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Vorläufige Fassung

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Vierte Kammer)

21. November 2018(*)

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem – Richtlinie 2006/112/EG – Art. 167, 168, 178 und 273 – Umfang des Rechts auf Vorsteuerabzug – Fehlen von Rechnungen – Heranziehung eines gerichtlichen Sachverständigengutachtens – Beweislast in Bezug auf das Recht auf Vorsteuerabzug – Grundsätze der steuerlichen Neutralität und der Verhältnismäßigkeit“

In der Rechtssache C-664/16

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht von der Curtea de Apel Alba Iulia (Berufungsgericht Alba Iulia, Rumänien) mit Entscheidung vom 10. November 2016, beim Gerichtshof eingegangen am 21. Dezember 2016, in dem Verfahren

Lucreţiu Hadrian Vădan

gegen

Agenţia Naţională de Administrare Fiscală – Direcţia Generală de Soluţionare a Contestaţiilor,

Direcţia Generală Regională a Finanţelor Publice Braşov – Administraţia Judeţeană a Finanţelor Publice Alba

erlässt

DER GERICHTSHOF (Vierte Kammer)

unter Mitwirkung des Präsidenten der Siebten Kammer T. von Danwitz in Wahrnehmung der Aufgaben des Präsidenten der Vierten Kammer, der Richterin K. Jürimäe sowie der Richter C. Lycourgos, E. Juhász (Berichterstatter) und C. Vajda,

Generalanwalt: E. Tanchev,

Kanzler: I. Illéssy, Verwaltungsrat,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 31. Januar 2018,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

–        von Herrn Vădan, vertreten durch M. Bejenaru-Dragoş, C. D. Cubleşan, C. A. Păun, T. V. Căpuşan, D. Feldrihan und D. F. Pascu, avocați,

–        der rumänischen Regierung, vertreten durch C.-R. Canţăr, O.-C. Ichim, E. Gane und C. M. Florescu als Bevollmächtigte,

–        der Europäischen Kommission, vertreten durch R. Lyal, G.-D. Balan und L. Lozano Palacios als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 30. Mai 2018

folgendes

Urteil

1        Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. 2006, L 347, S. 1, im Folgenden: Mehrwertsteuerrichtlinie), insbesondere von Art. 167, 168, 178 und 273, sowie der Grundsätze der Neutralität der Mehrwertsteuer und der Verhältnismäßigkeit.

2        Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen Herrn Lucrețiu Hadrian Vădan auf der einen und der Agenția Națională de Administrare Fiscală – Direcția Generală de Soluționare a Contestațiilor (Staatliche Steuerverwaltungsagentur – Generaldirektion für Rechtsbehelfsentscheidungen, Rumänien) sowie der Direcția Generală Regională a Finanțelor Publice Brașov – Administrația Județeană a Finanțelor Publice Alba (Regionale Generaldirektion für öffentliche Finanzen Brașov – Kreisverwaltung für öffentliche Finanzen Alba, Rumänien) auf der anderen Seite wegen der Weigerung, Herrn Vădan, dem Kläger des Ausgangsverfahrens, das Recht auf Vorsteuerabzug für die von ihm für seine Umsätze verwendeten Gegenstände und Dienstleistungen zu gewähren, da er bezüglich dieser Gegenstände und Dienstleistungen keine Rechnungen vorlegen konnte.

 Rechtlicher Rahmen

 Unionsrecht

3        Titel X („Vorsteuerabzug“) der Mehrwertsteuerrichtlinie enthält ein Kapitel 1 („Entstehung und Umfang des Rechts auf Vorsteuerabzug“), das die Art. 167 bis 172 umfasst. Art. 167 lautet:

„Das Recht auf Vorsteuerabzug entsteht, wenn der Anspruch auf die abziehbare Steuer entsteht.“

4        In Art. 168 der Richtlinie heißt es:

„Soweit die Gegenstände und Dienstleistungen für die Zwecke seiner besteuerten Umsätze verwendet werden, ist der Steuerpflichtige berechtigt, in dem Mitgliedstaat, in dem er diese Umsätze bewirkt, vom Betrag der von ihm geschuldeten Steuer folgende Beträge abzuziehen:

a)      die in diesem Mitgliedstaat geschuldete oder entrichtete Mehrwertsteuer für Gegenstände und Dienstleistungen, die ihm von einem anderen Steuerpflichtigen geliefert bzw. erbracht wurden oder werden;

…“

5        Kapitel 4 („Einzelheiten der Ausübung des Rechts auf Vorsteuerabzug“) des genannten Titels X der Richtlinie umfasst die Art. 178 bis 183. Art. 178 bestimmt:

„Um das Recht auf Vorsteuerabzug ausüben zu können, muss der Steuerpflichtige folgende Bedingungen erfüllen:

a)      für den Vorsteuerabzug nach Artikel 168 Buchstabe a in Bezug auf die Lieferungen von Gegenständen und dem Erbringen von Dienstleistungen muss er eine gemäß den Artikeln 220 bis 236 sowie 238, 239 und 240 ausgestellte Rechnung besitzen;

…“

6        Art. 179 der Richtlinie lautet:

„Der Vorsteuerabzug wird vom Steuerpflichtigen global vorgenommen, indem er von dem Steuerbetrag, den er für einen Steuerzeitraum schuldet, den Betrag der Mehrwertsteuer absetzt, für die während des gleichen Steuerzeitraums das Abzugsrecht entstanden ist und gemäß Artikel 178 ausgeübt wird.

Die Mitgliedstaaten können jedoch den Steuerpflichtigen, die nur die in Artikel 12 genannten gelegentlichen Umsätze bewirken, vorschreiben, dass sie das Recht auf Vorsteuerabzug erst zum Zeitpunkt der Lieferung ausüben.“

7        Titel XI („Pflichten der Steuerpflichtigen und bestimmter nichtsteuerpflichtiger Personen“) der Richtlinie enthält ein Kapitel 2 („Identifikation“), das die Art. 213 bis 216 umfasst. In Art. 213 Abs. 1 heißt es:

„Jeder Steuerpflichtige hat die Aufnahme, den Wechsel und die Beendigung seiner Tätigkeit als Steuerpflichtiger anzuzeigen.

…“

8        Kapitel 3 („Erteilung von Rechnungen“) des genannten Titels XI der Richtlinie umfasst die Art. 217 bis 240 der Mehrwertsteuerrichtlinie. Art. 220 sieht vor:

„Jeder Steuerpflichtige stellt in folgenden Fällen eine Rechnung entweder selbst aus oder trägt dafür Sorge, dass eine Rechnung vom Erwerber oder Dienstleistungsempfänger oder in seinem Namen und für seine Rechnung von einem Dritten ausgestellt wird:

1.      Er liefert Gegenstände oder erbringt Dienstleistungen an einen anderen Steuerpflichtigen oder an eine nichtsteuerpflichtige juristische Person.

…“

9        In Art. 226 der Richtlinie heißt es:

„Unbeschadet der in dieser Richtlinie festgelegten Sonderbestimmungen müssen gemäß den Artikeln 220 und 221 ausgestellte Rechnungen für Mehrwertsteuerzwecke nur die folgenden Angaben enthalten:

1.      das Ausstellungsdatum;

2.      eine fortlaufende Nummer mit einer oder mehreren Zahlenreihen, die zur Identifizierung der Rechnung einmalig vergeben wird;

3.      die Mehrwertsteuer-Identifikationsnummer im Sinne des Artikels 214, unter der der Steuerpflichtige die Gegenstände geliefert oder die Dienstleistung erbracht hat;

4.      die Mehrwertsteuer-Identifikationsnummer im Sinne des Artikels 214, unter der der Erwerber oder Dienstleistungsempfänger eine Lieferung von Gegenständen oder eine Dienstleistung, für die er Steuerschuldner ist, oder eine Lieferung von Gegenständen nach Artikel 138 erhalten hat;

5.      den vollständigen Namen und die vollständige Anschrift des Steuerpflichtigen und des Erwerbers oder Dienstleistungsempfängers;

6.      Menge und Art der gelieferten Gegenstände beziehungsweise Umfang und Art der erbrachten Dienstleistungen;

7.      das Datum, an dem die Gegenstände geliefert werden oder die Dienstleistung erbracht bzw. abgeschlossen wird, oder das Datum, an dem die Vorauszahlung im Sinne des Artikels 220 Nummern 4 und 5 geleistet wird, sofern dieses Datum feststeht und nicht mit dem Ausstellungsdatum der Rechnung identisch ist;

8.      die Steuerbemessungsgrundlage für die einzelnen Steuersätze beziehungsweise die Befreiung, den Preis je Einheit ohne Mehrwertsteuer sowie jede Preisminderung oder Rückerstattung, sofern sie nicht im Preis je Einheit enthalten sind;

9.      den anzuwendenden Mehrwertsteuersatz;

10.      den zu entrichtenden Mehrwertsteuerbetrag, außer bei Anwendung einer Sonderregelung, bei der nach dieser Richtlinie eine solche Angabe ausgeschlossen wird;

…“

10      Kapitel 4 („Aufzeichnungen“) des genannten Titels XI der Richtlinie umfasst die Art. 241 bis 249. Art. 242 lautet:

„Jeder Steuerpflichtige hat Aufzeichnungen zu führen, die so ausführlich sind, dass sie die Anwendung der Mehrwertsteuer und ihre Kontrolle durch die Steuerverwaltung ermöglichen.“

11      Art. 244 der Mehrwertsteuerrichtlinie lautet:

„Jeder Steuerpflichtige sorgt für die Aufbewahrung von Kopien aller Rechnungen, die er selbst, der Erwerber oder Dienstleistungsempfänger oder ein Dritter in seinem Namen und für seine Rechnung ausgestellt hat, sowie aller Rechnungen, die er erhalten hat.“

12      Art. 250 Abs. 1 in Kapitel 5 („Erklärungspflichten“) des genannten Titels XI der Richtlinie sieht vor:

„Jeder Steuerpflichtige hat eine Mehrwertsteuererklärung abzugeben, die alle für die Festsetzung des geschuldeten Steuerbetrags und der vorzunehmenden Vorsteuerabzüge erforderlichen Angaben enthält, gegebenenfalls einschließlich des Gesamtbetrags der für diese Steuer und Abzüge maßgeblichen Umsätze sowie des Betrags der steuerfreien Umsätze, soweit dies für die Feststellung der Steuerbemessungsgrundlage erforderlich ist.“

13      Art. 273 in Kapitel 7 des genannten Titels XI der Richtlinie lautet:

„Die Mitgliedstaaten können vorbehaltlich der Gleichbehandlung der von Steuerpflichtigen bewirkten Inlandsumsätze und innergemeinschaftlichen Umsätze weitere Pflichten vorsehen, die sie für erforderlich erachten, um eine genaue Erhebung der Steuer sicherzustellen und um Steuerhinterziehung zu vermeiden, sofern diese Pflichten im Handelsverkehr zwischen den Mitgliedstaaten nicht zu Formalitäten beim Grenzübertritt führen.

Die Möglichkeit nach Absatz 1 darf nicht dazu genutzt werden, zusätzlich zu den in Kapitel 3 genannten Pflichten weitere Pflichten in Bezug auf die Rechnungsstellung festzulegen.“

 Rumänisches Recht

14      Art. 127 der Legea nr. 571/2003 privind Codul fiscal (Gesetz Nr. 571/2003 über das Steuergesetzbuch, Monitorul Oficial al României, Teil I, Nr. 927 vom 23. Dezember 2003, im Folgenden: Steuergesetzbuch) sieht vor:

„(1)      Als Steuerpflichtiger gilt, wer wirtschaftliche Tätigkeiten der in Abs. 2 vorgesehenen Art unabhängig von ihrem Ort, Zweck und Ergebnis selbständig ausübt.

(2)      Im Sinne dieses Titels umfassen wirtschaftliche Tätigkeiten die Tätigkeiten der Erzeugung, des Handels und der Erbringung von Dienstleistungen, einschließlich Tätigkeiten der Urproduktion, der Landwirtschaft und Tätigkeiten der freien Berufe oder diesen gleichgestellte Tätigkeiten. Ebenso gilt als wirtschaftliche Tätigkeit die Nutzung körperlicher oder nicht körperlicher Gegenstände zur nachhaltigen Erzielung von Einnahmen.

…“

15      Art. 145 des Steuergesetzbuchs bestimmt:

„(1)      Das Recht auf Vorsteuerabzug entsteht, wenn der Anspruch auf die Steuer entsteht.

(2)      Jeder Steuerpflichtige ist berechtigt, die Vorsteuer für Erwerbe abzuziehen, wenn diese zur Verwendung bei folgenden Umsätzen bestimmt sind:

a)      steuerbare Umsätze;

…“

16      In Art. 146 des Steuergesetzbuchs heißt es:

„(1)      Um das Recht auf Vorsteuerabzug ausüben zu können, muss der Steuerpflichtige die folgenden Voraussetzungen erfüllen:

a)      Er muss hinsichtlich der geschuldeten oder gezahlten Mehrwertsteuer auf Waren, die von einem Steuerpflichtigen an ihn geliefert wurden oder später geliefert werden, oder auf Dienstleistungen, die ihm von einem Steuerpflichtigen erbracht wurden oder später erbracht werden, im Besitz einer gemäß Art. 155 ausgestellten Rechnung sein;

…“

17      Nr. 46 in Titel VI der Hotărârea Guvernului nr. 44/2004 pentru aprobarea Normelor metodologice de aplicare a Legii nr. 571/2003 privind Codul fiscal (Regierungserlass Nr. 44/2004 zur Genehmigung der Durchführungsbestimmungen zum Gesetz Nr. 571/2003 über das Steuergesetzbuch, Monitorul Oficial al României, Teil I, Nr. 112 vom 6. Februar 2004) sah am 1. Januar 2007 vor:

„(1)      Als Beleg für den Vorsteuerabzug dienen ausschließlich die Originale der Dokumente nach Art. 146 Abs. 1 des Steuergesetzbuchs oder andere Dokumente, die zumindest die von Art. 155 Abs. 5 des Steuergesetzbuchs vorgesehenen Angaben enthalten, ausgenommen die vereinfachten Rechnungen nach Nr. 78. Bei Verlust, Entziehung oder Zerstörung des Originalbelegs ersucht der Begünstigte den Lieferer/Dienstleistungserbringer um Ausstellung einer Zweitschrift der Rechnung, auf der zu vermerken ist, dass sie die ursprüngliche Rechnung ersetzt.

…“

 Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

18      Herr Vădan, ein rumänischer Staatsangehöriger, verwirklichte in der Zeit vom 6. Juni 2006 bis zum 8. September 2008 ein Bauprojekt, das in der Errichtung einer Wohnanlage mit 16 Einfamilien- und Mehrparteienhäusern mit insgesamt 90 Wohneinheiten bestand. Außerdem besaß er im selben Zeitraum mehrere Grundstücke, für die ihm behördliche Genehmigungen zur Errichtung von Einfamilienhäusern erteilt worden waren.

19      Im Jahr 2006 tätigte Herr Vădan 29 Immobilienumsätze und im Zeitraum von 2007 bis 2009 tätigte er 70 solcher Umsätze. Des Weiteren verkaufte er in den Jahren 2008 und 2009 Baugrundstücke. Der Gesamtwert dieser Umsätze betrug 19 234 596 rumänische Lei (RON) (ungefähr 4 104 163 Euro).

20      Da die vom Kläger des Ausgangsverfahrens getätigten Umsätze ab Juni 2006 die gesetzliche Schwelle für die Mehrwertsteuerbefreiung überstiegen, gingen die Steuerbehörden davon aus, dass der Kläger mehrwertsteuerpflichtig und daher ab dem 1. August 2006 zur mehrwertsteuerlichen Registrierung verpflichtet gewesen sei.

21      Da keine mehrwertsteuerliche Registrierung erfolgt war und bei den Steuerbehörden keine Steuererklärung eingereicht worden war, verpflichtete die Direcția Generală a Finanțelor Publice Alba (Generaldirektion für öffentliche Finanzen Alba, Rumänien) Herrn Vădan mit dem Steuerbescheid Nr. 59/28.01.2011 zur Zahlung von 3 071 069 RON (ungefähr 655 286 Euro) als für den Zeitraum vom 1. August 2006 bis zum 31. Dezember 2009 geschuldete Mehrwertsteuer sowie von 2 476 864 RON (ungefähr 528 498 Euro) als Verspätungszinsen und 460 660 RON (98 292 Euro) als Verspätungszuschläge. Der nachgeforderte Gesamtbetrag beläuft sich auf 6 008 593 RON (ungefähr 1 282 077 Euro).

22      Herr Vădan focht diese Nachforderung der Höhe nach bei den Verwaltungsbehörden an, die seinen Anträgen mit Entscheidung vom 19. August 2011 teilweise stattgaben, indem sie den Gesamtbetrag der Nachforderung auf 5 735 741 RON (1 223 858 Euro), d. h. die Mehrwertsteuer auf 2 909 546 RON (620 821 Euro), die Verspätungszinsen auf 2 389 763 RON (509 913 Euro) und die Verspätungszuschläge auf 436 432 RON (93 123 Euro, herabsetzten).

23      Daraufhin erhob Herr Vădan bei der Curtea de Apel Alba Iulia (Berufungsgericht Alba Iulia, Rumänien) Klage auf Aufhebung des genannten Steuerbescheids und der Entscheidung vom 19. August 2011.

24      Er machte insoweit geltend, dass er sich weder als mehrwertsteuerpflichtig habe registrieren lassen noch irgendwelche Aufzeichnungen habe führen müssen, da er die Mehrwertsteuer bei den von ihm getätigten Erwerben gezahlt habe und seinen Erwerbern gegenüber niemals Mehrwertsteuer berechnet habe.

25      Die Curtea de Apel Alba Iulia (Berufungsgericht Alba Iulia) wies mit Urteil Nr. 42/2013 sämtliche Anträge des Klägers des Ausgangsverfahrens zurück.

26      Mit Urteil vom 3. Dezember 2014 hob die Înalta Curte de Casaţie şi Justiţie (Oberster Kassations- und Gerichtshof, Rumänien) das Urteil der Curtea de Apel Alba Iulia (Berufungsgericht Alba Iulia) mit der Begründung auf, diese habe das Recht des Steuerpflichtigen auf Vorsteuerabzug zu Unrecht verneint, und verwies die Sache zur erneuten Prüfung und Entscheidung an dieses Gericht zurück.

27      Dabei vertrat die Înalta Curte de Casaţie şi Justiţie (Oberster Kassations- und Gerichtshof) die Auffassung, das Berufungsgericht habe nach der Feststellung, dass Herr Vădan aufgrund seiner von Amts wegen erfolgten Registrierung als mehrwertsteuerpflichtige Person vorsteuerabzugsberechtigt sei, zu Unrecht angenommen, dass er sich auf bestimmte Dokumente – im vorliegenden Fall die Ergebnisse zweier Sachverständigengutachten – nicht stützen könne, weil er die Originale der Dokumente über den Erwerb von Gegenständen und den Empfang von Dienstleistungen für die veräußerten Gebäude nicht vorgelegt habe, wo er doch in seiner beim Berufungsgericht eingereichten Klageschrift darauf hingewiesen habe, dass ihm die Vorlage dieser Dokumente nicht möglich sei.

28      Die Înalta Curte de Casaţie şi Justiţie (Oberster Kassations- und Gerichtshof) warf dem Berufungsgericht zudem vor, es habe nicht beurteilt, ob die Höhe des Vorsteuerabzugsrechts mittels anderer Dokumente als der Originalrechnungen hätte bestimmt werden können, „um dem Grundsatz des tatsächlich getätigten wirtschaftlichen Umsatzes Geltung zu verschaffen und einen übermäßigen Formalismus zu vermeiden“. Sie betonte insoweit, dass auch Schriftstücke bezüglich der erbrachten Dienstleistungen und der vom jeweiligen Hersteller bzw. von den jeweiligen Herstellern der Immobilien ausgeführten Arbeiten zweckdienlich gewesen wären.

29      Die Curtea de Apel Alba Iulia (Berufungsgericht Alba Iulia) führt aus, dass Herr Vădan nach dem Erlass des Rechtsmittelurteils ein Schreiben vom 15. Februar 2008 an die Camera Notarilor Publici București (Notarkammer Bukarest, Rumänien) vorgelegt habe, in dem die staatliche Steuerverwaltungsagentur die Vorschriften des Steuergesetzbuchs dahin ausgelegt habe, dass sie auf natürliche, nicht als mehrwertsteuerpflichtig registrierte Personen anwendbar seien, die ab dem 1. Januar 2008 neue Bauwerke (bzw. Teile davon) oder Baugrundstücke veräußert hätten. Hierzu bringt Herr Vădan vor, dass es natürlichen Personen in den Jahren 2006 bis 2008 nicht möglich gewesen sei, sich als mehrwertsteuerpflichtig registrieren zu lassen, und außerdem keine Verpflichtung bestanden habe, Rechnungen auszustellen, sondern stattdessen Kassenzettel ausgehändigt worden seien, die aufgrund der schlechten Qualität der verwendeten Druckerschwärze inzwischen unleserlich geworden seien.

30      In der Vorlageentscheidung weist die Curtea de Apel Alba Iulia (Berufungsgericht Alba Iulia) darauf hin, dass die Frage, mit der sie befasst sei, dahin gehe, ob ein Bauträger, der sich, ohne sich zuvor an die zuständige Steuerbehörde gewandt zu haben, nicht als mehrwertsteuerpflichtig habe registrieren lassen, obwohl er dazu verpflichtet gewesen wäre, und keine Bücher geführt habe, hinsichtlich der in die Errichtung der verkauften Gebäude investierten Gelder zum Vorsteuerabzug berechtigt sei, wenn keine steuerlichen Rechnungen vorgelegt werden könnten und die vorgelegten sonstigen Dokumente unleserlich seien und folglich nicht ausreichten, um zu bestimmen, ob und inwieweit ein Recht auf Vorsteuerabzug bestehe.

31      Unter Bezugnahme auf das Urteil des Gerichtshofs vom 9. Juli 2015, Salomie und Oltean (C-183/14, EU:C:2015:454), möchte die Curtea de Apel Alba Iulia (Berufungsgericht Alba Iulia) wissen, ob der Grundsatz der Neutralität der Mehrwertsteuer ein Recht auf Vorsteuerabzug zulässt, wenn der Steuerpflichtige unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens – unter denen es zur damaligen Zeit insbesondere nicht vorgeschrieben war, natürlichen Personen Rechnungen auszustellen – nicht in der Lage ist, Rechnungen vorzulegen, und ob der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit einer Maßnahme entgegensteht, durch die unter solchen Umständen das Recht auf Vorsteuerabzug beschränkt wird.

32      Sollten diese Grundsätze dahin auszulegen sein, dass sie es einem Steuerpflichtigen gestatten, den Vorsteuerabzug in Anspruch zu nehmen, obwohl er hierfür keine Rechnungen vorlegen kann, möchte die Curtea de Apel Alba Iulia (Berufungsgericht Alba Iulia) wissen, ob das Recht auf Vorsteuerabzug aufgrund einer mittelbaren Schätzung gewährt werden kann, die im vorliegenden Fall im Wege eines von ihr angeordneten gerichtlichen Sachverständigengutachtens erfolgt, indem sie dem Gutachter aufgibt, den Betrag der abzugsfähigen Vorsteuer auf der Grundlage des Umfangs der Arbeiten bzw. der Arbeitsleistung zu ermitteln, die der Steuerpflichtige vorgenommen bzw. in Anspruch genommen hat und die zur Errichtung der von ihm verkauften Gebäude erforderlich war bzw. waren.

33      Vor diesem Hintergrund hat die Curtea de Apel Alba Iulia (Berufungsgericht Alba Iulia) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.      Können die Mehrwertsteuerrichtlinie im Allgemeinen und deren Art. 167, 168, 178, 179 und 273 im Besonderen sowie die Grundsätze der Verhältnismäßigkeit und der Neutralität der Mehrwertsteuer dahin ausgelegt werden, dass sie es einem Steuerpflichtigen, der die sachlichen Voraussetzungen für den Vorsteuerabzug erfüllt, gestatten, von seinem Vorsteuerabzugsrecht Gebrauch zu machen, wenn er in einem besonderen Kontext wie dem des Ausgangsverfahrens nicht in der Lage ist, die als Vorsteuer für die Lieferung von Gegenständen und Dienstleistungen gezahlten Beträge durch Vorlage steuerlicher Rechnungen nachzuweisen?

2.      Für den Fall, dass die erste Frage bejaht wird: Können die Mehrwertsteuerrichtlinie sowie die Grundsätze der Verhältnismäßigkeit und der Neutralität der Mehrwertsteuer dahin ausgelegt werden, dass eine mittelbare Schätzung (im Wege eines gerichtlichen Sachverständigengutachtens), die von einem unabhängigen Bewerter auf der Grundlage des sich aus einem die Gebäude betreffenden Gutachten ergebenden Umfangs der Arbeiten/Arbeitsleistung vorgenommen wird, eine zulässige und angemessene Maßnahme zur Bestimmung des Umfangs des Vorsteuerabzugsrechts darstellen kann, wenn die Lieferungen von Gegenständen (Baumaterialien) und die Dienstleistungen (Arbeitsleistung zur Errichtung der Bauwerke) von mehrwertsteuerpflichtigen Personen stammen?

 Zu den Vorlagefragen

34      Nach ständiger Rechtsprechung ist der Gerichtshof für die Auslegung des Unionsrechts nur insoweit zuständig, als es um dessen Anwendung in einem neuen Mitgliedstaat ab dem Tag seines Beitritts zur Europäischen Union geht (Beschluss vom 11. Mai 2017, Exmitiani, C-286/16, nicht veröffentlicht, EU:C:2017:368, Rn. 12).

35      Somit ist der Gerichtshof, was das Ausgangsverfahren betrifft, nur insoweit für die Beantwortung der vom vorlegenden Gericht gestellten Fragen zuständig, als sie der Mehrwertsteuer unterliegende Umsätze betreffen, die ab dem 1. Januar 2007, dem Tag des Beitritts Rumäniens zur Union, bewirkt worden sind.

36      Mit seinen beiden Fragen, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die Mehrwertsteuerrichtlinie, insbesondere Art. 167, Art. 168, Art. 178 Buchst. a und Art. 179, sowie die Grundsätze der Neutralität der Mehrwertsteuer und der Verhältnismäßigkeit dahin auszulegen sind, dass unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens ein Steuerpflichtiger, der nicht in der Lage ist, durch Vorlage von Rechnungen oder anderen Unterlagen den Betrag der von ihm gezahlten Vorsteuer nachzuweisen, allein auf der Grundlage einer Schätzung in einem vom nationalen Gericht angeordneten Sachverständigengutachten ein Recht auf Vorsteuerabzug geltend machen kann.

37      Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs ist das Recht auf Vorsteuerabzug ein fundamentaler Grundsatz des gemeinsamen Mehrwertsteuersystems, das grundsätzlich nicht eingeschränkt werden kann und für die gesamte Steuerbelastung der vorausgehenden Umsatzstufen sofort ausgeübt werden kann (Urteil vom 9. Juli 2015, Salomie und Oltean, C-183/14, EU:C:2015:454, Rn. 56 und die dort angeführte Rechtsprechung).

38      Durch diese Regelung soll der Unternehmer vollständig von der im Rahmen seiner wirtschaftlichen Tätigkeit geschuldeten oder entrichteten Mehrwertsteuer entlastet werden. Das gemeinsame Mehrwertsteuersystem gewährleistet daher, dass alle wirtschaftlichen Tätigkeiten, sofern sie der Mehrwertsteuer unterliegen, unabhängig von ihrem Zweck und ihrem Ergebnis in völlig neutraler Weise steuerlich belastet werden (Urteil vom 9. Juli 2015, Salomie und Oltean, C-183/14, EU:C:2015:454, Rn. 57 und die dort angeführte Rechtsprechung).

39      Gemäß Art. 167 der Mehrwertsteuerrichtlinie entsteht das Recht auf Vorsteuerabzug, wenn der Anspruch auf die abziehbare Steuer entsteht. Die für die Entstehung dieses Rechts erforderlichen materiellen Voraussetzungen sind in Art. 168 Buchst. a der Richtlinie aufgezählt. So ist es, um dieses Recht geltend machen zu können, zum einen erforderlich, dass der Betroffene Steuerpflichtiger im Sinne der Richtlinie ist, und zum anderen, dass die zur Begründung des Abzugsrechts angeführten Gegenstände oder Dienstleistungen vom Steuerpflichtigen auf einer nachfolgenden Umsatzstufe für Zwecke seiner besteuerten Umsätze verwendet werden und dass diese Gegenstände oder Dienstleistungen auf einer vorausgehenden Umsatzstufe von einem anderen Steuerpflichtigen geliefert oder erbracht werden (Urteil vom 15. September 2016, Senatex, C-518/14, EU:C:2016:691, Rn. 28 und die dort angeführte Rechtsprechung).

40      Zu den formellen Voraussetzungen des Abzugsrechts ergibt sich aus Art. 178 Buchst. a der Mehrwertsteuerrichtlinie, dass es nur ausgeübt werden kann, wenn der Steuerpflichtige eine im Einklang mit Art. 226 der Richtlinie ausgestellte Rechnung besitzt (Urteil vom 15. September 2016, Senatex, C-518/14, EU:C:2016:691, Rn. 29 und die dort angeführte Rechtsprechung).

41      Der Gerichtshof hat jedoch entschieden, dass das Grundprinzip der Mehrwertsteuerneutralität verlangt, dass der Vorsteuerabzug gewährt wird, wenn die materiellen Voraussetzungen erfüllt sind, selbst wenn der Steuerpflichtige bestimmten formellen Voraussetzungen nicht genügt hat. Daraus folgt, dass die Steuerverwaltung das Recht auf Vorsteuerabzug nicht allein deshalb verweigern kann, weil eine Rechnung nicht die in Art. 226 Nrn. 6 und 7 der Mehrwertsteuerrichtlinie aufgestellten Voraussetzungen erfüllt, wenn sie über sämtliche Daten verfügt, um zu prüfen, ob die für dieses Recht geltenden materiellen Voraussetzungen erfüllt sind (Urteil vom 15. September 2016, Barlis 06 – Investimentos Imobiliários e Turísticos, C-516/14, EU:C:2016:690, Rn. 42 und 43).

42      Daher verstößt die strikte Anwendung des formellen Erfordernisses, Rechnungen vorzulegen, gegen die Grundsätze der Neutralität und der Verhältnismäßigkeit, da dadurch dem Steuerpflichtigen auf unverhältnismäßige Weise die steuerliche Neutralität seiner Umsätze verwehrt würde.

43      Gleichwohl muss ein Steuerpflichtiger, der einen Vorsteuerabzug vornehmen möchte, nachweisen, dass er die Voraussetzungen hierfür erfüllt (Urteil vom 15. September 2016, Barlis 06 – Investimentos Imobiliários e Turísticos, C-516/14, EU:C:2016:690, Rn. 46 und die dort angeführte Rechtsprechung).

44      Der Steuerpflichtige muss also durch objektive Nachweise belegen, dass ihm andere Steuerpflichtige auf einer vorausgehenden Umsatzstufe tatsächlich Gegenstände oder Dienstleistungen geliefert bzw. erbracht haben, die seinen der Mehrwertsteuer unterliegenden Umsätzen dienten und für die er die Mehrwertsteuer tatsächlich entrichtet hat.

45      Diese Nachweise können u. a. Unterlagen im Besitz der Lieferer oder Dienstleistungserbringer umfassen, von denen der Steuerpflichtige die Gegenstände oder Dienstleistungen, für die er die Mehrwertsteuer entrichtet hat, bezogen hat. Eine Schätzung in einem von einem nationalen Gericht angeordneten Sachverständigengutachten kann diese Nachweise zwar gegebenenfalls ergänzen oder glaubwürdiger erscheinen lassen, nicht aber ersetzen.

46      Im vorliegenden Fall geht aus der Vorlageentscheidung hervor, dass Herr Vădan, da er keine Rechnungen vorlegen konnte, andere Dokumente vorlegte, die den Angaben des vorlegenden Gerichts zufolge jedoch unleserlich waren und nicht genügten, um zu bestimmen, ob und inwieweit ein Recht auf Vorsteuerabzug besteht.

47      Bezüglich des im Ausgangsverfahren fraglichen Nachweises durch ein gerichtliches Sachverständigengutachten wie das im Ausgangsverfahren in Rede stehende führt das vorlegende Gericht aus, dass der Sachverständige die Aufgabe habe, den Betrag der abzugsfähigen Vorsteuer auf der Grundlage des Umfangs der Arbeiten bzw. der Arbeitsleistung zu ermitteln, die der Steuerpflichtige vorgenommen bzw. in Anspruch genommen habe und die zur Errichtung der von ihm verkauften Gebäude erforderlich gewesen sei bzw. seien. Hierzu ist jedoch festzustellen, dass durch ein solches Sachverständigengutachten nicht nachgewiesen werden könnte, dass Herr Vădan die Mehrwertsteuer für die Umsätze, die er auf der vorausgehenden Umsatzstufe für die Errichtung dieser Gebäude bewirkt hat, tatsächlich gezahlt hat.

48      Nach alledem ist auf die Vorlagefragen zu antworten, dass die Mehrwertsteuerrichtlinie, insbesondere Art. 167, Art. 168, Art. 178 Buchst. a und Art. 179, sowie die Grundsätze der Neutralität der Mehrwertsteuer und der Verhältnismäßigkeit dahin auszulegen sind, dass unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens ein Steuerpflichtiger, der nicht in der Lage ist, durch Vorlage von Rechnungen oder anderen Unterlagen den Betrag der von ihm gezahlten Vorsteuer nachzuweisen, nicht allein auf der Grundlage einer Schätzung in einem vom nationalen Gericht angeordneten Sachverständigengutachten ein Recht auf Vorsteuerabzug geltend machen kann.

 Kosten

49      Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Vierte Kammer) für Recht erkannt:

Die Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem, insbesondere Art. 167, Art. 168, Art. 178 Buchst. a und Art. 179, sowie die Grundsätze der Neutralität der Mehrwertsteuer und der Verhältnismäßigkeit sind dahin auszulegen, dass unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens ein Steuerpflichtiger, der nicht in der Lage ist, durch Vorlage von Rechnungen oder anderen Unterlagen den Betrag der von ihm gezahlten Vorsteuer nachzuweisen, nicht allein auf der Grundlage einer Schätzung in einem vom nationalen Gericht angeordneten Sachverständigengutachten ein Recht auf Vorsteuerabzug geltend machen kann.

Unterschriften


*      Verfahrenssprache: Rumänisch.