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Wichtiger rechtlicher Hinweis

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61995C0330

Schlussanträge des Generalanwalts La Pergola vom 27. Februar 1997. - Goldsmiths (Jewellers) Ltd gegen Commissioners of Customs & Excise. - Ersuchen um Vorabentscheidung: Value Added Tax Tribunal, Manchester - Vereinigtes Königreich. - Mehrwertsteuer - Sechste Richtlinie - Abweichungsbefugnis nach Artikel 11 Teil C Absatz 1 - Ausschluß von Tauschgeschäften von der Erstattung im Falle der Nichtbezahlung. - Rechtssache C-330/95.

Sammlung der Rechtsprechung 1997 Seite I-03801


Schlußanträge des Generalanwalts


1 Mit der vorliegenden Vorabentscheidungfrage ersucht das Valü Added Tax Tribunal, Manchester Tribunal Centre, den Gerichtshof um eine klärende Auslegung der Befugnis nach Artikel 11 Teil C Absatz 1 der Sechsten Mehrwertsteuerrichtlinie(1) (im folgenden: Sechste Richtlinie oder Richtlinie), die Verminderung der Besteuerungsgrundlage bei vollständiger oder teilweiser Nichtbezahlung nach Bewirkung des mehrwertsteuerpflichtigen Umsatzes abweichend zu regeln. Genauer gesagt, wird der Gerichtshof um eine Entscheidung darüber ersucht, ob mit der genannten Vorschrift eine Regelung zur Umsetzung wie die im vorliegenden Fall vom britischen Gesetzgeber erlassene vereinbar ist, die eine Steuererstattung bei Verkaufsumsätzen gewährt, bei denen die Gegenleistung in Geld besteht, sie jedoch bei solchen Umsätzen ausschließt, bei denen der Preis anders als in Geld ausgedrückt wird.

I - Sachverhalt

2 In den vorliegenden Rechtsstreit sind zwei Gesellschaften verwickelt, die Goldsmiths (Jewellers) Ltd ( im folgenden: Klägerin), die Schmuckartikel herstellt und verkauft, und die RRI Ltd ( im folgenden: RRI), eine auf Tauschhandel spezialisierte Gesellschaft. Die beiden Gesellschaften verhandelten über den Abschluß eines Vertrages, in dem die Klägerin sich zur Lieferung nicht verkaufter Schmuckartikel an die RRI und die RRI sich zur Erbringung von Werbedienstleistungen als Gegenleistung verpflichtete.

3 Aufgrund der vertraglichen Vereinbarung lieferte die Klägerin der RRI Schmuckstücke im Wert von 202 809,47 UKL (einschließlich 30 205,67 UKL Mehrwertsteuer, die die Klägerin in ihrer Mehrwertsteuererklärung für den betreffenden Zeitraum angab und tatsächlich entrichtete). Die RRI verpflichtete sich ihrerseits, der Klägerin Werbedienstleistungen zu erbringen, die den gleichen Wert wie die Schmuckstücke hatten.

4 Nachdem die RRI einen ersten Teil der Werbedienstleistungen, zu denen sie sich verpflichtet hatte, im Wert von 68 678,03 UKL (einschließlich 9 335 UKL Mehrwertsteuer) erbracht hatte, wurde sie zahlungsunfähig und geriet in Konkurs. Der Wert der nicht erbrachten Dienstleistungen betrug demnach 135 162,12 UKL einschließlich 20 130,53 UKL Mehrwertsteuer.

5 Infolge der Zahlungsunfähigkeit ging die Klägerin davon aus, daß die ausstehenden Werbedienstleistungen nicht mehr erbracht werden würden, und änderte ihre Mehrwertsteuererklärung für den am 28. Februar 1993 endenden Zeitraum. Sie verminderte dabei den Nettobetrag der Mehrwertsteuer um den Betrag, der der Mehrwertsteuer entsprach, die auf die von der RRI geschuldeten und jetzt als uneinbringlich abgeschriebenen Dienstleistungen zu entrichten war.

6 Die Commissioners of Customs and Excise (im folgenden: Beklagte) lehnten es ab, der Klägerin die Steuerbefreiung zu gewähren, die sich aus dieser Berechnung ergab. Am 1. Juni 1993 richteten sie daher einen Mehrwertsteuerbescheid über 20 130 UKL zuzueglich Zinsen an die Klägerin.

7 Die Verwaltung hatte ihre Entscheidung auf der Grundlage von Section 11 (1) des Finance Act 1990 getroffen. Diese nationale Vorschrift beschränkt, wie das vorlegende Gericht feststellt(2), bei vollständiger oder teilweiser Nichtbezahlung den Anspruch auf Erstattung der Mehrwertsteuer auf die Fälle, in denen "für eine Gegenleistung in Geld" Gegenstände geliefert oder Dienstleistungen erbracht werden. Eine Sachleistung wie diejenige, zu der die RRI verpflichtet war, konnte von der Vorschrift aufgrund ihres Wortlauts nicht erfasst werden(3).

8 Die Klägerin war der Ansicht, sie habe dennoch einen Anspruch auf Steuerbefreiung für die nicht erhaltene Gegenleistung, und erhob beim vorlegenden Gericht Klage. In ihrer Klage machte sie geltend, daß die nationale Regelung gegen die Sechste Richtlinie und insbesondere gegen deren Artikel 11 Teil C Absatz 1 verstosse, der folgendes bestimmt:

"Im Falle der Annullierung, der Rückgängigmachung, der Auflösung, der vollständigen oder teilweisen Nichtbezahlung oder des Preisnachlasses nach der Bewirkung des Umsatzes wird die Besteuerungsgrundlage unter von den Mitgliedstaaten festgelegten Bedingungen entsprechend vermindert.

Jedoch können die Mitgliedstaaten im Falle der vollständigen oder teilweisen Nichtbezahlung von dieser Regel abweichen" (Hervorhebung von mir).

Nach Auffassung der Klägerin hätte die nationale Regelung in Anbetracht dieser Vorschrift die Steuerbefreiung nicht auf den Fall beschränken dürfen, daß die in Geld bestehende Gegenleistung aus einem Kaufvertrag nicht erbracht werde, sondern sie hätte die Verträge einbeziehen müssen, bei denen die Gegenleistung in einer Sachleistung bestehe. Die den Mitgliedstaaten durch den Gemeinschaftsgesetzgeber verliehene Abweichungsbefugnis erlaube es, "ganz oder gar nicht" abzuweichen. Das stehe einer selektiven und teilweisen Festlegung der Bedingungen für eine Steuerbefreiung entgegen. Der Umstand, daß das Vereinigte Königreich die Grundregel auf Verkaufsumsätze angewandt habe, bedeute letztlich daß es hinsichtlich anderer Umsatzarten nicht abweichen dürfe(4).

9 Das Valü Added Tax Tribunal, Manchester Tribunal Centre, das sich mit dieser Auslegungsfrage befassen muß, hat dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:

Ist die in Artikel 11 Teil C Absatz 1 der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaten über die Umsatzsteuern - Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage geregelte Ausnahmebestimmung so auszulegen, daß sie es einem Mitgliedstaat, der Rechtsvorschriften über die Steuererstattung im Falle uneinbringlicher Forderungen erlässt, gestattet, eine Steuerbefreiung auszuschließen, wenn die nicht erbrachte Gegenleistung in etwas anderem als Geld besteht?

Rechtliche Beurteilung

10 Bei der Frage des Valü Added Tax Tribunal, Manchester Tribunal Centre, geht es im wesentlichen darum, in welchem Rahmen die Mitgliedstaaten von der ihnen in der Sechsten Richtlinie eingeräumten Befugnis Gebrauch machen können, vom Grundsatz der "entsprechenden Verminderung" der Besteuerungsgrundlage abzuweichen, der in Artikel 11 Teil C Absatz 1 dieser gemeinschaftsrechtlichen Regelung festgelegt ist.

11 Die Vorschrift des Finance Act des Vereinigten Königreichs, mit der wir zu tun haben, gewährt laut vorlegendem Gericht die in der Sechsten Richtlinie vorgesehene Steuerbefreiung für bestimmte Umsatzarten, nämlich für Verkäufe gegen Geldleistung, nicht jedoch für andere Umsatzarten, bei denen die Gegenleistung in einer Sachleistung besteht. Daraus ergeben sich bezueglich des Gemeinschaftsrechts zwei Fragen, die sich dem Gerichtshof in logischer Reihenfolge stellen. Ob die zweite Frage einer Antwort bedarf, hängt, wie ich weiter unten erläutern werde, von der Beantwortung der ersten Frage ab.

Die Sechste Richtlinie schreibt die Verminderung der Besteuerungsgrundlage für eine Reihe von Fällen vor, die sie selbst benennt: 1. Annullierung, 2. Rückgängigmachung, 3. Auflösung, 4. vollständige oder teilweise Nichtbezahlung und 5. Preisnachlaß nach Bewirkung des Umsatzes. In all diesen Fällen richtet sich die Steuerbefreiung nach den von den Mitgliedstaaten in ihrer jeweiligen Rechtsordnung festgelegten Bedingungen. Die Abweichungsbefugnis - so bestimmt die Vorschrift - hat der nationale Gesetzgeber nur in dem unter 4 genannten Fall der "vollständigen oder teilweisen Nichtbezahlung"(5). In diesem Fall braucht der Mitgliedstaat keinen Anspruch auf Steuerbefreiung zu gewähren; in den übrigen Fällen der Richtlinie muß er diesen Anspruch jedoch gemäß den Modalitäten, deren Festlegung er für erforderlich hält, beachten und anwenden.

12 Der Gerichtshof hat sich als erstes mit der Frage zu befassen, in welcher Weise der Gemeinschaftsgesetzgeber die Abweichungsbefugnis an dieser Stelle eingeräumt und konzipiert hat. Genauer gesagt, geht es darum, festzustellen, ob ein Mitgliedstaat, der von der Abweichungsbefugnis Gebrauch macht, die Verminderung der Besteuerungsgrundlage unterschiedslos für alle Fälle der Nichtbezahlung ausschließen muß oder ob er, wie es der britische Gesetzgeber getan hat, etwas anderes bestimmen darf. Im ersten Fall wäre die Befugnis oder das Recht zur Abweichung gemäß dem Wortlaut der auszulegenden Vorschrift der Gemeinschaft "strikt" konzipiert und daher in dem Bereich, in dem eine Abweichung zulässig ist, notwendigerweise an den ausnahmslosen Ausschluß der Anwendung der einheitlichen Gemeinschaftsregelung gebunden. Nach der zweiten Lösung enthält die Abweichungsbefugnis in doppelter Hinsicht ein Ermessen: Der nationale Gesetzgeber kann nicht nur unstreitig darüber entscheiden, ob er von ihr Gebrauch macht oder nicht, sondern hat auch die Freiheit, den Inhalt der abweichenden Vorschriften entsprechend den ihm zur Beurteilung überlassenen Erfordernissen differenziert zu gestalten.

13 Die erste Auffassung wird von der Klägerin vertreten, die zweite mit unterschiedlichen Argumenten von der britischen und der deutschen Regierung. Bereits an dieser Stelle muß deutlich gemacht werden, daß der vorliegende Rechtsstreit, folgt man der ersten dieser beiden entgegengesetzten Ansichten, unmittelbar an der Wurzel entschieden wird. Die für die Rechtsordnung des Vereinigten Königreichs gewählte Lösung entspräche weder dem Mechanismus noch dem Anwendungsbereich der von der gemeinschaftsrechtlichen Regelung vorgesehenen Abweichungsbefugnis. Welche Konsequenzen hätte es dagegen, folgte man der zweiten der beiden vorgebrachten Ansichten? Die Abweichung wäre dann entsprechend meiner Darstellung auch nach Ermessen beschränkbar. Das bedeutet jedoch nicht, daß die abweichenden Vorschriften des nationalen Rechts nicht die Grundsätze und Gebote des Gemeinschaftsrechts einschließlich derjenigen beachten müssten, die der Gerichtshof aus dem Kontext der Sechsten Richtlinie selbst und damit aus ihren Vorschriften und den ihnen zugrunde liegenden Zielen herleiten kann. Hier stellt sich die zweite Frage, die ich oben bei der Darlegung der logischen Ordnung der Punkte erwähnt habe, die der Gerichtshof im Rahmen der Vorlagefrage zu prüfen hat.

14 Bezueglich der ersten Frage meine ich, daß die Ausübung der Abweichungsbefugnis nicht der Bedingung unterliegt, die nach Auffassung der Klägerin in der Sechsten Richtlinie ausdrücklich oder zumindest implizit festgelegt ist und der zufolge der nationale Gesetzgeber verpflichtet ist, entweder insgesamt von der Vorschrift abzuweichen, von der er abweichen darf, oder die Besteuerungsgrundlage ohne jede Abweichung zu vermindern. Ich erkenne keine logische oder auf dem Wortlaut beruhende Grundlage für diese Art von Automatismus, nach dem der gesamte Bereich, den die Abweichung gemäß der Richtlinie umfassen kann, en bloc in die Abweichung einbezogen würde.

15 Die Gemeinschaftsvorschrift, die uns beschäftigt, ist klar und vollständig: Sie legt fest, daß die Mitgliedstaaten bezueglich der Verminderung der Besteuerungsgrundlage abweichen können, und bestimmt, in welchem Fall eine Abweichung zulässig ist. Diese dem Mitgliedstaat eingeräumte Befugnis - oder das Recht, wenn man diesen Begriff vorzieht - ist so zu verstehen, daß die Abweichungsbefugnis dem Gesetzgeber zusteht. Es ist die Befugnis zum Erlaß von Vorschriften, die bei der Regelung eines bestimmten Bereichs von Verhältnissen andere Vorschriften ersetzen. Diese behalten jedoch ihrerseits einen restlichen Anwendungsbereich. Die abweichende Vorschrift setzt die Vorschrift, von der sie abweicht, nämlich nicht ausser Kraft. Andernfalls läge eine Aufhebung und nicht bloß eine Abweichung vor. Der zur Abweichung befugte Gesetzgeber entscheidet jedenfalls, inwieweit die Regel oder der Grundsatz, deren Geltungsbereich er eingrenzen kann, nicht angewandt wird. Die Abweichungsbefugnis umfasst daher die Befugnis, den Inhalt und die Wirkungen der aus ihrer Ausübung hervorgehenden Vorschriften im Wege des Ermessens differenziert zu regeln(6). Die rechtliche Auslegung dieser Befugnis würde sich nicht ändern, wenn es - wie in der spanischen Fassung von Artikel 11 Teil C Absatz 1 Satz 2 der Sechsten Richtlinie - hieße, daß der Mitgliedstaat befugt ist, die Vorschrift über die Steuerbefreiung nicht anzuwenden, und nicht, daß er von ihr abweichen kann(7). Die Nichtanwendung dieser Vorschrift kann nur das Ergebnis einer Abweichung sein, so daß die Abweichungsbefugnis unverändert bleibt. Zu diesen Erwägungen kommt hinzu, daß - wie erwähnt - vorgesehen ist, daß die Besteuerungsgrundlage gemäß den von den Mitgliedstaaten festgelegten Bedingungen vermindert wird. Meines Erachtens bedeutet dies, daß die Sechste Richtlinie das Ermessen des nationalen Gesetzgebers anerkennt - in welchen Grenzen, ist noch zu prüfen -, und zwar sowohl hinsichtlich der Regelung der Modalitäten für die Anwendung der Steuerbefreiung als auch hinsichtlich des Ausschlusses der Betroffenen von der Befreiung(8).

16 Wichtig ist nun, zu ermitteln, in welchem Verhältnis die gemeinschaftsrechtliche Vorschrift, von der gemäß der Sechsten Richtlinie abgewichen werden darf, im Hinblick auf ihren Regelungsinhalt zu der Vorschrift steht, die von ihr in der nationalen Rechtsordnung abweicht.

Ziel der Sechsten Richtlinie ist die Harmonisierung der Besteuerung. Die Verpflichtung, die Besteuerungsgrundlage in den vorgesehenen Fällen angemessen zu vermindern, ist eine Harmonisierungsregel. Sie hängt mit den anderen Regeln zusammen, die, ebenfalls im Steuerbereich, zur Verfolgung desselben Zieles in der Richtlinie festgelegt sind. In bezug auf Artikel 11, der die Harmonisierung der Kriterien für die Festlegung der Besteuerungsgrundlage bezweckt, bildet die abweichende Regelung des Vereinigten Königreichs eine Ausnahme. In diesem Sinne bildet die Abweichung von der gemeinschaftsrechtlichen Regel eine Ausnahme von einem allgemeinen Grundsatz, der in Artikel 11 Teil A Absatz 1 der Sechsten Richtlinie festgelegt ist. Dieser bestimmt (unter Buchstabe a), daß Besteuerungsgrundlage "bei Lieferungen von Gegenständen und Dienstleistungen, die nicht unter den Buchstaben b), c) und d) genannt sind, alles [ist], was den Wert der Gegenleistung bildet, die der Lieferer oder Dienstleistende für diese Umsätze vom Abnehmer oder Dienstleistungsempfänger oder von einem Dritten erhält oder erhalten soll" (Hervorhebung von mir).

17 Aus diesem Grund bedarf die Abweichung einer Rechtfertigung. Sie ist meiner Ansicht nach nur gerechtfertigt, wenn sie in Übereinstimmung mit denjenigen Grundsätzen und Vorschriften des Gemeinschaftsrechts erfolgt, die in der im vorliegenden Fall einschlägigen Regelung von Bedeutung sind. Bei der Festlegung des Rahmens, innerhalb dessen eine Abweichung möglich ist, muß nämlich beachtet werden, daß nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofes für die Auslegung einer Vorschrift des Gemeinschaftsrechts nicht nur der Wortlaut dieser Vorschrift, sondern auch ihr Kontext und die Ziele zu berücksichtigen sind, die mit der Regelung, zu der sie gehört, verfolgt werden(9).

18 Es geht um einen allgemeinen Grundsatz der Gemeinschaftsrechtsordnung, der besonderen Ausdruck in dem Bereich gefunden hat, mit dem wir uns hier befassen. Die Ausübung der Abweichungsbefugnis - und, allgemeiner, jedes den Mitgliedstaaten innerhalb des Systems der Richtlinie eingeräumten Ermessens - muß sich in jedem Fall in den Grenzen und an die Bedingungen halten, die sich aus den der gemeinschaftsrechtlichen Regelung zugrunde liegenden Grundsätzen ergeben(10).

Dieses Kriterium geht aus der Rechtsprechung des Gerichtshofes hervor, insbesondere aus dem Urteil Profant(11). In diesem Urteil hat der Gerichtshof entschieden, daß die Befugnis der Mitgliedstaaten, die Grenzen und die Modalitäten der durch Artikel 14 der Sechsten Richtlinie bei der Einfuhr vorgesehenen Befreiungen festzulegen, "nicht völlig im Ermessen der Behörden der Mitgliedstaaten liegt, da diese die mit der Harmonisierung im Mehrwertsteuerbereich verfolgten grundlegenden Ziele ... beachten müssen" (Randnr. 25). Im Urteil Kühne hat der Gerichtshof sodann entschieden, daß der betreffende Mitgliedstaat von der Abweichungsbefugnis nach Artikel 6 Absatz 2 Satz 2 der Sechsten Richtlinie in einer Weise Gebrauch gemacht hatte, die dem Grundsatz der Steuerneutralität zuwiderlief(12). Ähnlich hat der Gerichtshof im Urteil Kommission/Belgien, in dem er über die richtige Ausübung der Abweichungsbefugnis nach Artikel 27 der Sechsten Richtlinie zu befinden hatte, eine Vertragsverletzung durch den Beklagten festgestellt: "Somit stehen die streitigen [nationalen] Vorschriften insoweit ausser Verhältnis zu dem verfolgten Ziel", so der Gerichtshof, "als sie ... umfassend und systematisch von Artikel 11 [abweichen]."(13)

19 Die damals geprüften Fälle haben, so sehr sie sich vom vorliegenden Fall unterscheiden mögen, mit diesem zumindest gemeinsam, daß den Mitgliedstaaten in dem einen wie im anderen Fall eine Ermessensbefugnis gewährt wurde, die im Rahmen und damit unter Beachtung der Sechsten Richtlinie auszuüben ist. Aus der Rechtsprechung geht klar hervor, daß die Mitgliedstaaten bei der Ausübung dieses Ermessens die Harmonisierungsziele der Regelung und die ihr zugrunde liegenden Grundsätze beachten müssen.

20 Ich werde nun diesen anderen Aspekt untersuchen, der von entscheidender Bedeutung für die Lösung des Rechtsstreits ist. Die Rechtfertigung der in der britischen Rechtsordnung vorgenommenen Abweichung, die bei der Steuerbefreiung zwischen Geschäften mit einer Gegenleistung in Geld und solchen mit einer Sachleistung als Gegenleistung unterscheidet, bedarf unter dem besonderen Gesichtspunkt der Verhältnismässigkeit der Aufmerksamkeit.

21 Zunächst stellt sich die Frage, wie eine Sachleistung im Rahmen der Sechsten Richtlinie zu definieren ist. Der Gerichtshof hat im Urteil Aardappelenbewaarplaats ausgeführt: "Eine Dienstleistung ist ... steuerpflichtig ..., wenn sie gegen Entgelt ausgeführt wird, wobei die Besteuerungsgrundlage für eine solche Leistung alles ist, was als Gegenleistung für die Dienstleistung erhalten wird. Es muß daher ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen der erbrachten Dienstleistung und dem erhaltenen Gegenwert bestehen."(14) Die Bedeutung des Ausdrucks "alles, was", der sich, wie bereits gesagt, auch in Artikel 11 Teil A Absatz 1 findet, wird im Urteil Naturally Yours Cosmetics Ltd erläutert. Dort hat sich der Gerichtshof mit dem Fall befasst, daß dem zwischen Verkäufer und Erwerber vereinbarten Preis der Wert der vom Erwerber angebotenen Marketingdienstleistung hinzuzurechnen ist, so daß eine Leistung, die ursprünglich keine Geldleistung gewesen ist, in einen Geldbetrag umgewandelt wird(15).

22 Kommt man auf die Ausführungen des Gerichtshofes in der letztgenannten Rechtssache und in anderen Rechtssachen zurück, so kann man sagen, daß das vorliegende Geschäft, in dem ein unmittelbarer und ausdrücklicher Zusammenhang zwischen der erbrachten Leistung und dem Gegenwert besteht, notwendigerweise den Austausch zweier besteuerbarer Leistungen im Sinne der Sechsten Richtlinie umfasst(16). Eine andere Argumentation hätte die Folgen, die Generalanwalt Cruz Vilaça beschrieben hat: "Müsste man aus der Gegenleistung irgendeine Form der Leistung - wie z. B. Dienstleistungen im Austausch gegen eine Lieferung von Gegenständen - ausgrenzen, so würde sich die Tür für eine Steuerumgehung öffnen, die eine Durchsetzung der Ziele der Sechsten Richtlinie verhindern, einen Teil der steuerbaren Umsätze der Besteuerung entziehen und gegebenenfalls Verzerrungen bei der steuerlichen Behandlung von Sachverhalten hervorrufen würde, die unter wirtschaftlichen und kaufmännischen Gesichtspunkten im wesentlichen gleichgelagert sind."(17)

23 Deswegen müssen die Steuerpflichtigen, die die synallagmatischen Leistungen erbringen, aus denen Tauschgeschäfte bestehen, die Pflichten gemäß Artikel 22 der Sechsten Richtlinie beachten. Insbesondere hat nach Absatz 3 Buchstabe a jeder Steuerpflichtige "für Lieferungen von Gegenständen und Dienstleistungen, die er an einen anderen Steuerpflichtigen bewirkt, eine Rechnung oder ein an deren Stelle tretendes Dokument auszustellen und ein Doppel dieser Dokumente aufzubewahren". Ausserdem "[hat] jeder Steuerpflichtige ... innerhalb eines Zeitraums", der von den Mitgliedstaaten festgelegt wird, "eine Steuererklärung abzugeben". Nach dem Sachverhalt geschah dies sowohl durch die Klägerin als auch durch die RRI, soweit diese bezahlt hatte.

24 Die Regierung des Vereinigten Königreichs rechtfertigt die durch die Abweichung vorgesehene Lösung mit dem Argument, die Gefahr der Steuerhinterziehung sei bei Verträgen, die als Gegenleistung eine Sachleistung vorsähen, grösser als bei Verträgen, bei denen die Gegenleistung in Geld bestehe(18).

25 Daher stimme die abweichende Vorschrift mit der siebzehnten Begründungserwägung der Sechsten Richtlinie überein, nach der "in bestimmten Grenzen und unter bestimmten Bedingungen" angebracht ist, daß "die Mitgliedstaaten von dieser Richtlinie abweichende Sondermaßnahmen ergreifen können, um die Steuererhebung zu vereinfachen und bestimmte Steuerhinterziehungen und Steuerumgehungen zu verhüten" (Hervorhebung von mir).

26 Ich bin meinerseits der Ansicht, daß der vorliegende Fall im Hinblick auf die Grenzen und Bedingungen zu prüfen ist, die die Mitgliedstaaten beim Erlaß abweichender Maßnahmen beachten müssen. Man darf auch nicht ausser acht lassen, daß der Gerichtshof den Grundsatz der Verhältnismässigkeit angewandt hat, der zu den der Rechtsordnung der Gemeinschaft zugrunde liegenden allgemeinen Rechtsgrundsätzen gehört, um den Geltungsbereich abweichender Vorschriften zu bestimmen. So hat der Gerichtshof im Urteil Johnston ausgeführt, daß "nach diesem Grundsatz ... Ausnahmen nicht über das zur Erreichung des verfolgten Ziels angemessene und erforderliche Maß hinausgehen [dürfen]"(19).

27 Lassen Sie mich dieses Kriterium der Rechtsprechung auf den vorliegenden Fall anwenden. Selbst wenn die Gefahr der Steuerumgehung oder -hinterziehung bei Umsätzen, bei denen die Gegenleistung in einer Sachleistung besteht, grösser ist als bei Verkaufsumsätzen, reicht das nicht zur Rechtfertigung der radikalen Entscheidung des britischen Gesetzgebers(20). Die von ihm erlassene Regelung verfolgt ein Ziel, dem man abstrakt zustimmen kann; in der Praxis aber ist die in Abweichung von der Richtlinie festgelegte Ungleichbehandlung von Verträgen über Sachleistungen und von Kaufverträgen unvereinbar mit einem Grundsatz, der beachtet werden muß, dem der Steuerneutralität.

28 Dieser Grundsatz hängt meiner Auffassung nach eng mit dem Grundsatz der Nichtdiskriminierung zusammen und bedeutet im vorliegenden Fall, daß Tausch- und Geldgeschäfte gleichbehandelt werden müssen. Die Steuerneutralität erfordert gerade die Gleichbehandlung solch verschiedener wirtschaftlicher Aktivitäten, damit Verzerrungen des eher allgemeinen Mehrwertsteuersystems der Gemeinschaft durch unerhebliche und ungerechtfertigte Differenzierungen vermieden werden(21).

29 Lassen Sie mich nun die vom Vereinigten Königreich erlassene Regelung unter dem oben beschriebenen Gesichtspunkt untersuchen. Der vorliegende Fall zeigt uns, welche Wirkung nach aussen und damit welche Auswirkungen eine Abweichung von der Richtlinie wie die des genannten Staates hat. Die britische Verwaltung räumt selbst ein, daß im vorliegenden Fall keine Gefahr der Steuerhinterziehung besteht(22). Trotzdem hat die Klägerin, weil der britische Gesetzgeber zwischen den beiden Geschäftsarten unterschieden hat, einen erheblichen wirtschaftlichen Nachteil erlitten: Sie hat keinen Anspruch auf Erstattung der Mehrwertsteuer für einen Umsatz, den sie bewirkt, ordnungsgemäß ausgewiesen und verbucht hat, für den sie jedoch nicht den vereinbarten Gegenwert erhalten hat. Ihre Lage ist also schlechter, als wenn sie einen Kaufvertrag mit einer Gegenleistung in Geld geschlossen hätte. In dieser Lage werden sich alle steuerpflichtigen Personen finden, die derartige Umsätze tätigen. Sie werden nämlich bei vollständiger oder teilweiser Nichtbezahlung schlechter geschützt sein. Man möge nicht behaupten, ein besonnener Wirtschaftsteilnehmer werde zur Vermeidung derartiger steuerlicher Konsequenzen den Abschluß eines Kaufvertrags vorziehen. Wie Generalanwalt Cruz Vilaça in seinen oben zitierten Schlussanträgen in der Rechtssache 230/87 (Naturally Yours Cosmetics Ltd) ausgeführt hat, ist unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten das Tauschgeschäft genauso wie der Verkauf gegen Geldzahlung ein Instrument, mit dessen Hilfe sich das Geschäftsleben entfaltet(23). Die Schlechterbehandlung einer der beiden Geschäftsarten lässt sich nicht rechtfertigen. Im Rahmen der Sechsten Richtlinie und des Gemeinschaftsrechts äussert sich diese Ungleichbehandlung in einer ungerechtfertigten und steuerlich alles andere als neutralen Einmischung in die freie Wahl des Wirtschaftsteilnehmers und damit in einem ungerechtfertigten Unterlassen der Verminderung der Besteuerungsgrundlage(24). Dies gilt um so mehr, als der allgemeine Charakter der Mehrwertsteuer gebietet, Gleiches gleich und Ungleiches entsprechend ungleich zu behandeln(25).

30 In dieser Hinsicht unterstützt der Wortlaut der Richtlinie, und zwar der des Artikels 11 Teil A Absatz 1 Buchstabe a, die gerade dargelegte Schlußfolgerung. Gemäß dieser Vorschrift ist bei Lieferungen von Gegenständen und Dienstleistungen Besteuerungsgrundlage alles, was den Wert der Gegenleistung bildet, die der Lieferer oder Dienstleistende erhält oder erhalten soll. Wie bereits erwähnt, ist diese Formel im Urteil Naturally Yours Cosmetics Ltd weit ausgelegt worden: Sie schließt diejenigen Leistungen ein, die lato sensu wirtschaftlich ausgedrückt werden können. Steuerlich sind daher Sachleistungen, die in Geld bewertet werden können, Geldleistungen im wesentlichen gleichgestellt. Aus dieser Gleichstellung muß sich bei richtiger Betrachtung grundsätzlich die notwendige Gleichbehandlung der beiden Geschäftsarten ergeben. Ausnahmen und Abweichungen sind zulässig, bedürfen jedoch einer objektiven Grundlage. Die Abweichung muß mit den Grundsätzen der Richtlinie übereinstimmen und darf zudem nicht gegen den Grundsatz der Verhältnismässigkeit verstossen.

31 Übrigens ist meines Erachtens auch die Berufung auf die siebzehnte Begründungserwägung im vorliegenden Fall völlig fehl am Platz. Die Mitgliedstaaten können Maßnahmen zur Vereinfachung der Steuererhebung und zur Verhütung von Steuerhinterziehungen und -umgehungen ergreifen. Bei diesen Maßnahmen handelt es sich um abweichende Maßnahmen. Die zitierte Begründungserwägung bezieht sich auf die Grenzen und Bedingungen für Abweichungen. Worin diese Grenzen und Bedingungen bestehen, wird nicht ausdrücklich gesagt. Es sind Beschränkungen, die aus der Richtlinie selbst durch Auslegung ihrer Vorschriften und des von ihr den Mitgliedstaaten gewährten Raums für Abweichungen erschlossen werden müssen.

32 Betrachten wir nun das System der Richtlinie. Diese sieht zwei Instrumente vor, die im Zusammenhang mit der siebzehnten Begründungserwägung stehen.

Erstens dürfen die Mitgliedstaaten von den Vorschriften der Richtlinie abweichen, um Steuerhinterziehungen und -umgehungen zu verhüten. Zu diesem Zweck können die Mitgliedstaaten gemäß Artikel 27 nach Ermächtigung durch den Rat Sondermaßnahmen einführen oder aufrechterhalten. Es gibt also ein eigens geschaffenes Instrument, das den Mitgliedstaaten ermöglichen soll, die Probleme der Steuerhinterziehung und -umgehung anzugehen und zu lösen(26).

Andererseits erfordert, wie der Gerichtshof festgestellt hat, die Nutzung dieses Instruments die nötigen Vorsichtsmaßregeln. Die Maßnahmen dürfen "grundsätzlich ... von der in Artikel 11 geregelten Besteuerungsgrundlage für die Mehrwertsteuer nur insoweit abweichen, als ... unbedingt erforderlich ist", um das Ziel der Vorschrift zu erreichen(27). Zwei Anmerkungen zu diesem Punkt. Zum einen stand dem Vereinigten Königreich ein besonderer Mechanismus zur Verfügung, um den Problemen zu begegnen, die Tauschgeschäfte möglicherweise im Hinblick auf die geltend gemachte Gefahr der Steuerhinterziehung oder -umgehung verursachen; es hat von diesem Mechanismus jedoch keinen Gebrauch gemacht(28). Des weiteren wird auch das vom Gesetzgeber ad hoc vorgesehene Instrument gleichwohl, gerade im Hinblick auf die allgemeine Regel des Artikels 11, durch das Kriterium der Notwendigkeit beschränkt. Was den ersten Gesichtspunkt angeht, so hat das Vereinigte Königreich die in Rede stehenden abweichenden Vorschriften erlassen, ohne das Verfahren gemäß der Richtlinie zu durchlaufen und ohne den anderen Mitgliedstaaten die mit der Einhaltung dieses Verfahrens verbundenen Garantien zu bieten(29). Ferner hat das Vereinigte Königreich keine konkrete Beurteilung der unbedingten Erforderlichkeit - also der fehlenden Möglichkeit, andere Maßnahmen zu ergreifen - zur Stützung seiner Entscheidung geliefert, Tauschgeschäfte vom Anspruch auf Steuerbefreiung auszuschließen.

33 Zweitens sieht die Richtlinie vor, daß besondere Befreiungen unter den "zur Verhütung von Steuerhinterziehungen, Steuerumgehungen und etwaigen Mißbräuchen" festgelegten Bedingungen gewährt werden oder daß die Mitgliedstaaten "weitere Pflichten" zur Verhütung von Steuerhinterziehungen auferlegen(30). Die streitige Vorschrift der Richtlinie sagt zu diesem Punkt aber nichts, was dafür spricht, daß die abweichenden Vorschriften, zu deren Erlaß sie ermächtigt, nicht für den speziellen Zweck gedacht sind, Steuerhinterziehungen und -umgehungen zu verhüten. Anders ausgedrückt, lässt sich aus dem Schweigen des Gesetzgebers zu diesem Punkt schließen, daß derartige Erwägungen in diesem Fall unbeachtlich sein sollten.

34 Zusammenfassend sei gesagt, daß der britische Gesetzgeber es nur hinsichtlich von Tauschgeschäften für erforderlich erachtet hat, von der allgemeinen Regel des Artikels 11 Teil C Absatz 1 der Sechsten Richtlinie "umfassend und systematisch" abzuweichen. Die Nichtgewährung der Verminderung der Besteuerungsgrundlage in diesen Fällen bedeutet aber, daß die Ausübung der im Ermessen stehenden Abweichungsbefugnis mit den Geboten des Gemeinschaftsrechts unvereinbar ist: Sie verstösst gegen den Grundsatz der Steuerneutralität, der seinerseits mit dem fundamentalen Grundsatz der Nichtdiskriminierung zusammenhängt(31).

35 Eine letzte, kurze Bemerkung. In der mündlichen Verhandlung hat die Regierung des Vereinigten Königreichs beantragt, die Wirkungen der Urteils zeitlich zu beschränken, falls der Gerichtshof entscheiden sollte, daß der Ausschluß von Tauschgeschäften von der Steuerbefreiung rechtswidrig ist. Der Antrag wurde damit begründet, daß die Mitgliedstaaten die Vorschrift in absolut gutem Glauben ausgelegt hätten und ihnen daher die "sehr erheblichen" Probleme, die ein solches Urteil verursachen würde, erspart bleiben müssten.

36 Meines Erachtens verdient dieses Argument keine Beachtung. Die Wirkungen eines Urteils nach Artikel 177 werden nur im Ausnahmefall beschränkt. Durch die Auslegung einer Vorschrift des Gemeinschaftsrechts im Rahmen eines Vorabentscheidungsverfahrens wird erläutert und verdeutlicht, in welchem Sinn und mit welcher Tragweite die Vorschrift seit ihrem Inkrafttreten zu verstehen und anzuwenden ist oder gewesen wäre. Die Gerichte können und müssen die Vorschrift in dieser Auslegung auch auf Rechtsverhältnisse anwenden, die vor Erlaß des auf das Ersuchen um Auslegung ergangenen Urteils entstanden sind, wenn alle sonstigen Voraussetzungen für die Anrufung der zuständigen Gerichte in einem die Anwendung dieser Vorschrift betreffenden Streit vorliegen(32).

So lauten die Grundsätze. Der Gerichtshof hat von der Beschränkung der Wirkungen des Urteils nur unter ganz besonderen Umständen Gebrauch gemacht, und zwar bei schwerwiegenden wirtschaftlichen Rückwirkungen, insbesondere wegen der hohen Zahl von Rechtsverhältnissen, die in gutem Glauben aufgrund der als rechtsgültig angesehenen Regelung begründet worden waren, und wenn Bürger und nationale Behörden wegen des Bestehens einer erheblichen objektiven Unsicherheit über die Tragweite der Gemeinschaftsbestimmungen zu einem Verhalten veranlasst worden waren, das den Gemeinschaftsvorschriften nicht entsprach(33).

Zuletzt hat der Gerichtshof so im Urteil Bosman angesichts des Zustands der Unsicherheit hinsichtlich der Vereinbarkeit der verschiedenen im Bereich des Transfers von Fußballspielern geltenden und angewandten Regeln mit dem Gemeinschaftsrecht die Notwendigkeit einer Beschränkung der Wirkungen des Urteils anerkannt und eine Ausnahme nur zugunsten der Personen gemacht, die bereits nach dem nationalen Recht Klage erhoben oder einen gleichwertigen Rechtsbehelf eingelegt hatten.

37 Solche Voraussetzungen sind im vorliegenden Fall nicht gegeben. Das Vereinigte Königreich hat zu den schwerwiegenden wirtschaftlichen Störungen, die nach seiner Ansicht durch die Anwendung der Vorschrift in der hier vorgenommenen Auslegung verursacht würden, nichts dargetan(34). Es ist meines Erachtens auch kein Verhalten der Organe der Gemeinschaft erkennbar, das das Vereinigte Königreich zu der Annahme hätte veranlassen können, die von ihm erlassenen Vorschriften seien im Hinblick auf das Gemeinschaftsrecht rechtmässig(35).

38 Schließlich meine ich aufgrund der dargelegten Erwägungen auch nicht, daß Erfordernisse der Rechtssicherheit zu einer Beschränkung der Wirkungen des Urteils führen können. Das Ermessen, das die zur Abweichung ermächtigende Vorschrift den Mitgliedstaaten eingeräumt hat, konnte meines Erachtens unter Bezugnahme auf die Grundsätze des Systems der Sechsten Richtlinie - Verhältnismässigkeit, Steuerneutralität und Gleichbehandlung -, die den Urteilen entnommen werden können, in denen sich der Gerichtshof mit den Grenzen für Abweichungen von der Richtlinie befasst hat, angemessen ausgeuebt werden. Daher ist das Element der Rechtsunsicherheit nicht feststellbar, aufgrund dessen der Anwendungsbereich der den Mitgliedstaaten durch die Vorschrift gewährten Abweichungsbefugnis vernünftigerweise entsprechend der in der britischen Rechtsordnung geltenden Regelung hätte ausgelegt werden können(36).

Aus den dargelegten Gründen schlage ich dem Gerichtshof vor, die Frage des vorlegenden Gerichts folgendermassen zu beantworten:

Artikel 11 Teil C Absatz 1 Satz 2 der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern - Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage ist so auszulegen, daß er es nicht zulässt, daß ein Mitgliedstaat die Möglichkeit einer Steuerbefreiung für uneinbringliche Forderungen aus Tauschgeschäften ausschließt, während er sie für Forderungen aus Verkaufsgeschäften, bei denen die Gegenleistung in Geld besteht, gewährt.

(1) - Sechste Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern - Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage (ABl. L 145, S. 1).

(2) - Punkt 11 des Vorlagebeschlusses.

(3) - Section 11 (2) des Finance Act 1990 (die damals anwendbare Vorschrift, die später in Section 36 des VAT Act 1994 umgewandelt wurde), sieht einen Anspruch auf Erstattung der geschuldeten Mehrwertsteuer vor. Nach Section 11 (2) erfolgt eine solche Befreiung, wenn a) eine Person für eine Gegenleistung in Geld Gegenstände geliefert oder Dienstleistungen erbracht hat und für diese Leistung Steuern ausgewiesen und entrichtet hat; b) die Gegenleistung für die Lieferung ganz oder teilweise als uneinbringliche Forderung abgeschrieben wurde, und c) ein Zeitraum von einem Jahr (nach dem Zeitpunkt der Lieferung) verstrichen ist".

(4) - Punkt 16 des Vorlagebeschlusses.

(5) - Man beachte, daß die englische Fassung, anders als die italienische, vier Fälle vorsieht: "cancellation", "refusal", "total or partial non-payment" und "price is reduced after the supply takes place". In dieser Fassung bezieht sich die Abweichungsbefugnis also auf Fall 3 und nicht auf Fall 4.

(6) - In diesem Sinne äussert sich, um auf die im vorliegenden Fall untersuchte Vorschrift zurückzukommen, auch ein Teil der Literatur. P. Farmer und R. Lyal, EC Tax Law, Oxford 1994, S. 128, haben in ihrer Kommentierung des Artikels 11 Teil C Absatz 1 Satz 2 folgendes ausgeführt: "the structure of the provision suggests that on this point (vollständige oder teilweise Nichtbezahlung) the power to derogate extends to the principle of reduction itself" (Hervorhebung von mir). In einem meines Erachtens ähnlichen Sinne siehe auch B. J. M. Terra und J. Kajius, A Guide to the European VAT Directives, Amsterdam 1993, Kommentierung des Artikels 11, S. 95: "Notwithstanding the imperative $shall`, Member States are free to derogate from this rule (i. e. not to grant or to partially grant a reduction) in the case of total or partial non-payment" (Hervorhebung von mir).

(7) - Artikel 11 Teil C Absatz 1 Satz 2 der spanischen Fassung lautet wie folgt: "non obstante, en los casos de impago total o parcial, los Estados miembros podrán no aplicar esta regla" (Hervorhebung von mir).

(8) - Das Vereinigte Königreich hat übrigens in seinen Erklärungen darauf hingewiesen, daß der Gerichtshof bereits die strikte Alternative des "alles oder nichts" bei der Ausübung einer Abweichung zu beurteilen hatte. In seinem Urteil vom 7. Juli 1994 in der Rechtssache C-420/92 (Bramhill, Slg. 1994, I-3191) folgte der Gerichtshof damals nicht der klägerischen Auslegung der Abweichungsbefugnis nach Artikel 7 Absatz 1 Buchstabe d der Richtlinie 79/7/EWG, die grundsätzliche Ähnlichkeit mit der von der Klägerin im vorliegenden Fall vertretenen Auslegung hat. In dieser Rechtssache beruhte die Argumentation des Gerichtshofes auf der Notwendigkeit einer Auslegung der Grenzen der Abweichung, die nicht dem Ziel der schrittweisen Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung zuwiderlief (Randnrn. 20 bis 22).

(9) - Urteil des Gerichtshofes vom 2. Juni 1994 in der Rechtssache C-30/93 (AC-ATEL Electronics, Slg. 1994, I-2305, Randnr. 21).

(10) - Siehe in diesem Sinne die Schlussanträge des Generalanwalts Mayras in der Rechtssache 51/76 (Verbond van Nederlandse Ondernemingen, Slg. 1977, 129): "Auch wenn die Mitgliedstaaten ihre Autonomie auf dem Gebiet der Mehrwertsteuer ... vollständig behalten haben, können sie doch in den Bereichen, in denen sie die Möglichkeit haben, Ausnahmen einzuführen, oder es ihnen freisteht, gewisse Übergangsmaßnahmen ... zu ergreifen, nur im Rahmen und gemäß den Vorschriften der Richtlinie handeln" (a. a. O., 134).

(11) - Urteil des Gerichtshofes vom 3. Oktober 1985 in der Rechtssache 249/84 (Slg. 1985, 3237, Randnrn. 23 bis 25); siehe auch Urteil des Gerichtshofes vom 6. Juli 1988 in der Rechtssache 127/86 (Ledoux, Slg. 1988, 3741, Randnr. 11).

(12) - Urteil des Gerichtshofes vom 27. Juni 1989 in der Rechtssache 50/88 (Slg. 1989, 1925).

(13) - Urteil des Gerichtshofes vom 10. April 1984 in der Rechtssache 324/82 (Slg. 1984, 1861, Randnr. 32).

(14) - Urteil des Gerichtshofes vom 5. Februar 1981 in der Rechtssache 154/80 (Slg. 1981, 445, Randnr. 12; Hervorhebung von mir).

(15) - Urteil des Gerichtshofes vom 23. November 1988 in der Rechtssache 230/87 (Slg. 1988, 6365, insbesondere Randnrn. 16 und 17).

(16) - Siehe auch die Schlussanträge des Generalanwalts Van Gerven vom 24. Januar 1990 in der Rechtssache C-126/88 (Boots Company, Slg. 1990, I-1235): "Hieraus geht deutlich hervor, daß Artikel 11 Teil A Absatz 1 Buchstabe a der Sechsten Richtlinie auch auf andere Leistungen als Zahlungen in bar abstellt" (Nr. 6).

(17) - Siehe Nr. 19 der Schlussanträge des Generalanwalts Cruz Vilaça in der Rechtssache 230/87 (zitiert in Fußnote 15).

(18) - Die britische Regierung hat folgendes in ihren Erklärungen ausgeführt: "the United Kingdom chose to limit relief for bad debt to cases where the supply has been made $for a consideration in money`. Its purpose, in enacting that limitation, was to remove the risk of fraud: an approach which reflects the 16th recital [rectius 17th] to the Sixth Directive" (Punkt 24).

(19) - Urteil des Gerichtshofes vom 15. Mai 1986 in der Rechtssache C-222/84 (Slg. 1986, 1651, Randnr. 38).

(20) - In dieser Hinsicht ähnelt der vorliegende Fall meines Erachtens am meisten der Rechtssache 324/82 (Kommission/Belgien, zitiert in Fußnote 13), und zwar aus zwei Gründen. Erstens hat in beiden Fällen der Mitgliedstaat zur Unterstützung der Ausübung seiner Abweichungsbefugnis die Verhütung von Steuerumgehungen angeführt. Zweitens hat die Ausübung der Abweichungsbefugnis in dem genannten wie im vorliegenden Fall zu einer Regelung geführt, die, mit den damaligen Worten des Gerichtshofes, "die Besteuerungsgrundlage derart uneingeschränkt und allgemein [ändert], daß sich nicht mehr sagen lässt, sie beschränke sich auf die Abweichungen, die notwendig seien, um die Gefahr von Steuerhinterziehungen oder -umgehungen zu verhüten" (Randnr. 31).

(21) - Übrigens meine ich, daß diese Darstellung des Grundsatzes sehr derjenigen ähnelt, die das Vereinigte Königreich selbst in der Rechtssache C-283/95 (Fischer, anhängiges Verfahren, siehe die vom Vereinigten Königreich am 20. Dezember 1995 abgegebenen Erklärungen) vorgetragen hat: "The essential nature of the principle (of fiscal neutrality), as its very name indicates, is neutrality. Its force is derived from the need to ensure that economic activities are treated equally and to ensure that the common system of valü added taxation is not distorted by irrelevant or illegitimate distinctions."

(22) - Siehe Punkt 25 der Erklärungen des Vereinigten Königreichs: "There is no suggestion of fraud in the present case."

(23) - Insoweit erscheint mir ein Hinweis darauf interessant, was ein italienischer Autor unlängst in einer Zeit hoher Inflationsraten zum Thema des Tauschvertrags geschrieben hat: "bisogna prendere atto di un rinnovato interesse per questo tradizionale istituto, idoneo a recuperare in termini reali il valore di scambio dei beni, sui quali incidono invece negativamente i grandi processi inflazionistici in atto ed il correlato elevatissimo corso del denaro"; L. Ricca, "Permuta", in EdD, Band XXXIII, S. 125, Mailand (Punkt 1).

(24) - In diesem Punkt erlaube ich mir, dem Vorbringen des Vereinigten Königreichs in der mündlichen Verhandlung zu widersprechen. Das Vereinigte Königreich hat ausgeführt, der Ausschluß von Tauschgeschäften von der Steuerbefreiung bedeute bei wirtschaftlicher Betrachtung keine Verzerrung, da das grössere Risiko, das in diesen Geschäften liege, im Preis berücksichtigt sei. Meines Erachtens ist dieses "induzierte" grössere Risiko an sich geeignet, aus einigen Geschäften Verkaufs- anstelle von Tauschgeschäften zu machen, die im Lichte der britischen Regelung kostspieliger sind. Ich möchte im wesentlichen sagen, daß die Argumentation des Vereinigten Königreichs - die, wenn ich recht verstanden habe, auf der Vorstellung beruht, die eigens für diese Umsatzart getroffene Regelung sei bezueglich der wirtschaftlichen Wahl "neutral" - vertretbar wäre, wenn diese Umsätze nicht mit denen im "Wettbewerb" stuenden, die für Geldleistungen bewirkt werden.

(25) - Siehe B. J. M. Terra und J. Kajius, a. a. O., S. 14: "The general character of a sales tax demands that the equal is treated equally and the unequal in proportion unequally."

(26) - Zur Analyse der Ziele dieser Vorschrift sei auf die Schlussanträge des Generalanwalts Jacobs vom 30. April 1991 in der Rechtssache C-97/90 (Lennartz, Slg. 1991, I-3795) verwiesen: "Die allgemeinen Bestimmungen der Sechsten Richtlinie ... sollen die Belange der Verwaltungsvereinfachung mit den Zielen des gemeinsamen Mehrwertsteuersystems, insbesondere dem der Neutralität, in Einklang bringen. Es wäre schwierig, wenn nicht unmöglich gewesen, alle technischen Schwierigkeiten oder Formen der Umgehung oder Hinterziehung ins Auge zu fassen, auf die Steuerbehörden in der Gemeinschaft treffen können. ... Daher war es angemessen, den Mitgliedstaaten zu gestatten, um eine individuelle Ermächtigung zum Erlaß von Maßnahmen bezueglich besonderer Probleme nachzusuchen" (Nr. 71).

(27) - Randnr. 29 des Urteils Kommission/Belgien (zitiert in Fußnote 13).

(28) - In diesem Zusammenhang scheint ein Hinweis darauf angebracht, daß das Vereinigte Königreich von allen Mitgliedstaaten am häufigsten Gebrauch von der durch Artikel 27 eingeräumten Möglichkeit gemacht hat. Es hat der Kommission zwölf Maßnahmen zur Vereinfachung und zur Bekämpfung von Steuerumgehungen mitgeteilt (Frankreich und die Bundesrepublik Deutschland haben der Kommission jeweils fünf Maßnahmen zur Prüfung vorgelegt). Diese Angaben stammen von B. J. M. Terra und J. Kajius, a. a. O., Kommentierung des Artikels 27, S. 19.

(29) - Siehe Artikel 27 Absätze 2, 3 und 4. Diese Vorschriften verpflichten den Mitgliedstaat, der Kommission die vorgesehenen Maßnahmen mitzuteilen, um ihr eine Beurteilung zu ermöglichen; die Kommission muß ihrerseits den übrigen Mitgliedstaaten Mitteilung machen, die eine Überprüfung des Falles durch den Rat beantragen können.

(30) - Siehe insoweit die Artikel 13 Teil B, 14 und 22 Absatz 8 der Sechsten Richtlinie.

(31) - Siehe Randnr. 32 des Urteils Kommission/Belgien (zitiert in Fußnote 13).

(32) - Urteil des Gerichtshofes vom 27. März 1980 in den verbundenen Rechtssachen 66/79, 127/79 und 128/79 (Salumi u. a., Slg. 1980, 1237, Randnr. 9).

(33) - Schlussanträge des Generalanwalts Tesauro vom 30. Januar 1992 in der Rechtssache C-200/90 (Dansk Denkavit und Poulsen Trading, Slg. 1992, I-2217, Nr. 12); siehe auch die dort zitierten Entscheidungen.

(34) - Ausserdem kann bekanntlich allein die Berufung auf die wirtschaftlichen Folgen einer bestimmten Auslegung des Gemeinschaftsrechts nicht die Beschränkung der Wirkungen des Urteils des Gerichtshofes rechtfertigen, damit der von Generalanwalt Tesauro in den in Fußnote 33 zitierten Schlussanträgen hervorgehobene Widerspruch vermieden wird, daß "gerade die schwersten Rechtsverstösse begünstigt würden" (Nr. 12).

(35) - Ich erinnere daran, daß der Gerichtshof in früheren Entscheidungen zugunsten des geltend gemachten guten Glaubens den Umstand berücksichtigt hat, daß die Kommission ein Vertragsverletzungsverfahren wegen einer später für mit dem Gemeinschaftsrecht unvereinbar befundenen Praxis nicht fortgesetzt oder der Beibehaltung dieser Praxis vorübergehend zugestimmt hatte (vgl. Urteil des Gerichtshofes vom 16. Juli 1992 in der Rechtssache C-163/90, Legros, Slg. 1992, I-4625, Randnr. 32); ähnlich hat der Gerichtshof im Urteil vom 30. April 1996 in der Rechtssache C-308/93 (Cabanis-Issarte, Slg. 1996, I-2097) bei der Entscheidung, die Wirkungen des Urteils zeitlich zu beschränken, den Umstand berücksichtigt, daß das Urteil seinerseits die frühere Rechtsprechung begrenzte (Randnrn. 46 bis 48).

(36) - Das Erfordernis der Vernünftigkeit der Auslegung kann auf das Urteil Dansk Denkavit und Poulsen Trading (zitiert in Fußnote 33) gestützt werden, in dem es heisst, daß "die dänische Regierung nicht dargetan hat, daß das Gemeinschaftsrecht zur Zeit der Einführung der streitigen Abgabe vernünftigerweise so verstanden werden konnte, daß es eine solche Abgabe zuließ" (Randnr. 21; Hervorhebung von mir).