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URTEIL DES GERICHTSHOFS (Erste Kammer)

21. Februar 2013(*)

„Direktversicherung (Lebensversicherung) – Jährliche Steuer auf Versicherungsverträge – Richtlinie 2002/83/EG – Art. 1 Abs. 1 Buchst. g und Art. 50 – Begriff des Mitgliedstaats der Verpflichtung – In den Niederlanden niedergelassenes Versicherungsunternehmen – Versicherungsnehmer, der in den Niederlanden einen Versicherungsvertrag abgeschlossen und nach Vertragsschluss seinen gewöhnlichen Aufenthalt nach Belgien verlegt hat – Freier Dienstleistungsverkehr“

In der Rechtssache C-243/11

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht von der Rechtbank van eerste aanleg te Brussel (Belgien) mit Entscheidung vom 6. Mai 2011, beim Gerichtshof eingegangen am 20. Mai 2011, in dem Verfahren

RVS Levensverzekeringen NV      

gegen

Belgische Staat

erlässt

DER GERICHTSHOF (Erste Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten A. Tizzano sowie der Richter A. Borg Barthet, M. Ilešič, E. Levits (Berichterstatter) und J.-J. Kasel,

Generalanwältin: J. Kokott,

Kanzler: M. Ferreira, Hauptverwaltungsrätin,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 14. Juni 2012,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

–        der RVS Levensverzekeringen NV, vertreten durch S. Lodewijckx und A. Claes, advocaten,

–        der belgischen Regierung, vertreten durch M. Jacobs und J. C. Halleux als Bevollmächtigte,

–        der estnischen Regierung, vertreten durch M. Linntam als Bevollmächtigte,

–        der österreichischen Regierung, vertreten durch C. Pesendorfer als Bevollmächtigte,

–        der Europäischen Kommission, vertreten durch N. Yerrell, K.-P. Wojcik und F. Wilman als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge der Generalanwältin in der Sitzung vom 6. September 2012

folgendes

Urteil

1        Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Art. 1 Abs. 1 Buchst. g und 50 der Richtlinie 2002/83/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. November 2002 über Lebensversicherungen (ABl. L 345, S. 1) sowie der Art. 49 AEUV und 56 AEUV.

2        Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der RVS Levensverzekeringen NV (im Folgenden: RVS) und dem belgischen Staat über die Entrichtung der jährlichen Steuer auf Lebensversicherungsverträge.

 Rechtlicher Rahmen

 Unionsrecht

3        Die Richtlinie 2002/83 wurde mit Wirkung vom 1. November 2012 durch die Richtlinie 2009/138/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. November 2009 betreffend die Aufnahme und Ausübung der Versicherungs- und Rückversicherungstätigkeit (Solvabilität II) (ABl. L 335, S. 1) aufgehoben. Im Ausgangsrechtsstreit findet jedoch weiterhin die Richtlinie 2002/83 Anwendung.

4        Der dritte Erwägungsgrund der Richtlinie 2002/83 lautet:

„Der Binnenmarkt im Bereich der Direktversicherung (Lebensversicherung) muss unter dem doppelten Gesichtspunkt der Niederlassungsfreiheit und des freien Dienstleistungsverkehrs in den Mitgliedstaaten vollendet werden, um es den Versicherungsunternehmen mit Sitz in der Gemeinschaft zu erleichtern, innerhalb der Gemeinschaft Verpflichtungen einzugehen und es den Versicherungsnehmern zu ermöglichen, sich nicht nur bei in ihrem Land niedergelassenen Versicherungsunternehmen, sondern auch bei solchen zu versichern, die ihren Geschäftssitz in der Gemeinschaft haben und in anderen Mitgliedstaaten niedergelassen sind.“

5        Im 13. Erwägungsgrund dieser Richtlinie heißt es:

„Aus praktischen Gründen ist es angezeigt, den Dienstleistungsverkehr unter Berücksichtigung einerseits der Niederlassung des Versicherungsunternehmens und andererseits des Ortes, in dem die Verpflichtung eingegangen wird, zu definieren. Deshalb muss auch die Verpflichtung definiert werden. …“

6        Der 55. Erwägungsgrund der Richtlinie 2002/83 lautet:

„In einigen Mitgliedstaaten werden Versicherungsverträge keiner indirekten Steuer unterworfen, während die Mehrheit der Mitgliedstaaten auf Versicherungsverträge besondere Steuern oder andere Abgaben erhebt. Zwischen den Mitgliedstaaten, die diese Steuern und Abgaben erheben, bestehen erhebliche Unterschiede hinsichtlich der Gestaltung und der Sätze der Steuern und Abgaben. Diese Unterschiede dürfen nicht zu Wettbewerbsverzerrungen beim Angebot von Versicherungen zwischen den Mitgliedstaaten führen. Vorbehaltlich einer weiter gehenden Harmonisierung kann dem dadurch begegnet werden, dass man das Steuersystem und andere Abgabensysteme des Mitgliedstaats anwendet, in dem die Verpflichtung eingegangen wird. Es obliegt den Mitgliedstaaten, die Modalitäten festzulegen, nach denen die Erhebung dieser Steuern und Abgaben sichergestellt werden kann.“

7        Art. 1 Abs. 1 dieser Richtlinie bestimmt:

„Im Sinne dieser Richtlinie bedeutet:

d)      Verpflichtung: die Verpflichtung, die in einer der in Artikel 2 genannten Formen von Versicherungen oder Geschäften konkret zum Ausdruck kommt;

g)      Mitgliedstaat der Verpflichtung: der Mitgliedstaat, in dem der Versicherungsnehmer seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat, oder, wenn der Versicherungsnehmer eine juristische Person ist, der Mitgliedstaat, in dem sich die Niederlassung dieser juristischen Person befindet, auf die sich der Vertrag bezieht;

h)      Mitgliedstaat der Dienstleistung: der Mitgliedstaat der Verpflichtung, wenn die Verpflichtung von einem Versicherungsunternehmen oder von einer Zweigniederlassung mit Sitz in einem anderen Mitgliedstaat eingegangen wird;

…“

8        In Art. 32 der Richtlinie heißt es:

„(1)      Das Recht, das auf die Verträge über die in der vorliegenden Richtlinie genannten Tätigkeiten anwendbar ist, ist das Recht des Mitgliedstaats der Verpflichtung. Jedoch können die Parteien, sofern dies nach dem Recht dieses Mitgliedstaats zulässig ist, das Recht eines anderen Staates wählen.

(2)      Handelt es sich bei dem Versicherungsnehmer um eine natürliche Person und hat er seinen gewöhnlichen Aufenthaltsort in einem anderen Mitgliedstaat als dem, dessen Staatsangehöriger er ist, so können die Parteien das Recht des Mitgliedstaats wählen, dessen Staatsangehöriger er ist.

…“

9        Art. 36 („Angaben für den Versicherungsnehmer“) der Richtlinie 2002/83 sieht vor:

„(1)      Vor Abschluss des Versicherungsvertrags sind dem Versicherungsnehmer mindestens die in Anhang III Buchstabe A aufgeführten Angaben mitzuteilen.

(2)      Der Versicherungsnehmer muss während der gesamten Vertragsdauer über alle Änderungen der in Anhang III Buchstabe B aufgeführten Angaben auf dem Laufenden gehalten werden.

…“

10      Art. 41 („Dienstleistungsfreiheit: Vorherige Unterrichtung des Herkunftsmitgliedstaates“) dieser Richtlinie lautet:

„Jedes Versicherungsunternehmen, das zum ersten Mal in einem oder mehreren Mitgliedstaaten Tätigkeiten im Rahmen der Dienstleistungsfreiheit ausüben will, ist gehalten, vorher die zuständigen Behörden des Herkunftsmitgliedstaats davon zu unterrichten und dabei die Art der Risiken, die es decken will, anzugeben.“

11      Art. 50 („Besteuerung von Prämien“) in Titel IV („Freie Niederlassung und freier Dienstleistungsverkehr“) der Richtlinie 2002/83 sieht vor:

„(1)      Unbeschadet einer späteren Harmonisierung unterliegen alle Versicherungsverträge ausschließlich den indirekten Steuern und steuerähnlichen Abgaben, die in dem Mitgliedstaat der Verpflichtung auf Versicherungsprämien erhoben werden …

(2)      Die geltende Steuerregelung wird durch das auf den Versicherungsvertrag nach Artikel 32 anwendbare Recht nicht berührt.

(3)      Jeder Mitgliedstaat wendet vorbehaltlich einer späteren Harmonisierung auf die Versicherungsunternehmen, die Verpflichtungen in seinem Hoheitsgebiet eingehen, seine einzelstaatlichen Bestimmungen an, mit denen die Erhebung der indirekten Steuern und steuerähnlichen Abgaben, die nach Absatz 1 fällig sind, sichergestellt werden soll.“

 Belgisches Recht

12      Art. 173 des Wetboek diverse rechten en taksen (Gesetzbuch der verschiedenen Gebühren und Steuern, im Folgenden: WDRT) bestimmt:

„Auf Versicherungsverträge wird eine jährliche Steuer erhoben, wenn das versicherte Risiko in Belgien belegen ist.

Das Risiko des Versicherungsvertrags gilt als in Belgien belegen, wenn der Versicherungsnehmer dort seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat, oder, sofern der Versicherungsnehmer eine juristische Person ist, wenn sich die Niederlassung dieser juristischen Person, auf die sich der Vertrag bezieht, in Belgien befindet.

Unter Niederlassung im Sinne von Absatz 2 ist die Hauptniederlassung der juristischen Person und jede andere ständige Präsenz dieser juristischen Person unabhängig von ihrer Form zu verstehen.“

13      Art. 175/3 WDRT lautet:

„Für Verträge über Lebensversicherungen, auch wenn diese fondsgebunden sind, und für Vereinbarungen von Leibrenten oder befristeten Renten, sofern diese von einer natürlichen Person geschlossen werden, ermäßigt sich die Steuer auf 1,10 %.

Der Begriff ‚Lebensversicherung‘ bezeichnet eine Personenversicherung, bei der ein Festbetrag ausgezahlt wird und der Eintritt des Versicherungsfalls ausschließlich von der Lebensdauer abhängt.“

14      Nach Art. 176/1 WDRT wird die fällige Steuer anhand des Gesamtbetrags der Versicherungsprämien, der Beiträge des Versicherungsnehmers und des Arbeitgebers zuzüglich der Gebühren berechnet, die im Steuerjahr von den Versicherungsnehmern oder den Pflichtversicherten und ihren Arbeitgebern zu leisten oder zu tragen sind.

 Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

15      RVS ist ein niederländisches Versicherungsunternehmen, das in Belgien weder einen Hauptsitz noch eine Agentur, eine Zweigniederlassung, einen Vertreter oder einen Geschäftssitz hat. RVS schloss Lebensversicherungsverträge mit mehreren Personen, die zum Zeitpunkt des Abschlusses des Versicherungsvertrags in den Niederlanden wohnten, später aber nach Belgien zogen.

16      Zwischen RVS und der belgischen Steuerverwaltung besteht Streit über die Frage, ob die mit Wirkung vom 1. Januar 2006 eingeführte jährliche Steuer von 1,10 % auf Versicherungsgeschäfte, die von natürlichen Personen getätigt werden, auch für Lebensversicherungsverträge geschuldet wird, die bei einem in den Niederlanden ansässigen Versicherer abgeschlossen wurden, der keine Niederlassung in Belgien unterhält, wenn der Versicherungsnehmer zum Zeitpunkt des Abschlusses des Versicherungsvertrags in den Niederlanden wohnte, später aber nach Belgien zog.

17      Nach Rücksprache mit dem belgischen Staat reichte RVS am 29. Januar 2009 „unter Vorbehalt“ Erklärungen über die jährliche Steuer auf Versicherungsgeschäfte für die Steuerjahre 2006 und 2007 ein, in denen sie für das Jahr 2006 Versicherungsprämien in Höhe von 801 178 Euro und für das Jahr 2007 in Höhe von 702 636 Euro angab. Die daraufhin von der belgischen Steuerverwaltung festgesetzten Steuern in Höhe von 8 813 Euro für das Jahr 2006 und 7 729 Euro für das Jahr 2007 zahlte RVS, ebenfalls unter Vorbehalt, am 4. Februar 2009.

18      Da RVS der Ansicht war, dass sie diese Steuer nicht schulde, reichte sie am 16. Juni 2009 bei der Steuerverwaltung entsprechende Erstattungsanträge ein, die die Verwaltung mit Bescheid vom 1. September 2009 als unbegründet zurückwies.

19      Am 30. April 2010 erhob RVS gegen den Bescheid vom 1. September 2009 beim vorlegenden Gericht Klage.

20      Vor diesem Gericht streiten die Parteien des Ausgangsverfahrens über die Auslegung der Art. 1 Abs. 1 Buchst. g und 50 der Richtlinie 2002/83, insbesondere was die Frage betrifft, ob der gewöhnliche Aufenthaltsort des Versicherungsnehmers zum Zeitpunkt der Eingehung der Verbindlichkeit oder aber zum Zeitpunkt der Zahlung der Versicherungsprämie zu bestimmen ist.

21      Die Rechtbank van eerste aanleg te Brussel hat daher das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof die folgenden Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

1.      Steht Art. 50 der Richtlinie 2002/83 einer nationalen Regelung wie der in den Art. 173 und 175/3 WDRT entgegen, wonach Versicherungsverträge (einschließlich Lebensversicherungen) einer jährlichen Steuer unterliegen, wenn das Risiko in Belgien belegen ist, insbesondere wenn der Versicherungsnehmer seinen gewöhnlichen Aufenthalt in Belgien hat oder, falls der Versicherungsnehmer eine juristische Person ist, wenn sich die Niederlassung dieser juristischen Person, auf die sich der Vertrag bezieht, in Belgien befindet, ohne dass der Aufenthaltsort des Versicherungsnehmers im Zeitpunkt des Vertragsschlusses berücksichtigt wird?

2.      Stehen die sich aus den Art. 49 AEUV und 56 AEUV ergebenden gemeinschaftsrechtlichen Grundsätze über die Beseitigung von Hindernissen für den freien Personen- und Dienstleistungsverkehr zwischen den Mitgliedstaaten der Gemeinschaft einer nationalen Regelung wie der in den Art. 173 und 175/3 WDRT entgegen, wonach Versicherungsverträge (einschließlich Lebensversicherungen) einer jährlichen Steuer unterliegen, wenn das Risiko in Belgien belegen ist, insbesondere wenn der Versicherungsnehmer seinen gewöhnlichen Aufenthalt in Belgien hat oder, falls der Versicherungsnehmer eine juristische Person ist, wenn sich die Niederlassung dieser juristischen Person, auf die sich der Vertrag bezieht, in Belgien befindet, ohne dass der Aufenthaltsort des Versicherungsnehmers zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses berücksichtigt wird?

 Zu den Vorlagefragen

 Zur ersten Frage

22      Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 50 der Richtlinie 2002/83 dahin auszulegen ist, dass er es einem Mitgliedstaat verwehrt, eine indirekte Steuer auf Lebensversicherungsprämien zu erheben, die von natürlichen Personen, die ihren gewöhnlichen Aufenthalt in diesem Mitgliedstaat haben, als Versicherungsnehmer gezahlt werden, wenn die betreffenden Versicherungsverträge in einem anderen Mitgliedstaat abgeschlossen wurden, in dem diese Versicherungsnehmer zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses ihren gewöhnlichen Aufenthalt hatten.

23      Nach ständiger Rechtsprechung sind bei der Auslegung einer Unionsvorschrift nicht nur deren Wortlaut, sondern auch ihr Zusammenhang und die Ziele zu berücksichtigen, die mit der Regelung, zu der sie gehört, verfolgt werden (vgl. u. a. Urteile vom 17. November 1983, Merck, 292/82, Slg. 1983, 3781, Randnr. 12, vom 14. Juni 2001, Kvaerner, C-191/99, Slg. 2001, I-4447, Randnr. 30, vom 1. März 2007, Schouten, C-34/05, Slg. 2007, I-1687, Randnr. 25, und vom 19. Juli 2012, ebookers.com Deutschland, C-112/11, Randnr. 12).

24      Nach ihrem dritten Erwägungsgrund wurde die Richtlinie 2002/83 angesichts der Notwendigkeit erlassen, den Binnenmarkt im Bereich der Direktversicherung (Lebensversicherung) unter dem doppelten Gesichtspunkt der Niederlassungsfreiheit und des freien Dienstleistungsverkehrs in den Mitgliedstaaten zu vollenden, um es den Versicherungsunternehmen mit Sitz in der Union zu erleichtern, innerhalb der Union Verpflichtungen einzugehen und es den Versicherungsnehmern zu ermöglichen, sich nicht nur bei in ihrem Mitgliedstaat niedergelassenen Versicherungsunternehmen, sondern auch bei solchen zu versichern, die ihren Geschäftssitz in der Union haben und in anderen Mitgliedstaaten niedergelassen sind.

25      Da die indirekte Besteuerung von Lebensversicherungsverträgen, wie auch im 55. Erwägungsgrund der Richtlinie 2002/83 festgestellt, auf Unionsebene bisher nicht harmonisiert worden ist, werden Versicherungsverträge in einigen Mitgliedstaaten keiner indirekten Steuer unterworfen, während andere Mitgliedstaaten auf Versicherungsverträge besondere Steuern oder andere Abgaben erheben, deren Gestaltung und Sätze sich erheblich voneinander unterscheiden.

26      Aus diesem Erwägungsgrund geht auch hervor, dass der Unionsgesetzgeber mit dem Erlass der Richtlinie 2002/83 vermeiden wollte, dass bestehende Unterschiede zu Wettbewerbsverzerrungen beim Angebot von Versicherungen zwischen den Mitgliedstaaten führen, und er vorbehaltlich einer weiter gehenden Harmonisierung der Ansicht war, dass dem dadurch begegnet werden könne, dass man das Steuersystem und andere Abgabensysteme des Mitgliedstaats anwendet, in dem die Verpflichtung eingegangen wird.

27      Daher sieht Art. 50 der Richtlinie 2002/83, der sich in deren Titel IV über die freie Niederlassung und den freien Dienstleistungsverkehr findet, in Abs. 1 vor, dass alle Versicherungsverträge unbeschadet einer späteren Harmonisierung ausschließlich den indirekten Steuern und steuerähnlichen Abgaben unterliegen, die in dem Mitgliedstaat der Verpflichtung auf Versicherungsprämien erhoben werden. Der Mitgliedstaat der Verpflichtung ist in Art. 1 Abs. 1 Buchst. g dieser Richtlinie als der Mitgliedstaat definiert, in dem der Versicherungsnehmer seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat, wenn es sich bei dem Versicherungsnehmer um eine natürliche Person handelt.

28      Hierzu machen RVS und die estnische Regierung im Wesentlichen geltend, Art. 50 Abs. 1 sei in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 Buchst. g der Richtlinie 2002/83 dahin auszulegen, dass Mitgliedstaat der Verpflichtung der Mitgliedstaat sei, in dem der Versicherungsnehmer zum Zeitpunkt des Abschlusses des Lebensversicherungsvertrags seinen gewöhnlichen Aufenthalt habe, und dass sich dieser Mitgliedstaat der Verpflichtung nicht ändere, wenn der Versicherungsnehmer unter Beibehaltung seines Versicherungsvertrags in einen anderen Mitgliedstaat umziehe. Sie vertreten damit insoweit eine Auslegung des Begriffs „Mitgliedstaat der Verpflichtung“, die sie als „statisch“ bezeichnen.

29      Die belgische und die österreichische Regierung sowie die Europäische Kommission sind hingegen der Ansicht, dass der Mitgliedstaat der Verpflichtung zum Zeitpunkt der Zahlung der zu besteuernden Versicherungsprämie zu bestimmen sei. Die genannten Regierungen und die Kommission befürworten eine Auslegung dieses Begriffs, die sie als „dynamisch“ bezeichnen.

30      Insoweit ist zunächst darauf hinzuweisen, dass Art. 1 Abs. 1 Buchst. g der Richtlinie 2002/83, der eine Definition des „Mitgliedstaats der Verpflichtung“ im Sinne dieser Richtlinie enthält, weder den Zeitpunkt festlegt, zu dem der gewöhnliche Aufenthalt des Versicherungsnehmers zu bestimmen ist, noch präzisiert, ob sich ein faktischer Wechsel des gewöhnlichen Aufenthalts des Versicherungsnehmers während der Laufzeit des Lebensversicherungsvertrags auf die Bestimmung des Mitgliedstaats der Verpflichtung auswirken kann.

31      Ebenso wenig sieht Art. 50 Abs. 1 der Richtlinie 2002/83 vor, dass der gewöhnliche Aufenthalt des Versicherungsnehmers zum Zeitpunkt des Abschlusses des Versicherungsvertrags zu berücksichtigen ist, und er legt auch keinen anderen Stichtag für die Bestimmung desjenigen Mitgliedstaats fest, der den Versicherungsvertrag trotz eines etwaigen während seiner Laufzeit erfolgten Wechsels des gewöhnlichen Aufenthalts des Versicherungsnehmers über die gesamte Vertragslaufzeit mit indirekten Steuern und steuerähnlichen Abgaben belegen darf.

32      Dem Wortlaut von Art. 50 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 Buchst. g der Richtlinie 2002/83 lässt sich nämlich nur entnehmen, dass der gewöhnliche Aufenthalt des Versicherungsnehmers das Kriterium darstellt, anhand dessen der Mitgliedstaat zu bestimmen ist, der den Versicherungsvertrag mit indirekten Steuern und steuerähnlichen Abgaben belegen darf, die auf die Versicherungsprämien erhoben werden.

33      Der gewöhnliche Aufenthalt des Versicherungsnehmers ist jedoch, wie die Kommission zu Recht hervorhebt, naturgemäß ein Kriterium, das sich – insbesondere während der Laufzeit eines langfristigen Vertrags wie eines Lebensversicherungsvertrags – ändern kann.

34      Daher sprechen die Wahl dieses Kriteriums und die fehlende Bezugnahme auf den gewöhnlichen Aufenthalt des Versicherungsnehmers zum Zeitpunkt des Abschlusses des Versicherungsvertrags oder zu einem anderen Stichtag in Art. 50 Abs. 1 der Richtlinie 2002/83 für eine „dynamische“ Auslegung dieser Vorschrift.

35      Was sodann die allgemeine Systematik der Richtlinie 2002/83 betrifft, ist erstens festzustellen, dass die Prüfung von Art. 50 Abs. 3 dieser Richtlinie ergibt, dass der für die Besteuerung zuständige Mitgliedstaat seine einzelstaatlichen Bestimmungen anwendet, mit denen die Erhebung der betreffenden indirekten Steuern und steuerähnlichen Abgaben sichergestellt werden soll. Allerdings ermöglicht diese Vorschrift keine Entscheidung darüber, wie der zuständige Mitgliedstaat zu bestimmen ist.

36      Entgegen dem Vorbringen von RVS lässt der Gebrauch der Wendung „Versicherungsunternehmen, die Verpflichtungen in seinem Hoheitsgebiet eingehen“ zur Bezeichnung der Unternehmen, auf die der zuständige Mitgliedstaat die genannten Bestimmungen anwendet, in bestimmten Sprachfassungen dieser Vorschrift wie in der französischen und der niederländischen Sprachfassung nämlich nicht den Schluss zu, dass die Besteuerungsbefugnis zum Zeitpunkt des Abschlusses des Versicherungsvertrags festgelegt wird.

37      Abgesehen davon, dass die in den genannten Sprachfassungen verwendete Formulierung unterschiedlich ausgelegt werden kann, da sie, wie die Generalanwältin in Nr. 40 ihrer Schlussanträge ausgeführt hat, sowohl den Abschluss des Versicherungsvertrags als auch den Ort bezeichnen kann, an dem die Verpflichtungen bestehen, sprechen andere Sprachfassungen wie beispielsweise die englische gegen die von RVS geltend gemachte Lesart. Diese Sprachfassung, in der eindeutig Unternehmen bezeichnet sind, die in einem bestimmten Mitgliedstaat bestehende Verpflichtungen decken, enthält nämlich keinerlei Bezugnahme auf den Abschluss oder die Unterzeichnung des Versicherungsvertrags.

38      Zweitens ist zu dem von RVS und der estnischen Regierung angeführten Art. 32 Abs. 1 der Richtlinie 2002/83, wonach auf die Verträge über die in dieser Richtlinie genannten Tätigkeiten das Recht des Mitgliedstaats der Verpflichtung anwendbar ist, festzustellen, dass diese Vorschrift zwar tatsächlich dahin ausgelegt werden kann, dass sich das anwendbare Recht nicht ändert, wenn der Versicherungsnehmer seinen gewöhnlichen Aufenthalt wechselt, dies aber nicht bedeutet, dass eine solche Auslegung auch für Art. 50 Abs. 1 der Richtlinie gelten muss.

39      Zum einen ist, wie in Randnr. 30 des vorliegenden Urteils ausgeführt, in der Definition des „Mitgliedstaats der Verpflichtung“ in Art. 1 Abs. 1 Buchst. g der Richtlinie 2002/83 nicht angegeben, zu welchem maßgeblichen Zeitpunkt der gewöhnliche Aufenthalt des Versicherungsnehmers zu bestimmen ist. Folglich kann, wie die Generalanwältin in Nr. 43 ihrer Schlussanträge festgestellt hat, der Ausdruck „Mitgliedstaat der Verpflichtung“, da der relevante Zeitpunkt nicht Teil der Definition dieses Ausdrucks ist, je nach der Vorschrift, in der er verwendet wird, unterschiedlich definiert werden.

40      Zum anderen sieht Art. 50 Abs. 2 der Richtlinie 2002/83 vor, dass die geltende Steuerregelung durch das nach Art. 32 dieser Richtlinie anwendbare Recht nicht berührt wird, was, wie die Generalanwältin in Nr. 45 ihrer Schlussanträge ausgeführt hat, die Unabhängigkeit von anwendbarem Recht und geltender Steuerregelung belegt.

41      Drittens macht die estnische Regierung geltend, Art. 41 der Richtlinie 2002/83, der vorsieht, dass jedes Versicherungsunternehmen, das zum ersten Mal in einem oder mehreren Mitgliedstaaten Tätigkeiten im Rahmen der Dienstleistungsfreiheit ausüben will, gehalten ist, vorher die Aufsichtsbehörden des Herkunftsmitgliedstaats davon zu unterrichten und dabei die Art der Risiken und der Verpflichtungen, die es decken will, anzugeben, stehe der „dynamischen“ Auslegung des Begriffs des „Mitgliedstaats der Verpflichtung“ entgegen. Wenn nämlich für die Bestimmung des gewöhnlichen Aufenthalts des Versicherungsnehmers auf den Zeitpunkt der Zahlung der Versicherungsprämie abzustellen wäre, könnte der Fall auftreten, dass das Versicherungsunternehmen, ohne sich dessen bewusst zu sein und ohne die Aufsichtsbehörden informiert zu haben, seine Tätigkeit im Rahmen des freien Dienstleistungsverkehrs in einem anderen Mitgliedstaat als dem Herkunftsmitgliedstaat ausübt.

42      Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass bei einem Sachverhalt wie dem des Ausgangsverfahrens der Umstand, dass der gewöhnliche Aufenthaltsort des Versicherungsnehmers in einen anderen Mitgliedstaat verlegt wurde als den, in dem das Versicherungsunternehmen niedergelassen ist, mit dem der Lebensversicherungsvertrag geschlossen wurde, dazu führen kann, dass dieser Sachverhalt unabhängig von der auf den fraglichen Vertrag anwendbaren Steuerregelung unter die Vorschriften über den freien Dienstleistungsverkehr fällt. Um sich auf die den freien Dienstleistungsverkehr betreffenden Vorschriften des AEU-Vertrags berufen zu können, reicht es nämlich aus, dass die Dienstleistungen Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats in einem anderen Mitgliedstaat erbracht werden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 28. Oktober 1999, Vestergaard, C-55/98, Slg. 1999, I-7641, Randnr. 18).

43      Die Richtlinie 2002/83 bestimmt in Art. 1 Abs. 1 Buchst. h außerdem, dass der Mitgliedstaat der Dienstleistung als Mitgliedstaat der Verpflichtung definiert wird, wenn die Verpflichtung von einem Versicherungsunternehmen mit Sitz in einem anderen Mitgliedstaat eingegangen wird. Aus dem 13. Erwägungsgrund dieser Richtlinie geht hervor, dass der Dienstleistungsverkehr aus praktischen Gründen unter Berücksichtigung einerseits der Niederlassung des Versicherungsunternehmens und andererseits des Ortes, an dem die Verpflichtung eingegangen wird, definiert wird.

44      Die Antwort auf die Frage, inwieweit die Pflichten aus Art. 41 der Richtlinie 2002/83 für ein Versicherungsunternehmen gelten, das vertraglich an einen Versicherungsnehmer gebunden ist, dessen gewöhnlicher Aufenthalt sich aufgrund eines von ihm während der Vertragslaufzeit vollzogenen Ortswechsels in einem anderen Mitgliedstaat befindet als dem, in dem dieses Unternehmen niedergelassen ist, ergibt sich aus der Auslegung dieses Art. 41 in Verbindung mit den in der vorstehenden Randnummer angeführten Vorschriften, hat aber keine Auswirkung auf die Bestimmung des im Sinne von Art. 50 Abs. 1 der Richtlinie 2002/83 für eine Besteuerung zuständigen Mitgliedstaats.

45      Viertens ist festzustellen, dass der Umstand, dass der Versicherungsnehmer nach Anhang III Buchst. A der Richtlinie 2002/83, auf den in Art. 36 Abs. 1 dieser Richtlinie Bezug genommen wird, vor Abschluss des Versicherungsvertrags, nicht aber, wie sich aus Anhang III Buchst. B der Richtlinie 2002/83 ergibt, auf den in Art. 36 Abs. 2 dieser Richtlinie Bezug genommen wird, während der Laufzeit des Versicherungsvertrags über die auf die Policenart anwendbare Steuerregelung zu informieren ist, nicht bedeutet, dass Art. 50 Abs. 1 dieser Richtlinie 2002/83 nicht „dynamisch“ ausgelegt werden kann.

46      Es steht nämlich fest, dass ein Mitgliedstaat in Ermangelung einer Harmonisierung auf Unionsebene jederzeit eine indirekte Steuer auf Versicherungsverträge einführen oder aufheben bzw. deren Satz oder Bemessungsgrundlage ändern kann. Art. 36 Abs. 2 und Anhang III Buchst. B der Richtlinie 2002/83 sehen auch nicht vor, dass der Versicherungsnehmer bei einer solchen Änderung der Steuerregelung eines Staates unterrichtet werden müsste. Daher kann sich der Versicherungsnehmer auch dann, wenn man der „statischen“ Auslegung von Art. 50 Abs. 1 der Richtlinie folgt, in einer Situation befinden, in der sich die ursprünglich auf den Versicherungsvertrag anwendbare Steuerregelung wesentlich geändert hat, ohne dass das Versicherungsunternehmen verpflichtet wäre, ihm derartige Änderungen mitzuteilen.

47      Mithin ist festzustellen, dass der Wortlaut von Art. 50 Abs. 1 der Richtlinie 2002/83 und dessen Auslegung im Zusammenhang mit weiteren Vorschriften dieser Richtlinie sowohl die eine wie die andere Auslegung dieser Bestimmung zulassen und dass ihre Tragweite in erster Linie unter Berücksichtigung der mit ihr und mit dieser Richtlinie insgesamt verfolgten Ziele zu bestimmen ist.

48      Mit der Vorgabe, dass alle Versicherungsverträge ausschließlich den indirekten Steuern und steuerähnlichen Abgaben unterliegen, die in dem Mitgliedstaat der Verpflichtung auf Versicherungsprämien erhoben werden, soll Art. 50 Abs. 1 der Richtlinie 2002/83 die Zuständigkeit für die Besteuerung von Lebensversicherungsprämien einem einzigen Mitgliedstaat zuweisen, um Doppelbesteuerungen dieser Prämien zu beseitigen.

49      Zwar geht aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs hervor, dass eine solche Zuständigkeitszuweisung so weit wie möglich auf ein sachliches und objektives Kriterium gestützt sein muss (vgl. in diesem Sinne Urteil Kvaerner, Randnr. 52), doch weist nichts darauf hin, dass die anhand eines solchen Kriteriums zugewiesene Zuständigkeit über die gesamte Vertragslaufzeit unverändert bleiben müsste.

50      Das in der Richtlinie 2002/83 gewählte Kriterium bedeutet, dass die Zuständigkeit eines Mitgliedstaats zur Erhebung indirekter Steuern und steuerähnlicher Abgaben auf Versicherungsprämien davon abhängt, dass zwischen dem Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats und dem Versicherungsnehmer eine Verbindung besteht, die in dessen gewöhnlichem Aufenthalt besteht.

51      Eine „statische“ Auslegung von Art. 50 Abs. 1 der Richtlinie 2002/83 hätte zur Folge, dass eine Verbindung, die zum Zeitpunkt des Abschlusses des Versicherungsvertrags bestand, gegenüber einer aktuellen Verbindung, die zum Zeitpunkt der Zahlung der Versicherungsprämien besteht, privilegiert würde.

52      Bei indirekten Steuern, die auf Versicherungsprämien erhoben werden, besteht der die Besteuerung auslösende Tatbestand, wie RVS und die belgische Regierung aufgezeigt haben, jedoch nicht im Abschluss des Versicherungsvertrags, sondern in der Zahlung der Versicherungsprämien.

53      Daraus ergibt sich, dass für die Besteuerung der Versicherungsprämien der Mitgliedstaat zuständig sein sollte, zu dessen Hoheitsgebiet der Versicherungsnehmer zum Zeitpunkt der Zahlung der Prämien eine Verbindung in Form des gewöhnlichen Aufenthalts hat und dass der „dynamischen“ Auslegung von Art. 50 Abs. 1 der Richtlinie 2002/83 zu folgen ist.

54      Diese Feststellung wird nicht durch die Notwendigkeit in Frage gestellt, bei jeder Zahlung der Versicherungsprämie den gewöhnlichen Aufenthalt des Versicherungsnehmers zu ermitteln.

55      Auch bei der gegenteiligen Auslegung, wonach der gewöhnliche Aufenthalt des Versicherungsnehmers nur ein einziges Mal zum Zeitpunkt des Abschlusses des Versicherungsvertrags bestimmt wird, müsste nämlich nach jedem Wechsel des Mitgliedstaats des gewöhnlichen Aufenthalts des Versicherungsnehmers zum Zeitpunkt der Zahlung der Versicherungsprämie ermittelt werden, wo dieser zum Zeitpunkt des Abschlusses des Versicherungsvertrags seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte.

56      Wenn es sich um langfristige Verträge handelt, was bei Lebensversicherungsverträgen häufig der Fall ist, kann es sich allerdings als schwieriger erweisen, Nachweise zum gewöhnlichen Aufenthalt des Versicherungsnehmers zum Zeitpunkt des Abschlusses des Versicherungsvertrags beizubringen, als Nachweise zur gegenwärtigen Situation des Versicherungsnehmers vorzulegen.

57      Art. 50 Abs. 1 der Richtlinie 2002/83 ist auch unter Berücksichtigung seines Zwecks zu prüfen, der darin besteht, zu verhindern, dass die Unterschiede zwischen den in den verschiedenen Mitgliedstaaten geltenden Steuerregelungen zu Wettbewerbsverzerrungen beim Angebot von Versicherungen zwischen den Mitgliedstaaten führen.

58      Durch die Anknüpfung der Zuständigkeit für die Besteuerung von Versicherungsprämien an den gewöhnlichen Aufenthalt des Versicherungsnehmers soll die Richtlinie 2002/83 gewährleisten, dass das einem Versicherungsnehmer zugängliche Angebot an Lebensversicherungsverträgen unabhängig vom Mitgliedstaat der Niederlassung des Versicherungsunternehmens derselben Steuerregelung unterliegt, und dass folglich die Entscheidung für einen Erbringer von Lebensversicherungsdienstleistungen nicht von Überlegungen zur Besteuerung dieser Prämien beeinflusst wird. Die Versicherungsunternehmen werden somit nicht durch eine günstigere oder weniger günstige Besteuerung in ihrem Herkunftsmitgliedstaat bevorteilt oder benachteiligt und können gleichberechtigt am Wettbewerb mit den im Mitgliedstaat des gewöhnlichen Aufenthalts des Versicherungsnehmers niedergelassenen Versicherungsunternehmen teilnehmen.

59      Allein die „dynamische“ Auslegung von Art. 50 Abs. 1 der Richtlinie 2002/83 ermöglicht es, eine solche Gleichbehandlung zu gewährleisten und Wettbewerbsverzerrungen zu verhindern, indem sie sicherstellt, dass dieselbe Steuerregelung auf laufende und auf etwaige Neuverträge angewandt wird.

60      Wie die Generalanwältin in den Nrn. 67 und 70 ihrer Schlussanträge ausgeführt hat, besteht, wenn auch in geringerem Maße als zwischen den Angeboten neuer Versicherungsverträge, ein Wettbewerb zwischen laufenden Versicherungsverträgen und Versicherungsverträgen, die der Versicherungsnehmer bei einem Wechsel des Versicherungsunternehmens mit einem Versicherungsunternehmen abschließen könnte. Die Möglichkeit, nach einem Wechsel des Mitgliedstaats des gewöhnlichen Aufenthalts den Vorteil der Regelung zu bewahren, die in dem Mitgliedstaat gilt, in dem der Versicherungsnehmer zum Zeitpunkt des Abschlusses des Versicherungsvertrags seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, und die vorteilhafter ist als die, die in dem Mitgliedstaat gilt, in dem er nunmehr seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat, kann den Versicherungsnehmer von einem Wechsel des Versicherungsunternehmens abhalten. Bei einer „dynamischen“ Auslegung von Art. 50 Abs. 1 der Richtlinie 2002/83 kommt es nicht zu einer solchen Abschreckung aus steuerlichen Überlegungen.

61      Somit lassen es die mit Art. 50 Abs. 1 der Richtlinie 2002/83 verfolgten Ziele zu, den Wechsel des gewöhnlichen Aufenthalts des Versicherungsnehmers zu berücksichtigen.

62      Zu prüfen ist noch, ob diese Auslegung mit dem allgemeinen Ziel der Richtlinie 2002/83 vereinbar ist. Wie in Randnr. 24 des vorliegenden Urteils ausgeführt, soll diese Richtlinie den Binnenmarkt im Bereich der Direktversicherung (Lebensversicherung) unter dem doppelten Gesichtspunkt der Niederlassungsfreiheit und des freien Dienstleistungsverkehrs in den Mitgliedstaaten vollenden, um es den Versicherungsunternehmen mit Sitz in der Union zu erleichtern, innerhalb der Union Verpflichtungen einzugehen, und es den Versicherungsnehmern zu ermöglichen, sich nicht nur bei in ihrem Mitgliedstaat niedergelassenen Versicherungsunternehmen, sondern auch bei solchen zu versichern, die ihren Geschäftssitz in der Union haben und in anderen Mitgliedstaaten niedergelassen sind.

63      Da sich die Frage, ob Art. 50 Abs. 1 der Richtlinie 2002/83 „statisch“ oder „dynamisch“ auszulegen ist, dann stellt, wenn der Mitgliedstaat des gewöhnlichen Aufenthalts des Versicherungsnehmers zum Zeitpunkt des Abschlusses des Versicherungsvertrags ein anderer ist als zum Zeitpunkt der Zahlung der Versicherungsprämie und sich das Versicherungsunternehmen in einem anderen Mitgliedstaat als dem des gewöhnlichen Aufenthalts des Versicherungsnehmers befindet oder zuvor befunden hat, ist die Auslegung dieser Vorschrift unter dem Gesichtspunkt des freien Dienstleistungsverkehrs zu prüfen.

64      Insoweit trifft es zwar zu, dass der Wechsel der für den Versicherungsvertrag geltenden Steuerregelung aufgrund des Umstands, dass der Versicherungsnehmer seinen gewöhnlichen Aufenthalt in einem anderen Mitgliedstaat begründet als dem, in dem das Versicherungsunternehmen niedergelassen ist, bei dem dieser Vertrag geschlossen wurde, eine zusätzliche Belastung für das Versicherungsunternehmen mit sich bringt, da dieses die verschiedenen steuerlichen Regelungen zur Kenntnis nehmen und anwenden muss, obwohl es sich möglicherweise nicht dafür entschieden hat, in diesem Mitgliedstaat Versicherungsleistungen zu erbringen.

65      Jedoch ist darauf hinzuweisen, dass, wie in Randnr. 46 des vorliegenden Urteils ausgeführt, ein Mitgliedstaat in Ermangelung einer Harmonisierung auf Unionsebene jederzeit eine indirekte Steuer auf Versicherungsverträge einführen oder aufheben bzw. deren Satz oder Bemessungsgrundlage ändern kann. Daher können sich die Versicherungsunternehmen auch dann, wenn man einer „statischen“ Auslegung von Art. 50 Abs. 1 der Richtlinie 2002/83 folgte, in einer Situation befinden, in der, ohne dass sich der für die Besteuerung der Versicherungsprämien zuständige Mitgliedstaat geändert hätte, neue steuerliche Regelungen für die von diesen Unternehmen vereinnahmten Versicherungsprämien gelten.

66      Zum Vorbringen von RVS und der estnischen Regierung hinsichtlich der zusätzlichen Kosten und der verwaltungstechnischen Schwierigkeiten, die aufgrund der Notwendigkeit entstünden, sich während der gesamten Laufzeit des Versicherungsvertrags über den Mitgliedstaat des gewöhnlichen Aufenthalts des Versicherungsnehmers und die in diesem Mitgliedstaat geltende Steuerregelung zu informieren, ist zum einen festzustellen, dass normalerweise vertraglich vorgesehen ist, jedenfalls aber vertraglich vereinbart werden kann, dass der Versicherungsnehmer seinen Versicherer über einen Umzug informiert. Zum anderen besteht die Pflicht, sich über das geltende Recht zu informieren, bei einer „statischen“ Auslegung von Art. 50 Abs. 1 der Richtlinie 2002/83 ebenso wie bei einer „dynamischen“ Auslegung dieser Vorschrift. Außerdem kann die „statische“ Auslegung der genannten Vorschrift in Fällen, in denen die Versicherungsleistung im Rahmen des freien Dienstleistungsverkehrs erbracht wird und in denen sowohl das Versicherungsunternehmen als auch der Versicherungsnehmer den Mitgliedstaat der Dienstleistung verlassen haben, ein Versicherungsunternehmen verpflichten, sich über die Steuerregelung eines Mitgliedstaats auf dem Laufenden zu halten, zu dem weder es selbst noch der Versicherungsnehmer weiterhin eine Verbindung haben.

67      Die von der estnischen Regierung angeführte Gefahr einer Kündigung des Versicherungsvertrags bei einem Umzug des Versicherungsnehmers in einen anderen Mitgliedstaat als den, in dem er zum Zeitpunkt des Abschlusses des Vertrags seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, resultiert – angenommen, eine solche Gefahr besteht – nicht unmittelbar aus der „dynamischen“ Auslegung von Art. 50 Abs. 1 der Richtlinie 2002/83, sondern vielmehr aus einer zukünftigen und hypothetischen Handlung des Versicherungsunternehmens und ist folglich als zu zufallsbedingt und mittelbar anzusehen, als dass sie die Auslegung dieser Vorschrift beeinflussen könnte.

68      Daher ist festzustellen, dass sich das Ziel der Vermeidung der Doppelbesteuerung und von Wettbewerbsverzerrungen mit der „dynamischen“ Auslegung von Art. 50 Abs. 1 der Richtlinie 2002/83 besser erreichen lässt und diese zugleich, insbesondere unter dem Gesichtspunkt des freien Dienstleistungsverkehrs, mit dem allgemeinen Ziel dieser Richtlinie, nämlich der Vollendung des Binnenmarkts im Bereich der Direktversicherungen (Lebensversicherungen), vereinbar ist.

69      Nach alledem ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 50 der Richtlinie 2002/83 dahin auszulegen ist, dass er es einem Mitgliedstaat nicht verwehrt, eine indirekte Steuer auf Lebensversicherungsprämien zu erheben, die von natürlichen Personen, die ihren gewöhnlichen Aufenthalt in diesem Mitgliedstaat haben, als Versicherungsnehmer gezahlt werden, wenn die betreffenden Versicherungsverträge in einem anderen Mitgliedstaat abgeschlossen wurden, in dem diese Versicherungsnehmer zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses ihren gewöhnlichen Aufenthalt hatten.

 Zur zweiten Frage

70      In Anbetracht der Antwort auf die erste Frage ist die zweite Frage nicht zu beantworten.

 Kosten

71      Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Erste Kammer) für Recht erkannt:

Art. 50 der Richtlinie 2002/83/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. November 2002 über Lebensversicherungen ist dahin auszulegen, dass er es einem Mitgliedstaat nicht verwehrt, eine indirekte Steuer auf Lebensversicherungsprämien zu erheben, die von natürlichen Personen, die ihren gewöhnlichen Aufenthalt in diesem Mitgliedstaat haben, als Versicherungsnehmer gezahlt werden, wenn die betreffenden Versicherungsverträge in einem anderen Mitgliedstaat abgeschlossen wurden, in dem diese Versicherungsnehmer zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses ihren gewöhnlichen Aufenthalt hatten.

Unterschriften


* Verfahrenssprache: Niederländisch.