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SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS
L. A. GEELHOED
vom 13. März 2003(1)


Rechtssache C-17/01



Finanzamt Sulingen
gegen
Walter Sudholz


(Vorabentscheidungsersuchen des Bundesfinanzhofs)

„Gültigkeit der Artikel 2 und 3 der Entscheidung 2000/186/EG des Rates vom 28. Februar 2000 zur Ermächtigung der Bundesrepublik Deutschland, von den Artikeln 6 und 17 der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage abweichende Regelungen anzuwenden – Beschränkung des Rechts auf Vorsteuerabzug bei Fahrzeugen, die nicht ausschließlich für betriebliche Zwecke genutzt werden, auf 50 % – Ermächtigung mit rückwirkender Kraft für nationale Steuermaßnahmen“






I – Verfahren

1.        Der Bundesfinanzhof hat mit Beschluss vom 30. November 2000 drei Fragen nach der Gültigkeit der Artikel 2 und 3 der Entscheidung 2000/186/EG des Rates vom 28. Februar 2000 (2) zur Ermächtigung der Bundesrepublik Deutschland, von den Artikeln 6 und 17 der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage (3) (im Folgenden: Sechste Richtlinie) abweichende Regelungen anzuwenden, zur Vorabentscheidung vorgelegt. Daraufhin haben die deutsche Regierung, die niederländische Regierung, der Rat und die Kommission schriftliche Erklärungen eingereicht. In der mündlichen Verhandlung des Gerichtshofes vom 10. Juli 2002 haben die deutsche Regierung, der Rat und die Kommission ihre Standpunkte mündlich erläutert. Am 24. Oktober 2002 habe ich in dieser Rechtssache meine Schlussanträge vorgetragen.

2.        Mit Beschluss vom 12. Dezember 2002 hat der Gerichtshof (Fünfte Kammer) die mündliche Verhandlung wieder eröffnet. Ferner sind die Parteien des Ausgangsverfahrens, die Mitgliedstaaten, der Rat der Europäischen Union und die Kommission der Europäischen Gemeinschaften gebeten worden, sich zu folgender Frage zu äußern: Wie ist Artikel 27 Absatz 1 Satz 2 der Sechsten Richtlinie auszulegen? Auf welche Weise muss insbesondere die nur unerhebliche Auswirkung der Maßnahme zum Ausdruck kommen:

–allgemein (insbesondere hinsichtlich der Mehrwertsteuer-Eigenmittel der Gemeinschaften) und gegebenenfalls nach welchen Kriterien

und/oder

–unter Berücksichtigung der individuellen Umstände und gegebenenfalls nach welchen Kriterien?

Am 30. Januar 2003 hat die mündliche Verhandlung nach der Wiedereröffnung stattgefunden. In dieser Sitzung haben die deutsche Regierung, die Regierung des Vereinigten Königreichs, der Rat und die Kommission ihre Auffassung dargelegt.

II – Beurteilung

3.        Für den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens in dieser Rechtssache und das anwendbare Gemeinschafts- und nationale Recht verweise ich auf meine Schlussanträge vom 24. Oktober 2002.

4.        In den Nummern 56 bis 59 der genannten Schlussanträge bin ich auf der Grundlage der Rechtsprechung des Gerichtshofes zu der Schlussfolgerung gelangt, dass die in Artikel 2 der Entscheidung 2000/186 erteilte Ermächtigung ungültig ist, da der Steuerpflichtigen danach keine Möglichkeit hat, nachzuweisen – wie der Gerichtshof dies in seiner Rechtsprechung ausdrücklich verlangt –, dass in seinem Fall keine Steuerhinterziehung oder -umgehung vorliegt. Gleichzeitig bin ich zu der Schlussfolgerung gelangt, dass die Ermächtigung, falls sie zugleich der Vereinfachung der Steuererhebung dienen sollte, auch gegen Artikel 27 Absatz 1 Satz 2 der Sechsten Richtlinie verstieße. Diese Vorschrift habe ich in Nummer 60 meiner Schlussanträge als eine Konkretisierung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes angesehen.

5.        In den vorliegenden ergänzenden Schlussanträgen werde ich mich strikt auf die Frage beschränken, die der Gerichtshof in seinem Beschluss nach der Auslegung von Artikel 27 Absatz 1 Satz 2 der Sechsten Richtlinie gestellt hat, in dem es heißt: „Die Maßnahmen zur Vereinfachung ... dürfen den Betrag der im Stadium des Endverbrauchs fälligen Steuern nur in unerheblichem Maße beeinflussen.“

6.        Das bestimmende Merkmal der Mehrwertsteuer, wie sie in der Sechsten Richtlinie ausgestaltet ist, besteht darin, dass sie eine Verbrauchsteuer darstellt, die unabhängig von der Zahl vorangegangener Umsätze bis zum Stadium des Endverbrauchs strikt verhältnismäßig sein muss im Hinblick auf den Preis der gelieferten Gegenstände und erbrachten Dienstleistungen. Diese steuerliche Neutralität setzt voraus, dass die Wirtschaftsteilnehmer in jedem Stadium der Produktionskette die von ihnen entrichtete oder geschuldete Mehrwertsteuer für an sie gelieferte (oder zu liefernde) Gegenstände oder Dienstleistungen zurückverlangen können. Dieses in Artikel 17 Absatz 2 Buchstabe a der Sechsten Richtlinie verankerte Recht auf Vorsteuerabzug ist daher ein Kernelement des Mehrwertsteuersystems. Eine Abschaffung oder Beschränkung dieses Rechts nimmt der Mehrwertsteuer die mit ihm angestrebte steuerliche Neutralität.

7.        In diesem Licht ist auch Artikel 27 Absatz 1 Satz 2 zu verstehen: „Die Vereinfachung der Steuererhebung darf sich auf die im Stadium des Endverbrauchs fällige Steuer nicht erheblich auswirken.“

8.        Die Kommission hat in der mündlichen Verhandlung meines Erachtens überzeugend dargelegt, dass eine Maßnahme zur Vereinfachung der Steuererhebung, die zur Folge hat oder haben kann, dass Wirtschaftsteilnehmer in der Produktionskette einen erheblichen Teil der von ihnen in den früheren Stadien der Kette entrichteten Mehrwertsteuer nicht zurückverlangen können, dazu führen wird, dass ihre Erzeugungskosten steigen. Je nach den Marktgegebenheiten wie Preiselastizität bei den im Stadium des Endverbrauchs zu liefernden Gegenständen oder zu erbringenden Dienstleistungen werden sie versuchen, einen möglichst großen Teil der von ihnen zu tragenden Steuer auf den Endverbraucher abzuwälzen. In einem solchen Fall liegt eine „erhebliche Beeinflussung des Betrages der im Stadium des Endverbrauchs fälligen Steuer“ vor.

9.        Bei einer pauschalen Beschränkung des Rechts auf Abzug der in den früheren Stadien der Produktionskette geschuldeten oder entrichteten Mehrwertsteuer auf 50 % entsteht die Situation, dass eine unbestimmte Zahl von Steuerpflichtigen strukturell nicht – mehr – imstande sein wird, die von ihnen entrichtete Vorsteuer vollständig abzuziehen. Dann wird in Wirklichkeit systematisch die Möglichkeit eröffnet, die Artikel 27 Absatz 1 Satz 2 der Sechsten Richtlinie gerade verhindern soll, nämlich die, dass die Maßnahme den Betrag der im Stadium des Endverbrauchs fälligen Steuer systematisch in erheblichem – gegebenenfalls von Fall zu Fall unterschiedlichem – Maß beeinflusst.

10.      Die Regierung des Vereinigten Königreichs hat hiergegen vorgetragen, dass eine wirtschaftliche Analyse der betreffenden pauschalen Beschränkung des Vorsteuerabzugs zu anderen Schlussfolgerungen führen könnte als die rein steuerliche Analyse, auf die die Kommission ihre Auffassung stütze. Die Möglichkeiten der Weitergabe des nichtrückforderbaren Teils der in den früheren Stadien der Kette entrichteten Mehrwertsteuer an den Endverbraucher hingen nämlich letztlich von den Marktgegebenheiten wie den Wettbewerbsverhältnissen, den Substituierungsmöglichkeiten und der Preis- und Einkommenselastizität ab. In diesem Zusammenhang wird auf die Schlussanträge der Generalanwälte Mancini und Tesauro in den Rechtssachen San Giorgio (4) und Comateb (5) verwiesen, in denen es um die Frage ging, ob bei Anträgen auf Rückzahlung von zu Unrecht erhobener Steuer berücksichtigt werden muss, in welchem Umfang die zu viel gezahlte Steuer abgewälzt werden konnte.

11.      Ohne die Ausführungen meiner Amtsvorgänger in Zweifel ziehen zu wollen – ich teile ihre Auffassung, dass Steuern auf Gegenstände und Dienstleistungen im Wirtschaftsverkehr nur ausnahmsweise vollständig abgewälzt werden können –, bin ich der Ansicht, dass das Argument der Regierung des Vereinigten Königreichs in diesem Kontext nicht stichhaltig ist. Eine pauschale Maßnahme wie die vorliegende bezieht sich auf eine große Vielfalt wirtschaftlicher Tätigkeiten mit stark divergierenden Abwälzungsmöglichkeiten. So verschieden diese Abwälzungsmöglichkeiten im Einzelfall jedoch auch sein mögen, die systematische Folge der Maßnahme ist „eine erhebliche Beeinflussung des Betrages der im Stadium des Endverbrauchs fälligen Steuer“.

12.      Ein solches Ergebnis wird vom Gemeinschaftsgesetzgeber als unverhältnismäßig im Hinblick auf das angestrebte Ziel der Maßnahme – Vereinfachung der Steuererhebung – und damit als unzulässig angesehen.

13.      Bei dieser Feststellung könnte ich es bewenden lassen, würden nicht die Regierungen Deutschlands und des Vereinigten Königreichs sowie der Rat die Ratio des Artikels 27 Absatz 1 Satz 2 der Sechsten Richtlinie vor allem in der Absicht des Gemeinschaftsgesetzgebers sehen, das Aufkommen der so genannten Mehrwertsteuermittel als eines der Eigenmittel der Gemeinschaft zu sichern. Sie berufen sich insoweit insbesondere auf die zweite Begründungserwägung der Sechsten Richtlinie, in der ausdrücklich auf den Eigenmittelbeschluss des Rates vom 21. April 1970 (6) verwiesen wird. Deshalb seien Maßnahmen zur Vereinfachung der Steuererhebung vor allem auf ihre Auswirkungen auf die Einnahmen aus der Mehrwertsteuer zu prüfen, wie diese im letzten Stadium auf dem Endverbraucher laste.

14.      Dieses Argument ist für mich nicht überzeugend. Erstens fehlt in der zweiten Begründungserwägung der Sechsten Richtlinie jede spezifische Bezugnahme auf Artikel 27 Absatz 1 Satz 2. Zweitens bezieht sich diese Begründungserwägung nach dem Gegenstand und dem Zweck der Sechsten Richtlinie, die in erster Linie eine einheitliche Grundlage für das gemeinschaftliche Mehrwertsteuersystem schaffen soll, auf den gesamten Normenkomplex, der die einheitliche Grundlage gestaltet. Daraus kann schwerlich ein Argument für die Auslegung von Artikel 27 Absatz 1 hergeleitet werden, insbesondere sicher nicht, wenn die betreffende Vereinfachungsmaßnahme zur Folge haben kann, dass die im Stadium des Endverbrauchs fällige Steuer in zweierlei Hinsicht erhöht wird: zum einen durch den Betrag, der in der Kette nicht zurückgefordert werden kann, und zum anderen durch die zusätzliche Steuer, die im Stadium des Endverbrauchs auf den höheren Endpreis anfällt.

15.      Außerdem ist das Argument, wenn es überhaupt stichhaltig sein sollte, durch die Entwicklung bei den Eigenmitteln und durch deren Zusammensetzung völlig überholt. Seit der Einführung des Eigenmittelbeschlusses 1988 (7) , durch den ein zusätzliches „viertes Eigenmittel“ eingeführt wurde, das auf das Bruttoinlandsprodukt (BIP) der Mitgliedstaaten bezogen ist, ist die Bedeutung der Mehrwertsteuer-Eigenmittel für die Finanzierung der Gemeinschaftsausgaben sowohl in absoluter als auch in relativer Hinsicht stark verringert. Dieser Trend hat sich im Eigenmittelbeschluss 1994 (8) fortgesetzt, mit dem der einheitliche Prozentsatz der Mehrwertsteuerabführungen von 1,4 % auf 1 % herabgesetzt wurde, und im Eigenmittelbeschluss 2000 (9) . Der letztgenannte Beschluss sieht eine schrittweise Verringerung der Mehrwertsteuer-Eigenmittelquelle von 1 % im Jahr 2000 über 0,75 % im Jahr 2002 auf 0,5 % im Jahr 2004 vor. Zugleich ist bestimmt, dass die zu berücksichtigende Grundlage höchstens 50 % des BIP der Mitgliedstaaten betragen darf.

16.      Abschließend bemerke ich noch, dass nach der Rechtsprechung des Gerichtshofes bei Steuermaßnahmen zur Verhinderung und Bekämpfung von Steuerhinterziehungen es der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz gebietet, dass dem Steuerpflichtigen Gelegenheit gegeben wird, den Gegenbeweis zu führen (10) . Es lässt sich schwerlich vertreten, dass bei Maßnahmen, die in erster Linie der Vereinfachung der Arbeit der nationalen Verwaltung dienen, der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz dem Steuerpflichtigen keinen solchen Schutz bieten sollte. Diese Möglichkeit verhindert nämlich, dass der Steuerpflichtige sein Recht aus Artikel 17 Absatz 2 Buchstabe a der Sechsten Richtlinie auf Vorsteuerabzug verliert. Gleichzeitig trägt sie dazu bei, dass die mit Artikel 27 Absatz 1 Satz 2 angestrebte Neutralität der Mehrwertsteuererhebung erhalten bleibt.

III – Ergebnis

17.      Nach alledem gelange ich zu dem Ergebnis, dass die Fragen, die der Gerichtshof in Punkt 2 seines Beschlusses vom 12. Dezember 2002 gestellt hat, wie folgt beantwortet werden können:

–Artikel 27 Absatz 1 Satz 2 der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage dient in erster Linie der Sicherung der Neutralität dieser Verbrauchsteuer in den verschiedenen Stadien der Produktionskette;

–daraus folgt, dass Maßnahmen zur Vereinfachung der Steuererhebung nicht systematisch die Beträge der im Stadium des Endverbrauchs fälligen Steuer beeinflussen dürfen;

–auch um dies zu verhindern, hat der Steuerpflichtige im Einzelfall den Umfang nachzuweisen, in dem er die ihm gelieferten Gegenstände und erbrachten Dienstleistungen für betriebliche Zwecke verwendet hat.


1 – Originalsprache: Niederländisch.


2 – ABl. L 59, S. 12.


3 – ABl. L 145, S. 1, zuletzt geändert durch die Richtlinie 2001/4/EG (ABl. L 22, S. 17).


4 – Schlussanträge des Generalanwalts G. F. Mancini vom 27. September 1983 in der Rechtssache 199/82 (Urteil vom 9. November 1983, San Giorgio, Slg. 1983, 3595, insbesondere 3625).


5 – Schlussanträge des Generalanwalts G. Tesauro vom 27. Juni 1996 in den Rechtssachen C-192/95 bis C-218/95 (Urteil vom 14. Januar 1997, Comateb u. a., Slg. 1997, I-165, Nrn. 21 und 22 der Schlussanträge).


6 – Beschluss 70/243/EGKS, EWG, Euratom des Rates vom 21. April 1970 über die Ersetzung der Finanzbeträge der Mitgliedstaaten durch eigene Mittel der Gemeinschaften (ABl. L 94, S. 19).


7 – Beschluss 88/376/EWG, Euratom des Rates vom 24. Juni 1988 über das System der Eigenmittel der Gemeinschaften (ABl. L 185, S. 24).


8 – Beschluss 94/728/EG, Euratom des Rates vom 31. Oktober 1994 über das System der Eigenmittel der Europäischen Gemeinschaften (ABl. L 293, S. 9).


9 – Beschluss 2000/597/EG, Euratom des Rates vom 29. September 2000 über das System der Eigenmittel der Europäischen Gemeinschaften (ABl. L 253, S. 42).


10 – Zitiert in Nrn. 58 und 59 meiner Schlussanträge vom 24. Oktober 2002.