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Vorläufige Fassung

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Zehnte Kammer)

11. April 2019(*)

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Steuerrecht – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem – Richtlinie 2006/112/EG – Anspruch auf Abzug der als Vorsteuer entrichteten Mehrwertsteuer – Art. 199 Abs. 1 Buchst. a – Verlagerung der Steuerschuldnerschaft auf den Leistungsempfänger – Rechtsgrundlose Entrichtung der Steuer durch den Dienstleistungsempfänger an die Erbringer aufgrund einer irrtümlich nach den gewöhnlichen Steuervorschriften ausgestellten Rechnung – Bescheid der Steuerbehörde, mit dem eine Steuerschuld des Dienstleistungsempfängers festgestellt und ein Antrag auf Steuerabzug abgelehnt wird – Keine Prüfung durch die Steuerbehörde, ob eine Steuererstattung möglich ist“

In der Rechtssache C-691/17

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Fővárosi Közigazgatási és Munkaügyi Bíróság (Hauptstädtisches Verwaltungs- und Arbeitsgericht, Ungarn) mit Entscheidung vom 29. November 2017, beim Gerichtshof eingegangen am 11. Dezember 2017, in dem Verfahren

PORR Építési Kft.

gegen

Nemzeti Adó- és Vámhivatal Fellebbviteli Igazgatóság

erlässt

DER GERICHTSHOF (Zehnte Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten C. Lycourgos (Berichterstatter) sowie der Richter E. Juhász und M. Ilešič,

Generalanwalt: M. Bobek,

Kanzler: K. Malacek, Verwaltungsrat,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 9. Januar 2019,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

–        der PORR Építési Kft., vertreten durch É. Radnai und G. Hajdu, ügyvédek,

–        der ungarischen Regierung, vertreten durch M. Z. Fehér und G. Koós als Bevollmächtigte,

–        der Europäischen Kommission, vertreten durch K. Talabér-Ritz und L. Lozano Palacios als Bevollmächtigte,

aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,

folgendes

Urteil

1        Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. 2006, L 347, S. 1) in der durch die Richtlinie 2010/45/EU des Rates vom 13. Juli 2010 (ABl. 2010, L 189, S. 1) geänderten Fassung (im Folgenden: Richtlinie 2006/112) sowie der Grundsätze der Verhältnismäßigkeit, der Steuerneutralität und der Effektivität.

2        Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der PORR Építési Kft. (im Folgenden: PORR) und der Nemzeti Adó- és Vámhivatal Fellebbviteli Igazgatósága (Rechtsbehelfsdirektion der nationalen Steuer- und Zollverwaltung, Ungarn) (im Folgenden: Steuerverwaltung) über nachträgliche Steuerfestsetzung zulasten von PORR wegen Nichtanwendung der nationalen Vorschriften über die Verlagerung der Schuldnerschaft bei der Mehrwertsteuer.

 Rechtlicher Rahmen

 Unionsrecht

3        Art. 167 der Richtlinie 2006/112 bestimmt:

„Das Recht auf Vorsteuerabzug entsteht, wenn der Anspruch auf die abziehbare Steuer entsteht.“

4        Art. 168 dieser Richtlinie sieht vor:

„Soweit die Gegenstände und Dienstleistungen für die Zwecke seiner besteuerten Umsätze verwendet werden, ist der Steuerpflichtige berechtigt, in dem Mitgliedstaat, in dem er diese Umsätze bewirkt, vom Betrag der von ihm geschuldeten Steuer folgende Beträge abzuziehen:

a)      die in diesem Mitgliedstaat geschuldete oder entrichtete Mehrwertsteuer für Gegenstände und Dienstleistungen, die ihm von einem anderen Steuerpflichtigen geliefert bzw. erbracht wurden oder werden;

…“

5        In Art. 178 der Richtlinie 2006/112 heißt es:

„Um das Recht auf Vorsteuerabzug ausüben zu können, muss der Steuerpflichtige folgende Bedingungen erfüllen:

f)      hat er die Steuer in seiner Eigenschaft als Dienstleistungsempfänger oder Erwerber gemäß den Artikeln 194 bis 197 sowie 199 zu entrichten, muss er die von dem jeweiligen Mitgliedstaat vorgeschriebenen Formalitäten erfüllen.“

6        Art. 199 Abs. 1 dieser Richtlinie lautet:

„Die Mitgliedstaaten können vorsehen, dass der steuerpflichtige Empfänger die Mehrwertsteuer schuldet, an den folgende Umsätze bewirkt werden:

a)      Bauleistungen, einschließlich Reparatur-, Reinigungs-, Wartungs-, Umbau- und Abbruchleistungen im Zusammenhang mit Grundstücken sowie die auf Grund des Artikels 14 Absatz 3 als Lieferung von Gegenständen betrachtete Erbringung bestimmter Bauleistungen;

…“

7        Art. 226 der Richtlinie 2006/112 sieht vor:

„Unbeschadet der in dieser Richtlinie festgelegten Sonderbestimmungen müssen gemäß den Artikeln 220 und 221 ausgestellte Rechnungen für Mehrwertsteuerzwecke nur die folgenden Angaben enthalten:

11a.      bei Steuerschuldnerschaft des Erwerbers oder Dienstleistungsempfängers: die Angabe ‚Steuerschuldnerschaft des Leistungsempfängers‘;

…“

8        Vor Inkrafttreten der Richtlinie 2010/45 sah Art. 226 der Richtlinie 2006/112 Folgendes vor:

„Unbeschadet der in dieser Richtlinie festgelegten Sonderbestimmungen müssen gemäß den Artikeln 220 und 221 ausgestellte Rechnungen für Mehrwertsteuerzwecke nur die folgenden Angaben enthalten:

11.      bei Steuerbefreiung oder wenn die Steuer vom Erwerber oder Dienstleistungsempfänger geschuldet wird: Verweis auf die einschlägige Bestimmung dieser Richtlinie oder die entsprechende nationale Bestimmung oder Hinweis darauf, dass für die Lieferung von Gegenständen beziehungsweise die Dienstleistung eine Steuerbefreiung gilt beziehungsweise diese der Verlagerung der Steuerschuldnerschaft unterliegt;

…“

 Ungarisches Recht

9        § 70 Abs. 1 des Általános forgalmi adóról szóló 2007. évi CXXVII. törvény (Gesetz Nr. CXXVII von 2007 über die allgemeine Umsatzsteuer) in seiner auf das Ausgangsverfahren anwendbaren Fassung (im Folgenden: Umsatzsteuergesetz) bestimmt:

„Bei der Lieferung von Gegenständen und Dienstleistungen umfasst die Steuerbemessungsgrundlage

b)      die entstandenen Nebenkosten, die der Lieferer bzw. Dienstleistende auf den Erwerber oder Dienstleistungsempfänger abwälzt, insbesondere Gebühren und Kosten für die Provision oder sonstige Vermittlung, sowie für Verpackung, Beförderung und Versicherung.

…“

10      In § 119 Abs. 1 des Umsatzsteuergesetzes heißt es:

„Soweit in diesem Gesetz nichts anderes bestimmt ist, entsteht das Recht auf Vorsteuerabzug zum Zeitpunkt der Festsetzung der geschuldeten Steuer in Höhe der Vorsteuer (§ 120) …“

11      § 120 dieses Gesetzes bestimmt:

„Soweit der Steuerpflichtige – in dieser Eigenschaft – Gegenstände oder Dienstleistungen zur steuerpflichtigen Lieferung von Gegenständen bzw. zur steuerpflichtigen Erbringung von Dienstleistungen verwendet oder auf andere Weise verwertet, ist er berechtigt, vom Betrag der von ihm geschuldeten Steuer die Steuer abzuziehen,

a)      die ein anderer Steuerpflichtiger – einschließlich der Personen oder Einrichtungen, die der vereinfachten Unternehmensteuer unterliegen – im Zusammenhang mit dem Erwerb von Gegenständen oder der Inanspruchnahme von Dienstleistungen an ihn weitergegeben hat;

b)      die im Zusammenhang mit der Lieferung von Gegenständen oder der Erbringung von Dienstleistungen – einschließlich der innergemeinschaftlichen Erwerbe – zu zahlen ist;

…“

12      § 127 des Umsatzsteuergesetzes sieht vor:

„(1)      Materielle Voraussetzung für die Ausübung des Rechts auf Vorsteuerabzug ist, dass der Steuerpflichtige persönlich über Folgendes verfügt:

a)      im Falle des § 120 Buchst. a über eine auf seinen Namen ausgestellte Rechnung, durch die der Umsatz nachgewiesen wird;

b)      in den in § 120 Buchst. b geregelten Fällen

ba)      bei innergemeinschaftlichen Lieferungen über eine auf seinen Namen ausgestellte Rechnung, durch die der Umsatz nachgewiesen wird, bzw.

bb)      sofern Buchst. ba nicht einschlägig ist, über eine auf seinen Namen ausgestellte Rechnung, durch die der Umsatz nachgewiesen wird oder, falls der Steuerpflichtige zum Zeitpunkt der Festsetzung der zu entrichtenden Steuer über keine Rechnung verfügt, alle Dokumente, die für die betragsmäßige Festsetzung der zu entrichtenden Steuer erforderlich sind;

(4)      Der Betrag der abziehbaren Vorsteuer darf nicht über den Betrag hinausgehen, der in dem in Abs. 1 genannten Dokument als Steuer ausgewiesen ist bzw. sich anhand dieses Dokuments als Steuer errechnen lässt.

…“

13      § 169 des Umsatzsteuergesetzes bestimmt:

„Die Rechnung muss folgende Angaben enthalten:

j)      den Betrag der weitergegebenen Steuer, es sei denn, dieses Gesetz schließt diese Angabe aus;

k)      im Falle der Steuerfreiheit oder wenn der Erwerber der Waren oder der Empfänger der Dienstleistung die Steuer zu entrichten hat, eine Bezugnahme auf eine Rechtsvorschrift oder einen sonstigen klaren Hinweis darauf, dass die Lieferung der Waren oder die Erbringung der Dienstleistung

ka)      steuerfrei ist oder

kb)      beim Erwerber der Ware oder Empfänger der Dienstleistung besteuert wird.

…“

14      In § 142 Abs. 1 dieses Gesetzes heißt es:

„Die Steuer ist vom Erwerber der Ware oder dem Empfänger der Dienstleistung zu zahlen:

b)      bei als Dienstleistungen einzustufenden Baumontage- und sonstigen Montagearbeiten, die die Errichtung, Erweiterung, Umwandlung oder sonstige Veränderung einer Immobilie bezwecken, einschließlich des vollständigen Abrisses, sofern die Errichtung, Erweiterung, Umwandlung oder sonstige Veränderung der Immobilie baugenehmigungspflichtig ist, worüber der Dienstleistungsempfänger den Dienstleistungserbringer im Voraus schriftlich unterrichten muss;

…“

 Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

15      Die Nemzeti Adó- és Vámhivatal Kiemelt Adózók Adóigazgatósága (Finanzdirektion für Großsteuerfälle der nationalen Steuer- und Zollverwaltung, Ungarn) führte eine nachträgliche Prüfung der Erklärungen von PORR zu den Steuern und öffentlichen Subventionen der Jahre 2010 und 2011 durch.

16      Mit Bescheid vom 13. März 2015 erlegte diese Steuerbehörde PORR eine Umsatzsteuernachzahlung in Höhe von 88 644 000 ungarischen Forint (HUF) (etwa 275 000 Euro), eine Steuergeldbuße in Höhe von 26 593 000 HUF (etwa 82 200 Euro), Säumniszuschläge in Höhe von 13 908 000 HUF (etwa 43 000 Euro) und eine Versäumnisgeldbuße in Höhe von 500 000 HUF (etwa 1 550 Euro) auf.

17      Auf den von PORR dagegen eingelegten Einspruch hin bestätigte die Steuerverwaltung den Bescheid vom 13. März 2015, was die Umsatzsteuerberichtigungen betraf.

18      Aus dem Vorabentscheidungsersuchen geht hervor, dass PORR im Zusammenhang mit dem Bau einer Autobahn von mindestens drei Dienstleistungserbringern nach den gewöhnlichen Besteuerungsregeln ausgestellte Rechnungen angenommen hatte, auf denen die Mehrwertsteuer ausgewiesen war. PORR hatte diese Rechnungen bezahlt, die ausgewiesenen Vorsteuerbeträge abgezogen und anschließend deren Erstattung beantragt. Die Steuerverwaltung nahm indes an, dass die in den betreffenden Rechnungen ausgewiesenen wirtschaftlichen Transaktionen mit einer aus Bautätigkeiten bestehenden Haupttätigkeit im Zusammenhang stünden und nach den einschlägigen nationalen Vorschriften der Regelung über die Verlagerung der Mehrwertsteuerschuldnerschaft hätten unterworfen werden müssen. Die Rechnungsaussteller hätten daher die Rechnungen ohne Ausweis der Umsatzsteuer erstellen oder auf ihr angeben müssen, dass für sie die Regelung über die Verlagerung der Steuerschuldnerschaft gelte.

19      Die Steuerverwaltung kam daher zu dem Ergebnis, dass PORR ein Anspruch auf Abzug der in den Rechnungen ausgewiesenen Vorsteuerbeträge nur nach § 120 Buchst. b des Umsatzsteuergesetzes zustehe und nicht nach dessen § 120 Buchst. a. Sie wies darauf hin, dass keine Doppelbesteuerung vorliege und die fehlerhafte Rechnungsstellung PORR nicht von den verhängten Rechtsfolgen freistelle. Sie betonte zudem, dass die Rechnungsaussteller zur Berichtigung der betreffenden Rechnungen aufgefordert werden könnten.

20      PORR erhob gegen die Entscheidung der Steuerverwaltung Klage zum Fővárosi Közigazgatási és Munkaügyi Bíróság (Hauptstädtisches Verwaltungs- und Arbeitsgericht, Ungarn). Mit ihrer Klage machte sie in erster Linie geltend, dass die Steuerverwaltung den Sachverhalt falsch beurteilt habe, als sie angenommen habe, dass für die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Rechnungen die Verlagerung der Steuerschuldnerschaft einschlägig sei.

21      Hilfsweise vertritt PORR die Auffassung, dass ihr, wenn für diese Rechnungen tatsächlich die Verlagerung der Steuerschuldnerschaft gelten würde, die Steuerverwaltung zumindest das Recht auf Abzug der Vorsteuer nicht hätte versagen dürfen. Die Finanzdirektion habe die Existenz der Transaktionen mit den die Rechnungen ausstellenden Gesellschaften nicht bestritten; zudem hätten diese Gesellschaften augenscheinlich ihre Pflicht zur Entrichtung der erhaltenen Umsatzsteuer erfüllt, d. h. diese an den Fiskus abgeführt.

22      PORR macht somit geltend, die Steuerverwaltung sei ihrer Pflicht nicht nachgekommen, zu prüfen, ob die Aussteller der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Rechnungen die Umsatzsteuer abgeführt hätten und ob es ihnen noch möglich wäre, diese Rechnungen zu berichtigen. Die Steuerverwaltung habe erst recht nicht den Umstand berücksichtigt, dass eine solche Berichtigung möglicherweise ausgeschlossen gewesen sei, da eine Eigenrevision bei einer Kontrolle abgegebener Erklärungen ausgeschlossen sei. Folglich habe die betreffende Gesellschaft definitiv keine Möglichkeit mehr, ihr Recht auf Vorsteuerabzug auszuüben.

23      Die Steuerverwaltung verteidigt sich damit, PORR für die gemäß der Regelung über die Verlagerung der Steuerschuldnerschaft ausgestellten Rechnungen das Recht auf Vorsteuerabzug eingeräumt zu haben, wodurch die Gefahr einer Doppelbesteuerung ausgeschlossen würde.

24      Das Fővárosi Közigazgatási és Munkaügyi Bíróság (Hauptstädtisches Verwaltungs- und Arbeitsgericht, Ungarn) verweist auf die Rechtsprechung des Gerichtshofs, wonach der Effektivitätsgrundsatz gebiete, dass der Erwerber von Gegenständen seinen Antrag auf Erstattung unmittelbar an die Steuerbehörden richten könne, wenn die Erstattung der Mehrwertsteuer – insbesondere im Fall der Zahlungsunfähigkeit des Veräußerers – unmöglich oder übermäßig erschwert werde. Deshalb müssten die Mitgliedstaaten, damit der Grundsatz der Effektivität gewahrt werde, die erforderlichen Mittel und Verfahrensmodalitäten vorsehen, die es dem betreffenden Erwerber ermöglichten, die zu Unrecht in Rechnung gestellte Steuer erstattet zu bekommen.

25      Nach Auffassung des vorlegenden Gerichts hätte die Steuerverwaltung prüfen müssen, ob die Rechnungsaussteller in der Lage gewesen seien, der Klägerin des Ausgangsverfahrens den irrtümlich gezahlten Steuerbetrag zu erstatten, und ob sie berechtigt gewesen seien, von der Steuerverwaltung die Rückzahlung dieser Beträge zu verlangen. Da das Steuerprüfungsverfahren bereits eingeleitet gewesen sei, weshalb jegliche Eigenrevision ausgeschlossen gewesen sei, hätte die Steuerverwaltung diese Situation nämlich bereinigen müssen. Das vorlegende Gericht fragt sich außerdem, im Rahmen welchen Verfahrens – eines verwaltungsgerichtlichen Verfahrens oder eines neuen Verfahrens vor der Steuerbehörde – die Klägerin des Ausgangsverfahrens in die Lage versetzt werden muss, den zu Unrecht entrichteten Umsatzsteuerbetrag zu erlangen.

26      Unter diesen Umständen hat das vorlegende Gericht das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

1.      Sind die Bestimmungen der Richtlinie 2006/112 – und insbesondere der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, der Grundsatz der Steuerneutralität sowie der Effektivitätsgrundsatz – dahin auszulegen, dass sie einer Praxis der Steuerbehörde eines Mitgliedstaats entgegenstehen, nach der, obwohl kein Steuerbetrug vorliegt, bei der Behördenentscheidung das Recht auf Vorsteuerabzug, das auf der Grundlage einer nach den gewöhnlichen mehrwertsteuerlichen Vorschriften ausgestellten Rechnung mit Mehrwertsteuerausweis ausgeübt werden kann, versagt wird, weil die Rechnung über den Umsatz richtigerweise nach der Regelung über die Verlagerung der Steuerschuldnerschaft hätte ausgestellt werden müssen, aber vor der Versagung des Rechts auf den Vorsteuerabzug

–        nicht geprüft wird, ob der Rechnungsaussteller in der Lage ist, dem Rechnungsempfänger die irrtümlich entrichtete Mehrwertsteuer zu erstatten, und

–        nicht geprüft wird, ob der Rechnungsaussteller im Einklang mit dem Recht (innerhalb des mitgliedstaatlichen Rechtsrahmens) in der Lage ist, die Rechnung zu berichtigen, eine Eigenrevision durchzuführen und sich aufgrund dessen die von ihm irrtümlich abgeführte Steuer von der Steuerverwaltung erstatten zu lassen?

2.      Sind die Bestimmungen der Richtlinie 2006/112 – und insbesondere der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, der Grundsatz der Steuerneutralität sowie der Effektivitätsgrundsatz – dahin auszulegen, dass sie einer Praxis der Steuerbehörde eines Mitgliedstaats entgegenstehen, nach der bei der Behördenentscheidung das Recht auf Vorsteuerabzug, das auf der Grundlage einer nach den gewöhnlichen mehrwertsteuerlichen Vorschriften ausgestellten Rechnung mit Mehrwertsteuerausweis ausgeübt werden kann, versagt wird, weil die Rechnung über den Umsatz richtigerweise nach der Regelung über die Verlagerung der Steuerschuldnerschaft hätte ausgestellt werden müssen, aber bei der Behördenentscheidung nicht angeordnet wird, dem Rechnungsempfänger die rechtsgrundlos gezahlte Steuer zu erstatten, obwohl der Rechnungsaussteller die in den Rechnungen ausgewiesene Mehrwertsteuer an den Fiskus abgeführt hat?

 Zu den Vorlagefragen

27      Mit seinen Fragen, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die Richtlinie 2006/112 sowie der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, der Grundsatz der Steuerneutralität und der Effektivitätsgrundsatz dahin auszulegen sind, dass sie einer Praxis der Steuerbehörde entgegenstehen, wonach diese, ohne dass ein Betrugsverdacht vorliegt, einem Unternehmen das Recht auf Abzug der Mehrwertsteuer verweigert, die dieses als Empfänger von Dienstleistungen deren Erbringer aufgrund einer Rechnung rechtsgrundlos gezahlt hat, die der Erbringer gemäß der gewöhnlichen Mehrwertsteuerregelung ausgestellt hat, obwohl der betreffende Umsatz dem Mechanismus der Verlagerung der Steuerschuldnerschaft auf den Leistungsempfänger unterlag, ohne dass die Steuerbehörde

–        vor der Verweigerung des Rechts auf Steuerabzug prüft, ob der Aussteller dieser falschen Rechnung ihrem Empfänger die rechtsgrundlos gezahlte Mehrwertsteuer erstatten und die betreffende Rechnung im Wege der Eigenrevision gemäß der einschlägigen nationalen Regelung berichtigen kann, um die von ihm rechtsgrundlos an den Fiskus abgeführte Steuer zurückzuerlangen, oder

–        beschließt, selbst dem Empfänger der betreffenden Rechnung die Steuer zu erstatten, die dieser rechtsgrundlos an deren Aussteller gezahlt und dieser anschließend rechtsgrundlos an den Fiskus abgeführt hat.

28      Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass die Vorlageentscheidung keinen Anhaltspunkt enthält, der es dem Gerichtshof ermöglicht, zu beurteilen, inwiefern eine Auslegung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes für die Beantwortung der Vorlagefragen sinnvoll ist. Die Antwort auf diese Fragen beschränkt sich daher auf die Auslegung der einschlägigen Bestimmungen der Richtlinie 2006/112 sowie des Grundsatzes der Steuerneutralität und des Effektivitätsgrundsatzes.

29      An erster Stelle muss geprüft werden, ob es mit diesen Bestimmungen und diesen Grundsätzen vereinbar ist, dass einem Dienstleistungsempfänger in einer Situation wie der von PORR das Recht auf Vorsteuerabzug verweigert wird.

30      Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass im Fall der Anwendung der Regelung über die Steuerschuldnerschaft des Leistungsempfängers zwischen dem Erbringer von Dienstleistungen und deren Empfänger keine Mehrwertsteuerzahlung erfolgt. Der Empfänger hat für die getätigten Umsätze Vorsteuer zu entrichten, kann diese aber grundsätzlich in Abzug bringen, so dass der Steuerverwaltung kein Betrag geschuldet wird (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 26. April 2017, Farkas, C-564/15, EU:C:2017:302, Rn. 41 und die dort angeführte Rechtsprechung).

31      Außerdem ist zu betonen, dass das Recht auf Vorsteuerabzug integraler Bestandteil des Mechanismus der Mehrwertsteuer ist und grundsätzlich nicht eingeschränkt werden kann (Urteile vom 15. Juli 2010, Pannon Gép Centrum, C-368/09, EU:C:2010:441, Rn. 37, und vom 26. April 2017, Farkas, C-564/15, EU:C:2017:302, Rn. 42).

32      Durch die Regelung über den Vorsteuerabzug soll der Steuerpflichtige vollständig von der im Rahmen seiner gesamten wirtschaftlichen Tätigkeit geschuldeten oder entrichteten Mehrwertsteuer entlastet werden. Das gemeinsame Mehrwertsteuersystem gewährleistet somit die Neutralität hinsichtlich der steuerlichen Belastung aller wirtschaftlichen Tätigkeiten unabhängig von ihrem Zweck und ihrem Ergebnis, sofern diese Tätigkeiten grundsätzlich selbst der Mehrwertsteuer unterliegen (Urteile vom 22. Februar 2001, Abbey National, C-408/98, EU:C:2001:110, Rn. 24, und vom 26. April 2017, Farkas, C-564/15, EU:C:2017:302, Rn. 43).

33      Zu den Modalitäten der Ausübung des Rechts auf Vorsteuerabzug im Fall der Steuerschuldnerschaft des Leistungsempfängers nach Art. 199 Abs. 1 der Richtlinie 2006/112 ist überdies darauf hinzuweisen, dass ein Steuerpflichtiger, der als Empfänger einer Dienstleistung die darauf anfallende Mehrwertsteuer schuldet, für die Ausübung seines Vorsteuerabzugsrechts keine gemäß den Formvorgaben dieser Richtlinie ausgestellte Rechnung zu besitzen braucht und nur die Förmlichkeiten erfüllen muss, die der betreffende Mitgliedstaat in Wahrnehmung der ihm nach Art. 178 Buchst. f dieser Richtlinie eröffneten Möglichkeit vorgeschrieben hat (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 26. April 2017, Farkas, C-564/15, EU:C:2017:302, Rn. 44 und die dort angeführte Rechtsprechung).

34      Im vorliegenden Fall geht aus der Vorlageentscheidung hervor, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Rechnungen nicht die in § 169 Abs. 1 Buchst. k des Umsatzsteuergesetzes geforderten Pflichtangaben enthielten und PORR den in diesen Rechnungen zu Unrecht ausgewiesenen Mehrwertsteuerbetrag irrtümlich an deren Aussteller überwiesen hat, obwohl sie als Empfängerin der Dienstleistungen in Anwendung der Regelung über die Steuerschuldnerschaft des Leistungsempfängers gemäß § 142 Abs. 1 Buchst. b dieses Gesetzes, mit dem Ungarn die in Art. 199 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2006/112 vorgesehene Option umgesetzt hat, die Umsatzsteuer unmittelbar an die Steuerbehörden hätte entrichten müssen.

35      Somit ist – abgesehen davon, dass die betreffenden Rechnungen nicht den Formvorgaben entsprechen, die die nationalen Rechtsvorschriften vorsehen, mit denen diese Richtlinie umgesetzt worden ist – ein materielles Erfordernis dieser Regelung nicht erfüllt, nämlich die Entrichtung der Umsatzsteuer an die Steuerbehörden durch den Steuerpflichtigen, der den Steuerabzug beantragt. Diese Situation hat die zuständige Steuerbehörde gehindert, die Anwendung der Regelung über die Steuerschuldnerschaft des Leistungsempfängers zu überwachen, und die Gefahr von Steuerausfällen für den betreffenden Mitgliedstaat herbeigeführt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 26. April 2017, Farkas, C-564/15, EU:C:2017:302, Rn. 45 und 46).

36      Im Übrigen war die Umsatzsteuer, die PORR an die Dienstleistungserbringer, die die Rechnungen ausgestellt hatten, entrichtet hat, nicht geschuldet, während das Recht auf Vorsteuerabzug nur für diejenigen Steuern besteht, die geschuldet werden – d. h. mit einem der Mehrwertsteuer unterworfenen Umsatz in Zusammenhang stehen – oder die entrichtet worden sind, soweit sie geschuldet wurden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 26. April 2017, Farkas, C-564/15, EU:C:2017:302, Rn. 47).

37      Da PORR ein materielles Erfordernis der Regelung über die Verlagerung der Steuerschuldnerschaft nicht beachtet hat und die Mehrwertsteuer, die sie an die Dienstleistungserbringer entrichtet hat, nicht geschuldet wurde, kann sie sich nicht auf ein Recht zum Abzug dieser Steuer berufen.

38      An zweiter Stelle ist zu prüfen, ob die Steuerbehörde – gemäß der Rechtsprechung des Gerichtshofs und wie PORR sinngemäß geltend macht – vor einer Verweigerung des Rechts auf Abzug der Mehrwertsteuer, die ein Steuerpflichtiger irrtümlich an Rechnungsaussteller wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden überwiesen hat, prüfen muss, ob die Rechnungsaussteller in der Lage sind, diese Rechnungen zu berichtigen und dem betreffenden Steuerpflichtigen den dort ausgewiesenen Mehrwertsteuerbetrag zu erstatten. PORR ist der Auffassung, dass der Rechnungsempfänger, wenn ihm die Steuerbehörde das Recht auf Vorsteuerabzug verweigern dürfte, ohne gleichzeitig von den Rechnungsausstellern zu verlangen, dass diese die Regelung über die Verlagerung der Steuerschuldnerschaft anwenden und ihre Rechnungen berichtigen, doppelt besteuert werde. Im vorliegenden Fall erlaubten die nationalen Vorschriften für Steuerprüfungen den Rechnungsausstellern nicht, ihre Rechnungen zu berichtigen.

39      Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass in Ermangelung einer Unionsregelung über die Erstattung von Abgaben die Verfahrensmodalitäten, die den Schutz der dem Bürger aus dem Unionsrecht erwachsenden Rechte gewährleisten sollen, nach dem Grundsatz der Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten Sache der innerstaatlichen Rechtsordnung der einzelnen Mitgliedstaaten ist; die Voraussetzungen, unter denen eine solche Erstattung verlangt werden kann, müssen dem Äquivalenzprinzip und dem Effektivitätsprinzip entsprechen, d. h., sie dürfen nicht ungünstiger sein als bei ähnlichen Forderungen, die auf Bestimmungen des innerstaatlichen Rechts gestützt sind, und sie dürfen nicht so ausgestaltet sein, dass sie die Ausübung der Rechte, die die Unionsrechtsordnung einräumt, praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 26. April 2017, Farkas, C-564/15, EU:C:2017:302, Rn. 50 und 52 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

40      In diesem Zusammenhang hat der Gerichtshof bejaht, dass ein System, in dem zum einen der Dienstleistungserbringer, der die Mehrwertsteuer irrtümlich an die Steuerbehörden entrichtet hat, deren Erstattung verlangen kann, und zum anderen der Dienstleistungsempfänger gegen diesen Erbringer eine zivilrechtliche Klage auf Rückzahlung einer nicht geschuldeten Leistung erheben kann, die Grundsätze der Neutralität und der Effektivität beachtet. Denn ein solches System ermöglicht es dem Dienstleistungsempfänger, der mit der irrtümlich in Rechnung gestellten Steuer belastet war, die rechtsgrundlos gezahlten Beträge erstattet zu bekommen (Urteile vom 15. März 2007, Reemtsma Cigarettenfabriken, C-35/05, EU:C:2007:167, Rn. 38 und 39, sowie vom 26. April 2017, Farkas, C-564/15, EU:C:2017:302, Rn. 51).

41      Im vorliegenden Fall hat die ungarische Regierung – vorbehaltlich der vom vorlegenden Gericht vorzunehmenden Überprüfungen – sowohl in ihren schriftlichen Erklärungen als auch in der mündlichen Verhandlung vor dem Gerichtshof bestätigt, dass das ungarische Rechtssystem, insbesondere die Verfahrensmodalitäten, die dieses für die Erstattung zu Unrecht in Rechnung gestellter Steuern vorsieht, es ermöglicht, dass zum einen der Dienstleistungsempfänger, der der Empfänger der Rechnungen ist, mit denen die Mehrwertsteuer irrtümlich in Rechnung gestellt worden ist, gegen die Dienstleistungserbringer, die diese Rechnungen ausgestellt haben, eine zivilrechtliche Klage auf Rückzahlung einer nicht geschuldeten Leistung erhebt, um die rechtsgrundlos gezahlten Beträge zurückzuerlangen, und zum anderen die betreffenden Dienstleistungserbringer bei der Steuerbehörde die Erstattung der Mehrwertsteuer beantragen, die sie rechtsgrundlos entrichtet haben.

42      Allerdings ist darauf hinzuweisen, dass der Effektivitätsgrundsatz gebieten kann, dass der Dienstleistungsempfänger seinen Erstattungsantrag unmittelbar an die Steuerbehörden richten kann, falls sich in einer Situation, in der der Dienstleistungserbringer die Mehrwertsteuer tatsächlich an den Fiskus entrichtet hat, ihre Erstattung an den Dienstleistungsempfänger durch den Dienstleistungserbringer – insbesondere im Fall der Zahlungsunfähigkeit des Dienstleistungserbringers – als unmöglich oder übermäßig schwierig erweist. In einem solchen Fall müssen die Mitgliedstaaten die erforderlichen Mittel und Verfahrensmodalitäten vorsehen, die es dem Dienstleistungsempfänger ermöglichen, die zu Unrecht in Rechnung gestellte Steuer erstattet zu bekommen, damit der Grundsatz der Effektivität gewahrt wird (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 26. April 2017, Farkas, C-564/15, EU:C:2017:302, Rn. 53).

43      In der mündlichen Verhandlung vor dem Gerichtshof hat PORR angegeben, dass über das Vermögen eines der Dienstleistungserbringer, die die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Rechnungen ausgestellt hätten, ein Insolvenzverfahren anhängig sei oder gewesen sei. Eine solche Feststellung stellt – vorbehaltlich der vom vorlegenden Gericht vorzunehmenden Überprüfungen – ein Indiz dafür dar, dass es für PORR unmöglich oder übermäßig schwierig sein könnte, die Mehrwertsteuer zurückzuerlangen, die ihr dieser Dienstleistungserbringer rechtsgrundlos in Rechnung gestellt hat.

44      Ferner ist darauf hinzuweisen, dass es nach den Angaben des vorlegenden Gerichts im vorliegenden Fall keinerlei Anhaltspunkte für einen Betrug gibt und die Dienstleistungserbringer, die die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Rechnungen ausgestellt haben, die Mehrwertsteuer an den Fiskus abgeführt haben, so dass diesem daraus, dass diese Rechnungen fälschlicherweise nach der gewöhnlichen Steuerregelung statt nach der Regelung über die Steuerschuldnerschaft des Leistungsempfängers ausgestellt wurden, kein Schaden entstanden ist.

45      Unter diesen Umständen müsste PORR ihren Erstattungsantrag unmittelbar an die Steuerbehörde richten können, falls sich die Erstattung der rechtsgrundlos in Rechnung gestellten Mehrwertsteuer an PORR durch die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Dienstleistungserbringer – insbesondere im Fall der Zahlungsunfähigkeit der Dienstleistungserbringer – als unmöglich oder übermäßig schwierig erweisen sollte. Ein solcher Anspruch unterscheidet sich allerdings von dem Anspruch auf Vorsteuerabzug, der Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits ist.

46      Was im Übrigen die vom vorlegenden Gericht aufgeworfene Frage betrifft, ob die Steuerbehörde möglicherweise verpflichtet ist, zu prüfen, ob die Berichtigung der in Rede stehenden Rechnungen und eine Rückforderung der rechtsgrundlos an den Fiskus entrichteten Steuer durch die Aussteller dieser Rechnungen rechtlich möglich sind, ist darauf hinzuweisen, dass es im Ausgangsrechtsstreit um die Ablehnung eines vom Empfänger dieser Rechnungen gestellten Antrags auf Vorsteuerabzug durch die Steuerbehörde geht. Die Möglichkeit für die Aussteller solcher Rechnungen, diese zu berichtigen oder die rechtsgrundlos an den Fiskus entrichtete Steuer zurückzuerlangen, ist zwar, wie in den Rn. 42 bis 45 des vorliegenden Urteils ausgeführt, ein Gesichtspunkt, der bei der Feststellung geprüft werden muss, ob der Empfänger der betreffenden Rechnungen einen Erstattungsantrag unmittelbar an die Steuerbehörde richten können muss. Dieser Gesichtspunkt spielt jedoch keine Rolle für die Prüfung, ob es mit dem Unionsrecht vereinbar ist, wenn die Steuerbehörde in einer Situation wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden den vom Empfänger der betreffenden Rechnungen gestellten Antrag auf Vorsteuerabzug ablehnt.

47      Sofern das ungarische System PORR ermöglicht, die Mehrwertsteuer zurückzuerlangen, die sie rechtsgrundlos an die Aussteller der in Rede stehenden Rechnungen gezahlt hat, ist die Steuerbehörde folglich nicht verpflichtet, vor der Ablehnung des Antrags auf Vorsteuerabzug zu prüfen, ob diese Rechnungen auf der Grundlage der nationalen Regelung von ihren Ausstellern berichtigt werden können, oder eine solche Berichtigung anzuordnen.

48      Aus den vorstehenden Erwägungen ergibt sich, dass die Richtlinie 2006/112 sowie der Grundsatz der Steuerneutralität und der Effektivitätsgrundsatz dahin auszulegen sind, dass sie einer Praxis der Steuerbehörde nicht entgegenstehen, wonach diese, ohne dass ein Betrugsverdacht vorliegt, einem Unternehmen das Recht auf Abzug der Mehrwertsteuer verweigert, die dieses als Empfänger von Dienstleistungen deren Erbringer rechtsgrundlos aufgrund einer Rechnung gezahlt hat, die der Erbringer gemäß der gewöhnlichen Mehrwertsteuerregelung ausgestellt hat, obwohl der betreffende Umsatz dem Mechanismus der Verlagerung der Steuerschuldnerschaft auf den Leistungsempfänger unterlag, ohne dass die Steuerbehörde

–        vor der Verweigerung des Rechts auf Steuerabzug prüft, ob der Aussteller dieser falschen Rechnung ihrem Empfänger die rechtsgrundlos gezahlte Mehrwertsteuer erstatten und die betreffende Rechnung im Wege der Eigenrevision gemäß der einschlägigen nationalen Regelung berichtigen konnte, um die von ihm rechtsgrundlos an den Fiskus abgeführte Steuer zurückzuerlangen, oder

–        beschließt, selbst dem Empfänger der betreffenden Rechnung die Steuer zu erstatten, die dieser rechtsgrundlos an deren Aussteller gezahlt und dieser anschließend rechtsgrundlos an den Fiskus abgeführt hat.

Die genannten Grundsätze erfordern allerdings, dass der Dienstleistungsempfänger seinen Anspruch auf Erstattung der zu Unrecht in Rechnung gestellten Mehrwertsteuer unmittelbar an die Steuerbehörde richten kann, falls sich die Rückzahlung durch den Erbringer der Dienstleistungen an deren Empfänger – insbesondere im Fall der Zahlungsunfähigkeit des Erbringers – als unmöglich oder übermäßig schwierig erweist.

 Kosten

49      Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Zehnte Kammer) für Recht erkannt:

Die Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem in der durch die Richtlinie 2010/45/EU des Rates vom 13. Juli 2010 geänderten Fassung sowie der Grundsatz der Steuerneutralität und der Effektivitätsgrundsatz sind dahin auszulegen, dass sie einer Praxis der Steuerbehörde nicht entgegenstehen, wonach diese, ohne dass ein Betrugsverdacht vorliegt, einem Unternehmen das Recht auf Abzug der Mehrwertsteuer verweigert, die dieses als Empfänger von Dienstleistungen deren Erbringer rechtsgrundlos aufgrund einer Rechnung gezahlt hat, die der Erbringer gemäß der gewöhnlichen Mehrwertsteuerregelung ausgestellt hat, obwohl der betreffende Umsatz dem Mechanismus der Verlagerung der Steuerschuldnerschaft auf den Leistungsempfänger unterlag, ohne dass die Steuerbehörde

–        vor der Verweigerung des Rechts auf Vorsteuerabzug prüft, ob der Aussteller dieser falschen Rechnung ihrem Empfänger die rechtsgrundlos gezahlte Mehrwertsteuer erstatten und die betreffende Rechnung im Wege der Eigenrevision gemäß der einschlägigen nationalen Regelung berichtigen konnte, um die von ihm rechtsgrundlos an den Fiskus abgeführte Steuer zurückzuerlangen, oder

–        beschließt, selbst dem Empfänger der betreffenden Rechnung die Steuer zu erstatten, die dieser rechtsgrundlos an deren Aussteller gezahlt und dieser anschließend rechtsgrundlos an den Fiskus abgeführt hat.

Die genannten Grundsätze erfordern allerdings, dass der Dienstleistungsempfänger seinen Anspruch auf Erstattung der zu Unrecht in Rechnung gestellten Mehrwertsteuer unmittelbar an die Steuerbehörde richten kann, falls sich die Rückzahlung durch den Erbringer der Dienstleistungen an ihren Empfänger – insbesondere im Fall der Zahlungsunfähigkeit des Erbringers – als unmöglich oder übermäßig schwierig erweist.

Unterschriften


*      Verfahrenssprache: Ungarisch.