Available languages

Taxonomy tags

Info

References in this case

Share

Highlight in text

Go

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Dritte Kammer)

23. April 2015(*)

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Steuerwesen – Sechste Mehrwertsteuerrichtlinie – Art. 11 Teil A – Zuordnung eines Gegenstands, der mit einer Lieferung gegen Entgelt gleichgestellt ist – Zuordnung eines Gebäudes zu einer mehrwertsteuerbefreiten Tätigkeit – Besteuerungsgrundlage für diese Zuordnung – Während der Errichtung des Gebäudes gezahlte Fremdkapitalzinsen“

In der Rechtssache C-16/14

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Hof van beroep te Gent (Belgien) mit Entscheidung vom 7. Januar 2014, beim Gerichtshof eingegangen am 16. Januar 2014, in dem Verfahren

Property Development Company NV

gegen

Belgische Staat

erlässt

DER GERICHTSHOF (Dritte Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten M. Ilešič (Berichterstatter), des Richters A. Ó Caoimh, der Richterin C. Toader sowie der Richter E. Jarašiūnas und C. G. Fernlund,

Generalanwalt: M. Szpunar,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

–        der Property Development Company NV, vertreten durch M. Vanden Broeck und S. Geluyckens, advocaten,

–        der belgischen Regierung, vertreten durch M. Jacobs und J.-C. Halleux als Bevollmächtigte,

–        der griechischen Regierung, vertreten durch K. Paraskevopoulou und M. Skorila als Bevollmächtigte,

–        der finnischen Regierung, vertreten durch S. Hartikainen als Bevollmächtigten,

–        der Europäischen Kommission, vertreten durch L. Lozano Palacios und G. Wils als Bevollmächtigte,

aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,

folgendes

Urteil

1        Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 11 Teil A der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage (ABl. L 145, S. 1, und Berichtigung ABl. L 149, S. 26, im Folgenden: Sechste Richtlinie).

2        Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Property Development Company NV (im Folgenden: Prodeco) und dem belgischen Staat über die Mehrwertsteuer, zu der die Zuordnung eines Gebäudes zu einer Vermietungstätigkeit Anlass gegeben hat.

 Rechtlicher Rahmen

 Unionsrecht

3        Die Sechste Richtlinie wurde durch die Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. L 347, S. 1) mit Wirkung vom 1. Januar 2007 aufgehoben und ersetzt. In Anbetracht des für den Sachverhalt maßgeblichen Zeitpunkts gilt für den Ausgangsrechtsstreit jedoch weiterhin die Sechste Richtlinie.

4        Art. 2 der Sechsten Richtlinie sah vor:

„Der Mehrwertsteuer unterliegen:

1.      Lieferungen von Gegenständen und Dienstleistungen, die ein Steuerpflichtiger als solcher im Inland gegen Entgelt ausführt;

2.      die Einfuhr von Gegenständen.“

5        Art. 4 dieser Richtlinie bestimmte:

„(1)      Als Steuerpflichtiger gilt, wer eine der in Absatz 2 genannten wirtschaftlichen Tätigkeiten selbständig und unabhängig von ihrem Ort ausübt …

(2)      Die in Absatz 1 genannten wirtschaftlichen Tätigkeiten sind alle Tätigkeiten eines Erzeugers, Händlers oder Dienstleistenden … Als wirtschaftliche Tätigkeit gilt auch eine Leistung, die die Nutzung von körperlichen oder nicht körperlichen Gegenständen zur nachhaltigen Erzielung von Einnahmen umfasst.

…“

6        Abschnitt V („Steuerbarer Umsatz“) der Sechsten Richtlinie umfasste die Art. 5 bis 7 dieser Richtlinie, die mit „Lieferung von Gegenständen“, „Dienstleistungen“ und „Einfuhren“ überschrieben waren.

7        In Art. 5 der Sechsten Richtlinie hieß es:

„(1)      Als Lieferung eines Gegenstands gilt die Übertragung der Befähigung, wie ein Eigentümer über einen körperlichen Gegenstand zu verfügen.

(6)      Einer Lieferung gegen Entgelt gleichgestellt wird die Entnahme eines Gegenstands durch einen Steuerpflichtigen aus seinem Unternehmen für seinen privaten Bedarf, für den Bedarf seines Personals oder als unentgeltliche Zuwendung oder allgemein für unternehmensfremde Zwecke, wenn dieser Gegenstand oder seine Bestandteile zu einem vollen oder teilweisen Abzug der Mehrwertsteuer berechtigt haben. Jedoch fallen Entnahmen für Geschenke von geringem Wert und für Warenmuster zu Zwecken des Unternehmens nicht darunter.

(7)      Die Mitgliedstaaten können einer Lieferung gegen Entgelt gleichstellen:

a)      die Zuordnung eines im Rahmen seines Unternehmens hergestellten, gewonnenen, be- oder verarbeiteten, gekauften oder eingeführten Gegenstands durch einen Steuerpflichtigen für Zwecke seines Unternehmens, falls ihn der Erwerb eines solchen Gegenstands von einem anderen Steuerpflichtigen nicht zum vollen Abzug der Mehrwertsteuer berechtigen würde;

b)      die Zuordnung eines Gegenstands durch einen Steuerpflichtigen zu einem nicht besteuerten Tätigkeitsbereich, wenn dieser Gegenstand bei seiner Anschaffung oder seiner Zuordnung nach Buchstabe a) zum vollen oder teilweisen Abzug der Mehrwertsteuer berechtigt hat;

…“

8        Art. 11 dieser Richtlinie sah vor:

„A.      Im Inland

(1)      Die Besteuerungsgrundlage ist:

a)      bei Lieferungen von Gegenständen und Dienstleistungen, die nicht unter den Buchstaben b), c) und d) genannt sind, alles, was den Wert der Gegenleistung bildet, die der Lieferer oder Dienstleistende für diese Umsätze vom Abnehmer oder Dienstleistungsempfänger oder von einem Dritten erhält oder erhalten soll …

b)      bei den in Artikel 5 Absätze 6 und 7 genannten Umsätzen der Einkaufspreis für die Gegenstände oder für gleichartige Gegenstände oder mangels eines Einkaufspreises der Selbstkostenpreis, und zwar jeweils zu den Preisen, die im Zeitpunkt der Bewirkung dieser Umsätze festgestellt werden;

(2)      In die Besteuerungsgrundlage sind einzubeziehen:

a)      die Steuern, Zölle, Abschöpfungen und Abgaben mit Ausnahme der Mehrwertsteuer selbst;

b)      die Nebenkosten wie Provisions-, Verpackungs-, Beförderungs- und Versicherungskosten, die der Leistungserbringer von dem Abnehmer oder Dienstleistungsempfänger fordert. Die Mitgliedstaaten können als Nebenkosten Kosten ansehen, die Gegenstand einer gesonderten Vereinbarung sind.

…“

9        Die Art. 18, 73 und 74 der Richtlinie 2006/112 entsprechen jeweils Art. 5 Abs. 7, Art. 11 Teil A Abs. 1 Buchst. a und Art. 11 Teil A Abs. 1 Buchst. b der Sechsten Richtlinie.

 Belgisches Recht

10      Art. 12 Abs. 1 des Gesetzes zur Einführung des Mehrwertsteuergesetzbuches vom 3. Juli 1969 (wetboek van de belasting over de toegevoegde waarde, Belgisch Staatsblad vom 17. Juli 1969, S. 7046) in der auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren Fassung (im Folgenden: MwStG) bestimmt:

„Einer Lieferung gegen Entgelt gleichgesetzt werden:

3.      die Benutzung eines Gutes durch einen Steuerpflichtigen als Investitionsgut, das er nicht als Investitionsgut gebaut hat, hat bauen lassen, hergestellt hat, hat herstellen lassen, erworben hat oder eingeführt hat oder auf das unter Anwendung der Steuer dingliche Rechte … zugunsten des Steuerpflichtigen begründet, abgetreten oder zurückabgetreten wurden, wenn dieses Gut oder seine Bestandteile zum vollen oder teilweisen Abzug der Steuer berechtigt haben;

…“

11      Mit diesem Art. 12 Abs. 1 Nr. 3 hat der belgische Gesetzgeber von der in Art. 5 Abs. 7 Buchst. a und b der Sechsten Richtlinie vorgesehenen Möglichkeit Gebrauch gemacht.

12      Art. 26 MwStG lautet:

„Für Lieferungen von Gütern und für Dienstleistungen wird die Steuer auf der Grundlage von all dem berechnet, was den Wert der Gegenleistung bildet, die der Lieferer des Gutes oder der Dienstleistende von demjenigen, zu dessen Gunsten die Lieferung des Gutes oder die Dienstleistung bewirkt wird, oder von einem Dritten erhält oder erhalten soll, einschließlich der unmittelbar mit dem Preis dieser Umsätze zusammenhängenden Subventionen.

Die Besteuerungsgrundlage umfasst unter anderem die Beträge, die der Lieferer des Gutes oder der Dienstleistende demjenigen, zu dessen Gunsten die Lieferung des Gutes oder die Dienstleistung bewirkt wird, für Provisions-, Versicherungs- und Beförderungskosten in Rechnung stellt, ungeachtet ob sie Gegenstand einer gesonderten Lastschrift oder einer gesonderten Vereinbarung sind.

In die Besteuerungsgrundlage sind ebenfalls Steuern, Zölle, Abschöpfungen und Abgaben einzubeziehen.“

13      Art. 33 Abs. 1 dieses Gesetzes bestimmt:

„Die Besteuerungsgrundlage ist:

1.      bei den … in Artikel 12 erwähnten Umsätzen der Einkaufspreis der Güter oder gleichartiger Güter oder mangels Einkaufspreis der Selbstkostenpreis, und zwar jeweils zu den Preisen, die zum Zeitpunkt der Bewirkung dieser Umsätze festgestellt werden, gegebenenfalls unter Berücksichtigung von Artikel 26 Absatz 2 und 3 …

…“

14      Art. 22a Abs. 1 des Königlichen Erlasses über den Jahresabschluss der Unternehmen vom 8. Oktober 1976 (Koninklijk besluit van 8 oktober 1976 met betrekking tot de jaarrekening van de ondernemingen, Belgisch Staatsblad vom 19. Oktober 1976, S. 13460) und Art. 38 des Königlichen Erlasses zur Ausführung des Gesellschaftsgesetzbuches vom 30. Januar 2001 (Koninklijk besluit van 30 januari 2001 tot uitvoering van het wetboek van vennootschappen, Belgisch Staatsblad vom 6. Februar 2001, S. 3008) lauten:

„In den Anschaffungswert von immateriellen Anlagewerten und Sachanlagen dürfen Zinsen für Fremdkapital, das zu ihrer Finanzierung gebraucht wird, nur einbezogen werden, sofern sie auf den Zeitraum vor der tatsächlichen Inbetriebnahme dieser Gegenstände des Anlagevermögens entfallen.“

 Ausgangsverfahren und Vorlagefrage

15      Prodeco ließ zwischen 1991 und 1994 ein Bürogebäude errichten, um es zu verkaufen. Daher verbuchte sie es als Bestand. Bei der Bewertung ihrer Bestände aktivierte Prodeco gemäß den von ihr festgelegten Bewertungsregeln die während der Bauzeit angefallenen Fremdkapitalkosten (im Folgenden: Fremdkapitalzinsen).

16      Bei diesen Fremdkapitalzinsen handelte es sich um Zinsen, die zum Zinssatz des zur Errichtung des Gebäudes aufgenommenen Darlehens auf die während der Bauzeit freigegebenen Darlehenssummen gezahlt wurden.

17      Prodeco zog die Mehrwertsteuer, die sie auf die Lieferungen und Dienstleistungen im Zusammenhang mit der Errichtung des Gebäudes gezahlt hatte, als Vorsteuer ab.

18      In Erwartung des Verkaufs des in Rede stehenden Gebäudes, zu dem es schließlich im Jahr 2000 kam, vermietete Prodeco im Jahr 1995 und in den Folgejahren einen Teil dieses Gebäudes. Während dieser wirtschaftlichen Tätigkeit ließ sie die Anwendbarkeit von Art. 12 Abs. 1 Nr. 3 MwStG in ihren Steueranmeldungen unberücksichtigt, was bei einer Kontrolle durch die belgische Steuerverwaltung im Jahr 1998 als Verstoß gegen diese Bestimmung gewertet wurde.

19      Prodeco zahlte den Teil des von der belgischen Steuerverwaltung verlangten Betrags, der der gesamten Mehrwertsteuer entsprach, die zuvor auf die für die Errichtung des Bürogebäudes eingehenden Rechnungen in Abzug gebracht worden war, nämlich 1 178 489 Euro.

20      Sie weigerte sich jedoch, den restlichen Teil – 554 416,67 Euro – des von der belgischen Steuerverwaltung verlangten Mehrwertsteuerbetrags zu zahlen. Dieser Betrag war auf der Grundlage der Zinszahlungen von Prodeco im Rahmen des Darlehens berechnet, mit dem die Errichtung des Gebäudes finanziert worden war.

21      Im Jahr 2004 wurde Prodeco ein Zahlungsbefehl über diesen Mehrwertsteuerbetrag zugestellt. Hiergegen erhob sie bei der Rechtbank van eerste aanleg te Antwerpen (Gericht erster Instanz Antwerpen) Klage, die mit Urteil vom 9. Mai 2008 abgewiesen wurde.

22      Prodeco legte gegen dieses Urteil Berufung beim Hof van beroep te Antwerpen (Berufungsgericht Antwerpen) ein. Dieses Gericht gab der Berufung mit Urteil vom 16. Februar 2010 in Bezug auf die Fremdkapitalzinsen statt, die im Fall der Anwendbarkeit von Art. 12 Abs. 1 Nr. 3 des MwStG nicht Teil der Besteuerungsgrundlage seien.

23      Die belgische Steuerverwaltung legte gegen dieses Urteil Kassationsbeschwerde ein. Mit Urteil vom 19. Januar 2012 hob der Hof van Cassatie (Kassationsgerichtshof) das Berufungsurteil insoweit auf, als über die Frage der Fremdkapitalzinsen entschieden wurde, und verwies die Rechtssache an den Hof van beroep te Gent (Berufungsgericht Gent).

24      Der Hof van beroep te Gent führt aus, dass sich der Hof van Cassatie zur Begründung seiner Entscheidung, dass die Fremdkapitalzinsen Teil der Besteuerungsgrundlage sein müssten, auf das Urteil Muys’ en De Winter’s Bouw- en Aannemingsbedrijf (C-281/91, EU:C:1993:855) gestützt habe. In diesem Urteil habe der Gerichtshof entschieden, dass, wenn ein Lieferant von Gegenständen oder ein Erbringer von Dienstleistungen einem Kunden bis zur Lieferung einen Zahlungsaufschub gegen Zahlung von Zinsen einräumt, diese Zinsen einen Bestandteil der für die Lieferung der Gegenstände oder die Dienstleistung empfangenen Gegenleistung im Sinne von Art. 11 Teil A Abs. 1 Buchst. a der Sechsten Richtlinie bildeten.

25      Nach Ansicht des Hof van beroep te Gent stellt sich, obwohl sich der Hof van Cassatie eindeutig geäußert habe, weiterhin die Frage, ob Fremdkapitalzinsen zu berücksichtigen seien.

26      Das Urteil Muys’ en De Winter’s Bouw- en Aannemingsbedrijf (C-281/91, EU:C:1993:855) zur Auslegung von Art. 11 Teil A Abs. 1 Buchst. a der Sechsten Richtlinie sei in einem Fall wie dem des Ausgangsverfahrens nicht unbedingt einschlägig. Die Fremdkapitalzinsen seien vielmehr als Teil des „Selbstkostenpreises“ anzusehen, der einer der in Art. 11 Teil A Abs. 1 Buchst. b der Sechsten Richtlinie genannten Referenzwerte sei, oder als „Nebenkosten“ im Sinne des Art. 11 Teil A Abs. 2 der Richtlinie.

27      Für diese Schlussfolgerung spreche Art. 35 Abs. 4 der Vierten Richtlinie 78/660/EWG des Rates vom 25. Juli 1978 aufgrund von Artikel 54 Absatz 3 Buchstabe g) des Vertrages über den Jahresabschluss von Gesellschaften bestimmter Rechtsformen (ABl. L 222, S. 11). In dieser Bestimmung, die mit Art. 22a Abs. 1 des Königlichen Erlasses über den Jahresabschluss der Unternehmen vom 8. Oktober 1976 in belgisches Recht umgesetzt worden sei, hieß es, dass „Zinsen für Fremdkapital, das zur Finanzierung der Herstellung von Gegenständen des Anlagevermögens gebraucht wird, … in die Herstellungskosten einbezogen werden [dürfen], sofern sie auf den Zeitraum der Herstellung entfallen“.

28      Im Übrigen sei auch der Neutralitätsgrundsatz zu berücksichtigen. Denn Fremdkapitalzinsen unterlägen nicht der Mehrwertsteuer und berechtigten damit – anders als Lieferungen und Dienstleistungen im Zusammenhang mit der Errichtung des Gebäudes – nicht zum Vorsteuerabzug.

29      Unter diesen Umständen hat der Hof van beroep te Gent das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:

Sind Fremdkapitalzinsen, die gemäß Art. 35 Abs. 4 der Vierten Richtlinie 78/660 insoweit in die Herstellungskosten einbezogen werden dürfen, als sie auf den Zeitraum der Herstellung entfallen, Teil der Besteuerungsgrundlage für eine Entnahme im Sinne von Art. 5 Abs. 6 der Sechsten Richtlinie, insbesondere des „Selbstkostenpreises“ im Sinne von Art. 11 Teil A Abs. 1 Buchst. b der Sechsten Richtlinie und/oder der Nebenkosten im Sinne von deren Art. 11 Teil A Abs. 2?

30      Mit Schreiben vom 8. Oktober 2014 hat die Kanzlei des Gerichtshofs dem vorlegenden Gericht ein Ersuchen um Klarstellung übermittelt, um insbesondere zu klären, ob der im Ausgangsverfahren in Rede stehende steuerbare Umsatz nach Ansicht dieses Gerichts unter Art. 5 Abs. 6 oder unter Art. 5 Abs. 7 der Sechsten Richtlinie fällt. Das vorlegende Gericht ist außerdem aufgefordert worden, zu prüfen, ob der im Ausgangsverfahren maßgebliche Referenzwert der Selbstkostenpreis oder der Einkaufspreis gleichartiger Gegenstände ist.

31      In seiner Antwort, die am 11. Februar 2015 beim Gerichtshof eingegangen ist, hat das vorlegende Gericht ausgeführt, dass die Zuordnung des fraglichen Gebäudes durch Prodeco zu einer mehrwertsteuerbefreiten wirtschaftlichen Tätigkeit, die in der Vermietung dieses Gebäudes bestehe, unter Art. 5 Abs. 7 Buchst. b der Sechsten Richtlinie falle und dass von den in Art. 11 Teil A der Sechsten Richtlinie genannten Referenzwerten der Einkaufspreis gleichartiger Gegenstände im Sinne von Art. 11 Teil A Abs. 1 Buchst. b für die Entscheidung im Ausgangsverfahren einschlägig sei.

 Zur Vorlagefrage

32      In Anbetracht der Antwort des vorlegenden Gerichts auf das Ersuchen des Gerichtshofs um Klarstellung ist die Vorlagefrage so zu verstehen, dass geklärt werden soll, ob Art. 11 Teil A Abs. 1 Buchst. b der Sechsten Richtlinie in einem Fall wie dem des Ausgangsverfahrens dahin auszulegen ist, dass die Besteuerungsgrundlage für die Berechnung der Mehrwertsteuer auf die Zuordnung im Sinne von Art. 5 Abs. 7 Buchst. b dieser Richtlinie eines Gebäudes, das der Steuerpflichtige errichten ließ, die während der Errichtung gezahlten Fremdkapitalzinsen umfassen muss.

33      Es ist zunächst darauf hinzuweisen, dass die in Art. 11 Teil A Abs. 1 Buchst. b der Sechsten Richtlinie genannte Regel, nach der die Besteuerungsgrundlage bei den in Art. 5 Abs. 6 und 7 dieser Richtlinie genannten Umsätzen der „Einkaufspreis für die Gegenstände oder für gleichartige Gegenstände oder mangels eines Einkaufspreises der Selbstkostenpreis [ist], und zwar jeweils zu den Preisen, die im Zeitpunkt der Bewirkung dieser Umsätze festgestellt werden“, von der allgemeinen Regel von Art. 11 Teil A Abs. 1 Buchst. a dieser Richtlinie abweicht, nach der die Besteuerungsgrundlage bei Umsätzen, die der Mehrwertsteuer unterliegen, alles ist, was „den Wert der Gegenleistung bildet, die der Lieferer oder Dienstleistende … vom Abnehmer oder Dienstleistungsempfänger oder von einem Dritten erhält oder erhalten soll“ (vgl. entsprechend zu den Art. 73 und 74 der Richtlinie 2006/112 Urteil Marinov, C-142/12, EU:C:2013:292, Rn. 31).

34      Zu den Umsätzen, auf die in Art. 5 Abs. 6 und 7 der Sechsten Richtlinie Bezug genommen wird, gehören Entnahmen von Gegenständen durch den Steuerpflichtigen für seinen privaten Bedarf oder für den Bedarf seines Personals oder, wie im vorliegenden Fall, Zuordnungen zu einer mehrwertsteuerbefreiten wirtschaftlichen Tätigkeit. In all diesen einer Lieferung gegen Entgelt gleichgestellten Fällen erhält der Steuerpflichtige vom Abnehmer oder Dienstleistungsempfänger oder von einem Dritten keine tatsächliche Gegenleistung, die als Besteuerungsgrundlage für die Berechnung der Mehrwertsteuer dienen könnte, so dass die allgemeine Regel von Art. 11 Teil A Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie keine Anwendung finden kann (vgl. in diesem Sinne Urteil Campsa Estaciones de Servicio, C-285/10, EU:C:2011:381, Rn. 26 und 27).

35      Sodann ist darauf hinzuweisen, dass, wenn die Gegenstände, die im Sinne von Art. 5 Abs. 6 und 7 der Sechsten Richtlinie entnommen oder zugeordnet werden, vom Steuerpflichtigen gekauft wurden, die Besteuerungsgrundlage für die Berechnung der Mehrwertsteuer auf diese Entnahme oder Zuordnung gemäß Art. 11 Teil A Abs. 1 Buchst. b der Sechsten Richtlinie der Einkaufspreis dieser Gegenstände ist. Für diesen Zweck ist unter dem „Einkaufspreis“ der Restwert der Gegenstände im Zeitpunkt ihrer Entnahme oder Zuordnung zu verstehen (Urteile Fischer und Brandenstein, C-322/99 und C-323/99, EU:C:2001:280, Rn. 80, sowie Marinov, C-142/12, EU:C:2013:292, Rn. 32).

36      Hinsichtlich des in dieser Bestimmung genannten Kriteriums „Einkaufspreis für gleichartige Gegenstände“ ergibt sich aus der in der vorstehenden Randnummer vorgenommenen Auslegung, dass sich mit diesem Kriterium die Besteuerungsgrundlage für eine Entnahme oder eine Zuordnung im Sinne von Art. 5 Abs. 6 und 7 der Sechsten Richtlinie in den Fällen bestimmen lässt, in denen die entsprechenden Gegenstände vom Steuerpflichtigen nicht durch Kauf erworben wurden.

37      Im Übrigen geht aus Art. 11 Teil A Abs. 1 Buchst. b eindeutig hervor, dass die Besteuerungsgrundlage für Gegenstände oder gleichartige Gegenstände nur dann der „Selbstkostenpreis“ ist, wenn es keinen Einkaufspreis gibt.

38      Folglich hat das vorlegende Gericht in dem im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Fall, der die Zuordnung im Sinne von Art. 5 Abs. 7 Buchst. b der Sechsten Richtlinie eines Gebäudes betrifft, das der Steuerpflichtige nicht gekauft hat, sondern hat errichten lassen, und der dadurch gekennzeichnet ist, dass gleichartige Gegenstände auf dem Markt vorhanden sind, in vollem Einklang mit Art. 11 Teil A Abs. 1 Buchst. b der Sechsten Richtlinie festgestellt, dass die einschlägige Besteuerungsgrundlage für die Berechnung der Mehrwertsteuer auf diese Zuordnung der Einkaufspreis gleichartiger Gebäude im Zeitpunkt dieser Zuordnung ist.

39      Für die Berechnung auf der Grundlage dieser Besteuerungsgrundlage müssen die Gegenstände, deren Einkaufspreise berücksichtigt werden, Gebäude sein, deren Lage, Größe und sonstige wesentliche Merkmale mit denen des fraglichen Gebäudes vergleichbar sind (vgl. entsprechend Urteil Gemeente Vlaardingen, C-299/11, EU:C:2012:698, Rn. 30).

40      Dagegen ist unerheblich, ob der Einkaufspreis gleichartiger Gebäude Fremdkapitalzinsen umfasst, die gegebenenfalls bei der Errichtung dieser Gebäude gezahlt wurden. Anders als beim Kriterium des Selbstkostenpreises, den Art. 11 Teil A Abs. 1 Buchst. b der Sechsten Richtlinie mangels eines Einkaufspreises als Besteuerungsgrundlage vorsieht, kann sich die Steuerbehörde beim Kriterium des Einkaufspreises gleichartiger Gegenstände nämlich auf die Marktpreise dieser Art von Gegenständen im Zeitpunkt der Zuordnung des fraglichen Gebäudes stützen, ohne im Einzelnen prüfen zu müssen, welche Wertfaktoren zu diesen Preisen geführt haben.

41      Aus dem gleichen Grund sind Fremdkapitalzinsen, die vom Steuerpflichtigen während der Errichtung des fraglichen Gebäudes gezahlt wurden, in einem Fall wie dem des Ausgangsverfahrens für die Bestimmung der Besteuerungsgrundlage unerheblich.

42      Schließlich ist darauf hinzuweisen, dass die Besteuerungsgrundlage nach Art. 11 Teil A Abs. 1 Buchst. b der Sechsten Richtlinie in keinem Fall einen Wert enthalten kann, auf den der Steuerpflichtige bereits Mehrwertsteuer entrichtet hat, ohne dass er sie anschließend hätte abziehen können. Es ist Sache des vorlegenden Gerichts, die in diesem Zusammenhang erforderlichen Feststellungen zu treffen (Urteile Gemeente Vlaardingen, C-299/11, EU:C:2012:698, Rn. 31 bis 33, und Gemeente ’s-Hertogenbosch, C-92/13, EU:C:2014:2188, Rn. 35).

43      Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 11 Teil A Abs. 1 Buchst. b der Sechsten Richtlinie dahin auszulegen ist, dass in einem Fall wie dem des Ausgangsverfahrens die Besteuerungsgrundlage für die Berechnung der Mehrwertsteuer auf eine Zuordnung im Sinne von Art. 5 Abs. 7 Buchst. b dieser Richtlinie eines Gebäudes, das der Steuerpflichtige hat errichten lassen, der Einkaufspreis – im Zeitpunkt dieser Zuordnung – von Gebäuden ist, deren Lage, Größe und sonstige wesentliche Merkmale mit denen des fraglichen Gebäudes vergleichbar sind. In diesem Zusammenhang ist unerheblich, ob ein Teil dieses Einkaufspreises auf der Zahlung von Fremdkapitalzinsen während der Errichtung des Gebäudes beruht.

 Kosten

44      Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Dritte Kammer) für Recht erkannt:

Art. 11 Teil A Abs. 1 Buchst. b der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage ist dahin auszulegen, dass in einem Fall wie dem des Ausgangsverfahrens die Besteuerungsgrundlage für die Berechnung der Mehrwertsteuer auf eine Zuordnung im Sinne von Art. 5 Abs. 7 Buchst. b dieser Richtlinie eines Gebäudes, das der Steuerpflichtige hat errichten lassen, der Einkaufspreis – im Zeitpunkt dieser Zuordnung – von Gebäuden ist, deren Lage, Größe und sonstige wesentliche Merkmale mit denen des fraglichen Gebäudes vergleichbar sind. In diesem Zusammenhang ist unerheblich, ob ein Teil dieses Einkaufspreises auf der Zahlung von Fremdkapitalzinsen während der Errichtung des Gebäudes beruht.

Unterschriften


* Verfahrenssprache: Niederländisch.