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URTEIL DES GERICHTSHOFS (Dritte Kammer)

3. Mai 2012(*)

„Steuerwesen – Sechste Mehrwertsteuerrichtlinie – Art. 2 – Dienstleistungen gegen Entgelt – Telekommunikationsdienstleistungen – Im Voraus bezahlte Telefonkarten mit Informationen, die die Tätigung internationaler Anrufe ermöglichen – Vertrieb über ein Netz von Vertriebshändlern“

In der Rechtssache C-520/10

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom First-tier Tribunal (Tax Chamber) (Vereinigtes Königreich) mit Entscheidung vom 22. Oktober 2010, beim Gerichtshof eingegangen am 8. November 2010, in dem Verfahren

Lebara Ltd

gegen

Commissioners for Her Majesty’s Revenue and Customs

erlässt

DER GERICHTSHOF (Dritte Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten K. Lenaerts, des Richters J. Malenovský, der Richterin R. Silva de Lapuerta sowie der Richter G. Arestis und T. von Danwitz (Berichterstatter),

Generalanwalt: N. Jääskinen,

Kanzler: K. Sztranc-Sławiczek, Verwaltungsrätin,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 13. Oktober 2011,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

–        der Lebara Ltd, vertreten durch P. Lasok, QC, und M. Angiolini, Barrister, beauftragt durch S. Macherla, Solicitor,

–        der Regierung des Vereinigten Königreichs, vertreten durch S. Hathaway und L. Seeboruth als Bevollmächtigte im Beistand von R. Hill, Barrister,

–        der griechischen Regierung, vertreten durch K. Paraskevopoulou, M. Germani und I. Pouli als Bevollmächtigte,

–        der niederländischen Regierung, vertreten durch C. Wissels, M. de Ree, M. Bulterman und J. Langer als Bevollmächtigte,

–        der Europäischen Kommission, vertreten durch R. Lyal und C. Soulay als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 8. Dezember 2011

folgendes

Urteil

1        Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 2 Nr. 1 der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage (ABl. L 145, S. 1) in der durch die Richtlinie 2003/92/EG des Rates vom 7. Oktober 2003 (ABl. L 260, S. 8) geänderten Fassung (im Folgenden: Sechste Richtlinie).

2        Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Lebara Ltd (im Folgenden: Lebara) und den Commissioners for Her Majesty’s Revenue and Customs (im Folgenden: Commissioners) über einen von Letzteren erlassenen Steuerbescheid in Bezug auf Mehrwertsteuer, die Lebara wegen von ihr im März 2005 erbrachter Telekommunikationsdienstleistungen schulden soll.

 Rechtlicher Rahmen

3        Art. 2 Abs. 1 und 2 der Ersten Richtlinie 67/227/EWG des Rates vom 11. April 1967 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuer (ABl. 1967, Nr. 71, S. 1301, im Folgenden: Erste Richtlinie) lautet:

„Das gemeinsame Mehrwertsteuersystem beruht auf dem Grundsatz, dass auf Gegenstände und Dienstleistungen, ungeachtet der Zahl der Umsätze, die auf den vor der Besteuerungsstufe liegenden Produktions- und Vertriebsstufen bewirkt wurden, eine allgemeine zum Preis der Gegenstände und Dienstleistungen genau proportionale Verbrauchsteuer anzuwenden ist.

Bei allen Umsätzen wird die Mehrwertsteuer, die nach dem auf den Gegenstand oder die Dienstleistung anwendbaren Steuersatz auf den Preis des Gegenstands oder der Dienstleistung errechnet wird, abzüglich des Mehrwertsteuerbetrags geschuldet, der die verschiedenen Kostenelemente unmittelbar belastet hat.“

4        Nach Art. 2 Nr. 1 der Sechsten Richtlinie unterliegen der Mehrwertsteuer „Lieferungen von Gegenständen und Dienstleistungen, die ein Steuerpflichtiger als solcher im Inland gegen Entgelt ausführt“.

5        Nach Art. 5 Abs. 1 der Sechsten Richtlinie gilt als „Lieferung eines Gegenstands“ die Übertragung der Befähigung, wie ein Eigentümer über einen körperlichen Gegenstand zu verfügen.

6        Art. 6 der Sechsten Richtlinie sieht vor:

„(1)      Als Dienstleistung gilt jede Leistung, die keine Lieferung eines Gegenstands im Sinne des Artikels 5 ist.

Diese Leistung kann unter anderem bestehen

–        in der Abtretung eines unkörperlichen Gegenstands, gleichgültig, ob in einer Urkunde verbrieft oder nicht;

(4)      Steuerpflichtige, die bei der Erbringung von Dienstleistungen im eigenen Namen, aber für Rechnung Dritter tätig werden, werden so behandelt, als ob sie diese Dienstleistungen selbst erhalten und erbracht hätten.

…“

7        Art. 9 in Titel VI („Ort des steuerbaren Umsatzes“) der Sechsten Richtlinie bestimmt:

„(1)      Als Ort einer Dienstleistung gilt der Ort, an dem der Dienstleistende den Sitz seiner wirtschaftlichen Tätigkeit oder eine feste Niederlassung hat, von wo aus die Dienstleistung erbracht wird, oder in Ermangelung eines solchen Sitzes oder einer solchen festen Niederlassung sein Wohnort oder sein üblicher Aufenthaltsort.

(2)      Es gilt jedoch

e)      als Ort der folgenden Dienstleistungen, die an … innerhalb der Gemeinschaft, jedoch außerhalb des Landes des Dienstleistenden ansässige Steuerpflichtige erbracht werden, der Ort, an dem der Empfänger den Sitz seiner wirtschaftlichen Tätigkeit oder eine feste Niederlassung hat, für welche die Dienstleistung erbracht worden ist, oder in Ermangelung eines solchen Sitzes oder einer solchen Niederlassung sein Wohnort oder sein üblicher Aufenthaltsort:

–        Telekommunikationsdienstleistungen. Als Telekommunikationsdienstleistungen gelten solche Dienstleistungen, mit denen die Übertragung, die Ausstrahlung oder der Empfang von Signalen, Schrift, Bild und Ton oder Informationen jeglicher Art über Draht, Funk, optische oder sonstige elektromagnetische Medien ermöglicht werden, einschließlich der damit im Zusammenhang stehenden Abtretung oder Einräumung von Nutzungsrechten an Einrichtungen zur Übertragung, Ausstrahlung oder zum Empfang. Zu den Telekommunikationsdienstleistungen im Sinne dieser Vorschrift gehört auch die Bereitstellung des Zugangs zu globalen Informationsnetzen,

…“

8        Art. 10 Abs. 1 und 2 in Titel VII („Steuertatbestand und Steueranspruch“) der Sechsten Richtlinie lautet:

„Im Sinne dieser Richtlinie gilt als

a)      Steuertatbestand: der Tatbestand, durch den die gesetzlichen Voraussetzungen für den Steueranspruch verwirklicht werden;

b)      Steueranspruch: der Anspruch, den der Fiskus nach dem Gesetz gegenüber dem Steuerschuldner von einem bestimmten Zeitpunkt ab auf die Zahlung der Steuer geltend machen kann, selbst wenn Zahlungsaufschub gewährt werden kann.

(2)      Der Steuertatbestand und der Steueranspruch treten zu dem Zeitpunkt ein, zu dem die Lieferung des Gegenstands oder die Dienstleistung bewirkt wird. …

Werden jedoch Anzahlungen geleistet, bevor die Lieferung von Gegenständen oder die Dienstleistung bewirkt ist, so entsteht der Steueranspruch zum Zeitpunkt der Vereinnahmung entsprechend dem vereinnahmten Betrag.

…“

 Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

9        Lebara ist eine im Vereinigten Königreich ansässige Gesellschaft, die Telekommunikationsdienstleistungen erbringt. Im entscheidungserheblichen Zeitraum vertrieb sie zu diesem Zweck über in mehreren anderen Mitgliedstaaten ansässige Steuerpflichtige (im Folgenden: Vertriebshändler) Telefonkarten, deren Zielgruppe Personen in diesen Mitgliedstaaten waren, die kostengünstig Anrufe in Drittländer tätigen wollten.

10      Auf den von Lebara verkauften Telefonkarten befanden sich insbesondere ein Markenname, der Nennwert in der Währung des Mitgliedstaats, in dem der Vertriebshändler ansässig war, eine oder mehrere lokale Zugangsnummern, die dazu dienten, Anrufe zu tätigen, sowie ein verdeckter PIN-Code. Um einen Anruf zu tätigen, genügte es diese Informationen zu kennen, vor allem den PIN-Code.

11      Der einzig mögliche Verwendungszweck der Telefonkarten war die Tätigung von Anrufen. Die Gültigkeit der Karten war auf den darauf angegebenen Nennwert und einen bestimmten Zeitraum ab der erstmaligen Verwendung beschränkt. Nach Ablauf dieses Zeitraums wurde ein nicht in Anspruch genommenes Guthaben nicht erstattet.

12      Um einen Gesprächsteilnehmer in einem Drittland zu erreichen, wählte der Nutzer die auf der Karte angegebene lokale Zugangsnummer. Dieser Anruf wurde im Telekommunikationsnetz eines lokalen Telefonanbieters erfasst, mit dem Lebara zuvor eine Vereinbarung über die Bereitstellung einer oder mehrerer reservierter lokaler Nummern getroffen hatte, und an die Telefonzentrale weitergeleitet, die Lebara gehörte und von ihr im Vereinigten Königreich betrieben wurde. Anschließend forderte das automatische Anrufsystem von Lebara den Nutzer auf, den auf der Karte genannten PIN-Code einzugeben. Wenn das automatische Anrufsystem den PIN-Code autorisiert hatte, wählte der Nutzer die internationale Telefonnummer, die er anrufen wollte. Der Anruf wurde daraufhin von Anbietern internationaler Telefondienstleistungen, mit denen Lebara zuvor ebenfalls Vereinbarungen getroffen hatte, die ihr Zugang zum internationalen Telekommunikationsnetz dieser Anbieter verschafften, an sein Ziel weitergeleitet.

13      Lebara verkaufte den Verbrauchern die Telefonkarten nicht unmittelbar, sondern ausschließlich über ein Netz von Vertriebshändlern.

14      Nach den Angaben in der Vorlageentscheidung kauften die Vertriebshändler die Telefonkarten von Lebara zu einem vereinbarten Preis, der niedriger war als der Nennwert dieser Karten, und verkauften sie anschließend unter ihrem eigenen Namen, unter einem von ihnen gewählten Namen oder unter der Marke von Lebara weiter. Die Vertriebshändler handelten jedenfalls im eigenen Namen und für eigene Rechnung und nicht als Vertreter von Lebara. Die Telefonkarten wurden nahezu ausschließlich an Endnutzer im Mitgliedstaat des Vertriebshändlers verkauft, entweder unmittelbar durch diesen oder durch andere Steuerpflichtige wie in diesem Mitgliedstaat ansässige Groß- oder Einzelhändler, die zwischengeschaltet waren. Der von den Vertriebshändlern oder anderen zwischengeschalteten Personen verlangte Wiederverkaufspreis war Lebara nicht bekannt und wurde von ihr nicht kontrolliert.

15      Die Telefonkarten wurden von Lebara auf Ersuchen des Vertriebshändlers freigeschaltet, wenn dieser sie bezahlt hatte. Lebara kannte zwar nicht die Identität des Endnutzers, verfügte aber über Systeme, die es ihr ermöglichten, die Verwendung jeder verkauften Karte zu verfolgen und insbesondere festzustellen, ob sie noch gültig war, wie viel Guthaben noch zur Verfügung stand, ausgehend von welchen Nummern die Anrufe mit der Karte getätigt worden waren und welche Nummern angerufen worden waren. Weder Vertriebshändler noch sonstige Personen hatten Zugriff auf diese Systeme.

16      Lebara entrichtete für den Verkauf von Telefonkarten an Vertriebshändler keine Mehrwertsteuer, was sie damit begründete, dass es sich bei diesem Vorgang um eine Telekommunikationsdienstleistung handle, deren Ort sich in dem Mitgliedstaat befinde, in dem der Vertriebshändler ansässig sei, der daher nach dem Mechanismus der Verlagerung der Steuerschuld die Mehrwertsteuer in diesem Mitgliedstaat zu entrichten habe. Nach Ansicht von Lebara bedeutet die tatsächliche Verwendung der Karte nicht, dass sie dem Endnutzer eine entgeltliche Dienstleistung erbringe.

17      Die Commissioners vertraten hingegen die Auffassung, dass Lebara im Vereinigten Königreich Mehrwertsteuer entrichten müsse, weil sie in Wirklichkeit zwei Dienstleistungen erbringe, zum einen die „Ausgabe“, die zum Zeitpunkt des Verkaufs der Telefonkarte an den Vertriebshändler erfolge, und zum anderen die „Einlösung“, die zum Zeitpunkt der tatsächlichen Verwendung der Telefonkarte durch den Endnutzer erfolge. Die Mitgliedstaaten könnten entweder die erste oder die zweite Leistung besteuern. Im Vereinigten Königreich werde die zweite Leistung besteuert. Steuerbemessungsgrundlage sei derjenige Teil des vom Vertriebshändler an Lebara gezahlten Betrags, der dem Verhältnis der tatsächlichen Verwendung der Karte durch ihren Endnutzer zum Nennwert der Karte entspreche.

18      Auf dieser Grundlage erließen die Commissioners einen Mehrwertsteuerbescheid in Bezug auf die von Lebara im März 2005 erbrachten Telekommunikationsdienstleistungen. Lebara erhob gegen diesen Bescheid Klage beim vorlegenden Gericht.

19      Dieses Gericht führt insbesondere aus, dass angesichts des Umstands, dass einige Mitgliedstaaten die Praxis der steuerlichen Behandlung derartiger Telefonkarten unterschiedlich handhabten, das Risiko einer Doppelbesteuerung oder einer Nichtbesteuerung von Einnahmen aus dem Vertrieb der Karten bestehe. Da das First-tier Tribunal (Tax Chamber) die Auffassung vertritt, dass die Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits von einer Auslegung des Unionsrechts abhänge, hat es das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

Unter Umständen wie denen des vorliegenden Falles:

1.      Ist, wenn ein Steuerpflichtiger (Händler A) Telefonkarten verkauft, die einen Anspruch auf den Erhalt von Telekommunikationsdienstleistungen von diesem verkörpern, Art. 2 Nr. 1 der Sechsten Mehrwertsteuerrichtlinie dahin auszulegen, dass Händler A für Zwecke der Mehrwertsteuer zwei Leistungen erbringt: eine zum Zeitpunkt des ursprünglichen Verkaufs der Telefonkarte durch Händler A an einen anderen Steuerpflichtigen (Händler B) und eine zum Zeitpunkt ihrer Einlösung (d. h. ihre Verwendung durch eine Person – den Endnutzer –, um Telefongespräche durchzuführen)?

2.      Falls dies zu bejahen ist, wie ist (in Übereinstimmung mit den Mehrwertsteuervorschriften der Union) in der Leistungskette Mehrwertsteuer zu erheben, wenn Händler A die Telefonkarte an Händler B verkauft, Händler B die Telefonkarte im Mitgliedstaat B weiterverkauft und sie schließlich vom Endnutzer im Mitgliedstaat B erworben wird und der Endnutzer dann die Telefonkarte zur Tätigung von Telefongesprächen verwendet?

 Zu den Vorlagefragen

20      Mit seiner ersten Frage zielt das vorlegende Gericht auf einen Telefonanbieter ab, der Telekommunikationsdienstleistungen anbietet, die darin bestehen, dass an einen Vertriebshändler Telefonkarten verkauft werden, die alle notwendigen Informationen zur Tätigung internationaler Anrufe über die von diesem Anbieter zur Verfügung gestellte Infrastruktur enthalten und die vom Vertriebshändler im eigenen Namen und für eigene Rechnung entweder unmittelbar oder über andere Steuerpflichtige wie Groß- und Einzelhändler an Endnutzer weiterverkauft werden. Das Gericht möchte wissen, ob Art. 2 Nr. 1 der Sechsten Richtlinie dahin auszulegen ist, dass ein solcher Telefonanbieter zwei entgeltliche Leistungen erbringt, eine an den Vertriebshändler zu dem Zeitpunkt, zu dem ihm die Telefonkarte verkauft wird, und eine an den Endnutzer, wenn dieser mit Hilfe der Informationen auf der Karte Anrufe tätigt.

21      In den beim Gerichtshof eingereichten Erklärungen werden hierzu im Wesentlichen drei verschiedene Standpunkte vorgetragen. Nach den ersten beiden Standpunkten erbringt der Telefonanbieter eine einzige steuerbare Telekommunikationsdienstleistung entweder an den Vertriebshändler, wenn er diesem die Telefonkarte verkauft, oder an den Endnutzer, wenn er diesem die tatsächliche Verwendung der Karte zur Tätigung von Anrufen ermöglicht. Nach dem dritten Standpunkt erbringt der Anbieter zwei getrennte Leistungen, und der Mitgliedstaat kann wählen, auf welche er Mehrwertsteuer erhebt.

22      Zur Beantwortung der ersten Frage ist auf die Ziele und die Hauptregeln des gemeinsamen Mehrwertsteuersystems sowie auf die Besonderheiten des im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Vertriebssystems hinzuweisen.

23      Das gemeinsame Mehrwertsteuersystem beruht gemäß Art. 2 der Ersten Richtlinie auf dem Grundsatz, dass auf Gegenstände und Dienstleistungen, ungeachtet der Zahl der Umsätze, die auf den vor der Besteuerungsstufe liegenden Produktions- und Vertriebsstufen bewirkt wurden, eine allgemeine, zum Preis der Gegenstände und Dienstleistungen genau proportionale Verbrauchsteuer anzuwenden ist (vgl. u. a. Urteile vom 3. Oktober 2006, Banca popolare di Cremona, C-475/03, Slg. 2006, I-9373, Randnr. 21, und vom 28. Oktober 2010, Kommission/Polen, C-49/09, Slg. 2010, I-10619, Randnr. 44).

24      Jedoch wird bei allen Umsätzen die Mehrwertsteuer nur abzüglich des Mehrwertsteuerbetrags geschuldet, der die verschiedenen Kostenelemente unmittelbar belastet hat. Der Mechanismus des Vorsteuerabzugs ist so ausgestaltet, dass die Steuerpflichtigen befugt sind, von der von ihnen geschuldeten Mehrwertsteuer die Mehrwertsteuer abzuziehen, mit der die Gegenstände oder Dienstleistungen auf der Vorstufe belastet worden sind, und dass diese Steuer auf jeder Stufe nur den Mehrwert besteuert und letztlich vom Endverbraucher getragen wird (vgl. Urteile Banca popolare di Cremona, Randnr. 22, und Kommission/Polen, Randnr. 44).

25      Daraus folgt, dass die Mehrwertsteuer nur den Endverbraucher belasten soll und für die Steuerpflichtigen, die auf den Produktions- und Vertriebsstufen vor dem Stadium der endgültigen Besteuerung tätig sind, unabhängig von der Zahl der Umsätze völlig neutral sein soll (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 15. Oktober 2002, Kommission/Deutschland, C-427/98, Slg. 2002, I-8315, Randnr. 29).

26      Des Weiteren ergibt sich aus Art. 2 Nr. 1 der Sechsten Richtlinie, dass es die Lieferungen von Gegenständen und die Dienstleistungen sind, die der Mehrwertsteuer unterliegen, nicht aber die als Gegenleistung erbrachten Zahlungen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 9. Oktober 2001, Cantor Fitzgerald International, C-108/99, Slg. 2001, I-7257, Randnr. 17, sowie vom 21. Februar 2006, BUPA Hospitals und Goldsborough Developments, C-419/02, Slg. 2006, I-1685, Randnr. 50). Nach Art. 10 Abs. 2 Unterabs. 2 der Sechsten Richtlinie kann jedoch im Fall von Anzahlungen der Mehrwertsteueranspruch entstehen, ohne dass die Lieferung oder die Dienstleistung bereits bewirkt ist, sofern alle maßgeblichen Elemente des Steuertatbestands, d. h. der künftigen Lieferung oder der künftigen Dienstleistung, bereits bekannt sind (vgl. Urteil BUPA Hospitals und Goldsborough Developments, Randnr. 48).

27      Schließlich wird nach ständiger Rechtsprechung eine Dienstleistung nur dann im Sinne von Art. 2 Nr. 1 der Sechsten Richtlinie „gegen Entgelt“ erbracht und ist somit ein steuerbarer Umsatz, wenn zwischen dem Leistenden und dem Leistungsempfänger ein Rechtsverhältnis besteht, in dessen Rahmen gegenseitige Leistungen ausgetauscht werden, wobei die vom Leistenden empfangene Vergütung den tatsächlichen Gegenwert für die dem Leistungsempfänger erbrachte Dienstleistung bildet. Somit muss zwischen der erbrachten Dienstleistung und dem empfangenen Gegenwert ein unmittelbarer Zusammenhang bestehen (vgl. u. a. Urteile vom 3. September 2009, RCI Europe, C-37/08, Slg. 2009, I-7533, Randnrn. 24 und 30, vom 29. Oktober 2009, Kommission/Finnland, C-246/08, Slg. 2009, I-10605, Randnrn. 44 und 45, sowie vom 27. Oktober 2011, GFKL Financial Services, C-93/10, Slg. 2011, I-10791, Randnrn. 18 und 19).

28      Was die Besonderheiten des im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Vertriebssystems angeht, ist zu beachten, dass die Telefonkarten einen einzigen Verwendungszweck haben, da sie lediglich ermöglichen, internationale Anrufe zu im Voraus festgelegten Zielorten und Tarifen zu tätigen. Die Telefonkarten verleihen somit nur Anspruch auf einen einzigen Typ von Dienstleistungen, der nach Wesen und Menge im Voraus bestimmt ist und einem einzigen Steuersatz unterliegt.

29      Der Vertrieb der Telefonkarten erfolgt durch eine Vertriebskette, die zumindest einen Zwischenhändler – nämlich den Vertriebshändler – zwischen dem Telefonanbieter, der die notwendige Infrastruktur zur Tätigung internationaler Anrufe zur Verfügung stellt, und dem Endnutzer umfasst. Nach der Sachverhaltsdarstellung in der Vorlageentscheidung verkauft der betreffende Vertriebshändler die Telefonkarten im eigenen Namen und für eigene Rechnung weiter.

30      Außerdem entspricht der Preis, den der Endnutzer für den Erwerb einer Telefonkarte entweder unmittelbar beim Vertriebshändler oder bei einem zwischengeschalteten Einzelhändler zahlt, nicht zwangsläufig dem Nennwert der Karte. Schließlich kann der Telefonanbieter, der den von den Vertriebshändlern oder anderen zwischengeschalteten Personen verlangten Wiederverkaufspreis nicht kontrolliert, diesen Preis nicht kennen.

31      Da eine Dienstleistung nur dann ein steuerbarer Umsatz ist, wenn sie gegen Entgelt erbracht wird, was ein Gegenseitigkeitsverhältnis zwischen der erbrachten Dienstleistung und der ihren Gegenwert bildenden Vergütung voraussetzt (vgl. Randnr. 27 des vorliegenden Urteils), ist darauf hinzuweisen, dass der Telefonanbieter im Rahmen der Erbringung seiner Telekommunikationsdienstleistungen nur eine einzige tatsächliche Zahlung erhält.

32      Unter diesen Umständen kann nicht davon ausgegangen werden, dass der Telefonanbieter zwei entgeltliche Dienstleistungen im Sinne von Art. 6 Abs. 1 der Sechsten Richtlinie erbringt, eine an den Vertriebshändler und eine an den Endnutzer.

33      Um den Empfänger der einzigen von dem betreffenden Anbieter entgeltlich erbrachten Dienstleistung und damit die einzige steuerbare Leistung zu ermitteln, ist zu klären, wer – der Vertriebshändler oder der Endnutzer – mit dem Telefonanbieter durch ein Rechtsverhältnis verbunden ist, in dessen Rahmen gegenseitige Leistungen ausgetauscht werden.

34      Hierzu ist zum einen festzustellen, dass der Telefonanbieter dem Vertriebshändler durch den Verkauf der Telefonkarten alle notwendigen Informationen liefert, um über die von ihm zur Verfügung gestellte Infrastruktur internationale Telefongespräche von bestimmter Länge zu führen; damit überträgt er auf den Vertriebshändler das Recht, diese Infrastruktur für die Tätigung derartiger Anrufe zu nutzen. Folglich erbringt der Telefonanbieter eine Dienstleistung an den Vertriebshändler.

35      Diese Dienstleistung fällt unter den Begriff „Telekommunikationsdienstleistungen“ in Art. 9 Abs. 2 Buchst. e zehnter Gedankenstrich der Sechsten Richtlinie. Diese Bestimmung definiert den Begriff nämlich weit, indem sie nicht nur die Übertragung von Signalen und Ton als solche umfasst, sondern auch alle Dienstleistungen, mit denen eine solche Übertragung „ermöglicht“ wird, einschließlich der damit im Zusammenhang stehenden Abtretung von Nutzungsrechten an Einrichtungen zur Übertragung.

36      Zum anderen zahlt der Vertriebshändler dem Telefonanbieter als Gegenleistung für die genannte Telekommunikationsdienstleistung den mit diesem vereinbarten Preis.

37      Diese Zahlung kann nicht als tatsächliche Zahlung des Endnutzers an den Telefonanbieter angesehen werden, auch wenn der Weiterverkauf der Telefonkarte durch den Vertriebshändler und gegebenenfalls andere Zwischenhändler dazu führt, dass die Zahlungslast letztlich auf diesen Endnutzer abgewälzt wird.

38      Der Vertriebshändler verkauft die Telefonkarten nämlich im eigenen Namen und für eigene Rechnung weiter und zieht außerdem zumindest für einen Teil dieser Wiederverkäufe andere Zwischenhändler wie Groß- und Einzelhändler heran. Darüber hinaus entspricht der Betrag, den der Endnutzer dem Vertriebshändler oder einem zwischengeschalteten Einzelhändler beim Erwerb der Telefonkarte tatsächlich zahlt, nicht zwangsläufig dem vom Vertriebshändler an den Telefonanbieter gezahlten Preis oder dem Nennwert der Karte, und der Telefonanbieter kann diesen Betrag nicht kennen. Im Übrigen ist die Identität des Endnutzers einer Telefonkarte zum Zeitpunkt der Zahlung des Vertriebshändlers an den Telefonanbieter nicht notwendigerweise bekannt, zumal wenn die Karte von einem anderen Zwischenhändler weiterverkauft werden soll.

39      Angesichts dieser Umstände kann nicht davon ausgegangen werden, dass der Vertriebshändler mit seiner Zahlung an den Telefonanbieter lediglich eine Vergütung weiterleitet, die der Endnutzer an den Telefonanbieter zahlt, und auf diese Weise eine unmittelbare Beziehung zwischen den beiden herstellt.

40      Da der Endnutzer keinen Anspruch darauf hat, dass ein während der Gültigkeitsdauer nicht in Anspruch genommenes Gutachten auf Kosten des Telefonanbieters erstattet wird, kann eine unmittelbare Beziehung zwischen diesem Nutzer und dem Telefonanbieter auch nicht auf der Grundlage eines solchen Anspruchs festgestellt werden.

41      Demnach erfolgt zwischen dem Telefonanbieter und dem Vertriebshändler beim ursprünglichen Verkauf der Telefonkarten an Letzteren ein Austausch gegenseitiger Leistungen im Sinne der in Randnr. 27 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung.

42      Auf diese Weise ist die Beachtung von Art. 2 Abs. 1 der Ersten Richtlinie und des Grundsatzes der steuerlichen Neutralität bei einer Kette für den Vertrieb von Telekommunikationsdienstleistungen, wie sie im Ausgangsverfahren in Rede steht, insbesondere auch dann gewährleistet, wenn der Vertriebshändler die Karten nicht unmittelbar an den Endnutzer weiterverkauft. Sowohl der ursprüngliche Verkauf einer Telefonkarte als auch ihr anschließender Weiterverkauf sind nämlich steuerbare Umsätze. In jedem Glied der Kette ist die Mehrwertsteuer genau proportional zum gezahlten Preis und lässt den Abzug der Vorsteuer zu. Insbesondere ist beim letzten Verkauf einer Telefonkarte an den Endnutzer die Mehrwertsteuer genau proportional zu dem von diesem für den Erwerb der Karte gezahlten Preis, selbst wenn dieser Preis nicht dem Nennwert der Karte entspricht.

43      Folglich ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 2 Nr. 1 der Sechsten Richtlinie dahin auszulegen ist, dass ein Telefonanbieter, der Telekommunikationsdienstleistungen anbietet, die darin bestehen, dass an einen Vertriebshändler Telefonkarten verkauft werden, die alle notwendigen Informationen zur Tätigung internationaler Anrufe über die von diesem Anbieter zur Verfügung gestellte Infrastruktur enthalten und die vom Vertriebshändler im eigenen Namen und für eigene Rechnung entweder unmittelbar oder über andere Steuerpflichtige wie Groß- und Einzelhändler an Endnutzer weiterverkauft werden, eine entgeltliche Telekommunikationsdienstleistung an den Vertriebshändler erbringt. Dagegen erbringt der betreffende Anbieter keine zweite entgeltliche Dienstleistung an den Endnutzer, wenn dieser, nachdem er die Telefonkarte erworben hat, von dem Recht Gebrauch macht, mit Hilfe der Informationen auf der Karte Anrufe zu tätigen.

44      Angesichts der Antwort auf die erste Frage ist die zweite Frage nicht zu beantworten.

 Kosten

45      Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Dritte Kammer) für Recht erkannt:

Art. 2 Nr. 1 der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage in der durch die Richtlinie 2003/92/EG des Rates vom 7. Oktober 2003 geänderten Fassung ist dahin auszulegen, dass ein Telefonanbieter, der Telekommunikationsdienstleistungen anbietet, die darin bestehen, dass an einen Vertriebshändler Telefonkarten verkauft werden, die alle notwendigen Informationen zur Tätigung internationaler Anrufe über die von diesem Anbieter zur Verfügung gestellte Infrastruktur enthalten und die vom Vertriebshändler im eigenen Namen und für eigene Rechnung entweder unmittelbar oder über andere Steuerpflichtige wie Groß- und Einzelhändler an Endnutzer weiterverkauft werden, eine entgeltliche Telekommunikationsdienstleistung an den Vertriebshändler erbringt. Dagegen erbringt der betreffende Anbieter keine zweite entgeltliche Dienstleistung an den Endnutzer, wenn dieser, nachdem er die Telefonkarte erworben hat, von dem Recht Gebrauch macht, mit Hilfe der Informationen auf der Karte Anrufe zu tätigen.

Unterschriften


* Verfahrenssprache: Englisch.