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URTEIL DES GERICHTSHOFS (Zehnte Kammer)

26. Mai 2016(*)

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Art. 21 und 45 AEUV – Freizügigkeit und Aufenthaltsfreiheit der Personen und Arbeitnehmer – Einkommensteuer – Ruhegehalt – Steuergutschrift für Ruhegehaltsempfänger – Voraussetzungen für die Gewährung – Besitz einer von der nationalen Verwaltung ausgestellten Lohnsteuerkarte“

In der Rechtssache C-300/15

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Tribunal administratif (Verwaltungsgericht, Luxemburg) mit Entscheidung vom 16. Juni 2015, beim Gerichtshof eingegangen am 19. Juni 2015, in dem Verfahren

Charles Kohll,

Sylvie Kohll-Schlesser

gegen

Directeur de l’administration des contributions directes

erlässt

DER GERICHTSHOF (Zehnte Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten F. Biltgen sowie der Richter A. Borg Barthet und E. Levits (Berichterstatter),

Generalanwalt: M. Campos Sánchez-Bordona,

Kanzler: A. Calot Escobar,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

–        der luxemburgischen Regierung, vertreten durch D. Holderer als Bevollmächtigte,

–        der Europäischen Kommission, vertreten durch W. Roels und C. Soulay als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 16. Februar 2016

folgendes

Urteil

1        Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung des Art. 45 AEUV.

2        Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen zwei in Luxemburg ansässigen Ruhegehaltsempfängern, Herrn Charles Kohll und Frau Sylvie Kohll-Schlesser, einerseits und dem Directeur de l’administration des contributions directes (Direktor der Verwaltung für direkte Abgaben, im Folgenden: Directeur) andererseits wegen dessen Weigerung, Herrn Kohll eine Steuergutschrift für die Steuerjahre 2009 bis 2011 zu gewähren.

 Rechtlicher Rahmen

 Luxemburgisches Recht

3        Art. 96 Abs. 1 des geänderten Gesetzes vom 4. Dezember 1967 über die Einkommensteuer (Memorial A 1967, S. 1228, im Folgenden: LIR) bestimmt in der für den Ausgangssachverhalt maßgeblichen Fassung:

„Als Einkünfte aus Pensionen oder Renten gelten:

1.      Ruhegelder und Überlebensrenten aus einem früheren Dienstverhältnis und sonstige Bezüge und Vorteile aus einem früheren Dienstverhältnis, selbst wenn diese nicht laufend oder wenn diese freiwillig gewährt werden;

2.      Renten, Pensionen oder sonstige wiederkehrende Bezüge und Nebenleistungen aus einer autonomen Pensionskasse, die ganz oder zum Teil mit Beiträgen der Versicherten gespeist wurde, sowie die Erziehungspauschale und die in Artikel 96a genannten Renten;

…“

4        Art. 139ter LIR, der in dieses Gesetz durch Art. 1 Nr. 24 des Gesetzes vom 19. Dezember 2008 (Memorial A 2008, S. 2622) eingefügt wurde, lautet:

„(1)      Jedem Steuerpflichtigen, der in Luxemburg zu versteuernde Einkünfte aus Pensionen oder Renten im Sinne von Artikel 96 [Absatz 1 Ziffern] 1 und 2 erzielt und im Besitz einer Lohnsteuerkarte ist, wird eine Steuergutschrift für Ruhegehaltsempfänger (crédit d’impôt pour pensionnés, CIP) erteilt. Die Steuergutschrift wird für alle dem Steuerpflichtigen gewährten Pensionen und Renten insgesamt nur einmal gewährt.

(2)      Die Steuergutschrift für Ruhegehaltsempfänger beträgt 300 Euro jährlich. Der Monatsbetrag beläuft sich auf 25 Euro. Die Steuergutschrift für Ruhegehaltsempfänger ist auf den Zeitraum begrenzt, in dem der Steuerpflichtige Einkünfte aus Pensionen oder Renten im Sinne und unter den Voraussetzungen [von Absatz 1] erzielt. Sie wird von der Pensionskasse oder einem anderen Pensionsschuldner in dem Steuerjahr, auf das sie sich bezieht, nach den Modalitäten der [in Absatz] 4 genannten Großherzoglichen Verordnung gezahlt. Für Einkünfte unter 300 Euro jährlich oder 25 Euro monatlich wird keine Steuergutschrift für Ruhegehaltsempfänger gewährt. Der Ruhegehaltsempfänger hat ausschließlich im Rahmen des von der Pensionskasse oder einem anderen Pensionsschuldner ordnungsgemäß aufgrund einer Lohnsteuerkarte vorgenommenen Steuerabzugs von Löhnen und Gehältern Anspruch auf Anrechnung und Erstattung der Steuergutschrift für Ruhegehaltsempfänger.

(3)      Die Pensionskasse oder der andere Pensionsschuldner, die bzw. der die Steuergutschrift für Ruhegehaltsempfänger und die Steuergutschrift für Alleinerziehende erteilt hat, ist berechtigt, die Gutschriften mit dem Saldo der einbehaltenen Steuern zu verrechnen oder gegebenenfalls die Rückgewähr der im Voraus erteilten Steuergutschriften entsprechend den Modalitäten der [in Absatz] 4 genannten Großherzoglichen Verordnung zu verlangen.

(4)      Die Modalitäten der Anwendung des vorliegenden Artikels können in einer Großherzoglichen Verordnung näher bestimmt werden.“

5        In Art. 143 Abs. 1 LIR heißt es:

„Außer in den durch Großherzogliche Verordnung vorzusehenden Fällen wird für jeden Arbeitnehmer eine Lohnsteuerkarte mit den für die Anwendung des Steuersatzes erforderlichen Angaben ausgestellt, in die Folgendes eingetragen wird:

a)      von der Steuerverwaltung die bei der Festsetzung der Steuer zu beachtenden Sondervorschriften;

b)      vom Arbeitgeber die gewährten Vergütungen, vorgenommenen Einbehalte und erteilten Steuergutschriften.

…“

6        Art. 144 LIR sieht vor:

„Die Bestimmungen der Artikel 136 bis 143 gelten entsprechend für die in Artikel 96 [Absatz 1] Ziffern 1 und 2 genannten Renten und Pensionen. Die Anpassungsmaßnahmen werden durch Großherzogliche Verordnung festgelegt.“

7        In Art. 1 Abs. 1 der Großherzoglichen Verordnung vom 19. Dezember 2008 zur Regelung der Anwendungsmodalitäten für die Gewährung der Steuergutschrift für Ruhegehaltsempfänger (Memorial A 2008, S. 2645) heißt es:

„Die Pensionskasse oder der andere Pensionsschuldner gewährt die Steuergutschrift für Ruhegehaltsempfänger (CIP) den Ruhegehaltsempfängern, die über eine Lohnsteuerkarte verfügen, in der die CIP eingetragen ist. Ist in der Lohnsteuerkarte keine Steuergutschrift eingetragen oder verfügt der Ruhegehaltsempfänger nicht über eine Lohnsteuerkarte, darf die Pensionskasse oder der andere Pensionsschuldner keine Steuergutschrift gewähren.

…“

 Abkommen zwischen dem Großherzogtum Luxemburg und dem Königreich der Niederlande zur Vermeidung der Doppelbesteuerung

8        Das am 8. Mai 1968 in Den Haag unterzeichnete Abkommen zwischen dem Großherzogtum Luxemburg und dem Königreich der Niederlande zur Vermeidung der Doppelbesteuerung und zur Verhinderung der Steuerflucht auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen in der für den Ausgangssachverhalt maßgeblichen Fassung (im Folgenden: Doppelbesteuerungsabkommen) sieht in Art. 19 vor, dass vorbehaltlich des Art. 20 Abs. 1 des Abkommens Ruhegehälter und ähnliche Vergütungen, die einer in einem der Staaten ansässigen Person für frühere unselbständige Arbeit gezahlt werden, nur in diesem Staat besteuert werden können.

9        Nach Art. 20 Abs. 1 des Abkommens werden Vergütungen einschließlich Ruhegehältern, die einer natürlichen Person von einem Vertragsstaat, dessen politischen Untergliederungen, Gebietskörperschaften oder anderen juristischen Personen des öffentlichen Rechts unmittelbar oder aus von ihnen gebildeten Vermögen für die diesem Staat, dieser Untergliederung, dieser Gebietskörperschaft oder dieser anderen Person des öffentlichen Rechts in Wahrnehmung öffentlicher Aufgaben geleisteten Dienste gezahlt werden, in diesem Staat besteuert.

 Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefrage

10      Herr Kohll und seine Ehefrau Sylvie Kohll-Schlesser besitzen beide die luxemburgische Staatsangehörigkeit und sind in Luxemburg ansässig. Herr Kohll bezieht zwei Ruhegehälter aus den Niederlanden, eines von der Shell International BV und eines von der Sociale Verzekeringsbank (Sozialversicherungsanstalt). Frau Kohll-Schlesser bezieht ebenfalls ein Ruhegehalt von der Sozialversicherungsanstalt.

11      Am 20. Februar 2013 legte Herr Kohll gegen die Einkommensteuerbescheide für die Jahre 2009 bis 2011 Einspruch ein, weil ihm die luxemburgische Steuerverwaltung die in Art. 139ter LIR vorgesehene Steuergutschrift für Ruhegehaltsempfänger (im Folgenden: Steuergutschrift) nicht gewährt hatte.

12      Mit Entscheidung vom 23. September 2013 wies der Directeur den Einspruch von Herrn Kohll zurück, und zwar in Bezug auf die Einkünfte des Jahres 2009 als verspätet und folglich unzulässig und in Bezug auf die Einkünfte der Jahre 2010 und 2011 mit der Begründung, dass Herr Kohll keinen Anspruch auf die Steuergutschrift habe. Für diese Jahre erhob er Einkommensteuer von ihm nach.

13      Am 10. Dezember 2013 erhoben Herr Kohll und Frau Kohll-Schlesser beim vorlegenden Gericht, dem Tribunal administratif (Verwaltungsgericht, Luxemburg), Klage auf Nichtigerklärung dieser Entscheidung des Directeur.

14      Das vorlegende Gericht hält die Klage von Frau Kohll-Schlesser, die zuvor selbst keinen Einspruch beim Directeur eingelegt hatte, für unzulässig, die Klage von Herrn Kohll aber für zulässig. Herr Kohll macht u. a. geltend, dass Art. 139ter LIR nicht mit dem Grundsatz der Freizügigkeit der Arbeitnehmer gemäß Art. 45 AEUV vereinbar sei.

15      Das vorlegende Gericht führt aus, die Steuergutschrift werde jedem Steuerpflichtigen erteilt, der Einkünfte aus Pensionen oder Renten im Sinne von Art. 96 Abs. 1 Nrn. 1 und 2 LIR erziele, sofern diese im Großherzogtum Luxemburg zu versteuern seien und der Steuerpflichtige im Besitz einer Lohnsteuerkarte sei.

16      Zwar seien die Pensionen, um die es in der bei ihm anhängigen Rechtssache gehe, in Luxemburg zu versteuern, doch sei Herrn Kohll unstreitig keine Lohnsteuerkarte für die Pensionen ausgestellt worden, für die er Anspruch auf die Steuergutschrift erhebe.

17      Insoweit könne Art. 139ter LIR zu einer mittelbaren Diskriminierung führen, da er die Gewährung der Steuergutschrift davon abhängig mache, dass der potenzielle Empfänger eine Lohnsteuerkarte besitze. Die Steuergutschrift werde jedoch Personen, die Arbeitsentgelte oder Pensionen ohne Quellensteuerabzug, wie etwa Pensionen ausländischen Ursprungs, bezögen, nicht gewährt.

18      Unter diesen Voraussetzungen hat das Tribunal administratif (Verwaltungsgericht) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:

Steht der namentlich in Art. 45 AEUV niedergelegte Grundsatz der Freizügigkeit der Arbeitnehmer Art. 139ter Abs. 1 LIR entgegen, soweit die darin geregelte Steuergutschrift Personen vorbehalten ist, die im Besitz einer Lohnsteuerkarte sind?

 Zur Vorlagefrage

19      Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 45 AEUV dahin auszulegen ist, dass er nationalen Steuervorschriften wie den im Ausgangsverfahren fraglichen entgegensteht, nach denen nur Steuerpflichtige, die im Besitz einer Lohnsteuerkarte sind, eine Steuergutschrift für Ruhegehaltsempfänger erhalten.

 Zu der in Rede stehenden Freiheit

20      Zunächst ist zu prüfen, ob Art. 45 AEUV, um dessen Auslegung das vorlegende Gericht ersucht, in einem Fall wie dem des Ausgangsverfahrens herangezogen werden kann, in dem es darum geht, wie Ruhegehälter, die eine in einem Mitgliedstaat ansässige Person von einem in einem anderen Mitgliedstaat ansässigen Schuldner bezieht, im erstgenannten Mitgliedstaat steuerlich zu behandeln sind.

21      Die luxemburgische Regierung zweifelt nämlich daran, ob diese Bestimmung im Ausgangsrechtsstreit anwendbar ist, und die Europäische Kommission ist der Ansicht, dass sie nur anwendbar wäre, wenn Herr Kohll vor seinem Eintritt in den Ruhestand in Luxemburg ansässig geworden wäre, um in diesem Mitgliedstaat eine Beschäftigung zu suchen oder auszuüben. Art. 45 AEUV sei nicht auf die Situation von Herrn Kohll anwendbar, wenn er zum Zeitpunkt der Verlegung seines Wohnsitzes nach Luxemburg bereits Ruhegehaltsempfänger gewesen sei und nicht beabsichtigt habe, dort eine Berufstätigkeit auszuüben.

22      Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass jeder Unionsbürger, der vom Recht auf Freizügigkeit der Arbeitnehmer Gebrauch gemacht und in einem anderen Mitgliedstaat als seinem Wohnsitzstaat eine Berufstätigkeit ausgeübt hat, unabhängig von seinem Wohnort und seiner Staatsangehörigkeit in den Anwendungsbereich von Art. 45 AEUV fällt (Urteil vom 28. Februar 2013, Petersen, C-544/11, EU:C:2013:124, Rn. 34 und die dort angeführte Rechtsprechung).

23      Hinsichtlich des Ruhegehalts, das Herr Kohll von Shell International bezieht, ist unstreitig, dass er es aufgrund seiner früheren unselbständigen Beschäftigung in den Niederlanden – einem anderen Mitgliedstaat als dem, dem er angehört und in dem er zu der im Ausgangsverfahren maßgebenden Zeit wohnte – erhält.

24      Da Herr Kohll eine unselbständige Beschäftigung in einem anderen Mitgliedstaat ausübte, hat er von dem in Art. 45 AEUV vorgesehenen Recht auf Freizügigkeit Gebrauch gemacht.

25      Der Gerichtshof hat entschieden, dass der Umstand, dass eine Person nicht mehr in einem Arbeitsverhältnis steht, die Garantie bestimmter, mit der Arbeitnehmereigenschaft zusammenhängender Rechte nicht beeinträchtigt und dass eine Altersrente, deren Gewährung vom früheren Bestehen eines Arbeitsverhältnisses abhängig ist, unter diese Kategorie von Rechten fällt. Das Recht auf die Rente steht nämlich in unauflöslichem Zusammenhang mit der objektiven Arbeitnehmereigenschaft (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 15. Juni 2000, Sehrer, C-302/98, EU:C:2000:322, Rn. 30 und die dort angeführte Rechtsprechung).

26      Die Situation eines Steuerpflichtigen wie Herr Kohll, der ein Ruhegehalt bezieht, das aufgrund der von ihm in einem anderen Mitgliedstaat als dem, dem er angehört und in dem er zu der im Ausgangsverfahren maßgebenden Zeit wohnte, ausgeübten unselbständigen Beschäftigung gezahlt wird, unterscheidet sich somit von der einer Person, die ihre gesamte berufliche Laufbahn in dem Mitgliedstaat, dem sie angehört, zurückgelegt und vom Recht zum Aufenthalt in einem anderen Mitgliedstaat erst nach ihrem Eintritt in den Ruhestand Gebrauch gemacht hat und die sich daher nicht auf die durch Art. 45 AEUV garantierte Freizügigkeit berufen kann (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 9. November 2006, Turpeinen, C-520/04, EU:C:2006:703, Rn. 16).

27      Diese Erwägung steht auch nicht im Widerspruch zum Urteil vom 19. November 2015, Hirvonen (C-632/13, EU:C:2015:765), in dessen Rn. 21 der Gerichtshof entschieden hat, dass sich ein Rentner, der den Mitgliedstaat, in dem er sein gesamtes Erwerbsleben verbracht hat, verlässt, um sich in einem anderen Mitgliedstaat niederzulassen, auf sein Recht auf Freizügigkeit als Unionsbürger gemäß Art. 21 AEUV berufen kann, wenn seine Situation nicht unter die durch Art. 45 AEUV gewährleistete Freizügigkeit fällt.

28      Folglich kann sich ein in einem Mitgliedstaat ansässiger Bürger wie Herr Kohll in Bezug auf ein Ruhegehalt aufgrund seiner früheren unselbständigen Beschäftigung in einem Mitgliedstaat, dem er nicht angehört und in dem er zu der im Ausgangsverfahren maßgebenden Zeit wohnte, auf Art. 45 AEUV berufen, unabhängig davon, ob er sich, nachdem er in diesem anderen Mitgliedstaat tätig war, in seinem Herkunftsmitgliedstaat niedergelassen hat, um dort eine Beschäftigung zu suchen oder auszuüben.

29      In Bezug auf das Herrn Kohll von der Sozialversicherungsanstalt gezahlte Ruhegehalt geht aus der dem Gerichtshof vorgelegten Akte hervor, dass die Parteien des Ausgangsverfahrens unterschiedlicher Auffassung darüber sind, auf welcher Rechtsgrundlage dieses Ruhegehalt dem Betroffenen gewährt wird und ob das Großherzogtum Luxemburg es in Anbetracht von Art. 20 Abs. 1 des Doppelbesteuerungsabkommens besteuern darf.

30      Das vorlegende Gericht führt aus, dieses Ruhegehalt werde jeder Person gewährt, die in den Niederlanden ansässig gewesen sei, unabhängig davon, ob sie einer unselbständigen Beschäftigung nachgegangen sei. Gleichwohl fällt es seiner Ansicht nach unter Art. 19 des Doppelbesteuerungsabkommens, obwohl diese Bestimmung die für eine unselbständige Beschäftigung gezahlten Ruhegehälter betrifft.

31      Es ist Sache des vorlegenden Gerichts, die Rechtsgrundlage zu bestimmen, aufgrund deren die Sozialversicherungsanstalt Herrn Kohll dieses Ruhegehalt zahlt, und insbesondere zu prüfen, ob es, auch wenn es a priori jeder in den Niederlanden ansässigen Person gewährt wird, Herrn Kohll im vorliegenden Fall gleichwohl aufgrund seiner unselbständigen Beschäftigung in den Niederlanden gewährt wurde oder ob seine Höhe von der Arbeitnehmereigenschaft des Betroffenen abhängt. Falls dies zu bejahen ist, könnte im Ausgangsrechtsstreit aus den in den Rn. 23 bis 28 des vorliegenden Urteils dargelegten Gründen Art. 45 AEUV herangezogen werden.

32      Sollte dagegen weder die Pflicht der Sozialversicherungsanstalt, Herrn Kohll ein Ruhegehalt zu zahlen, noch dessen Höhe von der Arbeitnehmereigenschaft des Betroffenen abhängen, sondern davon, dass er in den Niederlanden ansässig war, könnte Art. 21 AEUV herangezogen werden, der allgemein vorsieht, dass jeder Unionsbürger das Recht hat, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten.

33      Da im Ausgangsrechtsstreit sowohl Art. 21 AEUV als auch Art. 45 AEUV anwendbar sein können, sind beide Bestimmungen auszulegen.

34      Insoweit hindert der Umstand, dass das vorlegende Gericht in seiner Vorlagefrage nur Art. 45 AEUV angeführt hat, den Gerichtshof nicht daran, auch Art. 21 AEUV auszulegen.

35      Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs kann er nämlich, um dem Gericht, das um Vorabentscheidung ersucht, sachdienlich zu antworten, auf unionsrechtliche Vorschriften eingehen, die das nationale Gericht in seinen Vorlagefragen nicht angeführt hat (Urteil vom 28. Februar 2013, Petersen, C-544/11, EU:C:2013:124, Rn. 24 und die dort angeführte Rechtsprechung).

 Zum Vorliegen einer Beschränkung

36      Erstens ist in Bezug auf Art. 45 AEUV darauf hinzuweisen, dass die Bestimmungen über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer, auch wenn sie nach ihrem Wortlaut insbesondere die Inländerbehandlung im Aufnahmemitgliedstaat sichern sollen, es zugleich verbieten, dass der Herkunftsmitgliedstaat die freie Annahme und Ausübung einer Beschäftigung durch einen seiner Staatsangehörigen in einem anderen Mitgliedstaat behindert (Urteil vom 28. Februar 2013, Petersen, C-544/11, EU:C:2013:124, Rn. 36 und die dort angeführte Rechtsprechung).

37      Im vorliegenden Fall wird nach dem nationalen Recht die Steuergutschrift Steuerpflichtigen gewährt, die Einkünfte aus einem in Luxemburg zu versteuernden Ruhegehalt in Höhe von mindestens 300 Euro jährlich oder 25 Euro monatlich erzielen und im Besitz einer Lohnsteuerkarte sind.

38      Wie das vorlegende Gericht klargestellt hat, wird dem Empfänger eines Ruhegehalts aber keine Lohnsteuerkarte ausgestellt, wenn es zwar in Luxemburg zu versteuern ist, in diesem Mitgliedstaat aber keiner Quellenbesteuerung unterliegt, insbesondere weil der Schuldner des Ruhegehalts in einem anderen Mitgliedstaat ansässig ist.

39      Folglich wird der in der Steuergutschrift bestehende Steuervorteil den in Luxemburg ansässigen Steuerpflichtigen, deren in diesem Mitgliedstaat zu versteuernde Ruhegehälter aus einem anderen Mitgliedstaat stammen, nicht gewährt.

40      Indem die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden nationalen Rechtsvorschriften die in Luxemburg ansässigen Steuerpflichtigen je nach dem Mitgliedstaat, aus dem die von ihnen bezogenen und in Luxemburg zu versteuernden Ruhegehälter stammen, unterschiedlich behandeln und Steuerpflichtigen, deren Ruhegehaltsschuldner im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats ansässig ist, den Vorteil der Steuergutschrift verweigern, sind sie geeignet, Arbeitnehmer davon abzuhalten, eine Beschäftigung in einem anderen Mitgliedstaat als dem Großherzogtum Luxemburg zu suchen oder anzunehmen.

41      Solche Rechtsvorschriften stellen daher eine nach Art. 45 AEUV grundsätzlich verbotene Beschränkung der Freizügigkeit der Arbeitnehmer dar.

42      Zweitens geht in Bezug auf Art. 21 AEUV aus einer ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs hervor, dass nationale Rechtsvorschriften, die bestimmte eigene Staatsangehörige allein deswegen benachteiligen, weil sie von ihrer Freiheit, sich in einen anderen Mitgliedstaat zu begeben und dort aufzuhalten, Gebrauch gemacht haben, eine Beschränkung der Freiheiten darstellen, die Art. 21 Abs. 1 AEUV jedem Unionsbürger zuerkennt (Urteil vom 26. Februar 2015, Martens, C-359/13, EU:C:2015:118, Rn. 25 und die dort angeführte Rechtsprechung).

43      Die vom Vertrag auf dem Gebiet der Freizügigkeit der Unionsbürger gewährten Erleichterungen könnten nämlich nicht ihre volle Wirkung entfalten, wenn ein Staatsangehöriger eines Mitgliedstaats von ihrer Wahrnehmung durch Hindernisse abgehalten werden könnte, die seinem Aufenthalt in einem anderen Mitgliedstaat infolge einer Regelung seines Herkunftsstaats entgegenstehen, die ihn allein deshalb ungünstiger stellt, weil er von diesen Erleichterungen Gebrauch gemacht hat (Urteil vom 26. Februar 2015, Martens, C-359/13, EU:C:2015:118, Rn. 26 und die dort angeführte Rechtsprechung).

44      Da im vorliegenden Fall der in der Steuergutschrift bestehende Steuervorteil dem luxemburgischen Steuerpflichtigen verweigert wird, der von seiner Freiheit, sich in einen anderen Mitgliedstaat als den, dem er angehört, zu begeben und dort aufzuhalten, Gebrauch gemacht hat und aufgrund seines Aufenthalts im anderen Mitgliedstaat ein von einem dort ansässigen Schuldner gezahltes Ruhegehalt bezieht, wird dieser luxemburgische Steuerpflichtige gegenüber Steuerpflichtigen benachteiligt, die von ihrer Freiheit, sich in einen anderen Mitgliedstaat zu begeben und dort aufzuhalten, keinen Gebrauch gemacht haben. Die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Rechtsvorschriften, die eine solche Ungleichbehandlung bewirken, sind geeignet, einen Steuerpflichtigen davon abzuhalten, von dieser Freiheit Gebrauch zu machen, und stellen daher eine Beschränkung der durch Art. 21 AEUV anerkannten Freiheiten dar.

 Zum Vorliegen einer Rechtfertigung

45      Solche Beschränkungen sind nur statthaft, wenn sie Situationen betreffen, die nicht objektiv vergleichbar sind, oder wenn sie durch einen zwingenden Grund des Allgemeininteresses gerechtfertigt sind (vgl. u. a. Urteil vom 17. Dezember 2015, Timac Agro Deutschland, C-388/14, EU:C:2015:829, Rn. 26).

46      Zur objektiven Vergleichbarkeit der in Rede stehenden Situationen ist darauf hinzuweisen, dass die Vergleichbarkeit eines grenzüberschreitenden Sachverhalts mit einem innerstaatlichen Sachverhalt unter Berücksichtigung des mit den fraglichen nationalen Bestimmungen verfolgten Ziels zu prüfen ist (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 25. Februar 2010, X Holding, C-337/08, EU:C:2010:89, Rn. 22, und vom 6. September 2012, Philips Electronics UK, C-18/11, EU:C:2012:532, Rn. 17).

47      Insoweit macht die luxemburgische Regierung geltend, die Steuergutschrift sei eingeführt worden, um eine selektive Steuerpolitik zugunsten der Personen aus den schutzbedürftigsten Bevölkerungsschichten zu verfolgen, indem ihnen durch den Steuervorteil ein höheres verfügbares Einkommen verschafft werde.

48      Ein gebietsansässiger Steuerpflichtiger, der ein aus einem anderen Mitgliedstaat stammendes Ruhegehalt bezieht, befindet sich im Hinblick auf dieses Ziel aber nicht zwingend in einer anderen Situation als ein gebietsansässiger Steuerpflichtiger, der ein solches Ruhegehalt von einem in seinem Wohnsitzstaat ansässigen Schuldner bezieht, da beide Steuerpflichtige zu den schutzbedürftigsten Bevölkerungsschichten gehören können.

49      Die Rechtfertigung der Beschränkung kann sich deshalb nur aus zwingenden Gründen des Allgemeininteresses ergeben. In diesem Fall muss die Beschränkung zudem geeignet sein, die Erreichung des verfolgten Ziels zu gewährleisten, und darf nicht über das hinausgehen, was hierzu erforderlich ist (Urteil vom 17. Dezember 2015, Timac Agro Deutschland, C-388/14, EU:C:2015:829, Rn. 29 und die dort angeführte Rechtsprechung).

50      Insoweit macht die luxemburgische Regierung geltend, das System der Steuergutschrift sei durch die Notwendigkeit gerechtfertigt, die Kohärenz des nationalen Steuersystems zu wahren, indem es vorsehe, dass eine anrechenbare und erstattbare Steuergutschrift in effektiver, gerechter und durchführbarer Weise gewährt werde, ohne insbesondere einen unverhältnismäßigen Verwaltungsaufwand zu verursachen.

51      Zum einen sei allein dieses System der Steuergutschrift praktikabel, ohne übermäßige administrative Zwänge für die Behörden, die Schuldner der fraglichen Einkünfte und die Bürger zu verursachen. Denn nur die mit der Zahlung der Ruhegehälter und der Abführung des Steuerabzugs an die Staatskasse betrauten nationalen Einrichtungen verfügten über Informationen auf dem neuesten Stand, die eine effektive, gerechte und angemessene Gewährung der Steuergutschrift ermöglichten, und seien in der Lage, die Steuergutschrift den betreffenden Steuerpflichtigen unmittelbar und effektiv anzurechnen oder zu erstatten.

52      Zum anderen sei dieses System zur Wahrung der Kohärenz des nationalen Steuersystems als Ganzes notwendig; im luxemburgischen Recht bestehe eine Verbindung zwischen dem System zur Erhebung der Steuer, im vorliegenden Fall dem Steuerabzug bei Einkünften aus Pensionen im Sinne von Art. 96 Abs. 1 Nrn. 1 und 2 LIR, und der Steuergutschrift.

53      Was erstens die von der luxemburgischen Regierung angeführten administrativen und praktischen Erwägungen anbelangt, ist darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof in der Tat bereits entschieden hat, dass den Mitgliedstaaten nicht die Möglichkeit abgesprochen werden kann, legitime Ziele durch die Einführung von Vorschriften zu verfolgen, die von den zuständigen Behörden einfach gehandhabt und kontrolliert werden können (Urteil vom 24. Februar 2015, Sopora, C-512/13, EU:C:2015:108, Rn. 33 und die dort angeführte Rechtsprechung).

54      Im Ausgangsverfahren wird jedoch weder das auf der Quellenbesteuerung beruhende System noch die Angemessenheit und Praktikabilität der Ausstellung einer Lohnsteuerkarte angefochten, sondern es geht darum, dass dem betreffenden Steuerpflichtigen, wenn er keine Lohnsteuerkarte vorlegen kann, ein Steuervorteil kategorisch versagt wird, selbst wenn er die übrigen Voraussetzungen für dessen Erlangung erfüllt.

55      Es lässt sich aber nicht von vornherein ausschließen, dass ein Steuerpflichtiger Belege vorlegen kann, anhand deren die Finanzbehörden des Besteuerungsmitgliedstaats eindeutig und genau prüfen können, ob und welche Ruhegehaltseinkünfte aus einem anderen Mitgliedstaat bezogen wurden (vgl. entsprechend Urteil vom 27. Januar 2009, Persche, C-318/07, EU:C:2009:33, Rn. 53).

56      Nichts würde nämlich die beteiligten Finanzbehörden daran hindern, vom Steuerpflichtigen alle Belege zu verlangen, die ihnen für die Beurteilung der Frage notwendig erscheinen, ob die Voraussetzungen für die Gewährung des genannten Vorteils nach den einschlägigen Rechtsvorschriften erfüllt sind und ob der verlangte Vorteil demnach gewährt werden kann (vgl. entsprechend Urteil vom 27. Januar 2009, Persche, C-318/07, EU:C:2009:33, Rn. 54).

57      Die luxemburgische Regierung hat insoweit nicht angegeben, aus welchen Gründen es nicht möglich sein soll, sich auf die von einem Steuerpflichtigen, der die Steuergutschrift beansprucht, gegebenen Informationen zu stützen.

58      Zudem hat sich die luxemburgische Regierung, wie der Generalanwalt in Nr. 68 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, zwar auf administrative Zwänge und deren Unverhältnismäßigkeit berufen, ist aber hinsichtlich deren genauer Art vage geblieben.

59      Der Gerichtshof hat jedenfalls bereits entschieden, dass praktische Schwierigkeiten allein keine Verletzung einer durch den Vertrag gewährleisteten Grundfreiheit rechtfertigen können (Urteil vom 1. Juli 2010, Dijkman und Dijkman-Lavaleije, C-233/09, EU:C:2010:397, Rn. 60 und die dort angeführte Rechtsprechung).

60      Zweitens kann die Notwendigkeit, die Kohärenz eines Steuersystems zu wahren, zwar eine Beschränkung der Ausübung der vom Vertrag gewährleisteten Grundfreiheiten rechtfertigen, doch kann ein auf diesen Rechtfertigungsgrund gestütztes Argument nur dann Erfolg haben, wenn zwischen dem betreffenden steuerlichen Vorteil und dessen Ausgleich durch eine bestimmte steuerliche Belastung ein unmittelbarer Zusammenhang besteht, wobei die Unmittelbarkeit dieses Zusammenhangs anhand des mit der fraglichen Regelung verfolgten Ziels beurteilt werden muss (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 1. Juli 2010, Dijkman und Dijkman-Lavaleije, C-233/09, EU:C:2010:397, Rn. 54 und 55 und die dort angeführte Rechtsprechung).

61      Im vorliegenden Fall hat die luxemburgische Regierung aber nicht geltend gemacht, dass zwischen der Steuergutschrift und einer bestimmten steuerlichen Belastung ein unmittelbarer Zusammenhang besteht, da die aus einem anderen Mitgliedstaat stammenden Ruhegehälter ebenso wie Ruhegehälter luxemburgischen Ursprungs in Luxemburg zu versteuern sind. Sie stützt sich vielmehr auf das Bestehen eines Zusammenhangs zwischen der Steuergutschrift und einer Steuererhebungstechnik – der Quellenbesteuerung –, die nur auf Ruhegehälter angewandt wird, deren Schuldner in Luxemburg ansässig ist. Folglich wird der im Ausgangsverfahren in Rede stehende Steuervorteil nicht im Sinne der in Rn. 60 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung durch eine bestimmte steuerliche Belastung ausgeglichen.

62      Daher ist festzustellen, dass die nach den Art. 21 und 45 AEUV grundsätzlich verbotenen Beschränkungen, die sich aus den im Ausgangsverfahren in Rede stehenden nationalen Steuervorschriften ergeben, nicht mit den von der luxemburgischen Regierung angegebenen Gründen gerechtfertigt werden können.

63      Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass die Art. 21 und 45 AEUV dahin auszulegen sind, dass sie nationalen Steuervorschriften wie den im Ausgangsverfahren fraglichen entgegenstehen, nach denen nur Steuerpflichtige, die im Besitz einer Lohnsteuerkarte sind, eine Steuergutschrift für Ruhegehaltsempfänger erhalten.

 Kosten

64      Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Zehnte Kammer) für Recht erkannt:

Die Art. 21 und 45 AEUV sind dahin auszulegen, dass sie nationalen Steuervorschriften wie den im Ausgangsverfahren fraglichen entgegenstehen, nach denen nur Steuerpflichtige, die im Besitz einer Lohnsteuerkarte sind, eine Steuergutschrift für Ruhegehaltsempfänger erhalten.

Unterschriften


* Verfahrenssprache: Französisch.