mandanten für die Dienstleistungen entrichteten Preisen. Die zweite Ausnahme bezieht sich auf die Mitglieder der Cassa di Previdenza, deren Umsatz einen bestimmten Betrag nicht erreicht und die deshalb einen pauschal berechneten Mindestbeitrag zu zahlen haben. Auch bei dieser Gruppe, die nach den Erklärungen in der mündlichen Verhandlung 25 % der der Cassa di Previdenza angeschlossenen Rechtsanwälte und Procuratori legali umfasst, richtet sich der zusätzliche Beitrag nicht nach der Vergütung, die für die Dienstleistung gezahlt wird.

16 Drittens wird der zusätzliche Beitrag im Unterschied zur Mehrwertsteuer nur auf einer Stufe erhoben. Tatsächlich wird er nur zu dem Zeitpunkt fällig, zu dem der Rechtsanwalt seinem Mandanten eine Rechnung ausstellt. Ausserdem gibt es dabei keine Abzugsmöglichkeit, denn der Rechtsanwalt, der der Cassa di Previdenza den seinen Mandanten in Rechnung gestellten zusätzlichen Beitrag zu zahlen hat, kann keinerlei Abzug vornehmen, der sich in irgendeiner Weise auf die Kosten für Gegenstände und Dienstleistungen bezieht, die er bei der Ausübung seiner Tätigkeit gebraucht hat. Dementsprechend kann auch der Mandant, wenn er mehrwertsteuerpflichtig ist, von der von ihm geschuldeten Steuer zwar die dem Anwalt gezahlte Mehrwertsteuer abziehen, aber nicht den zusätzlichen Beitrag.

17 Auf die vorgelegte Frage ist daher zu antworten, daß Artikel 33 der Sechsten Richtlinie 77/388 des Rates dahin auszulegen ist, daß er der Einführung oder Beibehaltung eines Beitrags nicht entgegensteht, der die Merkmale des zusätzlichen Beitrags ("contributo integrativo") aufweist, den die Rechtsanwälte und Procuratori legali in Italien an die Cassa di Previdenza zu zahlen haben.

Kostenentscheidung


Kosten

18 Die Auslagen der italienischen Regierung und der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, die Erklärungen vor dem Gerichtshof abgegeben haben, sind nicht erstattungsfähig. Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.

Tenor


Aus diesen Gründen

hat

DER GERICHTSHOF (Sechste Kammer)

auf die ihm vom Pretore von Mailand mit Beschluß vom 14. Dezember 1989 vorgelegte Frage für Recht erkannt:

Artikel 33 der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern - Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage, ist dahin auszulegen, daß er der Einführung oder Beibehaltung eines Beitrags nicht entgegensteht, der die Merkmale des zusätzlichen Beitrags ("contributo integrativo") aufweist, den die Rechtsanwälte und Procuratori legali in Italien an die Cassa di Previdenza zu zahlen haben.