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Wichtiger rechtlicher Hinweis

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61999C0036

Schlussanträge des Generalanwalts Cosmas vom 11. Mai 2000. - Idéal tourisme SA gegen Belgischer Staat. - Ersuchen um Vorabentscheidung: Tribunal de première instance de Liège - Belgien. - Mehrwertsteuer - Sechste Richtlinie 77/388/EWG - Übergangsvorschriften - Aufrechterhaltung der Befreiung der grenzüberschreitenden Personenbeförderung mit Luftfahrzeugen - Keine Befreiung der grenzüberschreitenden Personenbeförderung mit Bussen - Ungleichbehandlung - Staatliche Beihilfe. - Rechtssache C-36/99.

Sammlung der Rechtsprechung 2000 Seite I-06049


Schlußanträge des Generalanwalts


I - Einleitung

1 In der vorliegenden Rechtssache ersucht das Tribunal de première instance Lüttich (Belgien) den Gerichtshof um Vorabentscheidung über Fragen zu der Mehrwertsteuerbefreiung, die Unternehmen erhalten, die grenzüberschreitende Personenbeförderung mit Luftfahrzeugen durchführen, und zu der Nichtbefreiung der Personenbeförderung durch Busunternehmen. Insbesondere geht es darum, inwieweit die Besteuerung der Busunternehmen gegen die Grundsätze der Gleichbehandlung und der Nichtdiskriminierung verstößt und inwieweit die Befreiung der Luftfahrtunternehmen eine nach Artikel 92 EG-Vertrag (nach Änderung jetzt Artikel 87 EG) verbotene staatliche Beihilfe zu deren Gunsten darstellt.

II - Rechtlicher Rahmen

A - Gemeinschaftsrecht

2 Nach der Sechsten Mehrwertsteuerrichtlinie(1) (nachstehend: Sechste Richtlinie) sollen "zur Wahrung der Wettbewerbsneutralität der Besteuerung" steuerbare Umsätze, für die in der Richtlinie nicht ausnahmsweise eine Befreiung zugelassen ist, der Mehrwertsteuer unterworfen werden(2). Gemäß Artikel 2 Absatz 1 der Sechsten Richtlinie unterliegen der Mehrwertsteuer Lieferungen von Gegenständen und Dienstleistungen, die ein Steuerpflichtiger als solcher gegen Entgelt ausführt. Die vorgesehenen Mehrwertsteuerbefreiungen (Artikel 13 ff. der Sechsten Richtlinie) stellen Ausnahmen von diesem allgemeinen Grundsatz dar(3). Denn die Grundsätze der allgemeinen Anwendung und der Neutralität der Steuer, die der Richtlinie zugrunde liegen, sind der Hauptschlüssel zum Verständnis der Bestimmungen mit Ausnahmecharakter(4).

3 Abschnitt XVI Artikel 28 der Sechsten Richtlinie stellt Übergangsbestimmungen auf, wonach die Mitgliedstaaten Steuerbefreiungen bis zur Erreichung des endgültigen Zieles der Abschaffung dieser Befreiungen beibehalten können. So können die Mitgliedstaaten nach Artikel 28 Absatz 3 Buchstabe b während der in Absatz 4 genannten Übergangszeit "die in Anhang F aufgeführten Umsätze unter den in den Mitgliedstaaten bestehenden Bedingungen weiterhin befreien"(5). Mit anderen Worten ermöglicht diese Vorschrift die Beibehaltung einer Regelung, die älter als die Sechste Richtlinie ist, wenn die Mitgliedstaaten dies wünschen(6).

4 Artikel 28 Absatz 4 der Sechsten Richtlinie lautet: "Die Übergangszeit wird zunächst auf fünf Jahre, beginnend mit dem 1. Januar 1978, festgelegt. Spätestens sechs Monate vor Ende dieses Zeitraums - und später je nach Bedarf - überprüft der Rat an Hand eines Berichts der Kommission die Lage, die sich durch die in Absatz 3 aufgeführten Abweichungen ergeben hat, um auf Vorschlag der Kommission einstimmig über die vollständige oder teilweise Abschaffung dieser Abweichungen zu entscheiden."

5 In Anhang F der Sechsten Richtlinie, der nach seiner Überschrift die Liste der in Artikel 28 Absatz 3 Buchstabe b vorgesehenen Umsätze enthält, heißt es unter Nummer 17 "Beförderungen von Personen": "Die Beförderung von Begleitgütern der Reisenden, wie Gepäck und Kraftfahrzeuge, oder die Dienstleistungen im Zusammenhang mit der Beförderung der Personen sind von der Steuer zu befreien, soweit die Beförderungen dieser Personen steuerfrei sind."(7)

B - Nationales Recht

6 In Belgien wird die Sechste Richtlinie durch den Code de la TVA (Mehrwertsteuergesetzbuch) in das innerstaatliche Recht umgesetzt.

7 Gemäß Artikel 1 Nummer 1 der Königlichen Verordnung Nr. 20 vom 20. Juli 1970 zur Festsetzung der Mehrwertsteuersätze und zur Einstufung der Güter und Dienstleistungen nach diesen Sätzen beträgt der Mehrwertsteuersatz 6 % für die Güter und Dienstleistungen, die in der Tabelle A des Anhangs dieser Verordnung aufgeführt sind.

8 In der Tabelle A heißt es in Rubrik XXV ("Beförderungen"):

"Beförderung von Personen sowie von nicht aufgegebenem Gepäck und von Tieren, die die Reisenden mit sich führen."

9 Gemäß Artikel 41 Absatz 1 Nummer 1 des Code de la TVA sind von der Mehrwertsteuer befreit: Personenbeförderung mit Seefahrzeugen; grenzüberschreitende Personenbeförderung mit Luftfahrzeugen; Beförderung von Gepäck und Kraftfahrzeugen, die die Reisenden bei den in dieser Nummer 1 genannten Beförderungen mit sich führen.

III - Sachverhalt

10 Die Klägerin des Ausgangsverfahrens, die Idéal tourisme SA (nachstehend: Klägerin), ist ein Unternehmen mit Sitz in Lüttich (Belgien), das grenzüberschreitende Personenbeförderungen mit Bussen durchführt.

11 In einem Schreiben vom 11. Juli 1997 an die belgische Steuerbehörde erläuterte die Klägerin unter Bezugnahme auf ihre Steuererklärung für die Umsätze von Juni 1997, nach ihrer Auffassung betrage der Steuersatz für die in Belgien erbrachten Leistungen der von ihr durchgeführten grenzüberschreitenden Personenbeförderungen mit Bussen 0 %.

12 Die Klägerin behauptet in diesem Schreiben, die belgische Regelung, wonach auf die in Belgien erbrachten Teile von Personenbeförderungen mit Bussen Mehrwertsteuer von 6 %(8) erhoben werde, während Personenbeförderungen mit Luftfahrzeugen von der Mehrwertsteuer befreit seien, führe hinsichtlich der Mehrwertsteuer zu einer Diskriminierung der Reisebusunternehmen im Verhältnis zu den Luftfahrtgesellschaften, die gegen den allgemeinen Gleichheitssatz verstoße. Ferner stelle diese Mehrwertsteuerregelung, die die Personenbeförderung mit Luftfahrzeugen begünstige, eine mit dem Gemeinsamen Markt unvereinbare staatliche Beihilfe im Sinne der Artikel 92 ff. EG-Vertrag dar.

13 Am 10. Oktober 1997 sandte die Mehrwertsteuerkontrollbehörde Lüttich der Klägerin eine Aufstellung über die Berichtigung der Mehrwertsteuer und belastete sie mit Mehrwertsteuer in Höhe von 554 845 BEF sowie einem Bußgeld in Höhe von 55 000 BEF.

14 Mit Schreiben vom 27. Oktober 1997 ermächtigte die Klägerin die Kontrollbehörde, die Beträge per Lastschrift von ihrem laufenden Mehrwertsteuerkonto einzuziehen, wies jedoch darauf hin, daß sie mit dieser Berichtigung nicht einverstanden sei und forderte die Kontrollbehörde auf, ihr die erhobenen Beträge zu erstatten.

15 Da die Steuerverwaltung die verlangte Erstattung nicht leistete, erhob die Klägerin gegen diese Ablehnung am 16. Januar 1998 Klage.

16 Am 26. Januar 1998 teilte die Mehrwertsteuerkontrollbehörde der Klägerin mit, daß ihr die streitigen Beträge erstattet worden seien.

17 Am 18. Februar 1998 wurde gegen die Klägerin über die streitigen Beträge ein Steuerbescheid erlassen.

18 Am 22. April 1998 erhob die Klägerin gegen diesen Bescheid Anfechtungsklage, die auf das gleiche Vorbringen wie die im Januar 1998 erhobene Erstattungsklage gestützt war.

19 Die Klägerin macht zur Begründung ihrer Klage zwei das Gemeinschaftsrecht betreffende Argumente geltend, nämlich einen Verstoß gegen den Gleichheitsgrundsatz und einen Verstoß gegen die Vorschriften des EG-Vertrags über die staatlichen Beihilfen.

IV - Vorabentscheidungsfragen

20 Um den bei ihm anhängigen Rechtsstreit entscheiden zu können, hat das nationale Gericht dem Gerichtshof die beiden folgenden Vorabentscheidungsfragen vorgelegt:

1. Ermächtigt die Richtlinie 77/388/EWG des Rates, insbesondere ihre Artikel 12 Absatz 3 und 28 Absatz 3 Buchstabe b, die Mitgliedstaaten, eine gegen die im Gemeinschaftsrecht verankerten Grundsätze der Gleichbehandlung und der Nichtdiskriminierung verstoßende Diskriminierung der in der Personenbeförderung tätigen Busunternehmen einzuführen?

2. Kann eine Mehrwertsteuerregelung, die einen bestimmten Sektor von Wirtschaftstätigkeiten wie den in Rede stehenden begünstigt, eine staatliche Beihilfe im Sinne von Artikel 92 des Vertrages von Rom sein, auch wenn sie nicht ausschließlich die einheimische Industrie schützt?

V - Beantwortung der Vorabentscheidungsfragen

A - Zur Zulässigkeit der Vorabentscheidungsfragen

21 Die belgische Regierung stellt das tatsächliche Vorliegen eines Rechtsstreits in Frage. Die Fragen, deren Vorlage die Klägerin angeregt habe, hätten zwar nicht rein hypothetischen Charakter, doch bestehe ihr Zweck allein darin, ein Ergebnis herbeizuführen, das im Wege der Gesetzgebung noch nicht habe erreicht werden können(9).

22 Die Klägerin trägt vor, der Ausgangsrechtsstreit sei keineswegs fiktiv. Es sei nämlich offensichtlich, daß zwischen den Parteien in einer Reihe wichtiger Punkte Uneinigkeit bestehe, und aus den Akten ergebe sich eindeutig, daß die Klägerin nicht mit dem belgischen Staat vereinbart habe, dem Gerichtshof ein Vorabentscheidungsersuchen vorzulegen.

23 Das vorlegende Gericht schließlich hält den Standpunkt der Klägerin für vertretbar und sieht keinen Grund für den Vorwurf, sie habe diesen Rechtsstreit konstruiert, um dem Gerichtshof verschiedene Fragen vorlegen zu können, über deren Zweckmäßigkeit und Formulierung immer noch das nationale Gericht befinde.

24 Wie aus dem Vorlagebeschluß klar hervorgeht, begehrt die Klägerin mit ihrer Klage die Erstattung der Mehrwertsteuer, die sie gezahlt hat, also eine Mehrwertsteuerbefreiung für sich selbst.

25 Was die erste Frage angeht, so wird es meines Erachtens wohl möglich sein, dem vorlegenden Gericht unter Berücksichtigung des von ihm mitgeteilten Sachverhalts und insbesondere der Begründung des Vorlagebeschlusses bestimmte Kriterien für die Auslegung des Gemeinschaftsrechts an die Hand zu geben(10). Die Beantwortung der gestellten Auslegungsfragen ist für die Beilegung des bei dem nationalen Gericht anhängigen Rechtsstreits objektiv erforderlich(11).

26 Angesichts des Gegenstands des bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens scheint mir dagegen eine Antwort auf die zweite Frage nicht nützlich zu sein. Die Klägerin will nämlich mit ihrer Klage die Erstattung der gezahlten Mehrwertsteuerbeträge erreichen und nicht etwa eine Anordnung an die belgischen Steuerbehörden, den Luftfahrtunternehmen keine Beihilfen in Form von Befreiungen von der Mehrwertsteuer mehr zu gewähren oder den begünstigten Luftfahrtunternehmen aufzugeben, die unter Verstoß gegen Artikel 93 Absatz 3 EG-Vertrag (jetzt Artikel 88 Absatz 3 EG) gewährten streitigen Beihilfen an den Fiskus zurückzuzahlen; in diesem Fall wäre diese Frage gerechtfertigt und die Antwort des Gerichtshofes für die Beilegung des Ausgangsrechtsstreits nützlich(12). Zu diesem Ergebnis gelange ich, ohne auf die Einstufung der Mehrwertsteuerbefreiung der Luftfahrtunternehmen als staatliche Beihilfe eingehen zu müssen, deren Prüfung sich aus dem genannten Grund erübrigt.

27 Folglich würde eine Antwort des Gerichtshofes auf die zweite Frage des vorlegenden Gerichts eine offensichtliche Änderung seiner Rechtsprechung bedeuten, da er damit Vorabentscheidungsfragen auch dann für zulässig erklären und beantworten würde, wenn diese Fragen nicht, wie oben erläutert, mit der Beilegung eines anhängigen Rechtsstreits zusammenhängen, sondern anläßlich eines solchen (anhängigen) Rechtsstreits gestellt werden und ein Problem aufwerfen, das in der Lehre oder Praxis mehr oder weniger umstritten ist, dessen Lösung aber jedenfalls nicht zur Beilegung des anhängigen Rechtsstreits dient.

B - Zur ersten Frage

28 Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die Mitgliedstaaten nach der Sechsten Richtlinie, insbesondere nach Artikel 28 Absatz 3 Buchstabe b, befugt sind, eine Ungleichbehandlung der in der Personenbeförderung tätigen Busunternehmen einzuführen, und ob diese Diskriminierung gegen die im Gemeinschaftsrecht verankerten Grundsätze der Gleichbehandlung und der Nichtdiskriminierung verstößt.

29 Wie sich aus dem Sachverhalt des Ausgangsrechtsstreits ergibt, würde die Antwort auf diese Frage nur dann zur Beilegung des Ausgangsrechtsstreits beitragen, wenn geklärt ist, ob die Befreiung auf Busunternehmen ausgedehnt werden kann. Meines Erachtens ergibt sich die Antwort auf diese Frage aus der Auslegung des Artikels 28 Absatz 3 Buchstabe b der Sechsten Richtlinie, ohne daß es erforderlich wäre, die Frage des vorlegenden Gerichts zu prüfen.

30 Der Wortlaut von Artikel 28 Absatz 3 Buchstabe b der Sechsten Richtlinie ist eindeutig. Nach dieser Bestimmung dürfen die Mitgliedstaaten Mehrwertsteuerbefreiungen, die vor Inkrafttreten der Sechsten Richtlinie in ihrer Rechtsordnung vorgesehen waren, zu den gleichen Bedingungen weiter anwenden, nicht aber eine neue Befreiungsregelung einführen(13). Dies gilt jedoch nur bei kumulativem Vorliegen der beiden Voraussetzungen, von denen die Vereinbarkeit nationaler Rechtsvorschriften mit der Sechsten Richtlinie abhängt, nämlich vorheriges Bestehen und Beibehaltung der streitigen Rechtsvorschriften so, wie sie vor dem Inkrafttreten der Sechsten Richtlinie bestanden, d. h., es darf keine mit der Ausnahmeregelung nach Artikel 28 Absatz 3 unvereinbare Änderung der Rechtsvorschriften erfolgt sein: So können die im Zeitpunkt des Inkrafttretens der Sechsten Richtlinie bestehenden Befreiungen später nicht ausgedehnt werden, und es können keine neuen Befreiungen eingeführt werden(14), ebensowenig wie Befreiungen, die vor der Unterwerfung bestimmter Dienstleistungen unter die Mehrwertsteuer gemäß der Sechsten Richtlinie bestanden haben, wieder eingeführt werden können(15).

31 Überdies verstößt Artikel 28 Absatz 3 Buchstabe b in Verbindung mit Anhang F Nummer 17 der Sechsten Richtlinie meines Erachtens nicht gegen die Grundsätze der Gleichbehandlung und der Nichtdiskriminierung. Sollte sich herausstellen, daß die Anwendung oder die Beibehaltung bestehender Bestimmungen durch die Mitgliedstaaten Diskriminierungen mit sich bringt, so wäre dies nicht auf die Sechste Richtlinie zurückzuführen, und es könnten keinesfalls bestehende Befreiungen ausgedehnt werden.

32 Nach alledem vertrete ich folgenden Standpunkt: Wäre die geltende Regelung über die Befreiung von der Mehrwertsteuer auf dem Gebiet der Personenbeförderung mit Luftfahrzeugen nach dem Inkrafttreten der Sechsten Richtlinie auf die Busunternehmen ausgedehnt worden, so hätte diese Ausdehnung gegen Artikel 28 Absatz 3 Buchstabe b verstoßen und zu Verzerrungen zum Nachteil bestimmter Mitgliedstaaten geführt(16), die entsprechend dieser Übergangsbestimmung ihre Rechtsvorschriften so beließen, wie sie bei Inkrafttreten der Sechsten Richtlinie bestanden, und damals bestehende Befreiungen nicht weiter ausdehnten. Diese Folge widerspräche letztlich dem Gebot der einheitlichen Anwendung der Sechsten Richtlinie(17)und stuende der angestrebten Verwirklichung eines durch einen gesunden Wettbewerb gekennzeichneten Marktes entgegen.

33 Daher ist es vorliegend gemäß Artikel 28 Absatz 3 Buchstabe b der Sechsten Richtlinie einem Mitgliedstaat wie dem Königreich Belgien keinesfalls gestattet, die zugunsten der Luftfahrtunternehmen vorgesehene Befreiung nach Inkrafttreten der Sechsten Richtlinie auf Busunternehmen auszudehnen.

34 Der Gerichtshof braucht also nicht zu prüfen, ob eine Vorzugsbehandlung der Luftfahrtunternehmen zu Lasten der Busunternehmen vorliegt, da die Antwort jedenfalls, wie bereits dargelegt, nicht zur Beilegung des anhängigen Rechtsstreits beitragen würde.

VI - Ergebnis

35 Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor, die Vorabentscheidungsfragen des Tribunal de première instance Lüttich wie folgt zu beantworten:

Artikel 28 Absatz 3 Buchstabe b in Verbindung mit Anhang F Nummer 17 der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern - Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage ist dahin auszulegen, daß die Mitgliedstaaten nicht befugt sind, nach Inkrafttreten dieser Richtlinie die Regelung über Mehrwertsteuerbefreiungen auf bestimmte Tätigkeiten der Personenbeförderung auszudehnen.

(1) - Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern - Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage (ABl. L 145, S. 1).

(2) - Vgl. Urteil des Gerichtshofes vom 8. Juli 1986 in der Rechtssache 73/85 (Kerrutt/Finanzamt Mönchengladbach-Mitte, Slg. 1986, 2219, Randnrn. 14 und 17).

(3) - Als Ausnahme vom allgemeinen Grundsatz sind diese Bestimmungen eng auszulegen: siehe insbesondere Urteile vom 15. Juni 1989 in der Rechtssache 348/87 (Stichting Uitvoering Financiële Acties, Slg. 1989, 1737, Randnr. 13) und vom 11. August 1995 in der Rechtssache C-453/93 (Bulthuis-Griffioen, Slg. 1995, I-2341, Randnr. 19).

(4) - Siehe Schlussanträge des Generalanwalts Tesauro in der Rechtssache C-35/90 (Kommission/Spanien, Nr. 5, Urteil vom 17. Oktober 1991, Slg. 1991, I-5073).

(5) - Artikel 28 der Richtlinie wurde vom Gerichtshof wiederholt ausgelegt. Er hat eindeutig festgestellt, daß der Ablauf der Frist des Artikels 28 Absatz 4 nicht ohne weiteres zum Wegfall der Befugnis zur Beibehaltung der bestehenden Befreiungen führte; siehe z. B. Urteile Kommission/Spanien vom 17. Oktober 1991 (angeführt in Fußnote 4, Randnr. 9), vom 27. Oktober 1992 in der Rechtssache C-74/91 (Kommission/Deutschland, Slg. 1992, I-5437, Randnr. 3) und vom 23. Mai 1996 in der Rechtssache C-331/94 (Kommission/Griechenland, Slg. 1996, I-2675, Randnr. 14).

(6) - Vgl. Urteil vom 11. November 1997 in der Rechtssache C-408/95 (Eurotunnel, Slg. 1997, I-6315, Randnr. 57).

(7) - Am 5. November 1992 hatte die Kommission dem Rat einen Vorschlag für eine Richtlinie zur Änderung der Mehrwertsteuerregelung für die Personenbeförderung (KOM[92] 416 endg., ABl. C 307, S. 11) vorgelegt, der zu keinem Ergebnis führte und, da der Rat nicht darüber befunden hatte, mangels Aktualität schließlich zurückgezogen wurde, wie die Kommission selbst feststellte (ABl. C 2 vom 4. Januar 1997, S. 2).

(8) - Auf den auf andere Länder der Europäischen Union entfallenden Beförderungsteil wird Mehrwertsteuer zum Satz des betreffenden Landes erhoben.

(9) - Die belgische Regierung fragt sich außerdem, ob der Gerichtshof im Rahmen eines Vorabentscheidungsersuchens, das stark von den tatsächlichen und rechtlichen Umständen des Ausgangsrechtsstreits abhänge, über eine Auslegung bestimmter gemeinschaftsrechtlicher Vorschriften befinden könne, die zu einer Beschränkung oder gar zum Ausschluß der Befugnis des Gemeinschaftsgesetzgebers, auf diesem Gebiet Recht zu setzen, führe.

(10) - Vgl. insbesondere Urteile vom 20. März 1986 in der Rechtssache 35/85 (Tissier, Slg. 1986, 1207, Randnr. 9) und vom 1. April 1993 in der Rechtssache C-250/91 (Hewlett Packard France, Slg. 1993, I-1819, Randnr. 9).

(11) - Der Gerichtshof hat nämlich wiederholt festgestellt (siehe insbesondere Urteil vom 16. Dezember 1981 in der Rechtssache 244/80, Foglia, Slg. 1981, 3045, Randnrn. 18 bis 21), daß Artikel 177 EG-Vertrag (jetzt Artikel 234 EG) dem Gerichtshof nicht die Aufgabe zuweist, Gutachten zu allgemeinen oder hypothetischen Fragen abzugeben, sondern daß er nach dieser Vorschrift einen Beitrag zur Rechtspflege in den Mitgliedstaaten zu leisten hat. So prüft der Gerichtshof anhand der geschilderten Ausgangssituation (Sach- und Rechtslage) und der Beurteilung der Probleme, die sich dem vorlegenden Gericht im Ausgangsrechtsstreit stellen, ob eine Auslegung des Gemeinschaftsrechts wirklich erforderlich und die erbetene Auslegung für die Beilegung des bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreits nützlich ist oder ob diese Fragen in einem Rechtsstreit aufgeworfen werden, der von den Parteien anhängig gemacht wurde, um den Gerichtshof zur Stellungnahme zu bestimmten gemeinschaftsrechtlichen Fragen zu veranlassen, deren Beantwortung für die Entscheidung des Rechtsstreits nicht objektiv erforderlich ist (vgl. Urteil Foglia, Randnr. 18, Urteile vom 8. November 1990 in der Rechtssache C-231/89, Gmurzynska-Bscher, Slg. 1990, I-4003, Randnr. 23, und vom 9. März 2000 in der Rechtssache C-437/97, EKW und Weim & Co., Slg. 2000, I-1157, Randnr. 52). Nur in außergewöhnlichen Fällen hat der Gerichtshof von seiner Befugnis, eine Antwort abzulehnen, Gebrauch gemacht, wenn offensichtlich kein Zusammenhang zwischen der erbetenen Auslegung oder Prüfung der Gültigkeit einer Vorschrift des Gemeinschaftsrechts und dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits bestand (vgl. insbesondere Urteile vom 16. Juni 1981 in der Rechtssache 126/80, Salonia, Slg. 1981, 1563, Randnr. 6, und vom 11. Juli 1991 in der Rechtssache C-368/89, Crispoltoni, Slg. 1991, I-3695, Randnr. 11).

(12) - Im Urteil EKW und Weim & Co. (angeführt in Fußnote 11, Randnr. 53) hat der Gerichtshof entschieden, er brauche nicht die Frage zu beantworten, ob die Befreiung der Direktverkäufe von Wein ab Hof von der Getränkesteuer eine Beihilfe darstellt, die mit dem Gemeinschaftsrecht unvereinbar ist. In diesem Urteil hat der Gerichtshof festgestellt, daß die gestellte Frage für die Entscheidung der Ausgangsrechtsstreitigkeiten unerheblich sei, denn diese beträfen die Verpflichtung einer Reihe von Unternehmen zur Entrichtung von Getränkesteuer aufgrund der entgeltlichen Lieferung von Getränken und Speiseeis, nicht dagegen die Frage, ob die Befreiung der Ab-Hof-Verkäufe von dieser Steuer eine staatliche Beihilfe darstelle, die mit dem EG-Vertrag unvereinbar sei.

(13) - Vgl. Urteil Kerrutt (angeführt in Fußnote 2, Randnr. 17) sowie Schlussanträge des Generalanwalts Tesauro in der Rechtssache Kommission/Spanien (angeführt in Fußnote 4).

Der Gerichtshof hat im übrigen anerkannt, daß die Ermächtigung der Mitgliedstaaten, ihre bestehenden Rechtsvorschriften über den Ausschluß des Rechts zum Abzug der Mehrwertsteuer nach Artikel 17 Absatz 6 der Sechsten Richtlinie beizubehalten, so lange gilt, bis der Rat die in diesem Artikel vorgesehenen Bestimmungen erlassen hat; vgl. insbesondere Urteile vom 5. Oktober 1999 in der Rechtssache C-305/97 (Royscot u. a., Slg. 1999, I-6671, Randnrn. 29 und 30) und vom 18. Juni 1998 in der Rechtssache C-43/96 (Kommission/Frankreich, Slg. 1998, I-3903, Randnrn. 16 bis 19) sowie Schlussanträge des Generalanwalts Jacobs in dieser Rechtssache (Nrn. 20 und 21) und meine Schlussanträge in den noch beim Gerichtshof anhängigen Rechtssachen C-177/99 und C-181/99 (Ampafrance und Sanofi Synthelabo, Nrn. 24 ff.).

(14) - Vgl. insbesondere Urteile Kerrutt (angeführt in Fußnote 2, Randnr. 17) und vom 29. April 1999 in der Rechtssache C-136/97 (Norbury Developments, Slg. 1999, I-2491, Randnrn. 19 und 20), wo der Gerichtshof jedoch festgestellt hat, daß diese Bestimmung im Interesse der einheitlichen Anwendung der Sechsten Richtlinie einer Einschränkung von im Zeitpunkt ihres Inkrafttretens bestehenden Befreiungen nicht entgegensteht (Randnr. 20), sowie Urteil Kommission/Deutschland (angeführt in Fußnote 4, Randnr. 15).

(15) - Vgl. Urteile Kommission/Spanien (angeführt in Fußnote 4, Randnrn. 6 bis 9) und Kommission/Deutschland (angeführt in Fußnote 5, Randnr. 15).

(16) - Vgl. Urteil Kommission/Deutschland (angeführt in Fußnote 5, Randnrn. 25 und 26).

(17) - Vgl. Urteil Norbury Developments (angeführt in Fußnote 14, Randnr. 20).