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URTEIL DES GERICHTSHOFS (Große Kammer)

17. Januar 2012 ( *1 )

„Soziale Sicherheit der Wandererwerbstätigen — Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 — Arbeitnehmer, der auf einer Gasbohrplattform beschäftigt ist, die sich auf dem an die Niederlande angrenzenden Festlandsockel befindet — Pflichtversicherung — Versagung einer Leistung bei Arbeitsunfähigkeit“

In der Rechtssache C-347/10

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht von der Rechtbank Amsterdam (Niederlande) mit Entscheidung vom 5. Juli 2010, beim Gerichtshof eingegangen am 8. Juli 2010, in dem Verfahren

A. Salemink

gegen

Raad van bestuur van het Uitvoeringsinstituut werknemersverzekeringen

erlässt

DER GERICHTSHOF (Große Kammer)

unter Mitwirkung des Präsidenten V. Skouris, der Kammerpräsidenten A. Tizzano, J. N. Cunha Rodrigues, K. Lenaerts und J.-C. Bonichot sowie der Richterin R. Silva de Lapuerta, der Richter K. Schiemann (Berichterstatter), E. Juhász, G. Arestis und D. Šváby sowie der Richterin M. Berger,

Generalanwalt: P. Cruz Villalón,

Kanzler: L. Hewlett, Hauptverwaltungsrätin,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 14. Juni 2011,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

von Herrn Salemink, vertreten durch R. E. Zalm, jurist,

des Raad van bestuur van het Uitvoeringsinstituut werknemersverzekeringen, vertreten durch I. Eijkhout als Bevollmächtigte,

der niederländischen Regierung, vertreten durch C. M. Wissels und M. Noort als Bevollmächtigte,

der griechischen Regierung, vertreten durch S. Vodina, E.-M. Mamouna und G. Karipsiadis als Bevollmächtigte,

der spanischen Regierung, zunächst vertreten durch B. Plaza Cruz, dann durch S. Centeno Huerta als Bevollmächtigte,

der Europäischen Kommission, vertreten durch M. van Beek und V. Kreuschitz als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 8. September 2011

folgendes

Urteil

1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Art. 39 EG und 299 EG sowie der Titel I und II der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, in der durch die Verordnung (EG) Nr. 118/97 des Rates vom 2. Dezember 1996 (ABl. 1997, L 28, S. 1) geänderten und aktualisierten Fassung, geändert durch die Verordnung (EG) Nr. 1606/98 des Rates vom 29. Juni 1998 (ABl. L 209, S. 1, im Folgenden: Verordnung Nr. 1408/71).

2

Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen Herrn Salemink, einem niederländischen Staatsangehörigen, der auf einer Gasplattform gearbeitet hat, die sich auf dem an die Niederlande angrenzenden Teil des Festlandsockels befindet, und in Spanien wohnt, und dem Raad van bestuur van het Uitvoeringsinstituut werknemersverzekeringen (Verwaltungsrat des Instituts für Arbeitnehmerversicherungen) über dessen Weigerung, ihm eine Leistung bei Arbeitsunfähigkeit zu gewähren.

Rechtlicher Rahmen

Internationales Recht

3

Das am 10. Dezember 1982 in Montego Bay (Jamaika) unterzeichnete Seerechtsübereinkommen der Vereinten Nationen (im Folgenden: Seerechtsübereinkommen), das am 16. November 1994 in Kraft trat, vom Königreich der Niederlande am 28. Juni 1996 ratifiziert und mit dem Beschluss 98/392/EG des Rates vom 23. März 1998 (ABl. L 179, S. 1) im Namen der Europäischen Gemeinschaft genehmigt wurde, bestimmt in Art. 60 („Künstliche Inseln, Anlagen und Bauwerke in der ausschließlichen Wirtschaftszone“):

„1.   In der ausschließlichen Wirtschaftszone hat der Küstenstaat das ausschließliche Recht zur Errichtung sowie zur Genehmigung und Regelung der Errichtung, des Betriebs und der Nutzung von

a)

künstlichen Inseln;

b)

Anlagen und Bauwerken für die in Artikel 56 vorgesehenen und für andere wirtschaftliche Zwecke;

c)

Anlagen und Bauwerken, welche die Ausübung der Rechte des Küstenstaats in der Zone beeinträchtigen können.

2.   Der Küstenstaat hat über diese künstlichen Inseln, Anlagen und Bauwerke ausschließliche Hoheitsbefugnisse, einschließlich derjenigen in Bezug auf Zoll- und sonstige Finanzgesetze, Gesundheits-, Sicherheits- und Einreisegesetze und diesbezügliche sonstige Vorschriften.

…“

4

Art. 77 des Seerechtsübereinkommens („Rechte des Küstenstaats am Festlandsockel“) sieht vor:

„1.   Der Küstenstaat übt über den Festlandsockel souveräne Rechte zum Zweck seiner Erforschung und der Ausbeutung seiner natürlichen Ressourcen aus.

2.   Die in Absatz 1 genannten Rechte sind insoweit ausschließlich, als niemand ohne ausdrückliche Zustimmung des Küstenstaats den Festlandsockel erforschen oder seine natürlichen Ressourcen ausbeuten darf, selbst wenn der Küstenstaat diese Tätigkeiten unterlässt.

3.   Die Rechte des Küstenstaats am Festlandsockel sind weder von einer tatsächlichen oder nominellen Besitzergreifung noch von einer ausdrücklichen Erklärung abhängig.

…“

5

Art. 80 des Übereinkommens („Künstliche Inseln, Anlagen und Bauwerke auf dem Festlandsockel“) bestimmt:

„Artikel 60 gilt sinngemäß für künstliche Inseln, Anlagen und Bauwerke auf dem Festlandsockel.“

Unionsrecht

6

Art. 13 („Allgemeine Regelung“) der Verordnung Nr. 1408/71 sieht vor:

„(1)   Vorbehaltlich der Artikel 14c und 14f unterliegen Personen, für die diese Verordnung gilt, den Rechtsvorschriften nur eines Mitgliedstaats. Welche Rechtsvorschriften diese sind, bestimmt sich nach diesem Titel.

(2)   Soweit nicht die Artikel 14 bis 17 etwas anderes bestimmen, gilt Folgendes:

a)

Eine Person, die im Gebiet eines Mitgliedstaats abhängig beschäftigt ist, unterliegt den Rechtsvorschriften dieses Staates, und zwar auch dann, wenn sie im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats wohnt oder ihr Arbeitgeber oder das Unternehmen, das sie beschäftigt, seinen Wohnsitz oder Betriebssitz im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats hat.

…“

Nationales Recht

7

Art. 3 des Krankenversicherungsgesetzes (Ziektewet, im Folgenden: ZW) lautet:

„1.   Arbeitnehmer ist eine natürliche Person unter 65 Jahren, die in einem privatrechtlichen oder öffentlich-rechtlichen Beschäftigungsverhältnis steht.

2.   Wer außerhalb der Niederlande einer Beschäftigung nachgeht, gilt nicht als Arbeitnehmer, es sei denn, er wohnt in den Niederlanden und sein Arbeitgeber wohnt ebenfalls in den Niederlanden oder ist dort niedergelassen.“

8

Nach Art. 7 Abs. 1 des am 1. Januar 2006 in Kraft getretenen Gesetzes über Arbeit und Einkommen nach Arbeitsfähigkeit (Wet werk en inkomen naar arbeidsvermogen, im Folgenden: WIA) sind „Arbeitnehmer“„versicherungspflichtig“.

9

Gemäß Art. 8 Abs. 1 WIA ist „Arbeitnehmer im Sinne dieses Gesetzes … ein Arbeitnehmer im Sinne der [ZW] mit Ausnahme der Arbeitnehmer, deren Arbeitnehmereigenschaft nach Art. 4 Abs. 1 Buchst. g dieses Gesetzes begründet wurde“.

10

Gemäß Art. 18 Abs. 1 und 2 WIA kann sich eine Person unter 65 Jahren, die kein Arbeitnehmer im Sinne von Art. 3 Abs. 2 und 5 ZW ist, deren Pflichtversicherung geendet hat, die außerhalb der Niederlande ihren Wohnsitz hat, die unmittelbar im Anschluss an die Beendigung der Pflichtversicherung sich in einem Arbeitsverhältnis von höchstens fünf Jahren Dauer befindet und deren Arbeitgeber in den Niederlanden wohnt oder dort niedergelassen ist, freiwillig versichern.

11

Nach Art. 47 Abs. 1 WIA hat ein Versicherter, der erkrankt, Anspruch auf die Leistung bei Arbeitsunfähigkeit, wenn er die Wartezeit erfüllt, die Arbeitsunfähigkeit vollständig und dauerhaft ist und für ihn kein Ausschlussgrund gilt.

12

Art. 3 des Gesetzes über die Arbeit im Bereich Ausbeutung der Nordsee (Wet arbeid mijnbouw Noordzee) bestimmt:

„1.   Dieser Artikel gilt für Arbeitnehmer, die weder nach der [ZW] noch in einem entsprechenden gesetzlichen System eines Mitgliedstaats der Europäischen Union versichert sind und deren Arbeitsvertrag sich nach dem niederländischen Arbeitsvertragsrecht, zumindest nach dessen zwingenden Bestimmungen regelt.

2.   Ein Arbeitnehmer, der wegen Krankheit unfähig ist, die vereinbarte Arbeit zu leisten, hat den in Art. 629 Abs. 1 von Buch 7 des Burgerlijk Wetboek vorgesehenen Anspruch auf Entgelt für 104 Wochen, auch wenn sein Arbeitsvertrag während dieses Zeitraums endet.“

Sachverhalt des Ausgangsverfahrens und Vorlagefrage

13

Herr Salemink, ein niederländischer Staatsangehöriger, hat seit 1996 für das Unternehmen Nederlandse Aardolie Maatschappij als Krankenpfleger und teilweise als Röntgenassistent auf einer Gasbohrplattform gearbeitet. Diese Plattform befindet sich außerhalb der niederländischen Hoheitsgewässer auf dem an die Niederlande angrenzenden Festlandsockel in einer Entfernung von ungefähr 80 km von der niederländischen Küste.

14

Am 10. September 2004 verlegte Herr Salemink seinen Wohnsitz von den Niederlanden nach Spanien.

15

Vor seinem Umzug nach Spanien war Herr Salemink nach der ZW pflichtversichert, die in Art. 3 Abs. 2 bestimmt, dass nicht als Arbeitnehmer gilt, wer außerhalb der Niederlande einer Beschäftigung nachgeht, es sei denn, er wohnt in den Niederlanden und sein Arbeitgeber wohnt ebenfalls dort oder ist dort niedergelassen.

16

Von seinem Umzug nach Spanien an erfüllte Herr Salemink die in Art. 3 Abs. 2 vorgesehene Wohnsitzvoraussetzung nicht mehr und war daher von der Pflichtversicherung insbesondere für den Fall der Arbeitsunfähigkeit ausgeschlossen.

17

Mit Wirkung vom 4. Oktober 2004 wurde er in die freiwillige Versicherung aufgenommen, doch wurde das Versicherungsverhältnis später beendet, da er keine Beiträge entrichtete. Seine späteren Versuche im Jahr 2006, in die freiwillige Versicherung aufgenommen zu werden, blieben erfolglos, da der Antrag zu spät gestellt worden war.

18

Am 24. Oktober 2006 meldete sich Herr Salemink krank. Am 11. September 2007 beantragte er eine Leistung wegen Arbeitsunfähigkeit gemäß der WIA ab 24. Oktober 2008.

19

Das Uitvoeringsinstituut werknemersverzekeringen (im Folgenden: UWV) lehnte diesen Antrag mit der Begründung ab, dass er zum Zeitpunkt des Beginns seiner Arbeitsunfähigkeit am 24. Oktober 2006 nicht pflichtversichert gewesen sei. Da er seit dem 10. September 2004 außerhalb der Niederlande wohne, sei er seit diesem Zeitpunkt nicht mehr pflichtversichert.

20

Vor der Rechtbank Amsterdam hat Herr Salemink geltend gemacht, er könne eine Leistung bei Arbeitsunfähigkeit nach der Verordnung Nr. 1408/71 beanspruchen, die auf dem an die Niederlande angrenzenden Festlandsockel Anwendung finde, der als Teil des niederländischen Hoheitsgebiets zu betrachten sei.

21

Er beruft sich dabei auf die von der Sociale Verzekeringsbank (Sozialversicherungsanstalt, im Folgenden: SVB) betriebene Politik, die sich an dem Urteil des Gerichtshofs vom 29. Juni 1994, Aldewereld (C-60/93, Slg. 1994, I-2991), orientiere, wonach die auf dem an die Niederlande angrenzenden Festlandsockel tätigen Arbeitnehmer als in der niederländischen Sozialversicherung versichert betrachtet würden.

22

Das vorlegende Gericht beschreibt diese Politik wie folgt:

„Die SVB geht davon aus, dass Titel II der … Verordnung [Nr. 1408/71] Anwendung findet, wenn ein Arbeitnehmer im Gebiet der Gemeinschaft wohnt, jedoch außerhalb des Gebiets der Gemeinschaft bei einem innerhalb der Gemeinschaft niedergelassenen Arbeitgeber beschäftigt ist. Dabei entnimmt die SVB den Ausführungen des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften in den Urteilen [vom 12. Juli 1984] Prodest [237/83, Slg. 1984, 3153] und Aldewereld die Voraussetzung, dass der Arbeitnehmer unmittelbar vor der außerhalb der Gemeinschaft verrichteten Arbeit in dem Mitgliedstaat versichert gewesen sein muss, in dem sein Arbeitgeber ansässig ist, oder dass der Arbeitnehmer aufgrund der nationalen Rechtsvorschriften dieses Mitgliedstaats während der Arbeit außerhalb der Gemeinschaft versichert ist. Wenn eine dieser Voraussetzungen erfüllt ist, geht die SVB davon aus, dass während der Zeit, in der außerhalb der Gemeinschaft Arbeit verrichtet wird, die Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats des Arbeitgebers anzuwenden sind.“

23

Das UWV war der Ansicht, dass Herr Salemink nach seinem Umzug nicht mehr die Voraussetzungen für die Pflichtversicherung erfüllt habe.

24

Das vorlegende Gericht äußert Zweifel, ob die Anwendung der Verordnung Nr. 1408/71 auf den Festlandsockel erstreckt werden kann. Es wirft die Frage auf, ob zwischen dem Gebiet, das der Hoheitsgewalt eines Mitgliedstaats unterliegt, einerseits, und dem Gebiet, in dem er befugt ist, beschränkte Hoheitsrechte auszuüben, jedoch auch befugt ist, diese Rechte nicht auszuüben – wie dies nach Ansicht des vorlegenden Gerichts der niederländische Staat in Bezug auf das Sozialversicherungsrecht auf dem Festlandsockel getan hat –, andererseits, zu unterscheiden ist. Damit stellt sich die Frage, ob ein Mitgliedstaat berechtigt ist, in den Grenzen der funktionellen Zuständigkeit, die er auf dem Festlandsockel ausübt, die dort tätigen Arbeitnehmer und die in seinem Hoheitsgebiet tätigen Arbeitnehmer unterschiedlich zu behandeln.

25

Das vorlegende Gericht räumt ein, dass die Weigerung des UWV mit dem Grundsatz der Freizügigkeit der Arbeitnehmer unvereinbar sein könnte, da Herrn Salemink eine Vergünstigung, die er genossen habe, solange er in den Niederlanden gewohnt habe, genommen worden sei. Es fragt sich jedoch, ob diese Unvereinbarkeit deshalb milder zu beurteilen sei, weil Herr Salemink die Möglichkeit gehabt habe, sich freiwillig zu versichern, und davon auch Gebrauch gemacht habe.

26

Abschließend weist das vorlegende Gericht darauf hin, dass die in Art. 3 Abs. 2 ZW aufgestellte Wohnsitzvoraussetzung ein problematisches Kriterium sei, da sie möglicherweise zu einer Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit führen könne.

27

Die Rechtbank Amsterdam hat daher beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:

Widerspricht es den Bestimmungen des Rechts der Europäischen Gemeinschaft, die der Verwirklichung der Freizügigkeit der Arbeitnehmer dienen, insbesondere den Bestimmungen in den Titeln I und II der Verordnung Nr. 1408/71 sowie den Art. 39 EG und 299 EG, wenn ein Arbeitnehmer, der außerhalb des Gebiets der Niederlande auf einer festen Einrichtung auf dem an die Niederlande angrenzenden Festlandsockel bei einem in den Niederlanden ansässigen Arbeitgeber beschäftigt ist, nur deshalb nicht bei den nationalen gesetzlichen Arbeitnehmerversicherungen versichert wird, weil er nicht in den Niederlanden, sondern in einem anderen Mitgliedstaat (im vorliegenden Fall: Spanien) wohnt, auch wenn er die niederländische Staatsangehörigkeit besitzt und die Möglichkeit einer freiwilligen Versicherung unter im Wesentlichen gleichen Voraussetzungen hat, wie sie für die Pflichtversicherung gelten?

Zur Vorlagefrage

28

Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die Bestimmungen der Verordnung Nr. 1408/71 und Art. 39 EG dahin auszulegen sind, dass mit ihnen nicht vereinbar ist, dass ein Arbeitnehmer, der auf einer festen Einrichtung auf dem an einen Mitgliedstaat angrenzenden Festlandsockel beruflich tätig ist, in diesem Mitgliedstaat nur deshalb nicht nach den nationalen Sozialversicherungsvorschriften pflichtversichert ist, weil er nicht in diesem, sondern in einem anderen Mitgliedstaat wohnt.

29

Nach Art. 13 Abs. 2 Buchst. a der Verordnung Nr. 1408/71 unterliegt eine Person, die im Gebiet eines Mitgliedstaats abhängig beschäftigt ist, den Rechtsvorschriften dieses Staates, und zwar auch dann, wenn sie im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats wohnt.

30

Allerdings bestreiten die niederländische Regierung und das UWV, dass Art. 13 Abs. 2 Buchst. a wie auch das Unionsrecht im Allgemeinen auf einen Fall wie den vorliegenden anwendbar seien, da die fragliche berufliche Tätigkeit auf einer Gasbohrplattform auf dem an die Niederlande angrenzenden Festlandsockel außerhalb der niederländischen Hoheitsgewässer ausgeübt werde. Der räumliche Anwendungsbereich der Verordnung Nr. 1408/71 sei auf das nationale Hoheitsgebiet beschränkt. Das vorlegende Gericht hat ebenfalls Zweifel in Bezug auf die Anwendbarkeit des Unionsrechts auf den fraglichen Festlandsockel.

31

Insoweit ist auf die Bestimmungen und Grundsätze des Völkerrechts über die rechtliche Regelung des Festlandsockels zu verweisen.

32

In seinem Urteil vom 20. Februar 1969 (in den sogenannten „North Sea Continental Shelf Cases“, Reports of Judgments, Advisory Opinions and Orders, 1969, S. 3, Nr. 19) hatte der Internationale Gerichtshof über die Rechte des Küstenstaats am Gebiet des Festlandsockels, das eine natürliche Verlängerung seines Landgebiets unter dem Meer darstellt, zu entscheiden. Er hat festgestellt, dass diese Rechte ipso facto und ab initio kraft seiner Hoheitsgewalt über dieses Gebiet und durch Ausdehnung dieser Hoheitsgewalt in Form der Ausübung von Hoheitsrechten zur Erforschung des Meeresgrundes und zur Ausbeutung seiner natürlichen Reichtümer bestünden.

33

Nach Art. 77 des Seerechtsübereinkommens übt der Küstenstaat über den Festlandsockel souveräne Rechte zum Zweck seiner Erforschung und der Ausbeutung seiner natürlichen Ressourcen aus. Diese Rechte sind insoweit ausschließlich, als niemand ohne ausdrückliche Zustimmung des Küstenstaats den Festlandsockel erforschen oder seine natürlichen Ressourcen ausbeuten darf, selbst wenn der Küstenstaat diese Tätigkeiten unterlässt.

34

In Bezug auf künstliche Inseln, Anlagen und Bauwerke auf dem Festlandsockel hat der Küstenstaat nach Art. 80 des Seerechtsübereinkommens in Verbindung mit dessen Art. 60 das ausschließliche Recht zur Errichtung sowie zur Genehmigung und Regelung der Errichtung, des Betriebs und der Nutzung. Der Küstenstaat hat über diese künstlichen Inseln, Anlagen und Bauwerke ausschließliche Hoheitsbefugnisse.

35

Da der an einen Mitgliedstaat angrenzende Festlandsockel dessen Hoheitsgewalt, wenn auch funktionell und beschränkt, unterliegt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 29. März 2007, Aktiebolaget NN, C-111/05, Slg. 2007, I-2697, Randnr. 59), ist eine von einem Arbeitnehmer auf festen oder schwimmenden Einrichtungen auf oder über dem an einen Vertragsstaat angrenzenden Festlandsockel im Rahmen der Erforschung und/oder Ausbeutung seiner natürlichen Reichtümer verrichtete Arbeit für die Anwendung des Unionsrechts als eine im Hoheitsgebiet dieses Staates verrichtete Arbeit anzusehen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 27. Februar 2002, Weber, C-37/00, Slg. 2002, I-2013, Randnr. 36, und vom 20. Oktober 2005, Kommission/Vereinigtes Königreich, C-6/04, Slg. 2005, I-9017, Randnr. 117).

36

Der Mitgliedstaat, der Vorteil aus den wirtschaftlichen Vorrechten der Erforschung und/oder Ausbeutung der Ressourcen zieht, die er auf dem an ihn angrenzenden Festlandsockel ausübt, kann sich somit nicht der Anwendung der Bestimmungen des Unionsrechts entziehen, mit denen die Freizügigkeit der Arbeitnehmer gewährleistet werden soll, die auf solchen Einrichtungen beruflich tätig sind.

37

Da somit feststeht, dass das Unionsrecht und insbesondere die Verordnung Nr. 1408/71 auf dem an einen Mitgliedstaat angrenzenden Festlandsockel anwendbar ist, ist zu prüfen, ob es mit dieser Verordnung und den Bestimmungen des EG-Vertrags über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer vereinbar ist, eine Person in der Lage von Herrn Salemink nach der Verlegung ihrer Wohnung nach Spanien vom System der Pflichtversicherung auszuschließen.

38

Art. 13 Abs. 2 Buchst. a der Verordnung Nr. 1408/71 soll nur festlegen, welche nationalen Rechtsvorschriften für Personen gelten, die einer Beschäftigung im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats nachgehen. Diese Bestimmung legt als solche nicht die Voraussetzungen fest, unter denen eine Person einem System der sozialen Sicherheit oder einem bestimmten Zweig eines solchen Systems beitreten kann oder muss. Wie der Gerichtshof in seiner Rechtsprechung wiederholt ausgeführt hat, ist es Sache jedes Mitgliedstaats, diese Voraussetzungen festzulegen (vgl. u. a. Urteile vom 23. September 1982, Koks, 275/81, Slg. 1982, 3013, und vom 7. Juli 2005, van Pommeren-Bourgondiën, C-227/03, Slg. 2005, I-6101, Randnr. 33).

39

Auch wenn die Mitgliedstaaten weiterhin für die Ausgestaltung ihrer Systeme der sozialen Sicherheit zuständig sind, müssen sie dabei aber gleichwohl das Unionsrecht und insbesondere die Bestimmungen des EG-Vertrags über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer beachten (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 3. Mai 1990, Kits van Heijningen, C-2/89, Slg. 1990, I-1755, Randnr. 20, und vom 23. November 2000, Elsen, C-135/99, Slg. 2000, I-10409, Randnr. 33).

40

Daher darf zum einen diese Ausgestaltung nicht bewirken, dass Personen, auf die nach der Verordnung Nr. 1408/71 eine nationale Regelung wie die im Ausgangsverfahren fragliche anwendbar ist, vom Anwendungsbereich dieser Regelung ausgeschlossen werden, und zum anderen müssen die Systeme der Pflichtversicherung mit Art. 39 EG vereinbar sein (vgl. in diesem Sinne Urteile Kits van Heijningen, Randnr. 20, und van Pommeren-Bourgondiën, Randnr. 39).

41

Art. 13 Abs. 2 Buchst. a der Verordnung Nr. 1408/71 bestimmt ausdrücklich, dass eine Person, die im Gebiet eines Mitgliedstaats abhängig beschäftigt ist, den Rechtsvorschriften dieses Staates unterliegt, „und zwar auch dann, wenn sie im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats wohnt“. Diese Bestimmung würde nicht beachtet, wenn den in Art. 13 Abs. 2 Buchst. a aufgeführten Personen die Wohnsitzvoraussetzung entgegengehalten werden könnte, die in den Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats, in dessen Gebiet die betreffende Person im Lohn- oder Gehaltsverhältnis beschäftigt ist, für die Aufnahme in das System der Pflichtversicherung vorgesehen ist. Für diese Personen bewirkt diese Bestimmung, dass an die Stelle der Wohnsitzvoraussetzung die Voraussetzung tritt, dass im Gebiet des betreffenden Mitgliedstaats eine Beschäftigung im Lohn- oder Gehaltsverhältnis ausgeübt wird (vgl. Urteil Kits van Heijningen, Randnr. 21).

42

Daher verstößt eine nationale Regelung wie die im Ausgangsverfahren fragliche, wonach sich anhand des Wohnsitzkriteriums entscheidet, ob ein Arbeitnehmer, der auf einer Gasbohrplattform beschäftigt ist, die sich wie die im Ausgangsverfahren fragliche auf dem an einen Mitgliedstaat angrenzenden Festlandsockel befindet, in diesem Staat pflichtversichert werden kann oder nicht, gegen Art. 13 Abs. 2 Buchst. a der Verordnung Nr. 1408/71.

43

Ferner versetzt eine solche Regelung die gebietsfremden Arbeitnehmer wie Herrn Salemink in Bezug auf ihre soziale Sicherung in den Niederlanden in eine ungünstigere Lage als die gebietsansässigen Arbeitnehmer und verletzt dadurch den durch Art. 39 EG gewährleisteten Grundsatz der Freizügigkeit.

44

Obwohl der Gerichtshof in Randnr. 40 des Urteils van Pommeren-Bourgondiën nicht ausgeschlossen hat, dass die Wohnsitzvoraussetzung für die weitere Zugehörigkeit zur Pflichtversicherung in bestimmten Zweigen der sozialen Sicherheit mit Art. 39 EG vereinbar sein kann, wird die Feststellung in Randnr. 43 des vorliegenden Urteils nicht dadurch entkräftet werden, dass Herr Salemink die Möglichkeit hatte, sich freiwillig zu versichern. Die Schritte, die gebietsfremde Arbeitnehmer, die sich freiwillig versichern möchten, von sich aus unternehmen müssen, und die mit einer Versicherung dieser Art verbundenen Obliegenheiten wie die Einhaltung von Fristen für die Einreichung eines Versicherungsantrags sind Umstände, die gebietsfremde Arbeitnehmer, die nur über die Möglichkeit einer freiwilligen Versicherung verfügen, in eine ungünstigere Situation versetzen als gebietsansässige Arbeitnehmer, die pflichtversichert sind.

45

Daher ist auf die vorgelegte Frage zu antworten, dass Art. 13 Abs. 2 Buchst. a der Verordnung Nr. 1408/71 und Art. 39 EG dahin auszulegen sind, dass mit ihnen nicht vereinbar ist, dass ein Arbeitnehmer, der auf einer festen Einrichtung auf dem an einen Mitgliedstaat angrenzenden Festlandsockel beruflich tätig ist, in diesem Mitgliedstaat nur deshalb nicht nach den nationalen Sozialversicherungsvorschriften pflichtversichert ist, weil er nicht in diesem, sondern in einem anderen Mitgliedstaat wohnt.

Kosten

46

Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

 

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Große Kammer) für Recht erkannt:

 

Art. 13 Abs. 2 Buchst. a der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, in der durch die Verordnung (EG) Nr. 118/97 des Rates vom 2. Dezember 1996 geänderten und aktualisierten Fassung, geändert durch die Verordnung (EG) Nr. 1606/98 des Rates vom 29. Juni 1998, und Art. 39 EG sind dahin auszulegen, dass mit ihnen nicht vereinbar ist, dass ein Arbeitnehmer, der auf einer festen Einrichtung auf dem an einen Mitgliedstaat angrenzenden Festlandsockel beruflich tätig ist, in diesem Mitgliedstaat nur deshalb nicht nach den nationalen Sozialversicherungsvorschriften dieses Mitgliedstaats pflichtversichert ist, weil er nicht in diesem, sondern in einem anderen Mitgliedstaat wohnt.

 

Unterschriften


( *1 )   Verfahrenssprache: Niederländisch.