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Rechtssache C-502/07

K-1 sp. z o.o.

gegen

Dyrektor Izby Skarbowej w Bydgoszczy

(Vorabentscheidungsersuchen des

Naczelny Sąd Administracyjny)

„Mehrwertsteuer – Unregelmäßigkeiten in der Steuererklärung des Steuerpflichtigen – Zusätzliche Steuerschuld“

Leitsätze des Urteils

1.        Steuerliche Vorschriften – Harmonisierung der Rechtsvorschriften – Umsatzsteuern – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem – Vorschriften, die eine verwaltungsrechtliche Sanktion vorsehen, die gegen Steuerpflichtige verhängt werden kann, wie die „zusätzliche Steuerschuld“ im Sinne der polnischen Rechtsvorschriften

(Richtlinien des Rates 67/227, Art. 2 Abs. 1 und 2, und 77/388, Art. 2 und 10 Abs. 1 Buchst. a und Abs. 2)

2.        Steuerliche Vorschriften – Harmonisierung der Rechtsvorschriften – Umsatzsteuern – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem – Richtlinie 77/388 – Abweichende nationale Maßnahmen

(Richtlinie 77/388 des Rates, Art. 27 Abs. 1)

3.        Steuerliche Vorschriften – Harmonisierung der Rechtsvorschriften – Umsatzsteuern – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem – Verbot, andere nationale Steuern mit dem Charakter von Umsatzsteuern zu erheben

(Richtlinie 77/388 des Rates, Art. 33)

1.        Ein Mitgliedstaat ist durch das gemeinsame Mehrwertsteuersystem, wie es in Art. 2 Abs. 1 und 2 der Ersten Richtlinie 67/227 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuer sowie den Art. 2 und 10 Abs. 1 Buchst. a und Abs. 2 der Sechsten Richtlinie 77/388 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern in der durch die Richtlinie 2004/66 geänderten Fassung definiert worden ist, nicht daran gehindert, in seinem Recht eine verwaltungsrechtliche Sanktion vorzusehen, die gegen Mehrwertsteuerpflichtige verhängt werden kann, wie die „zusätzliche Steuerschuld“ im Sinne der polnischen Rechtsvorschriften, die zu begleichen ist, wenn festgestellt wird, dass der Steuerpflichtige in der abgegebenen Steuererklärung einen Betrag als zu erstattende Steuerdifferenz oder als zu erstattende Vorsteuer ausgewiesen hat, der höher ist als der ihm zustehende Betrag.

Eine solche „zusätzliche Steuerschuld“ erfüllt nämlich nicht die wesentlichen Merkmale der Mehrwertsteuer, da ihr Entstehungsgrund nicht in irgendeinem Umsatz liegt, sondern in einer fehlerhaften Steuererklärung, und ihre Höhe nicht proportional zum Preis festgesetzt wird, den der Steuerpflichtige erhält. Es handelt sich in Wirklichkeit nicht um eine Steuer, sondern um eine verwaltungsrechtliche Sanktion, die verhängt wird, wenn festgestellt wird, dass der Steuerpflichtige einen Betrag als zu erstattende Steuerdifferenz oder als zu erstattende Vorsteuer erklärt hat, der höher ist als der ihm zustehende Betrag.

Der Grundsatz des gemeinsamen Mehrwertsteuersystems hindert die Mitgliedstaaten aber nicht an der Einführung von Maßnahmen, mit denen Unregelmäßigkeiten bei der Erklärung des geschuldeten Steuerbetrags geahndet werden. Nach Art. 22 Abs. 8 der Sechsten Richtlinie können die Mitgliedstaaten ganz im Gegenteil weitere Pflichten vorsehen, die sie als erforderlich erachten, um die genaue Erhebung der Steuer sicherzustellen.

(vgl. Randnrn. 18-21, Tenor 1)

2.        Bestimmungen über die Mehrwertsteuer, die eine verwaltungsrechtliche Sanktion vorsehen, die gegen Steuerpflichtige verhängt werden kann, wenn festgestellt wird, dass sie einen Betrag als zu erstattende Steuerdifferenz oder als zu erstattende Vorsteuer erklärt haben, der höher ist als der ihnen zustehende Betrag, sind keine „abweichenden Sondermaßnahmen“ zur Verhinderung von Steuerhinterziehungen oder -umgehungen im Sinne von Art. 27 Abs. 1 der Sechsten Richtlinie 77/388 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern.

Eine solche verwaltungsrechtliche Sanktion fällt nicht in den Anwendungsbereich von Art. 27 Abs. 1, sondern ist eine Maßnahme im Sinne von Art. 22 Abs. 8 der Sechsten Richtlinie, wonach die Mitgliedstaaten weitere Pflichten vorsehen können, die sie als erforderlich erachten, um die genaue Erhebung der Steuer sicherzustellen und Steuerhinterziehungen zu vermeiden.

(vgl. Randnrn. 23-25, Tenor 2)

3.        Art. 33 der Sechsten Richtlinie 77/388 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern in ihrer geänderten Fassung steht der Beibehaltung von Bestimmungen wie denen des polnischen Gesetzes über die Steuer auf Waren und Dienstleistungen nicht entgegen, die eine verwaltungsrechtliche Sanktion vorsehen, die gegen Steuerpflichtige verhängt werden kann, wenn festgestellt wird, dass sie einen Betrag als zu erstattende Steuerdifferenz oder als zu erstattende Vorsteuer erklärt haben, der höher ist als der ihnen zustehende Betrag, da diese Bestimmungen keine Steuer, Abgabe oder Gebühr einführen.

(vgl. Randnrn. 28-29, Tenor 3)







URTEIL DES GERICHTSHOFS (Zweite Kammer)

15. Januar 2009(*)

„Mehrwertsteuer – Unregelmäßigkeiten in der Steuererklärung des Steuerpflichtigen – Zusätzliche Steuerschuld“

In der Rechtssache C-502/07

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 234 EG, eingereicht vom Naczelny Sąd Administracyjny (Polen) mit Entscheidung vom 31. Oktober 2007, beim Gerichtshof eingegangen am 16. November 2007, in dem Verfahren

K-1 sp. z o.o.

gegen

Dyrektor Izby Skarbowej w Bydgoszczy

erlässt

DER GERICHTSHOF (Zweite Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten C. W. A. Timmermans, der Richter J.-C. Bonichot (Berichterstatter), K. Schiemann und J. Makarczyk sowie der Richterin C. Toader,

Generalanwalt: J. Mazák,

Kanzler: K. Sztranc-Sławiczek, Verwaltungsrätin,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 20. November 2008,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

–        der K-1 sp. z o.o., vertreten durch M. Łukasik und M. Złotopolska-Nowak, radcy prawni,

–        der polnischen Regierung, vertreten durch M. Dowgielewicz, M. Jarosz und A. Rutkowska als Bevollmächtigte,

–        der griechischen Regierung, vertreten durch S. Spyropoulos, I. Bakopoulos und M. Tassopoulou als Bevollmächtigte,

–        der zyprischen Regierung, vertreten durch I. Neofytou und E. Symeonidou als Bevollmächtigte,

–        der Regierung des Vereinigten Königreichs, vertreten durch L. Seeboruth und C. Gibbs als Bevollmächtigte,

–        der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, vertreten durch D. Triantafyllou und K. Herrmann als Bevollmächtigte,

aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,

folgendes

Urteil

1        Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 2 Abs. 1 und 2 der Ersten Richtlinie 67/227/EWG des Rates vom 11. April 1967 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuer (ABl. 1967, Nr. 71, S. 1301, im Folgenden: Erste Mehrwertsteuerrichtlinie) und verschiedener Artikel der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage (ABl. L 145, S. 1) in der durch die Richtlinie 2004/66/EG des Rates vom 26. April 2004 (ABl. L 168, S. 35) geänderten Fassung (im Folgenden: Sechste Mehrwertsteuerrichtlinie).

2        Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der K-1 sp. z o.o. (im Folgenden: K-1) und dem Dyrektor Izby Skarbowej w Bydgoszczy (Leiter der Finanzkammer Bydgoszcz) wegen der „zusätzlichen Steuerschuld“, die dem Mehrwertsteuerpflichtigen auferlegt wird, wenn er in seiner Steuererklärung einen Betrag als zu erstattende Steuerdifferenz oder als zu erstattende Vorsteuer ausgewiesen hat, der höher ist als der ihm zustehende Betrag.

 Rechtlicher Rahmen

 Gemeinschaftsecht

3        Art. 2 Abs. 1 und 2 der Ersten Mehrwertsteuerrichtlinie lautet:

„Das gemeinsame Mehrwertsteuersystem beruht auf dem Grundsatz, dass auf Gegenstände und Dienstleistungen, ungeachtet der Zahl der Umsätze, die auf den vor der Besteuerungsstufe liegenden Produktions- und Vertriebsstufen bewirkt wurden, eine allgemeine zum Preis der Gegenstände und Dienstleistungen genau proportionale Verbrauchssteuer anzuwenden ist.

Bei allen Umsätzen wird die Mehrwertsteuer, die nach dem auf den Gegenstand oder die Dienstleistung anwendbaren Steuersatz auf den Preis des Gegenstands oder der Dienstleistung errechnet wird, abzüglich des Mehrwertsteuerbetrags geschuldet, der die verschiedenen Kostenelemente unmittelbar belastet hat.“

4        Art. 2 der Sechsten Mehrwertsteuerrichtlinie sieht vor:

„Der Mehrwertsteuer unterliegen:

1.      Lieferungen von Gegenständen und Dienstleistungen, die ein Steuerpflichtiger als solcher im Inland gegen Entgelt ausführt;

2.      die Einfuhr von Gegenständen.“

5        Art. 10 Abs. 1 Buchst. a der Sechsten Mehrwertsteuerrichtlinie definiert den „Steuertatbestand“ als den „Tatbestand, durch den die gesetzlichen Voraussetzungen für den Steueranspruch verwirklicht werden“. In Art. 10 Abs. 2 heißt es:

„Der Steuertatbestand und der Steueranspruch treten zu dem Zeitpunkt ein, zu dem die Lieferung des Gegenstands oder die Dienstleistung bewirkt wird. Die Lieferungen von Gegenständen – außer den in Artikel 5 Absatz 4 Buchstabe b) bezeichneten – und die Dienstleistungen, die zu aufeinanderfolgenden Abrechnungen oder Zahlungen Anlass geben, gelten jeweils mit Ablauf des Zeitraums als bewirkt, auf die sich diese Abrechnungen oder Zahlungen beziehen. …“

6        Art. 22 Abs. 8 der Sechsten Mehrwertsteuerrichtlinie sieht vor:

„Unbeschadet der nach Artikel 17 Absatz 4 zu erlassenden Vorschriften können die Mitgliedstaaten weitere Pflichten vorsehen, die sie als erforderlich erachten, um die genaue Erhebung der Steuer sicherzustellen und Steuerhinterziehungen zu vermeiden.“

7        Art. 27 Abs. 1 der Sechsten Mehrwertsteuerrichtlinie lautet:

„Der Rat kann auf Vorschlag der Kommission einstimmig jeden Mitgliedstaat ermächtigen, von dieser Richtlinie abweichende Sondermaßnahmen einzuführen, um die Steuererhebung zu vereinfachen oder Steuerhinterziehungen oder -umgehungen zu verhindern. Die Maßnahmen zur Vereinfachung der Steuererhebung dürfen den Gesamtbetrag der von dem Mitgliedstaat im Stadium des Endverbrauchs erhobenen Steuer nur in unerheblichem Maße beeinflussen.“

8        Art. 33 Abs. 1 der Sechsten Mehrwertsteuerrichtlinie bestimmt:

„Unbeschadet anderer Gemeinschaftsbestimmungen, insbesondere der geltenden Gemeinschaftsbestimmungen über das allgemeine System, den Besitz, die Beförderung und die Kontrolle von verbrauchsteuerpflichtigen Waren, hindern die Bestimmungen dieser Richtlinie einen Mitgliedstaat nicht daran, Abgaben auf Versicherungsverträge, Abgaben auf Spiele und Wetten, Verbrauchsteuern, Grunderwerbsteuern sowie ganz allgemein alle Steuern, Abgaben und Gebühren, die nicht den Charakter von Umsatzsteuern haben, beizubehalten oder einzuführen, sofern diese Steuern, Abgaben und Gebühren im Verkehr zwischen den Mitgliedstaaten nicht mit Formalitäten beim Grenzübergang verbunden sind.“

 Nationales Recht

9        Art. 109 Abs. 5 und 6 des Gesetzes über die Steuer auf Waren und Dienstleistungen (ustawa o podatku od towarów i usług) vom 11. März 2004 (im Folgenden: Mehrwertsteuergesetz) lautet:

„(5)      Wird festgestellt, dass der Steuerpflichtige in der abgegebenen Steuererklärung einen Betrag als zu erstattende Steuerdifferenz oder als zu erstattende Vorsteuer ausgewiesen hat, der höher ist als der ihm zustehende Betrag, bestimmt der Leiter des Finanzamts oder die Finanzkontrollbehörde den Erstattungsbetrag in der richtigen Höhe und setzt eine zusätzliche Steuerschuld in Höhe von 30 % des Betrags der Überhöhung fest.

(6)      Abs. 5 gilt entsprechend für die Steuerdifferenz im Sinne von Art. 87 Abs. 1.“

10      Art. 87 Abs. 1 des Mehrwertsteuergesetzes bestimmt:

„Ist der Vorsteuerbetrag im Sinne von Art. 86 Abs. 2 in einem Erklärungszeitraum höher als der Betrag der geschuldeten Steuer, kann der Steuerpflichtige den Betrag der für den nächsten Erklärungszeitraum geschuldeten Steuer um die Differenz senken oder die Erstattung der Differenz auf ein Bankkonto verlangen.“

 Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

11      Der Leiter des Pierwszy Urząd Skarbowy w Toruniu (Erstes Finanzamt Toruń) stellte mit Bescheid vom 17. August 2005 bei K-1 für Mai 2005 einen Überschuss der Vorsteuer gegenüber der erhobenen Umsatzsteuer fest und setzte für diesen Monat eine zusätzliche Steuerschuld fest. Die Steuerverwaltung beanstandete nämlich den Abzug der Mehrwertsteuer, die in einer Rechnung vom 29. April 2005 für den Kauf eines bebauten Grundstücks in Toruń ausgewiesen war. Da dieses Grundstück ein gebrauchter Gegenstand gewesen sei, sei sein Erwerb von der Mehrwertsteuer befreit gewesen, und die hierfür ausgestellte Rechnung habe deshalb weder als Grundlage für eine Herabsetzung der geschuldeten Steuer noch als Grundlage für eine Steuerdifferenzerstattung oder eine Vorsteuererstattung dienen können. Wegen der überhöhten Vorsteuer wurde der Gesellschaft eine zusätzliche Steuerschuld nach Art. 109 Abs. 5 und 6 des Mehrwertsteuergesetzes auferlegt.

12      Gegen diesen Bescheid erhob K-1 Einspruch beim Dyrektor Izby Skarbowej w Bydgoszczy. Sie machte geltend, dass die im Bescheid festgesetzte zusätzliche Steuerschuld nicht mit Art. 27 der Sechsten Mehrwertsteuerrichtlinie vereinbar sei. Mit Entscheidung vom 9. November 2005 wies der Dyrektor Izby Skarbowej w Bydgoszczy das Vorbringen der Gesellschaft zurück und bestätigte den streitigen Bescheid.

13      Daraufhin erhob die Gesellschaft gegen diese Entscheidung Klage beim Wojewódzki Sąd Administracyjny w Bydgoszczy (Woiwodschaftsverwaltungsgericht Bydgoszcz). Mit Urteil vom 31. Mai 2006 entschied das Gericht, dass Art. 33 Abs. 1 der Sechsten Richtlinie die Auferlegung der zusätzlichen Steuerschuld nach den im Mehrwertsteuergesetz festgelegten Grundsätzen nicht ausschließe, und wies die Klage von K-1 ab. Nach Auffassung des Gerichts weist diese Steuerschuld weder die wesentlichen Merkmale der Mehrwertsteuer auf, noch führt sie im Verkehr zwischen den Mitgliedstaaten zur Schaffung von Formalitäten beim Grenzübergang. Der Wojewódzki Sąd Administracyjny w Bydgoszczy wies auch das Vorbringen zurück, dass die zusätzliche Steuerschuld eine Sondermaßnahme im Sinne der Sechsten Mehrwertsteuerrichtlinie sei. Aus diesem Grund hielt er es im geprüften Fall auch nicht für erforderlich, das Verfahren nach Art. 27 der Sechsten Mehrwertsteuerrichtlinie einzuleiten.

14      Gegen dieses Urteil erhob K-1 Kassationsbeschwerde. Zur Begründung trägt sie vor, dass die zwingende Anwendung der zusätzlichen Steuerschuld im Sinne von Art. 109 Abs. 5 des Mehrwertsteuergesetzes mit dem Gemeinschaftsrecht, insbesondere mit der Sechsten Mehrwertsteuerrichtlinie, unvereinbar sei.

15      Unter diesen Umständen hat der Naczelny Sąd Administracyjny beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.      Sind die Mitgliedstaaten durch Art. 2 Abs. 1 und 2 der Ersten Mehrwertsteuerrichtlinie in Verbindung mit den Art. 2 und 10 Abs. 1 Buchst. a und Abs. 2 der Sechsten Mehrwertsteuerrichtlinie daran gehindert, dem Mehrwertsteuerpflichtigen für den Fall der Feststellung, dass der Mehrwertsteuerpflichtige in der abgegebenen Steuererklärung einen Betrag als zu erstattende Steuerdifferenz oder als zu erstattende Vorsteuer ausgewiesen hat, der höher ist als der ihm zustehende Betrag, die Verpflichtung zur Zahlung der zusätzlichen Steuerschuld im Sinne von Art. 109 Abs. 5 und 6 des Mehrwertsteuergesetzes aufzuerlegen?

2.      Können die „Sondermaßnahmen“ im Sinne von Art. 27 Abs. 1 der Sechsten Mehrwertsteuerrichtlinie unter Berücksichtigung ihres Charakters und Ziels in der Möglichkeit bestehen, dem Mehrwertsteuerpflichtigen eine zusätzliche Steuerschuld aufzuerlegen, die mit Entscheidung der Steuerbehörde festgesetzt wird, wenn festgestellt wird, dass der Steuerpflichtige einen zu hohen Betrag als zu erstattende Steuerdifferenz oder einen zu hohen Betrag als zu erstattende Vorsteuer angegeben hat?

3.      Umfasst die Berechtigung nach Art. 33 der Sechsten Mehrwertsteuerrichtlinie das Recht, die zusätzliche Steuerschuld im Sinne von Art. 109 Abs. 5 und 6 des Mehrwertsteuergesetzes einzuführen?

 Zu den Vorlagefragen

 Zur ersten Frage

16      Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob das gemeinsame Mehrwertsteuersystem, wie es in Art. 2 Abs. 1 und 2 der Ersten Mehrwertsteuerrichtlinie sowie den Art. 2 und 10 Abs. 1 Buchst. a und Abs. 2 der Sechsten Mehrwertsteuerrichtlinie definiert worden ist, es den Mitgliedstaaten erlaubt, den Mehrwertsteuerpflichtigen eine „zusätzliche Steuerschuld“ aufzuerlegen, wie sie in Art. 109 Abs. 5 und 6 des Mehrwertsteuergesetzes vorgesehen ist.

17      Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs weist die Mehrwertsteuer die folgenden vier wesentlichen Merkmale auf: allgemeine Geltung der Steuer für alle sich auf Gegenstände und Dienstleistungen beziehenden Geschäfte; Festsetzung ihrer Höhe proportional zum Preis, den der Steuerpflichtige als Gegenleistung für die Gegenstände und Dienstleistungen erhält; Erhebung der Steuer auf jeder Produktions- und Vertriebsstufe einschließlich der Einzelhandelsstufe, ungeachtet der Zahl der vorher bewirkten Umsätze; Abzug der auf den vorhergehenden Stufen bereits entrichteten Beträge von der vom Steuerpflichtigen geschuldeten Steuer, so dass sich die Steuer auf einer bestimmten Stufe nur auf den auf dieser Stufe vorhandenen Mehrwert bezieht und die Belastung letztlich vom Verbraucher getragen wird (vgl. Urteil vom 3. Oktober 2006, Banca popolare di Cremona, C-475/03, Slg. 2006, I-9373, Randnr. 28).

18      Eine „zusätzliche Steuerschuld“, wie sie in den im Ausgangsrechtsstreit in Rede stehenden nationalen Rechtsvorschriften vorgesehen ist, erfüllt diese Merkmale nicht. Insoweit genügt die Feststellung, dass ihr Entstehungsgrund nicht in irgendeinem Umsatz liegt, sondern in einer fehlerhaften Steuererklärung, und ihre Höhe nicht proportional zum Preis festgesetzt wird, den der Steuerpflichtige erhält.

19      Es handelt sich in Wirklichkeit nicht um eine Steuer, sondern um eine verwaltungsrechtliche Sanktion, die verhängt wird, wenn festgestellt wird, dass der Steuerpflichtige einen Betrag als zu erstattende Steuerdifferenz oder als zu erstattende Vorsteuer erklärt hat, der höher ist als der ihm zustehende Betrag.

20      Der Grundsatz des gemeinsamen Mehrwertsteuersystems hindert die Mitgliedstaaten nicht an der Einführung von Maßnahmen, mit denen Unregelmäßigkeiten bei der Erklärung des geschuldeten Mehrwertsteuerbetrags geahndet werden. Nach Art. 22 Abs. 8 der Sechsten Mehrwertsteuerrichtlinie können die Mitgliedstaaten ganz im Gegenteil weitere Pflichten vorsehen, die sie als erforderlich erachten, um die genaue Erhebung der Steuer sicherzustellen.

21      Daher ist auf die erste Frage zu antworten, dass ein Mitgliedstaat durch das gemeinsame Mehrwertsteuersystem, wie es in Art. 2 Abs. 1 und 2 der Ersten Mehrwertsteuerrichtlinie sowie den Art. 2 und 10 Abs. 1 Buchst. a und Abs. 2 der Sechsten Mehrwertsteuerrichtlinie definiert worden ist, nicht daran gehindert ist, in seinem Recht eine verwaltungsrechtliche Sanktion vorzusehen, die gegen Mehrwertsteuerpflichtige verhängt werden kann, wie die „zusätzliche Steuerschuld“ im Sinne von Art. 109 Abs. 5 und 6 des Mehrwertsteuergesetzes.

 Zur zweiten Frage

22      Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die Bestimmungen in Art. 109 Abs. 5 und 6 des Mehrwertsteuergesetzes als „abweichende Sondermaßnahmen“ zur Verhinderung von Steuerhinterziehungen oder -umgehungen im Sinne von Art. 27 Abs. 1 der Sechsten Mehrwertsteuerrichtlinie angesehen werden können.

23      Hierzu genügt die Feststellung, dass eine verwaltungsrechtliche Sanktion, die verhängt wird, wenn festgestellt wird, dass der Steuerpflichtige als zu erstattende Steuerdifferenz oder als zu erstattende Vorsteuer einen höheren als den ihm zustehenden Betrag erklärt hat, wie sie in Art. 109 Abs. 5 und 6 des Mehrwertsteuergesetzes vorgesehen ist, keine abweichende Sondermaßnahme der in Art. 27 Abs. 1 der Sechsten Mehrwertsteuerrichtlinie bezeichneten Art ist, sondern, wie bereits ausgeführt, eine Maßnahme im Sinne von Art. 22 Abs. 8 der Sechsten Mehrwertsteuerrichtlinie.

24      Daher fallen Bestimmungen wie Art. 109 Abs. 5 und 6 des Mehrwertsteuergesetzes nicht in den Anwendungsbereich von Art. 27 Abs. 1 der Sechsten Mehrwertsteuerrichtlinie.

25      Folglich ist auf die zweite Frage zu antworten, dass Bestimmungen wie Art. 109 Abs. 5 und 6 des Mehrwertsteuergesetzes keine „abweichenden Sondermaßnahmen“ zur Verhinderung von Steuerhinterziehungen oder -umgehungen im Sinne von Art. 27 Abs. 1 der Sechsten Mehrwertsteuerrichtlinie sind.

 Zur dritten Frage

26      Mit seiner dritten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 33 der Sechsten Mehrwertsteuerrichtlinie der Beibehaltung von Bestimmungen wie Art. 109 Abs. 5 und 6 des Mehrwertsteuergesetzes entgegensteht.

27      Art. 33 der Sechsten Mehrwertsteuerrichtlinie gestattet die Beibehaltung oder Einführung von Steuern, Abgaben oder Gebühren auf Lieferungen von Gegenständen, Dienstleistungen und Einfuhren durch einen Mitgliedstaat nur, wenn sie nicht den Charakter von Umsatzsteuern haben (vgl. Urteil Banca popolare di Cremona, Randnr. 24).

28      Es besteht jedoch kein Anlass, zu prüfen, ob Bestimmungen wie die im Ausgangsrechtsstreit in Rede stehenden eine Steuer, Abgabe oder Gebühr vorsehen, die den Charakter einer Umsatzsteuer im Sinne von Art. 33 der Sechsten Mehrwertsteuerrichtlinie hat. Wie sich aus der Antwort auf die erste Frage ergibt, führen diese Bestimmungen keine Steuer, Abgabe oder Gebühr ein, sondern sehen eine verwaltungsrechtliche Sanktion vor, die gegen Mehrwertsteuerpflichtige verhängt werden kann, wenn festgestellt wird, dass sie einen Betrag als zu erstattende Steuerdifferenz oder als zu erstattende Vorsteuer erklärt haben, der höher ist als der ihnen zustehende Betrag.

29      Daher ist auf die dritte Frage zu antworten, dass Art. 33 der Sechsten Mehrwertsteuerrichtlinie der Beibehaltung von Bestimmungen wie Art. 109 Abs. 5 und 6 des Mehrwertsteuergesetzes nicht entgegensteht.

 Kosten

30      Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Zweite Kammer) für Recht erkannt:

1.      Ein Mitgliedstaat ist durch das gemeinsame Mehrwertsteuersystem, wie es in Art. 2 Abs. 1 und 2 der Ersten Richtlinie 67/227/EWG des Rates vom 11. April 1967 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuer sowie den Art. 2 und 10 Abs. 1 Buchst. a und Abs. 2 der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage in der durch die Richtlinie 2004/66/EG des Rates vom 26. April 2004 geänderten Fassung definiert worden ist, nicht daran gehindert, in seinem Recht eine verwaltungsrechtliche Sanktion vorzusehen, die gegen Mehrwertsteuerpflichtige verhängt werden kann, wie die „zusätzliche Steuerschuld“ im Sinne von Art. 109 Abs. 5 und 6 des Gesetzes über die Steuer auf Waren und Dienstleistungen (ustawa o podatku od towarów i usług) vom 11. März 2004.

2.      Bestimmungen wie Art. 109 Abs. 5 und 6 des Gesetzes über die Steuer auf Waren und Dienstleistungen vom 11. März 2004 sind keine „abweichenden Sondermaßnahmen“ zur Verhinderung von Steuerhinterziehungen oder -umgehungen im Sinne von Art. 27 Abs. 1 der Sechsten Richtlinie 77/388 in ihrer geänderten Fassung.

3.      Art. 33 der Sechsten Richtlinie 77/388 in ihrer geänderten Fassung steht der Beibehaltung von Bestimmungen wie Art. 109 Abs. 5 und 6 des Gesetzes über die Steuer auf Waren und Dienstleistungen vom 11. März 2004 nicht entgegen.

Unterschriften


* Verfahrenssprache: Polnisch.