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Vorläufige Fassung

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Siebte Kammer)

14. März 2019(*)

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Soziale Sicherheit – Abkommen zwischen der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten einerseits und der Schweizerischen Eidgenossenschaft andererseits über die Freizügigkeit – Verordnung (EG) Nr. 883/2004 – Art. 3 – Sachlicher Geltungsbereich – Abgaben auf Einkünfte aus dem Vermögen einer in Frankreich wohnenden Person, die in der schweizerischen Sozialversicherung versichert ist – Abgaben, die für die Finanzierung zweier von der französischen nationalen Solidaritätskasse für Eigenständigkeit verwaltete Leistungen verwendet werden – Unmittelbare und hinreichend relevante Verbindung zu bestimmten Zweigen der sozialen Sicherheit – Begriff der Leistung der sozialen Sicherheit – Individuelle Prüfung der persönlichen Bedürftigkeit des Antragstellers – Berücksichtigung der Mittel des Antragstellers bei der Berechnung der Höhe der Leistungen“

In der Rechtssache C-372/18

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht von der Cour administrative d’appel de Nancy (Verwaltungsberufungsgericht Nancy, Frankreich) mit Entscheidung vom 31. Mai 2018, beim Gerichtshof eingegangen am 7. Juni 2018, in dem Verfahren

Ministre de l’Action et des Comptes publics

gegen

Herrn und Frau Raymond Dreyer

erlässt

DER GERICHTSHOF (Siebte Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten T. von Danwitz sowie der Richter E. Levits und C. Vajda (Berichterstatter),

Generalanwalt : M. Bobek,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

–        von Herrn und Frau Dreyer, vertreten durch J. Schaeffer, avocat,

–        der französischen Regierung, vertreten durch D. Colas und R. Coesme als Bevollmächtigte,

–        der Europäischen Kommission, vertreten durch D. Martin und M. Van Hoof als Bevollmächtigte,

aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,

folgendes

Urteil

1        Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 3 der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (ABl. 2004, L 166, S. 1, Berichtigung ABl. 2004, L 200, S. 1).

2        Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen dem Ministre de l’Action et des Comptes publics (Minister für staatliches Handeln und öffentliche Haushalte, Frankreich) sowie Herrn und Frau Raymond Dreyer, im schweizerischen Sozialversicherungssystem versicherte französische Steueransässige (im Folgenden: Eheleute Dreyer), wegen der Zahlung von Beiträgen und Abgaben, die ihnen auf ihre Einkünfte aus Kapitalvermögen im Jahr 2015 auferlegt wurden.

 Rechtlicher Rahmen

 Unionsrecht

 Abkommen über die Freizügigkeit

3        Am 21. Juni 1999 unterzeichneten die Europäische Gemeinschaft und ihre Mitgliedstaaten einerseits und die Schweizerische Eidgenossenschaft andererseits sieben Abkommen, darunter das Abkommen über die Freizügigkeit (ABl. 2002, L 114, S. 6, im Folgenden: Abkommen über die Freizügigkeit). Diese sieben Abkommen wurden mit dem Beschluss 2002/309/EG, Euratom des Rates und – bezüglich des Abkommens über die wissenschaftliche und technische Zusammenarbeit – der Kommission vom 4. April 2002 über den Abschluss von sieben Abkommen mit der Schweizerischen Eidgenossenschaft (ABl. 2002, L 114, S. 1) im Namen der Gemeinschaft gebilligt und traten am 1. Juni 2002 in Kraft.

4        Nach dem Wortlaut der Präambel des Freizügigkeitsabkommens sind die Vertragsparteien „entschlossen, [die] Freizügigkeit zwischen ihnen auf der Grundlage der in der Europäischen Gemeinschaft geltenden Bestimmungen zu verwirklichen“.

5        Art. 8 („Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit“) dieses Abkommens lautet:

„Die Vertragsparteien regeln die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit gemäß Anhang II, um insbesondere Folgendes zu gewährleisten:

a)      Gleichbehandlung;

b)      Bestimmung der anzuwendenden Rechtsvorschriften;

c)      die Zusammenrechnung aller nach den verschiedenen nationalen Rechtsvorschriften berücksichtigten Versicherungszeiten für den Erwerb und die Aufrechterhaltung des Leistungsanspruchs sowie für die Berechnung der Leistungen;

d)      Zahlung der Leistungen an Personen, die ihren Wohnsitz im Hoheitsgebiet der Vertragsparteien haben;

e)      Amtshilfe und Zusammenarbeit der Behörden und Einrichtungen.“

6        Art. 1 des Anhangs II des Abkommens über die Freizügigkeit in der Fassung des Beschlusses Nr. 1/2012 des im Rahmen dieses Abkommens eingesetzten gemischten Ausschusses vom 31. März 2012 (ABl. 2012, L 103, S. 51) sieht vor:

„(1)      Die Vertragsparteien kommen überein, im Bereich der Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit untereinander die in Abschnitt A dieses Anhangs genannten Rechtsakte der Europäischen Union in der durch diesen Abschnitt geänderten Fassung oder gleichwertige Vorschriften anzuwenden.

(2)      Der Begriff ‚Mitgliedstaat(en)‘ in den Rechtsakten, auf die in Abschnitt A dieses Anhangs Bezug genommen wird, ist außer auf die durch die betreffenden Rechtsakte der Europäischen Union erfassten Staaten auch auf die Schweiz anzuwenden.“

7        In Abschnitt A dieses Anhangs wird insbesondere auf die Verordnung Nr. 883/2004 Bezug genommen.

 Verordnung Nr. 883/2004

8        Art. 3 der Verordnung Nr. 883/2004 bestimmt in seinen Abs. 1 und 3:

„(1)      Diese Verordnung gilt für alle Rechtsvorschriften, die folgende Zweige der sozialen Sicherheit betreffen:

a)      Leistungen bei Krankheit;

b)      Leistungen bei Mutterschaft und gleichgestellte Leistungen bei Vaterschaft;

c)      Leistungen bei Invalidität;

d)      Leistungen bei Alter;

e)      Leistungen an Hinterbliebene;

f)      Leistungen bei Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten;

g)      Sterbegeld;

h)      Leistungen bei Arbeitslosigkeit;

i)      Vorruhestandsleistungen;

j)      Familienleistungen.

(3)      Diese Verordnung gilt auch für die besonderen beitragsunabhängigen Geldleistungen gemäß Artikel 70.“

9        Art. 11 Abs. 1 dieser Verordnung hat folgenden Wortlaut:

„Personen, für die diese Verordnung gilt, unterliegen den Rechtsvorschriften nur eines Mitgliedstaats. Welche Rechtsvorschriften dies sind, bestimmt sich nach diesem Titel.“

 Französisches Recht

10      In Art. 1600-0 F bis des Code général des impôts (Allgemeines Steuergesetzbuch) in seiner auf den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens anwendbaren Fassung hieß es:

„I. –      Die Sozialabgabe auf Einkünfte aus dem Vermögen wird gemäß den Bestimmungen von Art. L. 245-14 des Code de la sécurité sociale [(Sozialgesetzbuch)] festgelegt.

…“

11      Art. L. 245-16 des Sozialgesetzbuchs bestimmte in seiner auf den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens anwendbaren Fassung:

„I. –      Der Satz der in den Art. L. 245-14 und L. 245-15 genannten Sozialabgaben wird auf 4,5 % festgelegt.

II. –      Das Aufkommen der in I genannten Abgaben wird wie folgt aufgeteilt:

–        ein einem Satz von 1,15 % entsprechender Teil an die Caisse nationale de solidarité pour l’autonomie [(Nationale Solidaritätskasse für Eigenständigkeit)];

…“

12      In Art. L. 14-10-1 des Code de l’action sociale et des familles (Sozial- und Familiengesetzbuch) heißt es:

„I. –      Die Nationale Solidaritätskasse für Eigenständigkeit hat folgende Aufgaben:

1.      Sie trägt zur Finanzierung von Maßnahmen bei, die den Verlust der Eigenständigkeit von älteren Menschen und Menschen mit Behinderung, zu Hause und in einer Einrichtung, verhindern und damit einhergehen, sowie zur Finanzierung der Unterstützung der pflegenden Angehörigen unter Wahrung der Gleichbehandlung der Betroffenen im gesamten Hoheitsgebiet;

10.      Sie trägt zur Finanzierung von Investitionen bei, die für die Anpassung an technische Normen und Sicherheitsnormen, die Modernisierung von sich in Benutzung befindlichen Gebäuden sowie die Schaffung neuer Plätze in sozialen und medizinisch-sozialen Einrichtungen und Diensten bestimmt sind;

…“

13      Art. L. 14-10-4 des Sozial- und Familiengesetzbuchs bestimmt:

„Die der Nationalen Solidaritätskasse für Eigenständigkeit zugewiesenen Aufkommen bestehen aus:

2.      [e]inem Zusatzbeitrag zu der in Art. L. 245-14 des Sozialgesetzbuchs genannten Sozialabgabe sowie einem Zusatzbeitrag zu der in dessen Art. L. 245-15 genannten Sozialabgabe. Diese Zusatzbeiträge werden unter denselben Umständen wie die Sozialabgabe festgesetzt, überprüft, erhoben und fällig und unterliegen denselben Sanktionen wie diese Abgabe. Ihr Satz wird auf 0,3 % festgelegt;

…“

14      Art. L. 232-1 des Sozial- und Familiengesetzbuchs lautet:

„Jeder ältere Mensch, der seinen Wohnsitz in Frankreich hat und nicht in der Lage ist, die Folgen eines mit seinem körperlichen oder geistigen Zustand einhergehenden Mangels oder Verlusts der Eigenständigkeit zu tragen, hat Anspruch auf eine allocation personnalisée d’autonomie [(individuelle Beihilfe zur Eigenständigkeit)], die eine seiner Bedürftigkeit entsprechende Kostenübernahme ermöglicht.

Diese Beihilfe, die im gesamten Hoheitsgebiet unter denselben Bedingungen festgelegt wird, richtet sich an jene Personen, die ungeachtet der Versorgung, die sie in Anspruch nehmen können, Hilfe bei der Verrichtung der grundlegenden Alltagshandlungen brauchen oder deren Zustand eine regelmäßige Überwachung erfordert.“

15      Art. L. 232-2 des genannten Gesetzbuchs hat folgenden Wortlaut:

„Die individuelle Beihilfe zur Eigenständigkeit, die den Charakter einer Sachleistung hat, wird auf Antrag im Rahmen der durch Verordnung festgelegten Tarife jeder Person gewährt, die einen festen und ordnungsgemäßen Wohnsitz nachweist sowie die ebenfalls im Verordnungsweg festgelegten Voraussetzungen des Alters und des anhand einer nationalen Tabelle bewerteten Verlusts der Eigenständigkeit erfüllt.“

16      In Art. L. 232-4 des Sozial- und Familiengesetzbuchs heißt es:

„Die individuelle Beihilfe zur Eigenständigkeit entspricht dem Betrag des Anteils des Hilfsplans, von dem der Berechtigte Gebrauch macht, abzüglich einer Beteiligung an dessen Kosten.

Diese Beteiligung wird am 1. Januar jedes Jahres nach ihren gemäß Art. L. 132-1 und L. 132-2 ermittelten Ressourcen und dem Betrag des Hilfsplans gemäß einem nationalen Schlüssel berechnet und aktualisiert, der gemäß Art. L 232-3-1 am 1. Januar jedes Jahres neu bewertet wird.

…“

17      Art. L. 245-1 dieses Gesetzbuchs legt Folgendes fest:

„I. –      Jeder Mensch mit Behinderung, der einen festen und ordnungsgemäßen Wohnsitz in Frankreich (Festland), den in Art. L.751-1 des Sozialgesetzbuchs aufgeführten Gebieten oder in Saint-Pierre-et-Miquelon hat, sich unter der durch Dekret festgelegten Altersgrenze befindet und dessen Behinderung Kriterien entspricht, die durch Dekret unter Berücksichtigung insbesondere der Art und des Umfangs der im Hinblick auf seinen Lebensentwurf erforderlichen Ausgleichsmaßnahmen bestimmt werden, hat Anspruch auf eine Ausgleichsleistung mit Sachleistungscharakter, die je nach Wunsch des Empfängers als Sach- oder Geldleistung ausgezahlt werden kann.

Erfüllt diese Person die Voraussetzungen im Hinblick auf das Alter, die den Anspruch auf die in L. 541-1 des Sozialgesetzbuchs vorgesehene Beihilfe eröffnen können, erfolgt der Zugang zu der Ausgleichsleistung unter den in III des vorliegenden Artikels vorgesehenen Voraussetzungen.

Verfügt der Empfänger der Ausgleichsleistung über einen gleichartigen Anspruch aus einer Sozialversicherung, werden hieraus gezahlte Beträge unter Voraussetzungen, die durch Dekret festgelegt werden, vom Betrag der Ausgleichsleistung abgezogen.

…“

18      Art. L. 245-6 des Sozial- und Familiengesetzbuchs lautet:

„Die Ausgleichsleistung wird auf Basis von pro Aufwendungsart festgelegten Tarifen und Beträgen im Rahmen von Kostenübernahmeprozentsätzen, die je nach den Mitteln des Empfängers variieren können, gewährt. Die Höchstbeträge, Tarife und Kostenübernahmeprozentsätze werden durch Erlasse des für Menschen mit Behinderungen zuständigen Ministers bestimmt. Die Modalitäten und die Dauer der Gewährung dieser Leistung werden durch Dekret festgelegt.

Folgende Mittel werden für die Bestimmung des im vorangehenden Absatz genannten Kostenübernahmeprozentsatzes nicht berücksichtigt:

–        Einkünfte aus einer beruflichen Tätigkeit des Betroffenen;

–        [v]orübergehende Gelder, Leistungen und Leibrenten, die den Opfern von Arbeitsunfällen oder ihren in Art. 81 Nummer 8 des Allgemeinen Steuergesetzbuchs genannten Anspruchsberechtigten gewährt werden;

–        Ersatzeinkünfte, die im Verordnungsweg gelegt werden;

–        Einkünfte aus einer Tätigkeit des Ehepartners, des nicht verheirateten Partners, der Person, mit der der Betroffene einen Pacte Civil de la Solidarité [(eingetragene Lebenspartnerschaft)] eingegangen ist, des pflegenden Angehörigen, der im Haushalt des Betroffenen lebt und eine wirksame Hilfe sicherstellt, seiner Eltern, selbst wenn der Betroffene bei ihnen wohnt;

–        die in Art. 199 f I. Nr. 2 des Allgemeinen Steuergesetzbuchs genannten Leibrenten, wenn sie von dem Menschen mit Behinderung für sich selbst oder von seinen Eltern oder seinem gesetzlichen Vertreter, seinen Großeltern, seinen Geschwistern oder seinen Kindern zu seinen Gunsten eingerichtet wurden;

–        bestimmte Sozialleistungen mit besonderem Gegenstand, die im Verordnungsweg festgelegt werden.“

 Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefrage

19      Die Eheleute Dreyer sind französische Staatsangehörige, die in Frankreich wohnen und dort steueransässig sind. Herr Dreyer, nunmehr im Ruhestand, hat seine berufliche Laufbahn in der Schweiz absolviert. Er und seine Ehefrau sind in der schweizerischen Sozialversicherung versichert.

20      Mit einem Nachforderungsbescheid vom 31. Oktober 2016, der durch Entscheidung vom 6. Dezember 2016 bestätigt wurde, zog die französische Steuerverwaltung die Eheleute Dreyer zum allgemeinen Sozialbeitrag, zum Beitrag für die Begleichung der Sozialschuld, zur Sozialabgabe, zum Zusatzbeitrag hierzu und zur Solidaritätsabgabe (im Folgenden zusammen: in Rede stehende Beiträge und Abgaben) auf ihre im Jahr 2015 in Frankreich erzielten Einkünfte aus Vermögen in Form von Einkünften aus Kapitalvermögen heran. Diese Beiträge und Abgaben finanzieren drei französische Einrichtungen, nämlich den Fonds de solidarité vieillesse (Solidaritätsfonds für Alterssicherung, im Folgenden: FSV), die Caisse d’amortissement de la dette sociale (Kasse zur Begleichung der Sozialschuld, im Folgenden: CADES) und die Caisse nationale de solidarité pour l’autonomie (Nationale Solidaritätskasse für Eigenständigkeit, im Folgenden: CNSA)

21      Da sie der Ansicht waren, dass die vom FSV, der CADES und der CNSA verwalteten und durch die in Rede stehenden Beiträge und Abgaben finanzierten Leistungen Sozialversicherungsleistungen seien, wandten sich die Eheleute Dreyer vor dem Tribunal administratif de Strasbourg (Verwaltungsgericht Straßburg, Frankreich) gegen ihre Heranziehung zu den genannten Beiträgen und Abgaben. Denn sie seien bereits in der schweizerischen Sozialversicherung versichert und müssten wegen des sich aus der Verordnung Nr. 883/2004 ergebenden Grundsatzes der Anwendbarkeit nur eines Sozialrechts nicht zur Finanzierung der französischen Sozialversicherung beitragen. Mit Entscheidung vom 11. Juli 2017 gab das Tribunal administratif de Strasbourg (Verwaltungsgericht Straßburg) der Klage der Eheleute Dreyer statt und befreite sie von den in Rede stehenden Beiträgen und Abgaben.

22      Gegen diese Entscheidung legte der Minister für staatliches Handeln und öffentliche Haushalte beim vorlegenden Gericht, der Cour administrative d’appel de Nancy (Verwaltungsberufungsgericht Nancy, Frankreich) Berufung ein.

23      Das vorlegende Gericht bestätigte zunächst in Übereinstimmung mit dem Tribunal administratif de Strasbourg (Verwaltungsgericht Straßburg), dass die Eheleute Dreyer von dem Teil der in Rede stehenden Beiträge und Abgaben zu befreien seien, der dem FSV und der CADES zugewiesen sei, nämlich dem allgemeinen Sozialbeitrag, dem Beitrag für die Begleichung der Sozialschuld, der Solidaritätsabgabe und eines Teils der Sozialabgabe. Dieser Teil der in Rede stehenden Beiträge und Abgaben weise eine unmittelbare und hinreichend relevante Verbindung zu bestimmten Zweigen der sozialen Sicherheit auf und werde daher von dem in Art. 11 Abs. 1 der Verordnung Nr. 883/2004 vorgesehenen Grundsatz der Anwendbarkeit nur eines Rechts geregelt. Da die Eheleute Dreyer in der schweizerischen Sozialversicherung versichert seien, dürften sie daher nach der sich aus dem Urteil vom 26. Februar 2015, de Ruyper (C-623/13, EU:C:2015:123), ergebenden Rechtsprechung in Frankreich nicht zu Beiträgen und Sozialabgaben herangezogen werden, die zur Finanzierung der französischen Sozialversicherung bestimmt seien.

24      Dagegen hegt das vorlegende Gericht Zweifel, ob auch der Teil der in Rede stehenden Beiträge und Abgaben, der der CNSA zugewiesen ist, also ein Teil der Sozialabgabe und der Zusatzbeitrag, als Finanzierung von Leistungen der sozialen Sicherheit im Sinne der Verordnung Nr. 883/2004 angesehen werden könne und ob davon ausgegangen werden könne, dass dieser somit eine unmittelbare und hinreichend relevante Verbindung zu bestimmten Zweigen der sozialen Sicherheit aufweise.

25      Insoweit weist das vorlegende Gericht unter Bezugnahme auf Rn. 37 des Urteils vom 21. Februar 2006, Hosse (C-286/03, EU:C:2006:125), darauf hin, dass nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs eine Leistung dann als eine Leistung der sozialen Sicherheit betrachtet werden kann, wenn sie den Begünstigten aufgrund eines gesetzlich umschriebenen Tatbestands ohne jede im Ermessen liegende individuelle Prüfung der persönlichen Bedürftigkeit gewährt wird und wenn sie sich auf eines der in Art. 3 Abs. 1 der Verordnung Nr. 883/2004 ausdrücklich aufgezählten Risiken bezieht.

26      Hinsichtlich der beiden Leistungen der CNSA, die durch einen Teil der in Rede stehenden Beiträge und Abgaben finanziert werden, nämlich die Allocation personnalisée d’autonomie (individuelle Beihilfe zur Eigenständigkeit, im Folgenden: APA) und die Prestation compensatoire du handicap (Leistung zum Ausgleich einer Behinderung, im Folgenden: PCH), ist das vorlegende Gericht der Ansicht, dass die zweite in der vorstehenden Randnummer genannte Voraussetzung erfüllt ist. Es erachtet es hingegen als fraglich, ob auch die erste Voraussetzung als gänzlich erfüllt angesehen werden kann. Auch wenn das vorlegende Gericht feststellte, dass die APA und die PCH aufgrund eines gesetzlich umschriebenen Tatbestands ohne jede im Ermessen liegende Prüfung der persönlichen Bedürftigkeit des Antragstellers gewährt werden, führt es jedoch im Einklang mit der vom Minister für staatliches Handeln und öffentliche Haushalte geltend gemachten Argumentation aus, dass die APA und die PCH nicht als ohne individuelle Prüfung der persönlichen Bedürftigkeit der Empfänger gewährt angesehen werden könnten, da ihr Betrag von der Höhe der Mittel der Empfänger abhänge oder je nach diesen Mitteln variiere.

27      Unter diesen Umständen hat die Cour administrative d’appel de Nancy (Verwaltungsberufungsgericht Nancy) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:

Weisen die in der CNSA verwendeten Abgaben, die zur Finanzierung der APA und der PCH beitragen, eine unmittelbare und hinreichend relevante Verbindung zu bestimmten in Art. 3 der Verordnung Nr. 883/2004 aufgezählten Zweigen der sozialen Sicherheit auf, und fallen sie folglich allein deswegen in den Geltungsbereich dieser Verordnung, weil sich diese Leistungen auf eines der in diesem Art. 3 aufgezählten Risiken beziehen und ohne jede im Ermessen liegende Prüfung aufgrund eines gesetzlich umschriebenen Tatbestands gewährt werden?

 Zur Vorlagefrage

28      Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 3 der Verordnung Nr. 883/2004 dahin auszulegen ist, dass Leistungen wie die APA und die PCH zum Zweck ihrer Einstufung als Leistungen der sozialen Sicherheit im Sinne dieser Bestimmung als ohne jede individuelle Prüfung der persönlichen Bedürftigkeit des Empfängers gewährt angesehen werden können, obwohl die Berechnung ihres Betrags von den Mitteln des Empfängers abhängt oder je nach diesen Mitteln variiert.

29      Zunächst ist festzustellen, dass nach Art. 8 des Abkommens über die Freizügigkeit die Vertragsparteien die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit gemäß Anhang II dieses Abkommens regeln, um insbesondere die Bestimmung der anzuwendenden Rechtsvorschriften und die Zahlung der Leistungen an Personen, die ihren Wohnsitz im Hoheitsgebiet der Vertragsparteien haben, zu gewährleisten. Gemäß Anhang II Abschnitt A Nr. 1 dieses Abkommens ist zwischen den Vertragsparteien die Verordnung Nr. 883/2004 anwendbar. Da nach Art. 1 Abs. 2 des Anhangs II des genannten Abkommens „[d]er Begriff ‚Mitgliedstaat(en)‘ in den Rechtsakten, auf die in Abschnitt A dieses Anhangs Bezug genommen wird, … außer auf die durch die betreffenden Rechtsakte der Europäischen Union erfassten Staaten auch auf die Schweiz anzuwenden [ist]“, erfassen die Bestimmungen dieser Verordnung somit auch die Schweizerische Eidgenossenschaft (Urteil vom 21. März 2018, Klein Schiphorst, C-551/16, EU:C:2018:200, Rn. 28).

30      Daher fällt die Situation der Kläger des Ausgangsverfahrens, Staatsangehörige eines Mitgliedstaats, die in der schweizerischen Sozialversicherung versichert sind, unter die Verordnung Nr. 883/2004 (vgl. entsprechend Urteil vom 21. März 2018, Klein Schiphorst, C-551/16, EU:C:2018:200, Rn. 29).

31      Zur Beantwortung der Vorlagefrage ist festzustellen, dass die Unterscheidung zwischen Leistungen, die vom Geltungsbereich der Verordnung Nr. 883/2004 erfasst sind, und solchen, die von ihm ausgeschlossen sind, im Wesentlichen von den grundlegenden Merkmalen der jeweiligen Leistung abhängt, insbesondere von ihrem Zweck und den Voraussetzungen ihrer Gewährung, nicht dagegen davon, ob eine Leistung von den nationalen Rechtsvorschriften als eine Leistung der sozialen Sicherheit eingestuft wird (vgl. in diesem Sinne u. a. Urteile vom 5. März 1998, Molenaar, C-160/96, EU:C:1998:84, Rn. 19, vom 16. September 2015, Kommission/Slowakei, C-433/13, EU:C:2015:602, Rn. 70, und vom 25. Juli 2018, A [Hilfe für eine schwerbehinderte Person], C-679/16, EU:C:2018:601, Rn. 31).

32      Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs kann somit eine Leistung dann als eine Leistung der sozialen Sicherheit betrachtet werden, wenn sie den Begünstigten ohne jede im Ermessen liegende individuelle Prüfung der persönlichen Bedürfnisse aufgrund eines gesetzlich umschriebenen Tatbestands gewährt wird und sie sich auf eines der in Art. 3 Abs. 1 der Verordnung Nr. 883/2004 ausdrücklich aufgezählten Risiken bezieht (vgl. in diesem Sinne u. a. Urteile vom 27. März 1985, Hoeckx, 249/83, EU:C:1985:139, Rn. 12 bis 14, vom 16. September 2015, Kommission/Slowakei, C-433/13, EU:C:2015:602, Rn. 71, sowie vom 25. Juli 2018, A [Hilfe für eine schwerbehinderte Person], C-679/16, EU:C:2018:601, Rn. 32).

33      In Bezug auf die erste in der vorstehenden Randnummer genannte Voraussetzung ist darauf hinzuweisen, dass sie erfüllt ist, wenn eine Leistung nach objektiven Kriterien gewährt wird, deren Vorliegen den Anspruch auf diese Leistung eröffnet, ohne dass die zuständige Behörde sonstige persönliche Verhältnisse berücksichtigen darf (vgl. in diesem Sinne u. a. Urteile vom 16. Juli 1992, Hughes, C-78/91, EU:C:1992:331, Rn. 17, vom 16. September 2015, Kommission/Slowakei, C-433/13, EU:C:2015:602, Rn. 73, und vom 25. Juli 2018, A [Hilfe für eine schwerbehinderte Person], C-679/16, EU:C:2018:601, Rn. 34).

34      Insoweit hat der Gerichtshof bereits zu Leistungen, die gewährt oder verweigert werden oder deren Betrag unter Berücksichtigung der Höhe der Einkünfte des Empfängers berechnet wird, entschieden, dass die Gewährung dieser Leistungen nicht von der individuellen Prüfung der persönlichen Bedürftigkeit des Antragstellers abhängt, wenn es sich um ein objektives und gesetzlich festgelegtes Kriterium handelt, dessen Vorliegen den Anspruch auf diese Leistung eröffnet, ohne dass die zuständige Behörde sonstige persönliche Verhältnisse berücksichtigen kann (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 2. August 1993, Acciardi, C-66/92, EU:C:1993:341, Rn. 15, vom 18. Juli 2006, De Cuyper, C-406/04, EU:C:2006:491, Rn. 23, und vom 16. September 2015, Kommission/Slowakei, C-361/13, EU:C:2015:601, Rn. 52).

35      Darüber hinaus hat der Gerichtshof in Rn. 38 des Urteils vom 25. Juli 2018, A (Hilfe für eine schwerbehinderte Person) (C-679/16, EU:C:2018:601), klargestellt, dass nur dann davon ausgegangen werden kann, dass die erste in Rn. 32 des vorliegenden Urteils genannte Voraussetzung nicht erfüllt ist, wenn sich der Ermessenscharakter der Prüfung der persönlichen Bedürftigkeit des Empfängers einer Leistung durch die zuständige Behörde vor allem auf die Eröffnung des Anspruchs auf diese Leistung bezieht. Diese Erwägungen gelten entsprechend für den individuellen Charakter der Prüfung der persönlichen Bedürftigkeit des Empfängers einer Leistung durch die zuständige Behörde.

36      Was die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Leistungen betrifft, geht aus den dem Gerichtshof vorgelegten Akten hervor, dass jede mindestens 60 Jahre alte Person, von der in Anbetracht vorab festgelegter Kriterien angenommen wird, dass sie ihre Eigenständigkeit verloren hat, und die einen festen und ordnungsgemäßen Wohnsitz in Frankreich hat, einen Anspruch auf die APA hat. Die PCH kommt jeder behinderten Person zugute, die grundsätzlich weniger als 60 Jahre alt ist, einen festen und ordnungsgemäßen Wohnsitz in Frankreich hat und deren Behinderung eine bestimmte Anzahl vorab festgelegter Kriterien erfüllt. Es steht fest, dass der Zugang zu diesen beiden Leistungen von den Mitteln des Antragstellers unabhängig ist. Zwar werden diese Mittel bei der Ermittlung des tatsächlichen an den Empfänger gezahlten Betrags berücksichtigt, jedoch ergibt sich aus den Art. L. 232-4 und L. 245-6 des Sozial- und Familiengesetzbuchs, dass dieser Betrag im Wesentlichen auf der Grundlage objektiver Kriterien berechnet wird, die unterschiedslos auf alle Empfänger je nach der Höhe ihrer Mittel angewendet werden.

37      Daher geht aus den genannten Bestimmungen des Sozial- und Familiengesetzbuchs hervor, dass die Berücksichtigung der Mittel des Empfängers nicht die Eröffnung des Anspruchs auf die APA und die PCH, sondern die Modalitäten für die Berechnung dieser Leistungen betrifft, wobei diese gewährt werden müssen, wenn der Antragsteller unabhängig von der Höhe seiner Mittel die Voraussetzungen erfüllt, die den Anspruch auf die genannten Leistungen eröffnen.

38      Aus den vorstehenden Erwägungen ergibt sich, dass die Berücksichtigung der Mittel des Empfängers allein zum Zweck der Berechnung des tatsächlichen Betrags der APA oder der PCH auf der Grundlage objektiver und gesetzlich festgelegter Kriterien keine individuelle Prüfung der persönlichen Bedürftigkeit dieses Empfängers durch die zuständige Behörde impliziert.

39      Entgegen dem Vorbringen der französischen Regierung in ihren schriftlichen Erklärungen impliziert auch die Notwendigkeit, zum Zweck der Gewährung der APA und der PCH den Grad des Verlusts an Eigenständigkeit oder der Behinderung des Antragstellers zu beurteilen, keine individuelle Prüfung der persönlichen Bedürftigkeit des Antragstellers. Den dem Gerichtshof vorgelegten Akten ist zu entnehmen, dass die Beurteilung des „Verlusts an Eigenständigkeit“ (für die APA) und der „Behinderung“ (für die PCH) nämlich durch einen Arzt oder einen Mitarbeiter eines medizinisch-sozialen Teams oder durch ein multidisziplinäres Team anhand von vorab festgelegten Schemata, Listen und Bezugswerten, also nach der oben in Rn. 34 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung, aufgrund objektiver und gesetzlich festgelegter Kriterien erfolgt, die bei ihrem Vorliegen den Anspruch auf die entsprechende Leistung eröffnen. Daher kann nicht geltend gemacht werden, dass die Gewährung von APA und PCH von einer individuellen Prüfung der persönlichen Bedürftigkeit des Antragstellers im Sinne der oben in Rn. 32 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung abhängig ist.

40      Ebenfalls entgegen dem Vorbringen der französischen Regierung in ihren schriftlichen Erklärungen können die APA und die PCH darüber hinaus nicht als „besondere beitragsunabhängige Geldleistungen“ im Sinne von Art. 3 Abs. 3 der Verordnung Nr. 883/2004 eingestuft werden. Da sich nämlich sowohl aus den vorstehenden Erwägungen als auch aus den Feststellungen des vorlegenden Gerichts, auf die in Rn. 26 des vorliegenden Urteils hingewiesen wird, ergibt, dass die zwei in Rn. 32 des vorliegenden Urteils genannten kumulativen Voraussetzungen erfüllt sind und dass die APA und die PCH daher als „Leistungen der sozialen Sicherheit“ einzustufen sind, braucht nicht geprüft zu werden, ob diese beiden Leistungen auch als „besondere beitragsunabhängige Geldleistungen“ angesehen werden können, da der Gerichtshof bereits entschieden hat, dass sich dies gegenseitig ausschließt (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 21. Februar 2006, Hosse, C-286/03, EU:C:2006:125, Rn. 36, und vom 16. September 2015, Kommission/Slowakei, C-433/13, EU:C:2015:602, Rn. 45).

41      Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 3 der Verordnung Nr. 883/2004 dahin auszulegen ist, dass Leistungen wie die APA und die PCH zum Zweck ihrer Einstufung als „Leistungen der sozialen Sicherheit“ im Sinne dieser Bestimmung als ohne jede individuelle Prüfung der persönlichen Bedürftigkeit des Empfängers gewährt anzusehen sind, da dessen Mittel allein zum Zweck der Berechnung des tatsächlichen Betrags dieser Leistungen auf der Grundlage objektiver und gesetzlich festgelegter Kriterien berücksichtigt werden.

 Kosten

42      Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Siebte Kammer) für Recht erkannt:

Art. 3 der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit ist dahin auszulegen, dass Leistungen wie die individuelle Beihilfe zur Eigenständigkeit und die Leistung zum Ausgleich einer Behinderung zum Zweck ihrer Einstufung als „Leistungen der sozialen Sicherheit“ im Sinne dieser Bestimmung als ohne jede individuelle Prüfung der persönlichen Bedürftigkeit des Empfängers gewährt anzusehen sind, da dessen Mittel allein zum Zweck der Berechnung des tatsächlichen Betrags dieser Leistungen auf der Grundlage objektiver und gesetzlich festgelegter Kriterien berücksichtigt werden.

Unterschriften


*      Verfahrenssprache: Französisch.