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URTEIL DES GERICHTSHOFS (Neunte Kammer)

12. Februar 2015(*)

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Mehrwertsteuer – Richtlinie 2006/112/EG – Vorsteuerabzug – Umsätze, die eine missbräuchliche Praxis darstellen – Nationales Steuerrecht – Besonderes nationales Verfahren bei Verdacht auf missbräuchliche Praktiken im Steuerbereich – Grundsätze der Effektivität und der Äquivalenz“

In der Rechtssache C-662/13

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Supremo Tribunal Administrativo (Portugal) mit Entscheidung vom 4. Dezember 2013, beim Gerichtshof eingegangen am 13. Dezember 2013, in dem Verfahren

Surgicare – Unidades de Saúde SA

gegen

Fazenda Pública

erlässt

DER GERICHTSHOF (Neunte Kammer)

unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin K. Jürimäe (Berichterstatterin) sowie der Richter J. Malenovský und M. Safjan,

Generalanwalt: P. Mengozzi,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

–        der Surgicare – Unidades de Saúde SA, vertreten durch R. Barreira, advogado,

–        der portugiesischen Regierung, vertreten durch L. Inez Fernandes, R. Laires und M. Rebelo als Bevollmächtigte,

–        der Europäischen Kommission, vertreten durch P. Guerra e Andrade und L. Lozano Palacios als Bevollmächtigte,

aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,

folgendes

Urteil

1        Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. L 347, S. 1).

2        Es ergeht in einem Rechtsstreit zwischen der Surgicare – Unidades de Saúde SA (im Folgenden: Surgicare) und der Fazenda Pública (Staatskasse) wegen deren Weigerung, die von Surgicare als Vorsteuer entrichtete Mehrwertsteuer zu erstatten, weil sie von ihrem Abzugsrecht in missbräuchlicher Weise Gebrauch gemacht habe.

 Rechtlicher Rahmen

 Unionsrecht

3        Art. 273 Abs. 1 der Richtlinie 2006/112 bestimmt:

„Die Mitgliedstaaten können vorbehaltlich der Gleichbehandlung der von Steuerpflichtigen bewirkten Inlandsumsätze und innergemeinschaftlichen Umsätze weitere Pflichten vorsehen, die sie für erforderlich erachten, um eine genaue Erhebung der Steuer sicherzustellen und um Steuerhinterziehung zu vermeiden, sofern diese Pflichten im Handelsverkehr zwischen den Mitgliedstaaten nicht zu Formalitäten beim Grenzübertritt führen.“

4        Art. 342 der Richtlinie lautet:

„Die Mitgliedstaaten können hinsichtlich des Rechts auf Vorsteuerabzug Maßnahmen treffen, um zu verhindern, dass steuerpflichtigen Wiederverkäufern, die unter eine der Regelungen des Abschnitts 2 fallen, ungerechtfertigte Vor- oder Nachteile entstehen.“

 Portugiesisches Recht

5        In der Lei Geral Tributária (Allgemeines Steuergesetz), die durch das Decreto-lei Nr. 398/98 vom 17. Dezember 1998 erlassen wurde, sind die grundlegenden Prinzipien des Steuersystems, die Garantien der Steuerpflichtigen und die Befugnisse der Finanzverwaltung festgelegt. Art. 38 („Unwirksamkeit von rechtlichen Handlungen und Rechtsgeschäften“) dieses Gesetzes bestimmt:

„(1)      Die Unwirksamkeit eines Rechtsgeschäfts steht einer Besteuerung in dem Zeitpunkt, in dem sie rechtlich vorgesehen ist, nicht entgegen, sofern es bereits die von den Beteiligten erwarteten wirtschaftlichen Auswirkungen entfaltet hat.

(2)      Rechtliche Handlungen oder Rechtsgeschäfte, die in erster Linie oder hauptsächlich entweder darauf gerichtet sind, mit Hilfe künstlicher oder betrügerischer Maßnahmen oder unter Missbrauch des Rechtswegs Steuern zu verringern oder zu vermeiden oder einen Aufschub von Steuern zu erwirken, die bei demselben wirtschaftlichen Zweck dienenden Tatbeständen, rechtlichen Handlungen oder Rechtsgeschäften geschuldet würden, oder die auf die Erlangung von Steuervorteilen abzielen, die ohne den Einsatz dieser Mittel überhaupt nicht oder nur teilweise gewährt würden, sind steuerrechtlich unwirksam, so dass die Besteuerung nach den Regeln erfolgt, die anzuwenden sind, wenn keine der genannten rechtlichen Handlungen und kein derartiges Rechtsgeschäft vorliegt und die Betroffenen die fraglichen Steuervorteile nicht erhalten.“

6        Der Código de Procedimento e de Processo Tributário (Steuerverfahrensordnung, im Folgenden: CPPT) wurde durch das Decreto-lei Nr. 433/99 vom 26. Oktober 1999 erlassen und trat am 1. Januar 2000 in Kraft. Art. 63 („Anwendung der Bestimmungen zur Missbrauchsbekämpfung“) lautete in der für den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens maßgeblichen Fassung:

„(1)      Für die Erhebung von Steuern auf der Grundlage von Bestimmungen zur Missbrauchsbekämpfung im Sinne der Steuergesetzbücher und -gesetze ist die Eröffnung eines entsprechenden spezifischen Verfahrens erforderlich.

(2)      Bestimmungen zur Missbrauchsbekämpfung im Sinne des vorliegenden Gesetzes sind Rechtsvorschriften, nach denen Rechtsgeschäfte oder Rechtsakte der Finanzverwaltung gegenüber unwirksam sind, die unter offensichtlichem Missbrauch rechtlicher Formen geschlossen oder durchgeführt wurden und zur Vermeidung oder Verringerung von Steuern führen, die andernfalls zu zahlen wären.

(3)      Das im vorstehenden Absatz genannte Verfahren kann innerhalb einer Frist von drei Jahren ab der Vornahme des Rechtsakts oder dem Abschluss des Rechtsgeschäfts, auf den bzw. das die Bestimmungen zur Missbrauchsbekämpfung angewandt werden sollen, eingeleitet werden.

(4)      Die Anwendung der Bestimmungen zur Missbrauchsbekämpfung setzt die Anhörung des Steuerpflichtigen nach den gesetzlichen Bestimmungen voraus.

(5)      Das Recht auf Anhörung ist innerhalb einer Frist von 30 Tagen ab der entsprechenden Benachrichtigung des Steuerpflichtigen per Einschreiben auszuüben.

(6)      Der Steuerpflichtige kann innerhalb der im vorstehenden Absatz genannten Frist die Beweise vorlegen, die er für sachdienlich erachtet.

(7)      Die Anwendung der Bestimmungen zur Missbrauchsbekämpfung setzt nach Einhaltung der in den vorstehenden Absätzen genannten Bestimmungen die vorherige Genehmigung des Dienststellenleiters oder des von diesem hierzu befugten Beamten voraus.

(8)      Die Bestimmungen zur Missbrauchsbekämpfung sind nicht anwendbar, wenn der Steuerpflichtige die Finanzverwaltung um verbindliche Auskünfte über die Tatsachen ersucht hat, auf die sie die Anwendung dieser Bestimmungen stützt, und die Finanzverwaltung nicht innerhalb von sechs Monaten geantwortet hat.

(9)      Sofern gesetzlich nicht anders geregelt, enthält die Begründung der in Abs. 7 genannten Entscheidung Folgendes:

a)      die Beschreibung des geschlossenen Rechtsgeschäfts oder vorgenommenen Rechtsakts und ihres wahren wirtschaftlichen Gehalts;

b)      die Angabe der Gesichtspunkte, aus denen sich ergibt, dass der Abschluss des Rechtsgeschäfts oder die Vornahme des Rechtsakts ausschließlich oder im Wesentlichen dem Ziel diente, Steuern zu vermeiden, die bei einem Rechtsgeschäft oder Rechtsakt mit gleichwertigem wirtschaftlichem Gehalt zu entrichten wären;

c)      die Beschreibung der Rechtsgeschäfte oder Rechtsakte mit gleichwertigem wirtschaftlichem Gehalt wie die tatsächlich geschlossenen bzw. vorgenommenen sowie der hierfür einschlägigen Vorschriften.

(10)      Gegen die in Abs. 7 dieses Artikels genannte Genehmigung kann eine eigenständige Beschwerde eingelegt werden.“

 Ausgangsverfahren und Vorlagefrage

7        Surgicare ist eine Gesellschaft portugiesischen Rechts. Ihre Tätigkeiten umfassen zum einen die Errichtung, den Betrieb und die Verwaltung von ihr selbst oder öffentlichen oder privaten dritten Einrichtungen gehörenden Gesundheitseinrichtungen und zum anderen die Erbringung von medizinischen und chirurgischen Dienstleistungen im Allgemeinen, von Leistungen häuslicher und ambulanter Pflege sowie therapeutische und andere mit den vorstehend genannten Tätigkeiten zusammenhängende oder diese ergänzende Tätigkeiten.

8        Im Zeitraum von 2003 bis 2007 ließ Surgicare auf einem in ihrem Eigentum stehenden Grundstück eine Klinik errichten und rüstete diese mit medizinischen Geräten aus. Während der Bauzeit und der Einrichtung der Klinik bewirkte Surgicare keine steuerpflichtigen Umsätze und bildete daher Mehrwertsteuerguthaben.

9        Nach dem Bau der Klinik übertrug Surgicare deren Betrieb am 1. Juli 2007 an die Clínica Parque dos Poetas SA, eine Gesellschaft mit denselben Anteilseignern, die zur selben Unternehmensgruppe wie Surgicare, nämlich der Espírito Santo Saúde-Gruppe, gehört.

10      Nach dieser Übertragung, bei der es sich nach Ansicht von Surgicare um einen mehrwertsteuerpflichtigen Umsatz handelte, zog diese von der Steuer, die sie der Fazenda Pública für die von der Übernehmerin gezahlte Miete schuldete, die Mehrwertsteuer ab, die sie für den Erwerb von Waren und Dienstleistungen für den Bau und die Einrichtung der Klinik gezahlt hatte. Surgicare wandte als gemischt Steuerpflichtige die Methode der tatsächlichen Zuordnung aller erworbenen Waren und Dienstleistungen an.

11      Die Fazenda Pública führte hinsichtlich der von Surgicare in den Jahren 2005 bis 2007 entfalteten Tätigkeiten eine Steuerprüfung durch und kam zu dem Ergebnis, dass die Gesellschaft in missbräuchlicher Weise von dem Recht auf Erstattung der Mehrwertsteuer Gebrauch gemacht habe. Nach Ansicht der Fazenda Pública hatte die Übertragung des Betriebs an eine von derselben Unternehmensgruppe zu diesem Zweck gegründete Gesellschaft allein den Zweck, es Surgicare nachträglich zu ermöglichen, ein Recht auf Abzug der beim Bau und der Einrichtung des Gebäudes entrichteten Vorsteuer zu begründen, während sie dieses Recht nicht hätte in Anspruch nehmen können, wenn sie diese Klinik selbst betrieben hätte, da diese Tätigkeit von der Mehrwertsteuer befreit ist. Demzufolge übermittelte die Fazenda Pública Surgicare im Jahr 2010 einen Erhebungsbescheid über die von diesen Unternehmen in den Jahren 2005 bis 2007 missbräuchlich abgezogene Mehrwertsteuer zuzüglich Verzugszinsen, d. h. über einen Gesamtbetrag von 1 762 111,04 Euro.

12      Surgicare focht diesen Erhebungsbescheid beim Tribunal tributário de Lisboa (Finanzgericht Lissabon) mit der Begründung an, dass er rechtswidrig sei, zum einen, weil die Fazenda Pública nicht das vorgeschriebene besondere Verfahren nach Art. 63 CPPT angewandt habe, und zum anderen, weil die fraglichen Praktiken nicht missbräuchlich seien.

13      Mit Urteil vom 25. Oktober 2012 wies das Finanzgericht die Klage als unbegründet ab. Dagegen legte Surgicare beim vorlegenden Gericht Berufung ein.

14      Letzteres ist der Auffassung, dass die Fazenda Pública, wenn sie einen Verdacht auf missbräuchliche Praktiken hege, das Verfahren nach Art. 63 CPPT einleiten müsse. Es wirft jedoch die Frage auf, ob dieses Verfahren angesichts der Tatsache, dass das Mehrwertsteuersystem auf dem Unionsrecht beruht, anwendbar ist.

15      Unter diesen Umständen hat das Supremo Tribunal Administrativo (Oberster Verwaltungsgerichtshof) das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:

Ist in dem Fall, in dem die Finanzverwaltung den Verdacht hegt, dass eine missbräuchliche Praxis vorliegt, die der Erlangung einer Mehrwertsteuererstattung dient, angesichts der Tatsache, dass das portugiesische Recht zwingend die vorherige Durchführung eines auf missbräuchliche Praktiken im Steuerbereich anwendbaren Verfahrens vorsieht, davon auszugehen, dass dieses Verfahren in Mehrwertsteuerangelegenheiten aufgrund der gemeinschaftlichen Grundlage dieser Steuer unanwendbar ist?

 Zur Vorlagefrage

 Zulässigkeit

16      Die portugiesische Regierung vertritt im Wesentlichen die Auffassung, dass das Vorabentscheidungsersuchen offensichtlich unzulässig sei, und zwar erstens, weil das vorlegende Gericht nicht die unionsrechtlichen Vorschriften oder Regeln angegeben habe, um deren Auslegung es ersuche, zweitens, weil es nicht die Gründe genannt habe, weshalb es an der Vereinbarkeit der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden nationalen Rechtsvorschrift mit dem Unionsrecht zweifele, und drittens, weil es zwei verschiedene Fassungen von Art. 63 CPPT vorgelegt habe, von denen keine für die Beurteilung des dem Ausgangsverfahren zugrunde liegenden Sachverhalts einschlägig sei. Außerdem sei Art. 63 CPPT eine rein innerstaatliche Vorschrift, die keine unionsrechtliche Vorschrift wiedergebe oder umsetze. Der Gerichtshof sei deshalb nicht dafür zuständig, sich im Rahmen eines Vorabentscheidungsverfahrens zum Inhalt oder zur Tragweite dieser innerstaatlichen Rechtsvorschrift zu äußern.

17      Was erstens die fehlende Präzisierung der unionsrechtlichen Vorschriften angeht, um deren Auslegung gebeten wird, ist zunächst auf die Rechtsprechung des Gerichtshofs hinzuweisen, wonach dieser, wenn in einer Vorlagefrage nur auf das Unionsrecht verwiesen wird, ohne die Vorschriften dieses Rechts, auf die Bezug genommen wird, zu nennen, aus dem gesamten von dem vorlegenden Gericht übermittelten Material, insbesondere aus der Begründung der Vorlageentscheidung, diejenigen Vorschriften des Unionsrechts herauszuarbeiten hat, die unter Berücksichtigung des Gegenstands des Rechtsstreits einer Auslegung bedürfen (vgl. in diesem Sinne Urteile Bekaert, 204/87, EU:C:1988:192, Rn. 6 und 7, und Kattner Stahlbau, C-350/07, EU:C:2009:127, Rn. 26).

18      Aus der Vorlageentscheidung ergibt sich eindeutig, dass mit dieser Frage Aufschluss darüber begehrt wird, ob das Unionsrecht im Bereich der Mehrwertsteuer und insbesondere die unionsrechtlichen Vorschriften zur Bekämpfung von Mehrwertsteuerbetrug dem entgegenstehen, dass im innerstaatlichen Recht ein Verwaltungsverfahren eingeführt wird, das die Finanzverwaltung anwenden muss, wenn sie einen Verdacht auf missbräuchliche Praktiken im Steuerbereich hegt.

19      Hierzu ist daran zu erinnern, dass die Bekämpfung von Steuerhinterziehungen, Steuerumgehungen und etwaigen Missbräuchen ein Ziel ist, das von den Richtlinien der Union auf dem Gebiet der Mehrwertsteuer anerkannt und gefördert wird (vgl. Urteile Gemeente Leusden und Holin Groep, C-487/01 und C-7/02, EU:C:2004:263, Rn. 76, Halifax u. a., C-255/02, EU:C:2006:121, Rn. 71, R., C-285/09, EU:C:2010:742, Rn. 36, Tanoarch, C-504/10, EU:C:2011:707, Rn. 50, und Bonik, C-285/11, EU:C:2012:774, Rn. 35).

20      Daher können die Mitgliedstaaten nach Art. 273 der Richtlinie 2006/112 Maßnahmen ergreifen, die erforderlich sind, um eine genaue Erhebung der Mehrwertsteuer sicherzustellen und um Steuerhinterziehung zu vermeiden. Hinsichtlich des Rechts auf Vorsteuerabzug können die Mitgliedstaaten gemäß Art. 342 dieser Richtlinie die Mechanismen vorsehen, mit denen sich verhindern lässt, dass Steuerpflichtigen ungerechtfertigte Vor- oder Nachteile entstehen.

21      Was zweitens die Tatsache angeht, dass das vorlegende Gericht nicht die Gründe genannt hat, aus denen es an der Vereinbarkeit des nationalen Rechts mit dem Unionsrecht zweifelt, ist festzustellen, dass das genannte Gericht dem Gerichtshof das Vorbringen der Parteien so dargelegt hat, dass diese Zweifel offenkundig sind. Hinsichtlich der Erforderlichkeit der Antwort auf die Vorlagefrage für die Entscheidung des Ausgangsverfahrens trägt das vorlegende Gericht vor, dass eine Prüfung, ob im Ausgangsverfahren eine missbräuchliche Praxis vorliegt, nicht mehr vorgenommen werden müsste, falls der Gerichtshof feststellen sollte, dass dieses nationale Verfahren mit dem Unionsrecht vereinbar ist.

22      Drittens ist in Bezug auf die angeblich unzutreffende Darlegung der nationalen Regelung in der Vorlageentscheidung darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof den vom vorlegenden Gericht festgelegten tatsächlichen und rechtlichen Rahmen zu berücksichtigen hat. Die Bestimmung der in zeitlicher Hinsicht anwendbaren nationalen Rechtsvorschriften ist nämlich eine Frage der Auslegung des nationalen Rechts, die nicht in die Zuständigkeit des Gerichtshofs im Rahmen eines Vorabentscheidungsersuchens fällt (vgl. Urteil Texdata Software, C-418/11, EU:C:2013:588, Rn. 29 und 41). Deshalb ist die Vorlagefrage unter Berücksichtigung der Fassung von Art. 63 CPPT zu beantworten, die dem vorlegenden Gericht zufolge zur Zeit der für das Ausgangsverfahren maßgebenden Ereignisse galt.

23      Daraus folgt, dass das Vorabentscheidungsersuchen zulässig ist.

 Zur Frage selbst

24      Das vorlegende Gericht möchte mit seiner Frage wissen, ob die Richtlinie 2006/112 der vorherigen und zwingenden Anwendung eines nationalen Verwaltungsverfahrens wie dem in Art. 63 CPPT vorgesehenen entgegensteht, wenn die Finanzverwaltung den Verdacht hegt, dass eine missbräuchliche Praxis vorliegt.

25      Die Mitgliedstaaten sind zwar gemäß der Richtlinie 2006/112 im Einklang mit der in Rn. 19 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung befugt, Maßnahmen zu ergreifen, die erforderlich sind, um eine genaue Erhebung der Mehrwertsteuer sicherzustellen und um Steuerhinterziehung zu vermeiden, jedoch enthält diese Richtlinie keine Vorschrift, die den genauen Inhalt der von den Mitgliedstaaten zu diesem Zweck zu ergreifenden Maßnahmen konkretisiert.

26      In Ermangelung einer einschlägigen unionsrechtlichen Regelung ist die Durchführung der Bekämpfung von Mehrwertsteuerbetrug nach dem Grundsatz der Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten Sache der innerstaatlichen Rechtsordnung der Mitgliedstaaten. Nach der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs ist es Sache der innerstaatlichen Rechtsordnung der einzelnen Mitgliedstaaten, u. a. die für die Bekämpfung von Mehrwertsteuerbetrug zuständigen Behörden zu bestimmen und die Modalitäten der Verfahren zu regeln, die den Schutz der dem Einzelnen aus dem Unionsrecht erwachsenden Rechte gewährleisten sollen, sofern sie nicht ungünstiger sind als diejenigen, die gleichartige Sachverhalte innerstaatlicher Art regeln (Äquivalenzgrundsatz) und die Ausübung der durch die Unionsrechtsordnung verliehenen Rechte nicht praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren (Effektivitätsgrundsatz) (vgl. in diesem Sinne Urteile Marks & Spencer, C-62/00, EU:C:2002:435, Rn. 34, Fallimento Olimpiclub, C-2/08, EU:C:2009:506, Rn. 24, Alstom Power Hydro, C-472/08, EU:C:2010:32, Rn. 17, und ADV Allround, C-218/10, EU:C:2012:35, Rn. 35).

27      Es ist Sache des vorlegenden Gerichts, festzustellen, ob die nationalen Maßnahmen mit diesen Grundsätzen unter Berücksichtigung aller Umstände des Ausgangsverfahrens vereinbar sind (vgl. in diesem Sinne Urteil Littlewoods Retail u. a., C-591/10, EU:C:2012:478, Rn. 30). Der Gerichtshof kann dem vorlegenden Gericht hierzu allerdings im Rahmen der Vorabentscheidung alle zweckdienlichen Hinweise geben (vgl. in diesem Sinne u. a. Urteil Partena, C-137/11, EU:C:2012:593, Rn. 30).

28      Was erstens den Effektivitätsgrundsatz angeht, ist darauf hinzuweisen, dass jeder Fall, in dem sich die Frage stellt, ob eine nationale Verfahrensvorschrift die Ausübung der dem Einzelnen aus der Unionsrechtsordnung erwachsenden Rechte unmöglich macht oder übermäßig erschwert, unter Berücksichtigung der Stellung dieser Vorschrift im gesamten Verfahren, des Verfahrensablaufs und der Besonderheiten des Verfahrens vor den verschiedenen nationalen Stellen zu prüfen ist. Dabei sind die Grundsätze zu berücksichtigen, die dem nationalen Rechtsschutzsystem zugrunde liegen, wie z. B. der Schutz der Verteidigungsrechte, der Grundsatz der Rechtssicherheit und der ordnungsgemäße Ablauf des Verfahrens (vgl. Urteile Peterbroeck, C-312/93, EU:C:1995:437, Rn. 14, und Fallimento Olimpiclub, EU:C:2009:506, Rn. 27).

29      Im vorliegenden Fall ist das nach Art. 63 CPPT vorgesehene, mit einer Ausschlussfrist von drei Jahren versehene besondere Verfahren gekennzeichnet durch eine vorherige Anhörung des Betroffenen innerhalb einer Frist von 30 Tagen, die Vorlage von Beweisen durch den Betroffenen, die dieser für sachdienlich erachtet, und den Erhalt einer Genehmigung des Dienststellenleiters oder des von diesem hierzu befugten Beamten, um die Bestimmungen zur Missbrauchsbekämpfung anwenden zu können. Außerdem muss die erlassene Entscheidung gemäß dieser Vorschrift mit einer Begründung versehen sein. Das fragliche nationale Verfahren ist unter diesen Gesichtspunkten für die Person, die im Verdacht steht, rechtsmissbräuchlich gehandelt zu haben, von Vorteil, denn es soll bestimmte Grundrechte, insbesondere den Anspruch auf rechtliches Gehör, gewährleisten.

30      Was zweitens den Äquivalenzgrundsatz betrifft, setzt dessen Wahrung voraus, dass die nationale Regelung in gleicher Weise für Rechtsbehelfe gilt, die auf die Verletzung des Unionsrechts gestützt sind, wie für solche, die auf die Verletzung des innerstaatlichen Rechts gestützt sind, sofern diese Rechtsbehelfe einen ähnlichen Gegenstand und Rechtsgrund haben (vgl. Urteil Littlewoods Retail u. a., EU:C:2012:478, Rn. 31).

31      In Bezug auf das Ausgangsverfahren kann – wie sich aus den Ausführungen in Rn. 29 des vorliegenden Urteils ergibt – nicht ausgeschlossen werden, dass die Wahrung des Äquivalenzgrundsatzes die Anwendung des besonderen Verfahrens erfordert, wenn ein Steuerpflichtiger im Verdacht steht, einen Mehrwertsteuerbetrug begangen zu haben.

32      Auf jeden Fall zeigt sich in Anbetracht der dem Gerichtshof vom nationalen Gericht unterbreiteten Gesichtspunkte nicht, dass die Anwendung des nach Art. 63 CPPT vorgesehenen nationalen Verfahrens als solche dem von der in Rn. 19 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung anerkannten Ziel, Steuerhinterziehungen, Steuerumgehungen und etwaige Missbräuche zu bekämpfen, entgegensteht.

33      Außerdem ist es zwar Sache des nationalen Gesetzgebers, die wirksame Umsetzung dieses Ziels zu gewährleisten, doch muss er insoweit die Erfordernisse eines effektiven gerichtlichen Schutzes der den Einzelnen durch das Unionsrecht verliehenen Rechte einhalten, der durch Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union garantiert wird (vgl. in diesem Sinne Urteil Banif Plus Bank, C-472/11, EU:C:2013:88, Rn. 29 und die dort angeführte Rechtsprechung).

34      Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass die Richtlinie 2006/112 dahin auszulegen ist, dass sie der vorherigen und zwingenden Anwendung eines nationalen Verwaltungsverfahrens wie dem in Art. 63 CPPT vorgesehenen nicht entgegensteht, wenn die Finanzverwaltung den Verdacht hegt, dass eine missbräuchliche Praxis vorliegt.

 Kosten

35      Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Neunte Kammer) für Recht erkannt:

Die Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem ist dahin auszulegen, dass sie der vorherigen und zwingenden Anwendung eines nationalen Verwaltungsverfahrens wie dem in Art. 63 des Código de Procedimento e de Processo Tributário vorgesehenen nicht entgegensteht, wenn die Finanzverwaltung den Verdacht hegt, dass eine missbräuchliche Praxis vorliegt.

Unterschriften


* Verfahrenssprache: Portugiesisch.