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URTEIL DES GERICHTSHOFS (Zweite Kammer)

12. Juli 2012(*)

„Mehrwertsteuer – Richtlinie 2006/112/EG – Recht auf Vorsteuerabzug – Ausschlussfrist für die Ausübung des Rechts auf Vorsteuerabzug – Effektivitätsgrundsatz – Versagung des Rechts auf Vorsteuerabzug – Grundsatz der steuerlichen Neutralität“

In der Rechtssache C-284/11

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Varhoven administrativen sad (Bulgarien) mit Entscheidung vom 25. Mai 2011, beim Gerichtshof eingegangen am 8. Juni 2011, in dem Verfahren

EMS-Bulgaria Transport OOD

gegen

Direktor na Direktsia „Obzhalvane i upravlenie na izpalnenieto“ Plovdiv

erlässt

DER GERICHTSHOF (Zweite Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten J. N. Cunha Rodrigues (Berichterstatter) sowie der Richter U. Lõhmus, A. Ó Caoimh, A. Arabadjiev und C. G. Fernlund,

Generalanwalt: P. Mengozzi,

Kanzler: C. Strömholm, Verwaltungsrätin,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 21. März 2012,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

–        der EMS-Bulgaria Transport OOD, vertreten durch N. Nikolov, advokat,

–        des Direktor na Direktsia „Obzhalvane i upravlenie na izpalnenieto“ Plovdiv, vertreten durch E. Raycheva und G. Arnaudov als Bevollmächtigte,

–        der bulgarischen Regierung, vertreten durch T. Ivanov und E. Petranova als Bevollmächtigte,

–        der Europäischen Kommission, vertreten durch L. Lozano Palacios und D. Roussanov als Bevollmächtigte,

aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,

folgendes

Urteil

1        Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Art. 179, 180 und 273 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. L 347, S. 1, im Folgenden: Mehrwertsteuerrichtlinie) sowie der Grundsätze der Effektivität und der steuerlichen Neutralität.

2        Es ergeht im Rahmen einer Klage, die die EMS-Bulgaria Transport OOD (im Folgenden: EMS) gegen einen wegen Versagung des Vorsteuerabzugs erlassenen Steueränderungsbescheid erhoben hat.

 Rechtlicher Rahmen

 Unionsrecht

3        Art. 20 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie lautet:

„Als ‚innergemeinschaftlicher‘ Erwerb von Gegenständen gilt die Erlangung der Befähigung, wie ein Eigentümer über einen beweglichen körperlichen Gegenstand zu verfügen, der durch den Verkäufer oder durch den Erwerber oder für ihre Rechnung nach einem anderen Mitgliedstaat als dem, in dem sich der Gegenstand zum Zeitpunkt des Beginns der Versendung oder Beförderung befand, an den Erwerber versandt oder befördert wird.“

4        Art. 68 der Mehrwertsteuerrichtlinie lautet:

„Der Steuertatbestand tritt zu dem Zeitpunkt ein, zu dem der innergemeinschaftliche Erwerb von Gegenständen bewirkt wird.

Der innergemeinschaftliche Erwerb von Gegenständen gilt als zu dem Zeitpunkt bewirkt, zu dem die Lieferung gleichartiger Gegenstände innerhalb des Mitgliedstaats als bewirkt gilt.“

5        Art. 69 der Mehrwertsteuerrichtlinie lautet:

„(1)      Beim innergemeinschaftlichen Erwerb von Gegenständen tritt der Steueranspruch am 15. Tag des Monats ein, der auf den Monat folgt, in dem der Steuertatbestand eingetreten ist.

(2)      Abweichend von Absatz 1 tritt der Steueranspruch bei der Ausstellung der Rechnung gemäß Artikel 220 ein, wenn diese Rechnung vor dem 15. Tag des Monats ausgestellt worden ist, der auf den Monat folgt, in dem der Steuertatbestand eingetreten ist.“

6        Art. 167 der Mehrwertsteuerrichtlinie lautet:

„Das Recht auf Vorsteuerabzug entsteht, wenn der Anspruch auf die abziehbare Steuer entsteht.“

7        In Art. 168 der Mehrwertsteuerrichtlinie heißt es:

„Soweit die Gegenstände und Dienstleistungen für die Zwecke seiner besteuerten Umsätze verwendet werden, ist der Steuerpflichtige berechtigt, in dem Mitgliedstaat, in dem er diese Umsätze bewirkt, vom Betrag der von ihm geschuldeten Steuer folgende Beträge abzuziehen:

c)      die Mehrwertsteuer, die für den innergemeinschaftlichen Erwerb von Gegenständen gemäß Artikel 2 Absatz 1 Buchstabe b Ziffer i geschuldet wird;

…“

8        Art. 179 der Mehrwertsteuerrichtlinie lautet:

„Der Vorsteuerabzug wird vom Steuerpflichtigen global vorgenommen, indem er von dem Steuerbetrag, den er für einen Steuerzeitraum schuldet, den Betrag der Mehrwertsteuer absetzt, für die während des gleichen Steuerzeitraums das Recht auf Vorsteuerabzug entstanden ist und gemäß Artikel 178 ausgeübt wird.

Die Mitgliedstaaten können jedoch den Steuerpflichtigen, die nur die in Artikel 12 genannten gelegentlichen Umsätze bewirken, vorschreiben, dass sie das Recht auf Vorsteuerabzug erst zum Zeitpunkt der Lieferung ausüben.“

9        Art. 180 der Mehrwertsteuerrichtlinie lautet:

„Die Mitgliedstaaten können einem Steuerpflichtigen gestatten, einen Vorsteuerabzug vorzunehmen, der nicht gemäß den Artikeln 178 und 179 vorgenommen wurde.“

10      Art. 182 der Mehrwertsteuerrichtlinie lautet:

„Die Mitgliedstaaten legen die Bedingungen und Einzelheiten für die Anwendung der Artikel 180 und 181 fest.“

11      In Art. 213 der Mehrwertsteuerrichtlinie ist bestimmt:

„(1)      Jeder Steuerpflichtige hat die Aufnahme, den Wechsel und die Beendigung seiner Tätigkeit als Steuerpflichtiger anzuzeigen.

(2)      Unbeschadet des Absatzes 1 Unterabsatz 1 müssen Steuerpflichtige und nichtsteuerpflichtige juristische Personen, die gemäß Artikel 3 Absatz 1 nicht der Mehrwertsteuer unterliegende innergemeinschaftliche Erwerbe von Gegenständen bewirken, dies anzeigen, wenn die in Artikel 3 genannten Voraussetzungen für die Nichtanwendung der Mehrwertsteuer nicht mehr erfüllt sind.“

12      Art. 214 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie lautet:

„Die Mitgliedstaaten treffen die erforderlichen Maßnahmen, damit folgende Personen jeweils eine individuelle Mehrwertsteuer-Identifikationsnummer erhalten:

a)      jeder Steuerpflichtige, der in ihrem jeweiligen Gebiet Lieferungen von Gegenständen bewirkt oder Dienstleistungen erbringt, für die ein Recht auf Vorsteuerabzug besteht und bei denen es sich nicht um Lieferungen von Gegenständen oder um Dienstleistungen handelt, für die die Mehrwertsteuer gemäß den Artikeln 194 bis 197 sowie 199 ausschließlich vom Dienstleistungsempfänger beziehungsweise der Person, für die die Gegenstände oder Dienstleistungen bestimmt sind, geschuldet wird; hiervon ausgenommen sind die in Artikel 9 Absatz 2 genannten Steuerpflichtigen;

b)      jeder Steuerpflichtige und jede nichtsteuerpflichtige juristische Person, der bzw. die gemäß Artikel 2 Absatz 1 Buchstabe b der Mehrwertsteuer unterliegende innergemeinschaftliche Erwerbe von Gegenständen bewirkt oder von der Möglichkeit des Artikels 3 Absatz 3, seine bzw. ihre innergemeinschaftlichen Erwerbe der Mehrwertsteuer zu unterwerfen, Gebrauch gemacht hat;

c)      jeder Steuerpflichtige, der in ihrem jeweiligen Gebiet innergemeinschaftliche Erwerbe von Gegenständen für die Zwecke seiner Umsätze bewirkt, die sich aus in Artikel 9 Absatz 1 Unterabsatz 2 genannten Tätigkeiten ergeben, die er außerhalb dieses Gebiets ausübt.“

13      Art. 273 der Mehrwertsteuerrichtlinie lautet:

„Die Mitgliedstaaten können vorbehaltlich der Gleichbehandlung der von Steuerpflichtigen bewirkten Inlandsumsätze und innergemeinschaftlichen Umsätze weitere Pflichten vorsehen, die sie für erforderlich erachten, um eine genaue Erhebung der Steuer sicherzustellen und um Steuerhinterziehung zu vermeiden, sofern diese Pflichten im Handelsverkehr zwischen den Mitgliedstaaten nicht zu Formalitäten beim Grenzübertritt führen.

Die Möglichkeit nach Absatz 1 darf nicht dazu genutzt werden, zusätzlich zu den in Kapitel 3 genannten Pflichten weitere Pflichten in Bezug auf die Rechnungsstellung festzulegen.“

 Bulgarisches Recht

14      Art. 6 Abs. 2 des Mehrwertsteuergesetzes (Zakon za danak varhu dobavenata stoynost, DV Nr. 63 vom 4. August 2006) in seiner auf das Ausgangsverfahren anwendbaren Fassung (im Folgenden: ZDDS) lautet:

„‚Lieferung eines Gegenstands‘ im Sinne dieses Gesetzes ist auch:

1.      die Übertragung des Eigentums oder eines anderen dinglichen Rechts an dem Gegenstand auf Verlangen oder aufgrund einer Anordnung einer staatlichen oder kommunalen Behörde oder kraft Gesetzes gegen Zahlung einer Entschädigung;

2.      die Übergabe eines Gegenstands aufgrund eines Vertrags, der die aufschiebend bedingte oder zu einem bestimmten Zeitpunkt eintretende Übertragung des Eigentums an diesem Gegenstand vorsieht;

3.      die Übergabe eines Gegenstands aufgrund eines Leasingvertrags, der die Übertragung des Eigentums an diesem Gegenstand ausdrücklich vorsieht; dies gilt nicht, wenn nach dem Leasingvertrag lediglich eine Option auf Übertragung des Eigentums an dem Gegenstand besteht;

4.      die Übergabe eines Gegenstands an eine Person, die im eigenen Namen für Rechnung Dritter tätig wird.“

15      Nach Art. 13 Abs. 1 ZDDS ist unter einem innergemeinschaftlichen Erwerb der Erwerb des Eigentums an einem Gegenstand bzw. in den Fällen des Art. 6 Abs. 2 ZDDS der Empfang eines Gegenstands zu verstehen, der von einem anderen Mitgliedstaat aus ins Inland versandt oder befördert wird, vorausgesetzt, der Lieferer ist eine in einem anderen Mitgliedstaat für Mehrwertsteuerzwecke registrierte steuerpflichtige Person.

16      In Art. 25 ZDDS heißt es:

„(1)      ‚Steuertatbestand‘ im Sinne dieses Gesetzes sind die von einer nach diesem Gesetz steuerpflichtigen Person bewirkte Lieferung von Gegenständen oder die Erbringung von Dienstleistungen durch eine solche Person, der innergemeinschaftliche Erwerb und die Einfuhr von Gegenständen gemäß Art. 16.

(2)      Der Steuertatbestand tritt zu dem Zeitpunkt ein, zu dem das Eigentum an dem Gegenstand übertragen oder die Dienstleistung erbracht wird.

(3)      Der Steuertatbestand tritt ferner ein:

1.      zu dem Zeitpunkt, zu dem der Gegenstand im Sinne von Art. 6 Abs. 2 übergeben wird; Abs. 6 bleibt unberührt;

(6)      Wenn vor dem Eintreten des Steuertatbestands nach den Abs. 2, 3 oder 4 eine vollständige oder teilweise Vorauszahlung für eine Lieferung erfolgt, entsteht der Steueranspruch zum Zeitpunkt der Vereinnahmung der Zahlung (auf den vereinnahmten Betrag), es sei denn, die Vereinnahmung der Zahlung erfolgt im Zusammenhang mit einer innergemeinschaftlichen Lieferung. Dann gilt die Steuer als im gezahlten Betrag inbegriffen.“

17      In Art. 63 ZDDS ist bestimmt:

„(1)      Bei einem innergemeinschaftlichen Erwerb tritt der Steuertatbestand zu dem Zeitpunkt ein, zu dem er bei einer Lieferung im Inland eintreten würde.

(3)      Bei einem innergemeinschaftlichen Erwerb entsteht der Steueranspruch am 15. Tag des Monats, der auf den Monat folgt, in dem der Steuertatbestand gemäß den Abs. 1 und 2 eingetreten ist.

(4)      Abweichend von Abs. 3 entsteht der Steueranspruch zum Zeitpunkt der Ausstellung der Rechnung, wenn diese vor dem 15. Tag des Monats ausgestellt worden ist, der auf den Monat folgt, in dem der Steuertatbestand eingetreten ist.“

18      Nach Art. 70 Abs. 4 ZDDS sind gemäß Art. 99 dieses Gesetzes registrierte Personen nicht vorsteuerabzugsberechtigt.

19      In Art. 71 ZDDS ist bestimmt:

„Die Person übt ihr Recht auf Vorsteuerabzug aus, wenn sie eine der folgenden Voraussetzungen erfüllt:

5.      Bei einem innergemeinschaftlichen Erwerb: Sie verfügt über ein Dokument, das den Anforderungen gemäß Art. 114 genügt, und über eine Bescheinigung gemäß Art. 117 und erfüllt die Voraussetzungen gemäß Art. 86.“

20      Art. 72 ZDDS lautet:

„(1)      Ein nach diesem Gesetz registrierter Steuerpflichtiger kann sein Recht auf Vorsteuerabzug in dem Steuerzeitraum ausüben, in dem es entstanden ist, oder in einem der drei darauf folgenden Steuerzeiträume.

(2)      Der Steuerpflichtige übt das Recht nach Abs. 1 aus, indem er:

1.      die für einen Steuerzeitraum gemäß Abs. 1 ermittelte Vorsteuer bei der entsprechenden Erklärung gemäß Art. 125 für denselben Steuerzeitraum einbezieht;

2.      das in Art. 71 genannte Dokument im Register der Eingänge gemäß Art. 124 für den Steuerzeitraum gemäß Nr. 1 anführt.“

21      Art. 99 ZDDS lautet:

„(1)      Steuerpflichtige und nicht gemäß den Art. 96, 97, 98 und 100 Abs. 1 und 3 sowie Art. 102 registrierte nicht steuerpflichtige juristische Personen, die einen innergemeinschaftlichen Erwerb von Gegenständen bewirken, sind verpflichtet, sich gemäß diesem Gesetz registrieren zu lassen.

(2)      Dies gilt nicht, wenn der Gesamtwert der steuerbaren innergemeinschaftlichen Erwerbe des laufenden Kalenderjahrs 20 000 BGN nicht übersteigt.

(3)      Personen, auf die Abs. 2 zutrifft, haben, sobald der Gesamtwert der steuerbaren innergemeinschaftlichen Erwerbe 20 000 BGN übersteigt, spätestens sieben Tage vor dem Eintritt des Steuertatbestands des Erwerbs die Registrierung nach diesem Gesetz zu beantragen. Innergemeinschaftliche Erwerbe, bei denen der genannte Schwellenwert überschritten wird, werden nach diesem Gesetz besteuert.

(4)      Der in Abs. 2 genannte Wert ist die Summe der steuerbaren innergemeinschaftlichen Erwerbe, mit Ausnahme des Erwerbs neuer Fahrzeuge und verbrauchsteuerpflichtiger Waren, abzüglich der Mehrwertsteuer, die in dem Mitgliedstaat geschuldet wird oder entrichtet wurde, von dem aus die Gegenstände befördert oder versendet wurden.

(5)      Abs. 1 gilt nicht für:

1.      Personen nach Art. 168, die neue Fahrzeuge erwerben;

2.      Personen nach Art. 2 Nr. 4 (die innergemeinschaftliche Erwerbe von verbrauchsteuerpflichtigen Waren bewirken).

(6)      Nach diesem Art. registrierte Personen, die unter die Pflichtregistrierung nach den Art. 96, 97 und 98 fallen oder für die eine freiwillige Registrierung nach Art. 100 Abs. 1 und 3 in Betracht kommt, werden nach den für die Pflichtregistrierung oder die freiwillige Registrierung geltenden Modalitäten und Fristen registriert.“

22      Nach Art. 100 Abs. 1 und 2 ZDDS kann sich jeder Steuerpflichtige, der nicht unter die Pflichtregistrierung nach Art. 96 Abs. 1 ZDDS (steuerbarer Umsatz von mindestens 50 000 BGN in den zwölf Monaten, die dem laufenden Monat vorausgegangen sind) und Art. 99 Abs. 1 ZDDS fällt, nach diesem Gesetz registrieren lassen.

23      In Art. 73a ZDDS, der am 1. Januar 2009 in Kraft getreten ist, heißt es:

„(1)      Bei Lieferungen, bei denen der Empfänger die Steuer schuldet, besteht auch dann ein Recht auf Vorsteuerabzug, wenn der Lieferer der Gegenstände kein den Anforderungen des Art. 114 genügendes Dokument ausgestellt hat und/oder der Empfänger nicht über das in Art. 71 Nrn. 2, 4 oder 5 genannte Dokument verfügt und/oder der Empfänger die Voraussetzungen des Art. 72 nicht erfüllt, sofern die Lieferung nicht verheimlicht wurde und beim Empfänger verbucht ist.

(2)      In den Fällen des Abs. 1 ist das Recht auf Vorsteuerabzug in dem Steuerzeitraum auszuüben, in dem der Steueranspruch entstanden ist …“

24      In § 18 der Übergangs- und Schlussbestimmungen des Gesetzes zur Änderung und Ergänzung des ZDDS, das ebenfalls am 1. Januar 2009 in Kraft getreten ist, heißt es:

„(1)      Registrierte Personen, die Empfänger einer Lieferung oder Importeure sind, gegen die der Steueranspruch in ihrer Eigenschaft als Steuerschuldner nach Kapitel 8 vor dem Inkrafttreten dieses Gesetzes entstanden ist und die die Steuer bis zu diesem Zeitpunkt nicht gemäß Art. 86 Abs. 1 gezahlt haben und/oder ihr Recht auf Vorsteuerabzug nicht ausgeübt haben, können innerhalb einer Frist von vier Monaten ab Inkrafttreten dieses Gesetzes die Steuer zahlen oder ihr Recht auf Vorsteuerabzug ausüben.

(2)      Haben die in Abs. 1 genannten Personen die Vorsteuer erst nach Ablauf der Frist gemäß Art. 72 Abs. 1 abgezogen, gilt ihr Recht auf Vorsteuerabzug als ordnungsgemäß ausgeübt.

(3)      Abs. 2 und Art. 73a sind auf zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des Gesetzes laufende Verwaltungs- und Gerichtsverfahren anwendbar.

…“

25      Art. 72 Abs. 1 ZDDS in der ab dem 1. Januar 2010 gültigen Fassung lautet:

„Eine nach diesem Gesetz registrierte Person kann ihr Recht auf Vorsteuerabzug für den Steuerzeitraum ausüben, in dem dieses Recht entstanden ist, oder in einem der zwölf darauf folgenden Steuerzeiträume.“

 Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

26      Nach der Vorlageentscheidung verkaufte die Marcotran International Transport C.A., eine Gesellschaft mit Sitz in Spanien, am 14. November 2008 an EMS mit Sitz in Bulgarien gebrauchte Lastkraftwagen und Sattelschlepper. Der genannte spanische Lieferer stellte hierbei zehn Rechnungen aus, die die Überschrift „Verkauf von Lastkraftwagen/Zugmaschinen/Gebrauchtfahrzeuge“ tragen, und meldete in der elektronischen Datenbank des Mehrwertsteuer-Informationsaustauschsystems (MIAS) eine innergemeinschaftliche Lieferung an.

27      Aus der Vorlageentscheidung geht auch hervor, dass EMS am 22. Dezember 2008 gemäß Art. 100 Abs. 1 ZDDS die freiwillige Mehrwertsteuerregistrierung beantragte und diese am 12. Januar 2009 erfolgte.

28      Im Juni 2009 erstellte EMS gemäß Art. 117 in Verbindung mit Art. 84 ZDDS zehn Bescheinigungen über innergemeinschaftliche Erwerbe. Sie zahlte die geschuldete Steuer und übte ihr Recht auf Vorsteuerabzug aus. Es kamen die Regeln über die Steuerschuldnerschaft des Leistungsempfängers zur Anwendung.

29      Der Vorlageentscheidung zufolge vertraten die Steuerbehörden die Auffassung, dass EMS am 14. November 2008 einen innergemeinschaftlichen Erwerb von Gegenständen vorgenommen habe, für die die in Art. 99 Abs. 5 ZDDS vorgesehene Ausnahme nicht gelte, da es sich weder um Neufahrzeuge noch um verbrauchsteuerpflichtige Waren handele. Da der Gesamtwert der innergemeinschaftlichen Erwerbe 20 000 BGN übersteige und der Wert des einzelnen steuerbaren innergemeinschaftlichen Erwerbs bei jeder der zehn Rechnungen über 20 000 BGN betrage, unterliege EMS der Mehrwertsteuerregistrierungspflicht nach Art. 99 Abs. 1 ZDDS und sei verpflichtet, gemäß Art. 86 und Art. 99 Abs. 3 ZDDS Mehrwertsteuer auf den Gesamtwert dieser innergemeinschaftlichen Erwerbe in Höhe von 229 548,50 BGN zu zahlen. Die Zahlung erfolgte nicht im November 2008, sondern im Juni 2009.

30      Wegen dieser Verspätung wurde von EMS ein Säumniszuschlag in Höhe von 18 250,38 BGN erhoben.

31      Außerdem versagten die Steuerbehörden EMS gemäß Art. 70 Abs. 4 ZDDS das Recht auf Vorsteuerabzug; es sei nicht innerhalb der Frist gemäß Art. 72 Abs. 1 ZDDS ausgeübt worden und § 18 der Übergangs- und Schlussbestimmungen des Gesetzes zur Änderung und Ergänzung des ZDDS, das seit dem 1. Januar 2009 in Kraft sei, finde keine Anwendung.

32      Der beim Direktor na Direktsia „Obzhalvane i upravlenie na izpalnenieto“ Plovdiv eingelegte Einspruch wurde zurückgewiesen und die beim Administrativen sad – grad Plovdiv (Verwaltungsgericht Plovdiv) erhobene Klage abgewiesen.

33      Nach Auffassung des genannten Gerichts handelt es sich bei Art. 73a ZDDS um eine materiell-rechtliche Norm, die ab dem 1. Januar 2009 anwendbar ist. Seine Rückwirkung sei in § 18 Abs. 1 der Übergangs- und Schlussbestimmungen des Gesetzes zur Änderung und Ergänzung des ZDDS geregelt, das ebenfalls am 1. Januar 2009 in Kraft getreten sei. Nach dieser Bestimmung könnten registrierte Personen innerhalb von vier Monaten nach dem Inkrafttreten des Gesetzes zur Änderung und Ergänzung des ZDDS die Steuer zahlen und ihr Recht auf Vorsteuerabzug ausüben, sofern die Mehrwertsteuerschuld vor dem Inkrafttreten dieses Gesetzes entstanden sei. Da EMS zum Zeitpunkt des Inkrafttretens der genannten Bestimmung nicht registriert gewesen sei, könne sie sich nicht auf diese berufen und sei somit nicht vorsteuerabzugsberechtigt.

34      Das vorlegende Gericht stellt jedoch klar, dass EMS das Recht auf Vorsteuerabzug nicht mangels Mehrwertsteuerregistrierung, sondern wegen Nichtbeachtung der Ausschlussfrist versagt worden sei.

35      EMS legte gegen dieses Urteil beim Varhoven administrativen sad (Oberstes Verwaltungsgericht) Kassationsbeschwerde ein.

36      Nach Auffassung dieses Gerichts liegt ein innergemeinschaftlicher Erwerb vor und ist die Steuerschuld am 14. November 2008 mit Ausstellung der Rechnungen entstanden. Dass EMS zu diesem Zeitpunkt nicht gemäß dem ZDDS registriert gewesen sei, ändere nichts daran, dass ein innergemeinschaftlicher Erwerb vorliege.

37      Dass das Vorliegen einer Registrierung nach dem ZDDS eine Voraussetzung für die Ausübung des Rechts auf Vorsteuerabzug sei, beruhe insbesondere auf Art. 72 Abs. 1 dieses Gesetzes.

38      Außerdem habe der bulgarische Gesetzgeber mit dem Erlass des am 1. Januar 2009 in Kraft getretenen neuen Art. 73a ZDDS die Absicht verfolgt, die Ausübung des Rechts auf Vorsteuerabzug bei Steuerschuldnerschaft des Leistungsempfängers nicht übermäßig einzuschränken; er habe dazu die Ausübung dieses Rechts auch unabhängig von der Beachtung der Frist gemäß Art. 72 dieses Gesetzes zugelassen, vorausgesetzt, dass die Steuerverwaltung über die erforderlichen Informationen verfüge und der Betreffende als Empfänger der Lieferung auch Schuldner der Mehrwertsteuer sei. Im vorliegenden Fall verfügten die Steuerbehörden zweifellos über diese Informationen, die im Übrigen in den Aufzeichnungen von EMS enthalten seien.

39      Schließlich sei die neue Frist, innerhalb deren die Steuerpflichtigen ihr Recht auf Vorsteuerabzug ausüben könnten, wie sie sich aus der am 1. Januar 2010 in Kraft getretenen Änderung von Art. 72 Abs. 1 ZDDS ergebe – nämlich zwölf statt drei auf den Steuerzeitraum, in dem das Recht auf Vorsteuerabzug entstanden ist, folgende Steuerzeiträume –, ein Zeichen dafür, dass die frühere Ausschlussfrist zu kurz gewesen sei und die Ausübung des Rechts auf Vorsteuerabzug erschwert habe.

40      Diese Frist sei im vorliegenden Fall noch kürzer ausgefallen, da EMS sich vor Ausübung ihres Rechts auf Vorsteuerabzug noch habe für Mehrwertsteuerzwecke registrieren lassen müssen, obwohl die Ausschlussfrist bereits zu laufen begonnen habe. EMS habe daher für die Ausübung des Rechts auf Vorsteuerabzug nur einen Monat Zeit gehabt.

41      Vor diesem Hintergrund hat der Varhoven administrativen sad beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.      Sind Art. 179 Abs. 1 und die Art. 180 und 273 der Mehrwertsteuerrichtlinie sowie der im Urteil des Gerichtshofs vom 8. Mai 2008, Ecotrade (C-95/07 und C-96/07, Slg. 2008, I-3457), behandelte Effektivitätsgrundsatz, soweit er die indirekten Steuern betrifft, dahin auszulegen, dass sie eine Ausschlussfrist wie die im vorliegenden Fall nach Art. 72 Abs. 1 ZDDS (in seiner Fassung von 2008) zulassen, die durch § 18 der Übergangs- und Schlussbestimmungen des Gesetzes zur Änderung und Ergänzung des ZDDS nur für diejenigen Empfänger von Lieferungen bis Ende April 2009 verlängert wurde, gegen die der Steueranspruch vor dem 1. Januar 2009 entstanden ist, wobei die im Ausgangsverfahren vorliegenden Umstände zu berücksichtigen sind, nämlich

–        das Erfordernis, dass, da die Registrierung eine Voraussetzung für die Ausübung des Rechts auf Vorsteuerabzug ist, eine Person, die einen innergemeinschaftlichen Erwerb bewirkt hat und nicht nach dem Mehrwertsteuergesetz registriert ist, sich freiwillig registrieren lassen muss, obwohl sie die Bedingungen für eine zwingende Registrierung nicht erfüllt;

–        die neue, am 1. Januar 2009 in Kraft getretene Regelung des Art. 73a ZDDS, wonach das Recht auf Vorsteuerabzug unabhängig davon zu gewähren ist, ob die Frist gemäß Art. 72 Abs. 1 ZDDS eingehalten wurde, wenn der Steueranspruch gegen den Empfänger der Lieferung entstanden ist, sofern die Lieferung nicht verheimlicht wurde und verbucht ist;

–        die spätere, am 1. Januar 2010 in Kraft getretene Änderung des Art. 72 Abs. 1 ZDDS, wonach das Recht auf Vorsteuerabzug in dem Steuerzeitraum ausgeübt werden kann, in dem es entstanden ist, oder in einem der darauf folgenden zwölf Steuerzeiträume?

2.      Ist der Grundsatz der steuerlichen Neutralität als grundlegendes Prinzip, das für die Errichtung und das Funktionieren des gemeinsamen Mehrwertsteuersystems von Bedeutung ist, dahin auszulegen, dass eine Steuernachprüfungspraxis wie die im Ausgangsverfahren, nach der bei verspäteter Berechnung der Mehrwertsteuer für die verspätete Entrichtung der Steuer als Sanktion ein Säumniszuschlag erhoben und das Recht auf Vorsteuerabzug versagt wird, zulässig ist, und zwar unter konkreten Umständen, wie sie bei der Kassationsbeschwerdeführerin vorliegen, nämlich, dass die Lieferung nicht verheimlicht worden ist, dass die Lieferung verbucht ist, dass die Steuerverwaltung über die erforderlichen Informationen verfügt, dass kein Missbrauch vorliegt und dass der Haushalt nicht geschädigt worden ist?

 Zu den Vorlagefragen

 Zur ersten Frage

42      Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 179 Abs. 1 und die Art. 180 und 273 der Mehrwertsteuerrichtlinie dahin auszulegen sind, dass sie einer Ausschlussfrist für die Ausübung des Rechts auf Vorsteuerabzug wie derjenigen, um die es im Ausgangsverfahren geht, entgegenstehen.

43      Vorab ist darauf hinzuweisen, dass der Unternehmer durch die in der Mehrwertsteuerrichtlinie vorgesehene Regelung über den Vorsteuerabzug vollständig von der im Rahmen seiner wirtschaftlichen Tätigkeit geschuldeten oder entrichteten Mehrwertsteuer entlastet werden soll. Das gemeinsame Mehrwertsteuersystem sucht, völlige Neutralität hinsichtlich der steuerlichen Belastung aller wirtschaftlichen Tätigkeiten zu gewährleisten, und zwar unabhängig von ihrem Zweck und ihrem Ergebnis, sofern diese Tätigkeiten selbst der Mehrwertsteuer unterliegen (vgl. u. a. Urteile vom 14. Februar 1985, Rompelman, 268/83, Slg. 1985, 655, Randnr. 19, und vom 22. März 2012, Klub, C-153/11, Randnr. 35).

44      Das Recht auf Vorsteuerabzug ist integraler Bestandteil des Mechanismus der Mehrwertsteuer und kann grundsätzlich nicht eingeschränkt werden (vgl. u. a. Urteile vom 21. März 2000, Gabalfrisa u. a., C-110/98 bis C-147/98, Slg. 2000, I-1577, Randnr. 43, Ecotrade, Randnr. 39, und vom 16. Februar 2012, Eon Aset Menidjmunt, C-118/11, Randnr. 68 und die dort angeführte Rechtsprechung).

45      Nach dem Wortlaut von Art. 167 und Art. 179 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie wird das Recht auf Vorsteuerabzug grundsätzlich während des gleichen Zeitraums ausgeübt, in dem es entstanden ist, d. h., wenn der Anspruch auf die Steuer entsteht.

46      Gleichwohl kann einem Steuerpflichtigen nach den Art. 180 und 182 der Mehrwertsteuerrichtlinie das Abzugsrecht auch gewährt werden, wenn er es nicht während des Zeitraums, in dem es entstanden ist, ausgeübt hat; Voraussetzung ist jedoch, dass bestimmte in den nationalen Regelungen festgelegte Bedingungen und Einzelheiten befolgt werden (vgl. in diesem Sinne Urteil Ecotrade, Randnrn. 42 und 43).

47      Die Mitgliedstaaten dürfen nach Art. 273 der Mehrwertsteuerrichtlinie zwar Maßnahmen erlassen, um eine genaue Erhebung der Steuer sicherzustellen und Steuerhinterziehung zu verhindern; diese Maßnahmen dürfen aber nicht über das zur Erreichung dieser Ziele Erforderliche hinausgehen und die Neutralität der Mehrwertsteuer nicht in Frage stellen (Urteile vom 21. Oktober 2010, Nidera Handelscompagnie, C-385/09, Slg. 2010, I-10385, Randnr. 49, und Klub, Randnr. 50).

48      Außerdem liefe die Möglichkeit, das Abzugsrecht ohne jede zeitliche Beschränkung auszuüben, dem Grundsatz der Rechtssicherheit zuwider, der verlangt, dass die steuerliche Lage des Steuerpflichtigen in Anbetracht seiner Rechte und Pflichten gegenüber der Steuerverwaltung nicht unbegrenzt lange offenbleiben kann (Urteil Ecotrade, Randnr. 44).

49      Der Gerichtshof hat im Zusammenhang mit der Steuerschuldnerschaft des Leistungsempfängers bereits entschieden, dass eine Ausschlussfrist, deren Ablauf als Sanktion für den nicht hinreichend sorgfältigen Steuerpflichtigen, der den Vorsteuerabzug nicht geltend gemacht hat, den Verlust des Abzugsrechts zur Folge hat, nicht als mit der von der Mehrwertsteuerrichtlinie errichteten Regelung unvereinbar angesehen werden kann, sofern diese Frist zum einen gleichermaßen für die entsprechenden auf dem innerstaatlichen Recht beruhenden steuerlichen Rechte wie für die auf dem Unionsrecht beruhenden Rechte gilt (Äquivalenzgrundsatz) und sie zum anderen die Ausübung des Abzugsrechts nicht praktisch unmöglich macht oder übermäßig erschwert (Effektivitätsgrundsatz) (Urteil Ecotrade, Randnr. 46 und die dort angeführte Rechtsprechung).

50      Das vorlegende Gericht fragt sich, ob eine Ausschlussfrist wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende die Ausübung des Rechts auf Vorsteuerabzug durch den Steuerpflichtigen nicht praktisch unmöglich macht oder übermäßig erschwert.

51      Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs ist es Sache des nationalen Gerichts, zu beurteilen, ob die nationalen Maßnahmen mit dem Unionsrecht, im vorliegenden Fall mit dem Effektivitätsgrundsatz, vereinbar sind (vgl. entsprechend Urteil vom 29. Juli 2010, Profaktor Kulesza, Frankowski, Jóźwiak Orłowski, C-188/09, Slg. 2010, I-7639, Randnr. 30); jedoch ist es Aufgabe des Gerichtshofs, dem nationalen Gericht alle notwendigen Hinweise für die Entscheidung des bei ihm anhängigen Rechtsstreits zu geben (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 11. Oktober 2001, Adam, C-267/99, Slg. 2001, I-7467, Randnr. 39, und Eon Aset Menidjmunt, Randnr. 49).

52      Bei der Beurteilung einer Ausschlussfrist wie der genannten ist ihre Gesamtlänge zu berücksichtigen, d. h. im vorliegenden Fall drei Steuerzeiträume und der Steuerzeitraum, in dem das Recht auf Vorsteuerabzug entstanden ist. Nach der einschlägigen nationalen Regelung entspricht ein Steuerzeitraum einem Monat.

53      Zwar kann eine derartige Ausschlussfrist als solche die Ausübung des Rechts auf Vorsteuerabzug nicht praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren, da die Mitgliedstaaten nach Art. 167 und Art. 179 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie vom Steuerpflichtigen verlangen können, dass er sein Recht auf Vorsteuerabzug während des Zeitraums ausübt, in dem es entstanden ist; es ist aber nach sämtlichen Umständen des Einzelfalls zu prüfen, ob die Ausschlussfrist in Einklang mit dem Effektivitätsgrundsatz steht.

54      Ebenso können die Gründe, die den nationalen Gesetzgeber veranlasst haben, diese Frist zu ändern, insoweit aufschlussreich sein, als aus ihnen möglicherweise hervorgeht, dass der nationale Gesetzgeber den konkreten Schwierigkeiten der Steuerpflichtigen bei der Ausübung ihres Rechts auf Vorsteuerabzug Rechnung getragen hat.

55      Insoweit ist festzustellen, dass der bulgarische Gesetzgeber die Ausschlussfrist erheblich verlängert hat: Er hat zum einen in Art. 73a ZDDS die Möglichkeit vorgesehen, im Rahmen der Steuerschuldnerschaft des Leistungsempfängers das Recht auf Vorsteuerabzug unabhängig von der Beachtung der Frist gemäß Art. 72 Abs. 1 ZDDS geltend zu machen, sofern die Lieferung nicht verheimlicht wird und verbucht ist; zum anderen hat er Art. 72 Abs. 1 ZDDS geändert, um die Ausübung des Rechts auf Vorsteuerabzug während eines der zwölf Steuerzeiträume zu ermöglichen, die auf den anfänglichen Steuerzeitraum folgen.

56      Außerdem hat das vorlegende Gericht zu überprüfen, ob die Eintragung in das Register der Mehrwertsteuerpflichtigen zwingend innerhalb dieser Ausschlussfrist zu erfolgen hat. Wenn ja, ist dies zu berücksichtigen.

57      Nach der Vorlageentscheidung gilt die Registrierung – als Voraussetzung der Ausübung des Rechts auf Vorsteuerabzug – mit Zugang des Bescheids über die Registrierung als vollzogen, und nicht mit der Stellung des entsprechenden Antrags.

58      Ob die Ausübung des Rechts auf Vorsteuerabzug innerhalb der Ausschlussfrist praktisch unmöglich gemacht oder übermäßig erschwert wird, hängt somit von der Dauer des Registrierungsverfahrens ab.

59      Wie oben in Randnr. 40 ausgeführt, hätte im Ausgangsverfahren EMS nach Zugang des Bescheids über ihre Registrierung nur einen Monat Zeit gehabt.

60      Die Verpflichtung des Steuerpflichtigen aus den Art. 213 und 214 der Mehrwertsteuerrichtlinie, die Aufnahme seiner Tätigkeit anzuzeigen, begründet das Recht auf Vorsteuerabzug nicht, sondern stellt ein Kontrollzwecken dienendes Formerfordernis dar (vgl. Urteil Nidera Handelscompagnie, Randnr. 50).

61      Außerdem dürfen die vom Mitgliedstaat vorgeschriebenen Förmlichkeiten, die der Steuerpflichtige erfüllen muss, um das Recht auf Vorsteuerabzug ausüben zu können, nicht über das zur Gewährleistung der korrekten Anwendung des betreffenden Verfahrens der Umkehrung der Steuerschuldnerschaft absolut Notwendige hinausgehen (Urteil vom 30. September 2010, Uszodaépítő, C-392/09, Slg. 2010, I-8791, Randnr. 38).

62      Auch hat der Gerichtshof entschieden, dass der Grundsatz der Neutralität der Mehrwertsteuer erfordert, dass der Vorsteuerabzug gewährt wird, wenn die materiellen Anforderungen erfüllt sind, selbst wenn der Steuerpflichtige bestimmten formellen Anforderungen nicht genügt hat. Verfügt die Steuerverwaltung über die Angaben, die für die Feststellung erforderlich sind, dass der Steuerpflichtige als Empfänger, an den die fraglichen Umsätze bewirkt werden, die Mehrwertsteuer schuldet, so darf sie hinsichtlich seines Rechts auf Abzug dieser Steuer keine zusätzlichen Voraussetzungen festlegen, die die Ausübung dieses Rechts vereiteln können (vgl. Urteile Ecotrade, Randnrn. 63 und 64, Nidera Handelscompagnie, Randnr. 42, sowie vom 22. Dezember 2010, Dankowski, C-438/09, Slg. 2010, I-14009, Randnr. 35).

63      Folglich kann die fehlende Mehrwertsteuerregistrierung dem Steuerpflichtigen nicht sein Recht auf Vorsteuerabzug nehmen, sofern dessen materielle Voraussetzungen erfüllt sind.

64      Auf die erste Frage ist mithin zu antworten, dass Art. 179 Abs. 1 und die Art. 180 und 273 der Mehrwertsteuerrichtlinie dahin auszulegen sind, dass sie einer Ausschlussfrist für die Geltendmachung des Rechts auf Vorsteuerabzug wie derjenigen, um die es im Ausgangsverfahren geht, nicht entgegenstehen, sofern diese Frist die Ausübung des genannten Rechts nicht praktisch unmöglich macht oder übermäßig erschwert. Letzteres zu beurteilen, ist Sache des nationalen Gerichts, das dabei u. a. die spätere erhebliche Verlängerung der Ausschlussfrist und die Dauer eines Mehrwertsteuerregistrierungsverfahrens berücksichtigen kann, das zur Ausübung des Rechts auf Vorsteuerabzug innerhalb derselben Frist durchzuführen ist.

 Zur zweiten Frage

65      Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob der Grundsatz der steuerlichen Neutralität einer Sanktion entgegensteht, die darin besteht, das Recht auf Vorsteuerabzug zu versagen und einen Säumniszuschlag zu erheben, wenn die Steuer verspätet gezahlt wird.

66      Bei dieser Frage bleibt offenbar unberücksichtigt, ob die Ausschlussfrist für die Ausübung des Rechts auf Vorsteuerabzug eingehalten ist.

67      Hierzu ist festzustellen, dass die Mitgliedstaaten bei Verletzung der Verpflichtungen zur Sicherstellung einer genauen Erhebung der Steuer und Verhinderung von Steuerhinterziehung zwar Sanktionen erlassen dürfen; diese dürfen aber nicht über das hinausgehen, was zur Erreichung des mit ihnen verfolgten Ziels erforderlich ist (vgl. in diesem Sinne Urteile Ecotrade, Randnrn. 65 und 67, sowie Dankowski, Randnr. 37).

68      Bei einer Sanktion, die in einem völligen Versagen des Rechts auf Vorsteuerabzug besteht, ist festzustellen, dass, wie oben in Randnr. 43 ausgeführt, mit dem gemeinsamen Mehrwertsteuersystem die völlige Neutralität hinsichtlich der steuerlichen Belastung aller wirtschaftlichen Tätigkeiten gewährleistet werden soll; diese setzt voraus, dass der Steuerpflichtige die im Rahmen aller seiner wirtschaftlichen Tätigkeiten geschuldete oder entrichtete Mehrwertsteuer gemäß Art. 167 der Mehrwertsteuerrichtlinie als Vorsteuer abziehen kann.

69      Die Mitgliedstaaten müssen sich daher gemäß dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit solcher Mittel bedienen, die es zwar erlauben, das Ziel der Bekämpfung von Steuerhinterziehungen und Steuerumgehungen wirksam zu erreichen, die jedoch die Ziele und Grundsätze des Unionsrechts wie das fundamentale Prinzip des Rechts auf Vorsteuerabzug möglichst wenig beeinträchtigen (vgl. Urteil vom 10. Juni 2008, Sosnowska, C-25/07, Slg. 2008, I-5129, Randnr. 23).

70      Bei dem hohen Stellenwert, den das Recht auf Vorsteuerabzug im gemeinschaftlichen Mehrwertsteuersystem aufweist, erscheint die genannte Sanktion, wenn kein Betrug und keine Schädigung des Haushalts des Staates nachgewiesen sind, unangemessen.

71      Denn nach der oben in Randnr. 62 dargestellten Rechtsprechung ist der Vorsteuerabzug grundsätzlich zu gewähren, wenn die materiellen Anforderungen erfüllt sind, selbst wenn der Steuerpflichtige bestimmten formellen Anforderungen nicht genügt hat. Anders verhält es sich, wenn der Verstoß gegen die formellen Anforderungen den sicheren Nachweis verhindert, dass die materiellen Anforderungen erfüllt wurden (vgl. entsprechend Urteil vom 29. September 2007, Collée, C-146/05, Slg. 2007, I-7861, Randnr. 31).

72      Nach der Vorlageentscheidung ist im Ausgangsverfahren die innergemeinschaftliche Lieferung aber nicht verheimlicht worden, und sie ist verbucht. Die Steuerverwaltung soll danach über die erforderlichen Informationen verfügen, anhand deren sie im Prinzip überprüfen kann, ob die materiellen Anforderungen tatsächlich erfüllt sind, was zu überprüfen jedenfalls Sache des nationalen Gerichts ist.

73      Zwar können die Mitgliedstaaten die Verschleierung des Vorliegens eines innergemeinschaftlichen Umsatzes unter bestimmten Voraussetzungen als versuchte Mehrwertsteuerhinterziehung behandeln und in einem solchen Fall die nach ihrem nationalen Recht vorgesehenen Sanktionen wie Geldstrafe oder Geldbuße verhängen, vorausgesetzt, diese stehen in angemessenem Verhältnis zur Schwere der missbräuchlichen Handlung (vgl. in diesem Sinne Urteil Collée, Randnr. 40).

74      Eine verspätete Zahlung der Mehrwertsteuer kann für sich genommen aber nicht einer Steuerhinterziehung gleichgesetzt werden; eine Steuerhinterziehung setzt zum einen voraus, dass der fragliche Umsatz trotz Einhaltung der Bedingungen der einschlägigen Bestimmungen der Mehrwertsteuerrichtlinie und des zu ihrer Umsetzung erlassenen nationalen Rechts einen Steuervorteil zum Ergebnis hat, dessen Gewährung dem mit diesen Bestimmungen verfolgten Ziel zuwiderliefe, und zum anderen, dass sich aus einer Reihe objektiver Anhaltspunkte ergibt, dass mit dem fraglichen Umsatz im Wesentlichen ein Steuervorteil erlangt werden soll (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 21. Februar 2006, Halifax u. a., C-255/02, Slg. 2006, I-1609, Randnrn. 74 und 75, sowie Klub, Randnr. 49).

75      Ein Säumniszuschlag kann eine geeignete Sanktion darstellen, sofern er nicht über das hinausgeht, was für die Erreichung des oben in Randnr. 67 genannten Ziels, nämlich Steuerhinterziehung zu verhindern und die genaue Erhebung der Mehrwertsteuer zu gewährleisten, erforderlich ist.

76      Nach den Randnrn. 68 ff. des vorliegenden Urteils wäre eine solche Sanktion unverhältnismäßig, wenn die Gesamtsumme des erhobenen Säumniszuschlags der abziehbaren Vorsteuer entspräche, so dass dem Steuerpflichtigen sein Recht auf Vorsteuerabzug letztlich genommen würde. Die Verhältnismäßigkeit der Sanktion ist vom vorlegenden Gericht zu beurteilen.

77      Folglich ist auf die zweite Frage zu antworten, dass der Grundsatz der steuerlichen Neutralität einer Sanktion entgegensteht, die darin besteht, bei einer verspäteten Entrichtung der Mehrwertsteuer das Recht auf Vorsteuerabzug zu versagen, nicht hingegen einem Säumniszuschlag, sofern diese Sanktion den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit beachtet, was das vorlegende Gericht zu prüfen hat.

 Kosten

78      Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Zweite Kammer) für Recht erkannt:

1.      Art. 179 Abs. 1 und die Art. 180 und 273 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem sind dahin auszulegen, dass sie einer Ausschlussfrist für die Geltendmachung des Rechts auf Vorsteuerabzug wie derjenigen, um die es im Ausgangsverfahren geht, nicht entgegenstehen, sofern diese Frist die Ausübung des genannten Rechts nicht praktisch unmöglich macht oder übermäßig erschwert. Letzteres zu beurteilen, ist Sache des nationalen Gerichts, das dabei u. a. die spätere erhebliche Verlängerung der Ausschlussfrist und die Dauer eines Mehrwertsteuerregistrierungsverfahrens berücksichtigen kann, das zur Ausübung des Rechts auf Vorsteuerabzug innerhalb derselben Frist durchzuführen ist.

2.      Der Grundsatz der steuerlichen Neutralität steht einer Sanktion entgegen, die darin besteht, bei einer verspäteten Entrichtung der Mehrwertsteuer das Recht auf Vorsteuerabzug zu versagen, nicht hingegen einem Säumniszuschlag, sofern diese Sanktion den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit beachtet, was das vorlegende Gericht zu prüfen hat.

Unterschriften


* Verfahrenssprache: Bulgarisch.