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Vorläufige Fassung

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Neunte Kammer)

17. Mai 2023(*)

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Richtlinie 2006/112/EG – Mehrwertsteuer – Pflicht zur Erklärung und Entrichtung der Mehrwertsteuer – Art. 273 – Sanktionen bei Nichtbeachtung der Verpflichtungen durch den Steuerpflichtigen – Grundsätze der Verhältnismäßigkeit und der Neutralität der Mehrwertsteuer – Recht auf Vorsteuerabzug – Vereinbarkeit der Sanktionen“

In der Rechtssache C-418/22

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Tribunal de première instance du Luxembourg (Gericht Erster Instanz Luxemburg, Belgien) mit Entscheidung vom 8. Juni 2022, beim Gerichtshof eingegangen am 21. Juni 2022, in dem Verfahren

SA CEZAM

gegen

État belge

erlässt

DER GERICHTSHOF (Neunte Kammer)

unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin L. S. Rossi sowie der Richter J.-C. Bonichot (Berichterstatter) und S. Rodin,

Generalanwalt: A. Rantos,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

–        der belgischen Regierung, vertreten durch P. Cottin, J.-C. Halleux und C. Pochet als Bevollmächtigte,

–        der Europäischen Kommission, vertreten durch S. Delaude und J. Jokubauskaitė als Bevollmächtigte,

aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,

folgendes

Urteil

1        Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 62 Nr. 2 sowie der Art. 63, 167, 206, 250 und 273 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. 2006, L 347, S. 1) sowie der Grundsätze der Verhältnismäßigkeit und der steuerlichen Neutralität.

2        Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der SA CEZAM und dem belgischen Staat über mehrere Bescheide der belgischen Steuerverwaltung, mit denen gegen diese Gesellschaft Geldbußen wegen Verstößen gegen die Mehrwertsteuervorschriften verhängt wurde.

 Rechtlicher Rahmen

 Unionsrecht

3        Art. 62 Nr. 2 der Richtlinie 2006/112 bestimmt:

„Für die Zwecke dieser Richtlinie gilt

(2)      als ‚Steueranspruch‘ der Anspruch auf Zahlung der Steuer, den der Fiskus kraft Gesetzes gegenüber dem Steuerschuldner von einem bestimmten Zeitpunkt an geltend machen kann, selbst wenn Zahlungsaufschub gewährt werden kann.“

4        Art. 63 dieser Richtlinie sieht vor:

„Steuertatbestand und Steueranspruch treten zu dem Zeitpunkt ein, zu dem die Lieferung von Gegenständen bewirkt oder die Dienstleistung erbracht wird.“

5        Art. 167 der Richtlinie lautet wie folgt:

„Das Recht auf Vorsteuerabzug entsteht, wenn der Anspruch auf die abziehbare Steuer entsteht.“

6        Art. 203 der Richtlinie bestimmt:

„Die Mehrwertsteuer wird von jeder Person geschuldet, die diese Steuer in einer Rechnung ausweist.“

7        Art. 206 der Richtlinie 2006/112 sieht vor:

„Jeder Steuerpflichtige, der die Steuer schuldet, hat bei der Abgabe der Mehrwertsteuererklärung nach Artikel 250 den sich nach Abzug der Vorsteuer ergebenden Mehrwertsteuerbetrag zu entrichten. Die Mitgliedstaaten können jedoch einen anderen Termin für die Zahlung dieses Betrags festsetzen oder Vorauszahlungen erheben.“

8        Art. 250 Abs. 1 der Richtlinie lautet:

„Jeder Steuerpflichtige hat eine Mehrwertsteuererklärung abzugeben, die alle für die Festsetzung des geschuldeten Steuerbetrags und der vorzunehmenden Vorsteuerabzüge erforderlichen Angaben enthält, gegebenenfalls einschließlich des Gesamtbetrags der für diese Steuer und Abzüge maßgeblichen Umsätze sowie des Betrags der steuerfreien Umsätze, soweit dies für die Feststellung der Steuerbemessungsgrundlage erforderlich ist.“

9        Art. 273 Abs. 1 der Richtlinie 2006/112 bestimmt:

„Die Mitgliedstaaten können vorbehaltlich der Gleichbehandlung der von Steuerpflichtigen bewirkten Inlandsumsätze und innergemeinschaftlichen Umsätze weitere Pflichten vorsehen, die sie für erforderlich erachten, um eine genaue Erhebung der Steuer sicherzustellen und um Steuerhinterziehung zu vermeiden, sofern diese Pflichten im Handelsverkehr zwischen den Mitgliedstaaten nicht zu Formalitäten beim Grenzübertritt führen.“

 Belgisches Recht

10      Art. 53 Abs. 1 der Loi du 3 juillet 1969, créant le code de la taxe sur la valeur ajoutée (Gesetz zur Einführung des Mehrwertsteuergesetzbuches vom 3. Juli 1969) (Moniteur belge vom 17. Juli 1969, S. 7046) in der auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren Fassung (im Folgenden: Mehrwertsteuergesetzbuch) sieht vor:

„Steuerpflichtige mit Ausnahme solcher, die nicht zum Vorsteuerabzug berechtigt sind, sind verpflichtet,

2°      monatlich eine Erklärung abzugeben, in der Folgendes angegeben ist:

a)      der Betrag der vom vorliegenden Gesetzbuch erfassten Umsätze, die er im Vormonat im Rahmen seiner wirtschaftlichen Tätigkeit getätigt hat oder die an ihn erbracht wurden;

b)      der Betrag der geschuldeten Steuer, vorzunehmende Abzüge und durchzuführende Berichtigungen

3°      binnen der für die Abgabe der in 2° vorgesehenen Erklärung die geschuldete Steuer zu entrichten. …“.

11      In Art. 70 Abs. 1 des Mehrwertsteuergesetzbuchs heißt es:

„Bei einem Verstoß gegen die Pflicht zur Entrichtung der Steuer wird eine Geldbuße verhängt, die das Doppelte der hinterzogenen oder verspätet gezahlten Steuer beträgt.

…“

12      Art. 1 des Arrêté royal no 41, du 30 janvier 1987, fixant le montant des amendes fiscales proportionnelles en matière de TVA (Königlicher Erlass Nr. 41 vom 30. Januar 1987 zur Festlegung der Höhe der proportionalen Steuergeldbußen im Bereich der Mehrwertsteuer) (Moniteur belge vom 7. Februar 1987, S. 1709, im Folgenden: Königlicher Erlass Nr. 41) bestimmt:

„Der Katalog für die Kürzung der proportionalen Steuergeldbußen wird im Bereich der Mehrwertsteuer festgesetzt:

1°      für die in Art. 70 Abs. 1 des Mehrwertsteuergesetzbuchs genannten Verstöße … für nach dem 31. Oktober 1993 begangene Taten in Tabelle G im Anhang dieses Erlasses;

…“

13      Art. 1 Abs. 2 dieses Erlasses sieht vor, dass „der in den Tabellen A bis J im Anhang dieses Erlasses vorgesehene Katalog … für die Kürzungen bei Verstößen, die mit der Absicht begangen wurden, sich der Steuer zu entziehen oder dies zu ermöglichen, nicht anwendbar [ist]“.

14      Der Anhang des Königlichen Erlasses Nr. 41 enthält eine „Tabelle G“ („Geldbußen für die in Artikel 70 [Absatz 1 des Mehrwertsteuergesetzbuchs] genannten Zuwiderhandlungen“). In Unterabschnitt V („Bei der inhaltlichen Prüfung der Buchführung festgestellte Ungenauigkeiten“) sieht, soweit die „steuerbaren Umsätze … in der hierfür vorgesehenen Erklärung insgesamt oder teilweise nicht erfasst oder verspätet erfasst [wurden]“, die Verhängung einer pauschalen Geldbuße von 10 % der geschuldeten Steuer vor, wenn „[d]er Betrag der für einen geprüften Jahreszeitraum geschuldeten Steuern“ sich auf „weniger als oder auf 1 250,00 Euro“ beläuft, sowie eine pauschale Geldbuße von 20 % der geschuldeten Steuer, wenn der Betrag „mehr als 1 250,00 Euro“ beträgt.

 Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefragen

15      Mit Klage vom 15. Mai 2018 ging CEZAM, eine Gesellschaft mit Sitz in Belgien, die im Bereich Schreinerei und Glaserei tätig ist, beim Tribunal de première instance du Luxembourg (Gericht Erster Instanz Luxemburg, Belgien), dem vorlegenden Gericht, gegen drei Bescheide der belgischen Steuerverwaltung vor, die ihr im Januar bzw. im März 2018 zugestellt worden waren und mit denen gegen sie u. a. Steuergeldbußen verhängt worden waren.

16      Hierbei steht außer Streit, dass CEZAM seit Juni 2013 keine turnusmäßigen Mehrwertsteuererklärungen mehr eingereicht hat und dass die belgische Steuerverwaltung zunächst ein Protokoll zur Steuerfestsetzung für das Jahr 2013 aufnahm, das sie CEZAM zustellte. Anschließend wurde im August 2016 eine Prüfung ihrer Buchhaltung durchgeführt. Mangels turnusmäßiger Mehrwertsteuererklärungen für die Jahre 2014 und 2015 setzte die belgische Steuerverwaltung die Steuer für diese Jahre von Amts wegen fest. Schließlich erließ die belgische Steuerverwaltung, nachdem 2017 festgestellt worden war, dass CEZAM sämtliche erforderlichen turnusmäßigen Erklärungen nicht eingereicht und die geschuldete Mehrwertsteuer nicht entrichtet hatte, die drei in Rn. 15 des vorliegenden Urteils angeführten Bescheide.

17      CEZAM rechtfertigte das Fehlen der Erklärungen mit dem Umstand, dass die belgische Steuerverwaltung ihr einen Schuldenbereinigungsplan für die Mehrwertsteuer verwehrt habe. Sie greift u. a. die Höhe der Geldbußen an, die 20 % des Mehrwertsteuerbetrags entspricht, der vor Abzug der Vorsteuer geschuldet worden wäre. Die Steuerverwaltung hätte den tatsächlich an sie zu entrichtenden Mehrwertsteuerbetrag berücksichtigen müssen, mithin den Betrag nach Abzug der Vorsteuer. Der im vorliegenden Fall von der Verwaltung gewählte Ansatz verkenne das Vorsteuerabzugsrecht und den Grundsatz der steuerlichen Neutralität.

18      Insoweit beruft sich CEZAM auf die Urteile vom 9. Juli 2015, Salomie und Oltean (C-183/14, EU:C:2015:454), sowie vom 8. Mai 2019, EN.SA. (C-712/17, EU:C:2019:374), und macht u. a. geltend, dass der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz die Mitgliedstaaten verpflichte, keine Geldbußen in einer Höhe zu verhängen, die der abziehbaren Vorsteuer entspreche, da eine solche Geldbuße das Vorsteuerabzugsrecht inhaltlich aushöhlen würde.

19      Der belgische Staat hält die im Urteil vom 8. Mai 2019, EN.SA. (C-712/17, EU:C:2019:374), gewählte Lösung für nicht auf den Rechtsstreit, mit dem das vorlegende Gericht befasst ist, übertragbar. Dieses Urteil habe sich nämlich auf eine Sachlage bezogen, in der trotz des Fehlens steuerbarer Umsätze Rechnungen mit ausgewiesener Mehrwertsteuer ausgestellt worden seien. Deren Aussteller habe die Mehrwertsteuer entrichtet und jede Gefährdung des Steueraufkommens beseitigt. Bei einer solchen Sachlage stünden der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz und Art. 203 der Richtlinie 2006/112, wonach die in einer Rechnung ausgewiesene Mehrwertsteuer geschuldet werde, der Verhängung einer Geldbuße entgegen, die zu 100 % der zu Unrecht abgezogenen Vorsteuer entspreche.

20      Im vorliegenden Fall beruft sich der belgische Staat darauf, dass gegen CEZAM für einen Verstoß gegen die Pflicht zur Erklärung und Entrichtung der Mehrwertsteuer eine Sanktion verhängt worden sei. Diese Pflicht sei für das Funktionieren des Mehrwertsteuersystems wesentlich, in dem der Steuerpflichtige die Rolle des Steuereinsammlers übernehme. Dadurch, dass CEZAM die von ihren Kunden erhobene Mehrwertsteuer nicht abgeführt habe, habe sie einen Vorteil zulasten des Fiskus erlangt. Außerdem beliefen sich die Geldbußen lediglich auf 20 % des Betrags der Mehrwertsteuer, die zu entrichten gewesen wäre. Insoweit stelle das Vorsteuerabzugsrecht eine Möglichkeit dar, die der Steuerpflichtige dadurch in Anspruch nehmen könne, dass er die abzugsfähige Vorsteuer in seinen turnusmäßigen Erklärungen aufführe.

21      Zu dieser Argumentation weist das vorlegende Gericht darauf hin, dass die Mitgliedstaaten grundsätzlich nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs in Mehrwertsteuersachen die Sanktionen wählen könnten, die ihnen sachgerecht erschienen, vorausgesetzt, dass diese Sanktionen nicht über das hinausgingen, was zur Erreichung der Ziele, die genaue Erhebung der Steuer sicherzustellen und Steuerhinterziehung zu vermeiden, erforderlich sei (Urteil vom 26. April 2017, Farkas, C-564/15, EU:C:2017:302, Rn. 59 und 60). Auch dürften die zur Erreichung dieser Ziele getroffenen Maßnahmen die Neutralität der Mehrwertsteuer nicht in Frage stellen (Urteil vom 11. April 2013, Rusedespred, C-138/12, EU:C:2013:233, Rn. 29). Insoweit bezieht sich das vorlegende Gericht u. a. auch auf die Schlussanträge der Generalanwältin Kokott in der Rechtssache EN.SA. (C-712/17, EU:C:2019:35, Nr. 62).

22      Das Gericht meint jedoch, der Grundsatz der steuerlichen Neutralität gelte für die Festlegung der Sanktionen, die bei Verstößen gegen Rechtsvorschriften im Bereich der Mehrwertsteuer anwendbar seien, nicht unmittelbar. Es wirft allerdings die Frage auf, ob dieser Grundsatz bei der Feststellung, ob die im vorliegenden Fall gegen CEZAM verhängten Sanktionen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz wahren, zu berücksichtigen ist.

23      Außerdem weist das vorlegende Gericht darauf hin, dass die fraglichen Sanktionen in Anwendung der belgischen Rechtsvorschriften zur Ahndung von Verstößen, die ohne die Absicht, sich der Mehrwertsteuer zu entziehen, begangen worden seien, festgesetzt worden seien.

24      Unter diesen Umständen hat das Tribunal de première instance du Luxembourg (Gericht Erster Instanz Luxemburg) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.      Stehen die Art. 62 (Nr. 2), 63, 167, 206, 250 und 273 der Richtlinie 2006/112 sowie der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, wie er u. a. im Urteil des Gerichtshofs vom 8. Mai 2019, EN.SA. (C-712/17, EU:C:2019:374), ausgelegt wurde, in Verbindung mit dem Neutralitätsgrundsatz einer nationalen Regelung wie der in Art. 70 (Abs. 1) des Code de la TVA (Mehrwertsteuergesetzbuch), Art. 1 und Abschnitt V der Tabelle G im Anhang des Arrêté royal no 41 fixant le montant des amendes fiscales proportionnelles en matière de taxe sur la valeur ajoutée (Königlicher Erlass Nr. 41 zur Festlegung der Höhe der proportionalen Steuergeldbußen im Bereich der Mehrwertsteuer) entgegen, nach der im Fall von Ungenauigkeiten, die anlässlich einer inhaltlichen Prüfung der Buchhaltung festgestellt worden sind, zur Sanktionierung insgesamt oder teilweise nicht erfasster steuerbarer Umsätze und für einen 1 250,00 Euro übersteigenden Betrag der Verstoß mit einer pauschalen, gekürzten Geldbuße von 20 % der geschuldeten Steuer geahndet wird, ohne dass die Vorsteuer, die aufgrund der fehlenden Erklärung nicht in Abzug gebracht worden war, bei der Berechnung der Geldbuße in Abzug gebracht werden könnte, obgleich der in den Tabellen A bis J des Anhangs des Königlichen Erlasses Nr. 41 vorgesehene Kürzungskatalog gemäß Art. 1 Abs. 2 des Erlasses nur unter der Voraussetzung anwendbar ist, dass die geahndeten Verstöße ohne die Absicht begangen wurden, sich der Steuer zu entziehen oder dies zu ermöglichen?

2.      Ist der Umstand, dass der Steuerpflichtige den nach der Prüfung fälligen Steuerbetrag freiwillig entrichtet hat, um die zu geringe Zahlung der Steuer auszugleichen und somit das Ziel zu erreichen, die genaue Erhebung der Steuer sicherzustellen, für die Antwort auf die Frage relevant?

 Zu den Vorlagefragen

25      Mit seinen Vorlagefragen, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 62 Nr. 2 sowie die Art. 63, 167, 206, 250 und 273 der Richtlinie 2006/112 sowie die Grundsätze der Verhältnismäßigkeit und der steuerlichen Neutralität dahin auszulegen sind, dass sie nationalen Rechtsvorschriften entgegenstehen, nach denen die Missachtung der Pflicht zur Erklärung und Entrichtung der Mehrwertsteuer an den Fiskus mit einer pauschalen Geldbuße in Höhe von 20 % der Mehrwertsteuer geahndet wird, die vor Abzug der Vorsteuer geschuldet worden wäre.

26      Insoweit geht aus den Art. 2 und 273 der Richtlinie 2006/112 in Verbindung mit Art. 4 Abs. 3 EUV hervor, dass die Mitgliedstaaten verpflichtet sind, alle Rechts- und Verwaltungsvorschriften zu erlassen, die geeignet sind, die Erhebung der gesamten in ihrem jeweiligen Hoheitsgebiet geschuldeten Mehrwertsteuer zu gewährleisten und den Betrug zu bekämpfen (Urteil vom 2. Mai 2018, Scialdone, C-574/15, EU:C:2018:295, Rn. 26).

27      In Ermangelung einer Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Union auf dem Gebiet der Sanktionen, die bei Nichtbeachtung der Voraussetzungen anwendbar sind, die eine nach dem Unionsrecht geschaffene Regelung vorsieht, sind die Mitgliedstaaten befugt, die Sanktionen wählen, die ihnen sachgerecht erscheinen. Sie sind jedoch verpflichtet, bei der Ausübung ihrer Befugnisse das Unionsrecht und seine allgemeinen Grundsätze, also auch die Grundsätze der Verhältnismäßigkeit und der steuerlichen Neutralität, zu beachten (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 29. Juli 2010, Profaktor Kulesza, Frankowski, Jóźwiak, Orłowski, C-188/09, EU:C:2010:454, Rn. 29, und vom 9. Juli 2015, Salomie und Oltean, C-183/14, EU:C:2015:454, Rn. 62).

28      Ferner ist darauf hinzuweisen, dass die Mitgliedstaaten bei der Wahl der Sanktionen den Effektivitätsgrundsatz zu beachten haben, der dazu verpflichtet, wirksame und abschreckende Sanktionen zur Bekämpfung von Verstößen gegen harmonisierte Regelungen auf dem Gebiet der Mehrwertsteuer einzuführen und die finanziellen Interessen der Union zu schützen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 2. Mai 2018, Scialdone, C-574/15, EU:C:2018:295, Rn. 28 und 33).

29      Das vorlegende Gericht bezieht sich in seiner ersten Frage auf Art. 273 der Richtlinie 2006/112, zudem aber auch auf mehrere weitere Bestimmungen dieser Richtlinie. Diesen kommt allerdings für die Beantwortung der Vorlagefragen, die sich auf die Kriterien beziehen, anhand deren bestimmt werden kann, ob eine Sanktion im Bereich der Mehrwertsteuer die Grundsätze der Verhältnismäßigkeit und der steuerlichen Neutralität wahrt, keine Relevanz zu. Daher ist die Frage in ihrer umformulierten Fassung nur insoweit zu beantworten, als sie sich auf den nach Maßgabe der angeführten Grundsätze ausgelegten Art. 273 der Richtlinie 2006/112 bezieht.

30      Was zum einen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit betrifft, dürfen die vom nationalen Recht in Anwendung von Art. 273 der Richtlinie 2006/112 vorgesehenen Sanktionen nicht über das hinausgehen, was zur Erreichung der Ziele erforderlich ist, die genaue Erhebung der Steuer sicherzustellen und Steuerhinterziehung zu vermeiden. Bei der Beurteilung der Frage, ob eine Sanktion mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit vereinbar ist, sind u. a. die Art und die Schwere des Verstoßes, der mit dieser Sanktion geahndet werden soll, sowie die Methoden für die Bestimmung der Höhe dieser Sanktion zu berücksichtigen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 26. April 2017, Farkas, C-564/15, EU:C:2017:302, Rn. 60 und die dort angeführte Rechtsprechung).

31      Die Beurteilung, ob der Betrag der gegen CEZAM verhängten Geldbußen mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit vereinbar ist, obliegt zwar dem vorlegenden Gericht. Es ist allerdings angebracht, ihm einige Anhaltspunkte an die Hand zu geben, anhand deren es diese Beurteilung durchführen kann.

32      Zu der Art und der Schwere der Verstöße, die mit den in Rede stehenden Geldbußen geahndet werden sollen, lässt sich der Vorlageentscheidung entnehmen, dass die CEZAM vorgeworfenen Verstöße nicht auf einem Irrtum hinsichtlich der Anwendung des Mehrwertsteuermechanismus beruhen. Die Gesellschaft hat nämlich für einen längeren Zeitraum, obwohl die belgischen Steuerbehörden mehrfach tätig geworden sind, die geschuldete Mehrwertsteuer weder erklärt noch abgeführt.

33      Ob der Steuerpflichtige die von den zuständigen Behörden festgestellten Zahlungsmängel nach einer Steuerprüfung freiwillig behoben hat oder nicht, kann überdies für die Beurteilung dessen von Belang sein, ob eine Sanktion im Hinblick auf das Ziel verhältnismäßig ist, die genaue Erhebung der Steuer sicherzustellen. Den dem Gerichtshof vorliegenden Akten lässt sich allerdings für den vorliegenden Fall keine freiwillige Behebung der Unregelmäßigkeiten entnehmen.

34      Zu den Modalitäten für die Festsetzung der anzuwendenden Sanktionen ergibt sich aus der Vorlageentscheidung, dass das belgische Recht ein abgestuftes System von Geldbußen vorsieht. Denn nach Art. 70 Abs. 1 des Mehrwertsteuergesetzbuchs wird bei einem Verstoß gegen die Pflicht zur Entrichtung der Steuer eine Geldbuße verhängt, die das Doppelte der Mehrwertsteuer beträgt, die vor Abzug der Vorsteuer geschuldet worden wäre. Soweit keine Absicht der Steuerhinterziehung vorliegt, sieht der Königliche Erlass Nr. 41 allerdings vor, dass sich der Betrag der Geldbuße je nachdem, ob der Betrag der für einen geprüften Jahreszeitraum geschuldeten Steuern 1 250,00 Euro übersteigt oder nicht, auf 20 % bzw. 10 % der Mehrwertsteuer verringert, die vor Abzug der Vorsteuer geschuldet worden wäre.

35      In jedem Fall lässt sich vorbehaltlich der dem vorlegenden Gericht obliegenden Prüfungen nicht feststellen, dass die Verhängung von Geldbußen in Höhe von 20 % der Mehrwertsteuer, die vor Abzug der Vorsteuer geschuldet worden wäre, in Anbetracht der Art und der Schwere der CEZAM vorgeworfenen Verstöße und angesichts dessen, dass Sanktionen in Mehrwertsteuersachen wirksam und abschreckend sein müssen, über das hinausginge, was zur Sicherstellung der genauen Erhebung der Steuer und zur Vermeidung von Steuerhinterziehungen erforderlich ist.

36      Was zum anderen den Grundsatz der steuerlichen Neutralität betrifft, so verlangt dieser, dass der Vorsteuerabzug gewährt wird, wenn die materiellen Anforderungen erfüllt sind, selbst wenn der Steuerpflichtige bestimmten formellen Anforderungen nicht genügt hat. Verfügt die Steuerbehörde über die Angaben, die für die Feststellung erforderlich sind, dass die materiellen Anforderungen erfüllt sind, so darf sie daher keine zusätzlichen Voraussetzungen festlegen, die die Ausübung des Vorsteuerabzugsrechts vereiteln können (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 9. Juli 2015, Salomie und Oltean, C-183/14, EU:C:2015:454, Rn. 58 und 59 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

37      Im vorliegenden Fall lassen sich der dem Gerichtshof vorliegenden Akte keine Anhaltspunkte dafür entnehmen, dass die gegen CEZAM verhängten Geldbußen oder die für die Festsetzung von deren Höhe herangezogenen belgischen Rechtsvorschriften, d. h. Art. 70 Abs. 1 des Mehrwertsteuergesetzbuchs in Verbindung mit dem Königlichen Erlass Nr. 41 geeignet wären, das Vorsteuerabzugsrecht in Frage zu stellen. Insbesondere scheinen diese Bestimmungen den Steuerpflichtigen nicht daran zu hindern, sein Recht auf Vorsteuerabzug geltend zu machen. Hierzu ergibt sich aus den Erklärungen der belgischen Regierung, dass die belgischen Steuerbehörden bei der Festsetzung der Steuerschuld von CEZAM den Abzug der Vorsteuer von Amts wegen vorgenommen haben.

38      Darüber hinaus ist darauf zu verweisen, dass das Ausgangsverfahren nicht mit demjenigen vergleichbar ist, in dem das Urteil vom 9. Juli 2015, Salomie und Oltean (C-183/14, EU:C:2015:454, Rn. 60 bis 64), ergangen ist, auf das sich CEZAM beim vorlegenden Gericht berufen hat. In der diesem Urteil zugrunde liegenden Rechtssache stand nämlich eine nationale Verwaltungspraxis in Rede, nach der die Nichtbeachtung bestimmter, zu Kontrollzwecken dienender Formerfordernisse, wie die in Art. 214 der Richtlinie 2006/112 vorgesehene Pflicht des Steuerpflichtigen, sich als mehrwertsteuerpflichtig registrieren zu lassen, oder die in Art. 213 dieser Richtlinie vorgesehene Pflicht, Aufnahme, Wechsel und Beendigung seiner Tätigkeit anzuzeigen, nicht etwa mit der Verhängung einer der Schwere des Verstoßes angemessenen Geldbuße geahndet wurde, sondern durch die Versagung des Vorsteuerabzugsrechts, was geeignet war, die Neutralität der Mehrwertsteuer in Frage zu stellen.

39      Die vorliegende Rechtssache ist auch nicht mit derjenigen vergleichbar, in der das Urteil vom 8. Mai 2019, EN.SA. (C-712/17, EU:C:2019:374), ergangen ist, auf das sich CEZAM vor dem vorlegenden Gericht ebenfalls berufen hat.

40      Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof in den Rn. 43 und 44 dieses Urteils festgestellt hat, dass der Grundsatz der Neutralität der Mehrwertsteuer der Verhängung einer Geldbuße, die trotz ordnungsgemäßer Zahlung der Mehrwertsteuer auf der Ausgangsstufe und obgleich der Fiskus demnach keinen Verlust an Steuereinnahmen erlitten hat, 100 % der zu Unrecht abgezogenen Vorsteuer beträgt, entgegensteht, da dieser Grundsatz dadurch gewahrt wird, dass die Mitgliedstaaten vorsehen können, dass jede zu Unrecht in Rechnung gestellte Steuer berichtigt wird, wenn der Rechnungsaussteller seinen guten Glauben nachweist oder wenn er die Gefährdung des Steueraufkommens rechtzeitig und vollständig beseitigt hat. Die Verhängung dieser Geldbuße führte mithin dazu, dass der Möglichkeit, die nach Art. 203 der Richtlinie 2006/112 entstandene Steuerschuld zu berichtigen, der Boden entzogen wurde.

41      Dergleichen ist vorliegend hingegen nicht der Fall: Denn mit den gegen CEZAM verhängten Geldbußen soll zum einen die vorsätzlich und über einen längeren Zeitraum hin unterlassene Erklärung und Entrichtung der Mehrwertsteuer auf der Ausgangsstufe geahndet werden, wobei diese Unterlassung mithin das Steueraufkommen für den Fiskus gefährdet hat, und zum anderen ergibt sich, wie in Rn. 37 des vorliegenden Urteils ausgeführt, weder aus den in Rede stehenden nationalen Bestimmungen noch aus anderen Angaben in der dem Gerichtshof vorliegenden Akte, dass diese Geldbußen – deren Betrag nicht über 20 % der Mehrwertsteuer hinausgeht, die vor Abzug der Vorsteuer geschuldet worden wäre – die Inanspruchnahme des Vorsteuerabzugsrechts in Frage stellen würden.

42      Nach alledem ist auf die Vorlagefragen zu antworten, dass Art. 273 der Richtlinie 2006/112 sowie die Grundsätze der Verhältnismäßigkeit und der steuerlichen Neutralität dahin auszulegen sind, dass sie – vorbehaltlich der dem vorlegenden Gericht hinsichtlich der Verhältnismäßigkeit der im Ausgangsverfahren verhängten Geldbuße obliegenden Prüfungen – nationalen Rechtsvorschriften nicht entgegenstehen, nach denen die Missachtung der Pflicht zur Erklärung und Entrichtung der Mehrwertsteuer an den Fiskus mit einer pauschalen Geldbuße in Höhe von 20 % der Mehrwertsteuer geahndet wird, die vor Abzug der Vorsteuer geschuldet worden wäre.

 Kosten

43      Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Neunte Kammer) für Recht erkannt:

Art. 273 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem sowie die Grundsätze der Verhältnismäßigkeit und der steuerlichen Neutralität

sind dahin auszulegen, dass

sie – vorbehaltlich der dem vorlegenden Gericht hinsichtlich der Verhältnismäßigkeit der im Ausgangsverfahren verhängten Geldbuße obliegenden Prüfungen – nationalen Rechtsvorschriften nicht entgegenstehen, nach denen die Missachtung der Pflicht zur Erklärung und Entrichtung der Mehrwertsteuer an den Fiskus mit einer pauschalen Geldbuße in Höhe von 20 % der Mehrwertsteuer geahndet wird, die vor Abzug der Vorsteuer geschuldet worden wäre.

Unterschriften


*      Verfahrenssprache: Französisch.