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SCHLUSSANTRÄGE DER FRAU GENERALANWALT
CHRISTINE STIX-HACKL
vom 16. Oktober 2003(1)


Rechtssache C-152/02



Terra Baubedarf-Handel GmbH
gegen
Finanzamt Osterholz-Scharmbeck


(Vorabentscheidungsersuchen des Bundesfinanzhofs [Deutschland])

„Mehrwertsteuer – Vorsteuerabzug – Bedingungen für die Ausübung des Rechts auf Vorsteuerabzug – Rückwirkung“






I – Einleitung

1.        Das vorliegende Verfahren betrifft eine für die Praxis wichtige Frage des Mehrwertsteuerrechts. Es geht darum, ob der Vorsteuerabzug mit Wirkung für das Jahr geltend zu machen ist, in dem das Recht entsteht, oder erst für das Jahr, in dem der Unternehmer die Rechnung erhält.

II – Rechtlicher Rahmen

A – Gemeinschaftsrecht

2.        Einschlägig ist die Sechste Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern ─ Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage (2) (im Folgenden: Sechste Richtlinie).

3.        Steuertatbestand und Steueranspruch sind in Abschnitt VII der Sechsten Richtlinie geregelt. Artikel 10 Absatz 2 Unterabsatz 1 lautet:

„(2) Der Steuertatbestand und der Steueranspruch treten zu dem Zeitpunkt ein, zu dem die Lieferung des Gegenstands oder die Dienstleistung bewirkt wird. Die Lieferungen von Gegenständen ─ außer den in Artikel 5 Absatz 4 Buchstabe b bezeichneten ─ und die Dienstleistungen, die zu aufeinander folgenden Abrechnungen oder Zahlungen Anlass geben, gelten jeweils mit Ablauf des Zeitraums als bewirkt, auf die sich diese Abrechnungen oder Zahlungen beziehen.“

4.        Artikel 17 regelt Entstehung und Umfang des Rechts auf Vorsteuerabzug. Dessen Absätze 1 und 2 Buchstabe a lauten:

„(1) Das Recht auf Vorsteuerabzug entsteht, wenn der Anspruch auf die abziehbare Steuer entsteht.

(2) Soweit die Gegenstände und Dienstleistungen für Zwecke seiner besteuerten Umsätze verwendet werden, ist der Steuerpflichtige befugt, von der von ihm geschuldeten Steuer folgende Beträge abzuziehen:

1. die geschuldete oder entrichtete Mehrwertsteuer für Gegenstände und Dienstleistungen, die ihm von einem anderen Steuerpflichtigen geliefert wurden oder geliefert werden bzw. erbracht wurden oder erbracht werden,“

5.        Artikel 18 regelt Einzelheiten der Ausübung des Rechts auf Vorsteuerabzug. Dessen Absätze 1 und 2 lauten auszugsweise:

„(1) Um das Recht auf Vorsteuerabzug ausüben zu können, muss der Steuerpflichtige a) über die nach Artikel 17 Absatz 2 Buchstabe a abziehbare Steuer eine nach Artikel 22 Absatz 3 ausgestellte Rechnung besitzen;

(2) Der Vorsteuerabzug wird vom Steuerpflichtigen global vorgenommen, indem er von dem Steuerbetrag, den er für einen Erklärungszeitraum schuldet, den Betrag der Steuer absetzt, für die das Abzugsrecht entstanden ist und wird nach Absatz 1 während des gleichen Zeitraums ausgeübt.

Die Mitgliedstaaten können jedoch den Steuerpflichtigen, die die in Artikel 4 Absatz 3 genannten Umsätze nur gelegentlich bewirken, vorschreiben, dass sie das Abzugsrecht erst zum Zeitpunkt der Lieferung ausüben.“

6.        Artikel 22 lautet auszugsweise:

„(3) a) Jeder Steuerpflichtige hat für Lieferungen von Gegenständen und Dienstleistungen, die er an einen anderen Steuerpflichtigen bewirkt, eine Rechnung oder ein an deren Stelle tretendes Dokument auszustellen und ein Doppel dieser Dokumente aufzubewahren.

Ebenso hat jeder Steuerpflichtige für die Vorauszahlungen, die er von einem anderen Steuerpflichtigen erhält, bevor die Lieferung oder Dienstleistung bewirkt ist, eine Rechnung auszustellen.

...

a)Die Mitgliedstaaten legen die Kriterien fest, nach denen ein Dokument als Rechnung betrachtet werden kann.

(4) Jeder Steuerpflichtige hat innerhalb eines Zeitraums, der von den einzelnen Mitgliedstaaten festzulegen ist, eine Steuererklärung abzugeben. Dieser Zeitraum darf zwei Monate vom Ende jedes einzelnen Steuerzeitraums an gerechnet nicht überschreiten. Der Steuerzeitraum kann von den Mitgliedstaaten auf einen, zwei oder drei Monate festgelegt werden. Die Mitgliedstaaten können jedoch andere Zeiträume festlegen, sofern diese ein Jahr nicht überschreiten.

Die Steuererklärung muss alle für die Festsetzung des geschuldeten Steuerbetrags und der vorzunehmenden Vorsteuerabzüge erforderlichen Angaben enthalten, gegebenenfalls einschließlich des Gesamtbetrags der sich auf diese Steuer und Abzüge beziehenden Umsätze sowie des Betrags der steuerfreien Umsätze, soweit dies für die Festlegung der Bemessungsgrundlage erforderlich ist.

(5) Jeder Steuerpflichtige hat bei der Abgabe der periodischen Steuererklärung den sich nach Vornahme des Vorsteuerabzugs ergebenden Mehrwertsteuerbetrag zu entrichten. Die Mitgliedstaaten können jedoch einen anderen Termin für die Zahlung dieses Betrags festsetzen oder vorläufige Vorauszahlungen erheben.

(6) Die Mitgliedstaaten können von dem Steuerpflichtigen verlangen, dass er eine Erklärung über sämtliche Geschäftsvorfälle des vorangegangenen Jahres mit allen Angaben nach Absatz 4 abgibt. Diese Erklärung muss auch alle Angaben enthalten, die für etwaige Berichtigungen von Bedeutung sind.“

B – Nationales Recht

7.        Von den nationalen Rechtsvorschriften ist das Umsatzsteuergesetz 1999 (UStG) anwendbar. § 15 UStG bestimmt unter der Überschrift „Vorsteuerabzug“ in Absatz 1 Nr. 1:

„Der Unternehmer kann die folgenden Vorsteuerbeträge abziehen:

1. die in Rechnungen im Sinne des § 14 gesondert ausgewiesene Steuer für Lieferungen oder sonstige Leistungen, die von anderen Unternehmern für sein Unternehmen ausgeführt worden sind. Soweit der gesondert ausgewiesene Steuerbetrag auf eine Zahlung vor Ausführung dieser Umsätze entfällt, ist er bereits abziehbar, wenn die Rechnung vorliegt und die Zahlung geleistet worden ist.“

8.       § 16 Absatz 1 Sätze 2 und 3 UStG lautet:

„Besteuerungszeitraum ist das Kalenderjahr. Bei der Berechnung der Steuer ist von der Summe der Umsätze nach § 1 Abs. 1 Nr. 1 bis 3 und 5 auszugehen, soweit für sie die Steuer in dem Besteuerungszeitraum entstanden und die Steuerschuldnerschaft gegeben ist.“

9.       § 16 Absatz 2 Satz l UStG lautet:

„Von der nach Absatz 1 berechneten Steuer sind die in den Besteuerungszeitraum fallenden, nach § 15 abziehbaren Vorsteuerbeträge abzusetzen.“

10.      Die Umsatzsteuer-Richtlinien 2000 bestimmen in Abschnitt 192 Absatz 2 Satz 4:

„... Fallen Empfang der Leistung und Empfang der Rechnung zeitlich auseinander, so ist der Vorsteuerabzug für den Besteuerungszeitraum zulässig, in dem erstmalig beide Voraussetzungen erfüllt sind ... “

11.      Nach der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs entsteht der Anspruch auf Abzug der Vorsteuer in dem Veranlagungszeitraum, in dem die Anspruchsvoraussetzungen im Sinne des § 15 Absatz 1 Nr. 1 UStG insgesamt vorliegen. Zu diesen Voraussetzungen gehört eine Rechnung mit gesondertem Umsatzsteuerausweis. Demzufolge könnte Terra den streitigen Vorsteuerabzug für das Streitjahr 1999, in dem ihr die dazugehörigen Rechnungen noch nicht vorlagen, nicht (rückwirkend) geltend machen.

III – Sachverhalt, Ausgangsverfahren und Vorlagefrage

12.      Terra Baubedarf-Handel GmbH (im Folgenden: Terra) begehrt, die Umsatzsteuerfestsetzung für 1999 (Streitjahr) dahin zu ändern, dass weitere Vorsteuerbeträge in Höhe von 3 248,10 DM als abziehbar anerkannt werden. Die zugrunde liegenden Leistungen bezog Terra im Jahr 1999. Die dazu gehörenden Rechnungen wurden im Dezember 1999 ausgestellt, gingen aber erst im Januar 2000 bei Terra ein.

13.      Das Finanzamt Osterholz-Scharmbeck erkannte den Vorsteuerabzug aus diesen Rechnungen im Streitjahr nicht an. Es begründete dies mit dem Wortlaut des § 15 Absatz 1 Nr. 1 des UStG. Voraussetzung für den Vorsteuerabzug sei danach der Bezug der Lieferung oder sonstigen Leistung und der Erhalt einer entsprechenden Rechnung. Wenn der Empfang der Leistung und der Empfang der Rechnung in verschiedene Besteuerungszeiträume fielen, sei entsprechend der Anweisung in Abschnitt 192 Absatz 2 Satz 4 der Umsatzsteuer-Richtlinien 2000 der Vorsteuerabzug für den Besteuerungszeitraum zulässig, in dem erstmalig beide Voraussetzungen erfüllt seien. Dies sei das Veranlagungsjahr 2000, weil Terra die Rechnungen erst im Jahr 2000 erhalten habe.

14.      Einspruch und Klage hatten keinen Erfolg. Das Finanzgericht folgte der Auffassung des Finanzamts. Mit der vom Finanzgericht wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zugelassenen Revision macht Terra im Wesentlichen geltend: Das angefochtene Urteil schränke ihren Anspruch auf Abzug der ihr in Rechnung gestellten Vorsteuerbeträge zu Unrecht zeitlich ein. Es verstoße damit gegen die Sechste Richtlinie. Terra beantragt sinngemäß, unter Aufhebung der Vorentscheidung und der angefochtenen Bescheide bei der Umsatzsteuerfestsetzung 1999 weitere Vorsteuerbeträge in Höhe von 3 248,10 DM zum Abzug zuzulassen.

15.      Der Bundesfinanzhof hat Zweifel, ob diese nationale Rechtslage im Einklang mit dem Gemeinschaftsrecht und der Rechtslage in den übrigen Mitgliedstaaten betreffend das Recht auf Vorsteuerabzug steht.

16.      Einerseits habe der Gerichtshof entschieden, dass der Steuerpflichtige nach der Sechsten Richtlinie das „Recht auf sofortigen Abzug“ habe. Andererseits betreffe Artikel 17 nur das Bestehen des Rechts auf Vorsteuerabzug, während die Voraussetzungen für die Ausübung in Artikel 18 geregelt seien.

17.      Zwar habe der Bundesfinanzhof keine Zweifel, dass im Streitfall das Recht der Klägerin auf Vorsteuerabzug gemäß Artikel 17 der Sechsten Richtlinie im Jahr 1999 entstanden ist und es gemäß Artikel 18 erst im Jahr 2000 nach Rechnungserhalt ausgeübt werden durfte. Zweifelhaft ist aber, ob dieses Recht auf Vorsteuerabzug bereits mit Wirkung für den Besteuerungszeitraum 1999 geltend gemacht werden darf bzw. muss. Artikel 18 Absatz 1 Buchstabe a der Sechsten Richtlinie könnte so auszulegen sein, dass diese Bestimmung nur die Voraussetzungen der Ausübung des Rechts auf Vorsteuerabzug regelt, aber nichts darüber besagt, für welchen Besteuerungszeitraum der Vorsteuerabzug geltend zu machen ist bzw. geltend gemacht werden darf.

18.      Aus diesem Grund hat der Bundesfinanzhof mit Beschluss vom 21. März 2002 das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Vorlagefrage zur Vorabentscheidung vorgelegt:

Kann der Steuerpflichtige das Recht auf Vorsteuerabzug nur mit Wirkung für das Kalenderjahr ausüben, in dem er gemäß Artikel 18 Absatz 1 Buchstabe a der Richtlinie 77/388/EWG die Rechnung besitzt oder gilt die Ausübung des Rechts auf Vorsteuerabzug stets für das Kalenderjahr (auch rückwirkend), in dem das Recht auf Vorsteuerabzug gemäß Artikel 17 Absatz 1 der Richtlinie 77/388/EWG entsteht?

IV – Zur Vorlagefrage

A – Wesentliche Vorbringen der Beteiligten

19.      Alle Beteiligten gehen von der Unterscheidung zwischen der Entstehung und der Ausübung des Rechts auf Vorsteuerabzug aus. Des Weiteren ist unstreitig, dass für die Ausübung des Rechts der Besitz der Rechnung oder eines an deren Stelle tretenden Dokuments erforderlich ist.

20.     Terra vertritt die Auffassung, dass das Recht auf Ausübung des Vorsteuerabzugs Wirkung für den Veranlagungszeitraum entfalte, in dem das Recht auf Abzug entstanden sei. Aus dem Grundsatz der steuerlichen Neutralität folge, dass der Abzug für den gleichen Zeitraum, nämlich den der Entstehung, zu gewähren sei. Ansonsten käme es durch die Kreditierung zugunsten des Fiskus zu einer Belastung für den Steuerpflichtigen. Desgleichen werde eine zufallsbedingte Beeinträchtigung der steuerlichen Neutralität vermieden.

21.      Der Sofortabzug könne technisch nur mittels Rückwirkung gewährleistet werden. Diese Rückwirkung zu versagen, wäre unverhältnismäßig. Im Übrigen fehle es an einer entsprechenden Ermächtigung der Mitgliedstaaten. Schließlich schütze die Rückwirkung den Steuerpflichtigen vor fremdbestimmten Beeinträchtigungen, wie zwischenzeitlichen Änderungen der Rechtslage oder dem Umstand, dass der Aussteller der Rechnung deren Datum bestimmen könne.

22.      Auch die anderen Sprachfassungen seien nicht viel klarer und schlössen die Rückwirkung nicht aus. In bestimmten Mitgliedstaaten, und zwar in Dänemark und Schweden, werde sie auch gewährt.

23.      Die Problematik der Versagung stelle sich auch bei der Erstattung anderer Steuern. Sofern sie sich aus nationalem Verfahrensrecht ergebe, sei zu fragen, ob dieses nicht gemeinschaftsrechtswidrig sei.

24.      Auch die in der Praxis auftretenden Schwierigkeiten sprächen nicht gegen die Rückwirkung. Die Rückwirkung müsste auch nicht ausdrücklich vorgesehen sein. Das gelte vielmehr für deren Ausschluss.

25.      Somit kommt Terra zum Ergebnis, dass die Ausübung des Rechts auf Vorsteuerabzug stets für den Zeitraum gilt, in dem das Recht entstanden ist.

26.      Demgegenüber vertreten die anderen Beteiligten die Auffassung, dass der Zeitraum, für den der Abzug geltend zu machen sei, mit dem Erklärungszeitraum und nicht mit dem Zeitraum zusammenfalle, in dem das Recht auf Vorsteuerabzug entstehe.

27.      Die deutscheRegierung sowie die Kommission begründen das mit dem Wortlaut von Artikel 18 Absatz 2 der Sechsten Richtlinie. Wegen der Unklarheit der deutschen Sprachfassung greifen sie auf andere Sprachfassungen zurück.

28.      Die deutsche Regierung begründet das Zusammenfallen der beiden Zeiträume ferner mit systematischen Überlegungen. So stünde ein rückwirkender Vorsteuerabzug in Konflikt mit dem Grundsatz der steuerlichen Neutralität, worauf auch die französische Regierung hinweist. Denn bei Rückwirkung wäre in bestimmten Fällen der Abzug der Vorsteuer zu versagen.

29.      Die Kommission wiederum tritt der Auffassung von Terra entgegen, dass der Grundsatz der Neutralität sowie der Verhältnismäßigkeit die Rückwirkung erforderten. Auch eine zwischen Entstehung und Ausübung des Rechts auf Vorsteuerabzug eingetretene Rechtsänderung stelle kein Problem dar, weil das einmal entstandene Recht auf Abzug dadurch nicht entzogen werden könne.

30.      Des Weiteren weisen die deutsche und die französischeRegierung sowie die Kommission auf die mit der Rückwirkung verbundenen negativen Auswirkungen auf die Kontrollierbarkeit des Mehrwertsteuersystems hin. Die deutsche Regierung spricht sich auch gegen ein Wahlrecht des Erklärenden aus.

31.      Nach Auffassung der Kommission müsste die Rückwirkung ausdrücklich vorgesehen sein.

B – Würdigung

32.      Zunächst ist auf die auch in der Rechtsprechung des Gerichtshofes (3) deutlich gemachte Unterscheidung zwischen dem in Artikel 17 der Sechsten Richtlinie normierten Bestehen des Rechts auf Vorsteuerabzug und der Ausübung dieses Rechts hinzuweisen, deren Voraussetzungen in Artikel 18 geregelt sind.

33.      Diese Unterscheidung wurde, wie der Bundesfinanzhof zu Recht ausführt, erst durch die Sechste Richtlinie eingeführt. § 15 Absatz 1 UStG geht jedoch noch auf eine Vorgängerrichtlinie, nämlich die Zweite Richtlinie 67/228/EWG des Rates vom 11. April 1967 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern ─ Struktur und Anwendungsmodalitäten des gemeinsamen Mehrwertsteuersystems (4) zurück und wurde auch nicht an die Artikel 17 und 18 der Sechsten Richtlinie angepasst.

34.      Das Recht auf Vorsteuerabzug entsteht gemäß Artikel 17 Absatz 1 der Sechsten Richtlinie, wenn der Anspruch auf die abziehbare Steuer entsteht. Nach Artikel 10 Absatz 2 der Sechsten Richtlinie ist das der Fall, sobald die Lieferung des Gegenstands oder die Dienstleistung an den vorsteuerabzugsberechtigten Steuerpflichtigen bewirkt wird (5) .

35.      Während also das Recht auf Vorsteuerabzug mit Erbringung der Leistung entsteht, kann es gemäß Artikel 18 Absatz 1 der Sechsten Richtlinie erst ausgeübt werden, wenn der Steuerpflichtige eine Rechnung oder ein an deren Stelle tretendes Dokument besitzt (6) .

36.      Um den in diesem Vorabentscheidungsverfahren maßgeblichen Zeitraum zu ermitteln, nämlich den Zeitraum, für den der Vorsteuerabzug geltend gemacht werden kann oder geltend zu machen ist, ist vom Wortlaut von Artikel 18 der Sechsten Richtlinie auszugehen.

37.      Diesbezüglich haben mehrere Beteiligte zu Recht auf die Mehrdeutigkeit der deutschen Fassung von Artikel 18 Absatz 2 hingewiesen. Nach einer Auslegung könnte der Verweis auf Absatz 1 so zu verstehen sein, dass der Steuerpflichtige für die Ausübung des Rechts auf Vorsteuerabzug zwar auf die Rechnung warten muss, den Abzug jedoch rückwirkend geltend machen kann. Nach einer anderen Auslegung sei der Vorsteuerabzug für den Zeitraum der Erklärung auszuüben, d. h. für den Zeitraum, in dem der Steuerpflichtige in den Besitz der Rechnung gelangt.

38.      Keine rechtliche Bedeutung für die Auslegung einer Richtlinie können die von den Mitgliedstaaten getroffenen Umsetzungsmaßnahmen entfalten. Denn das würde zum Gegenteil dessen führen, was der Grundsatz der richtlinienkonformen Auslegung gebietet.

39.      Angesichts dieser Unklarheit von Artikel 18 Absatz 2 der Sechsten Richtlinie in der Fassung der Sprache des Ausgangsverfahrens und damit auch dieses Vorabentscheidungsverfahrens ist auf die anderen Sprachfassungen zurückzugreifen. In solchen Konstellationen orientiert sich der Gerichtshof dabei an den zur Zeit des Erlasses der Sechsten Richtlinie verbindlichen Sprachfassungen der auszulegenden Vorschriften (7) .

40.      In Bezug auf Artikel 18 der Sechsten Richtlinie sind das ─ abgesehen von der deutschen Fassung ─ die dänische, englische, französische, italienische und niederländische Fassung. Diese Sprachfassungen legen nahe, dass für die Ausübung beide Voraussetzungen vorzuliegen haben: Entstehen des Rechts und Besitz der Rechnung. Zwischen dem Zeitraum der Erklärung und dem Zeitraum, für den der Abzug geltend gemacht wird, besteht also eine zeitliche Konkordanz oder Koinzidenz.

41.      Für die Rückwirkung und dagegen, dass ein Steuerpflichtiger das Recht auf Vorsteuerabzug nur mit Wirkung für den Zeitraum ausüben kann, in dem er in den Besitz der Rechnung gelangt, d. h. für den Erklärungszeitraum, könnte jedoch die Rechtsprechung des Gerichtshofes (8) sprechen, wonach das Recht auf Vorsteuerabzug sofort ausgeübt werden kann.

42.      Dafür, dass sich diese Unverzüglichkeit nicht nur auf die Entstehung des Rechts, sondern auch auf deren Ausübung bezieht, sprechen einmal die diese Rechtsprechung bildenden Urteile. Denn in diesen Urteilen hat der Gerichtshof ausdrücklich die Artikel 17 ff. angeführt, d. h. nicht nur die Regelung über die Entstehung des Rechts auf Vorsteuerabzug, sondern auch die über die Ausübung.

43.      Die Rückwirkung kann so als ein ─ nicht unwesentlicher ─ Teilaspekt des Grundsatzes der sofortigen Ausübung angesehen werden. Denn dem Kriterium „sofort“ wird dann eher entsprochen, wenn sich die Wirkungen des Abzugs auf den Zeitraum der Entstehung und nicht auf einen späteren Zeitraum, nämlich den der Erklärung, beziehen.

44.      Des Weiteren ist die Frage der Rückwirkung im Lichte des Grundsatzes der steuerlichen Neutralität zu untersuchen, dem nach der Rechtsprechung des Gerichtshofes (9) auch im Zusammenhang mit dem Vorsteuerabzug Bedeutung zukommt. Der Grundsatz der Neutralität in seiner hier maßgeblichen Anwendungsform, nämlich in Bezug auf Eingangsumsätze, wäre dann verletzt, wenn der Vorsteuerabzug ausgeschlossen oder gemindert wäre. Es besteht somit ein Gebot zur Entlastung. Diesem Gebot entspricht grundsätzlich auch ein Vorsteuerabzug ohne Rückwirkung, d. h. mit Wirkung für den Erklärungszeitraum. Der Grundsatz der Neutralität ist jedoch so zu verstehen, dass er nicht irgendeine Entlastung verlangt, sondern eine vollständige. Demgemäß wäre der Grundsatz der Neutralität verletzt, wenn der Steuerpflichtige nicht von jeder Belastung durch nicht geschuldete Mehrwertsteuer freigestellt würde.

45.      Wird keine Rückwirkung gewährt, führt das zu einer Kreditierung durch den Steuerpflichtigen. Von dieser Belastung würde der Steuerpflichtige bei Ausschluss der Rückwirkung jedoch nicht entlastet. In dem Maße, in dem der Steuerpflichtige aber nicht entlastet wird, wäre der Grundsatz der Neutralität verletzt, der eben die vollständige Entlastung des Steuerpflichtigen erfordert.

46.      Hinsichtlich der von der deutschen Regierung angesprochenen Versagung des Steuerabzugs in bestimmten Fällen der Rückwirkung ist, wie Terra zu Recht ausführt, darauf hinzuweisen, dass dies eine Konsequenz des nationalen Verfahrensrechts ist und sich nicht aus dem Gemeinschaftsrecht ergibt. Bewirkt das nationale Verfahrensrecht die Versagung des Steuerabzugs aber in Fällen, in denen das vom Gemeinschaftsrecht weder ausdrücklich vorgesehen ist noch in der Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten Deckung findet, wären solche verfahrensrechtlichen Vorschriften entsprechend anzupassen.

47.      Zu der Frage, ob die Rückwirkung oder deren Ausschluss in der Richtlinie ausdrücklich vorgesehen sein müsste, ist zu bemerken, dass damit gemeint ist, ob die Mitgliedstaaten für die Festlegung der Rückwirkung einer Ermächtigung bedürften. Diese Frage stellt sich jedoch nur für den Fall, dass sich die Rückwirkung nicht schon aus der Auslegung von ausdrücklich normierten gemeinschaftsrechtlichen Regelungen ergibt.

48.      Die in diesem Zusammenhang zitierte Rechtsprechung des Gerichtshofes über die Grenzen der Mitgliedstaaten hinsichtlich der Festlegung bestimmter Voraussetzungen für die Ausübung des Rechts auf Vorsteuerabzug ist auf den vorliegenden Fall jedenfalls nicht übertragbar.

49.      Das Urteil in den verbundenen Rechtssachen Gabalfrisa u. a. betraf nämlich eine nationale Regelung, wonach die Ausübung des Rechts auf Abzug von einem Antrag und der Einhaltung einer bestimmten Frist abhängig gemacht wird und bei Nichterfüllung dieser Voraussetzungen der Steuerpflichtige das Recht verliert oder es erst vom tatsächlichen Beginn der gewohnheitsmäßigen Vornahme der steuerbaren Umsätze ausüben kann (10) . In jenem Verfahren handelte es sich also um Voraussetzungen, die ein Mitgliedstaat zusätzlich zu den in der Sechsten Richtlinie festgelegten Voraussetzungen normierte.

50.      Demgegenüber geht es im vorliegenden Verfahren um die Anwendung von Voraussetzungen, die die Sechste Richtlinie selbst festlegt. Für Voraussetzungen, die in einer Richtlinie normiert sind, bedarf ein Mitgliedstaat keiner zusätzlichen Ermächtigung. Im Gegenteil: Er ist sogar verpflichtet, alle Voraussetzungen in das nationale Recht umzusetzen und auch anzuwenden.

51.      Würde man die Geltendmachung des Rechts auf Vorsteuerabzug mit Wirkung für den Zeitraum, in dem die Leistung erbracht wurde, zulassen, käme das, wie auch vorgebracht, einer Rückwirkung gleich. Diese fände in der Berichtigung des für diesen Zeitraum erlassenen Steuerbescheids ihren Ausdruck.

52.      Die in diesem Zusammenhang angesprochenen bzw. befürchteten praktischen Schwierigkeiten sind solche, die sich auch bei anderen Fällen einer Berichtigung stellen. Berichtigungen stellen allerdings ein im Steuerrecht durchaus übliches Instrument dar. Dass es dadurch zu Belastungen der Steuerverwaltung wie der betroffenen Steuerpflichtigen kommt, stellt keine Besonderheit des Vorsteuerabzugs dar.

53.      Insgesamt vermögen weder das Argument betreffend eventueller praktischer Schwierigkeiten noch das Argument, wonach eine Rückwirkung ausdrücklich vorgesehen sein müsste, zu überzeugen.

54.      Angesichts des im streitigen Punkt nicht klaren Wortlauts von Artikel 18 der Sechsten Richtlinie ist auf den Grundsatz der steuerlichen Neutralität und das damit verbundene Gebot der vollständigen Entlastung zurückzugreifen. Aus diesen ergibt sich, dass das Recht auf Vorsteuerabzug mit Wirkung für den Zeitraum auszuüben ist, in dem das Recht auf Vorsteuerabzug entstanden ist, da nur so die vollständige Entlastung gewährleistet werden kann.

V – Ergebnis

55.      Nach alldem wird dem Gerichtshof vorgeschlagen, auf die Vorlagefrage wie folgt zu antworten:

Artikel 18 der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern ─ Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerliche Bemessungsgrundlage ist dahin auszulegen, dass das Recht auf Vorsteuerabzug mit Wirkung für das Kalenderjahr auszuüben ist, in dem das Recht auf Vorsteuerabzug gemäß Artikel 17 Absatz 1 der Sechsten Richtlinie entsteht.


1 – Originalsprache: Deutsch.


2 – ABl. L 145, S. 1, mehrfach geändert.


3 – Urteil vom 8. November 2001 in der Rechtssache C─338/98 (Kommission/Niederlande, Slg. 2001, I─8265, Randnr. 71).


4 – ABl. 1967, Nr. 71, S. 1303.


5 – Urteil vom 8. Juni 2000 in der Rechtssache C─400/98 (Breitsohl, Slg. 2000, I─4321, Randnr. 36).


6 – Urteile vom 14. Juli 1988 in den verbundenen Rechtssachen 123/87 und 330/87 (Jeunehomme u. a., Slg. 1988, 4517, Randnr. 14) und vom 5. Dezember 1996 in der Rechtssache C─85/95 (Reisdorf, Slg. 1996, I─6257, Randnr. 22).


7 – Urteil in der Rechtssache C─85/95 (zitiert in Fußnote 6), Randnr. 22.


8 – Urteile vom 11. Juli 1991 in der Rechtssache C─97/90 (Lennartz, Slg. 1991, I─3795, Randnr. 27), vom 6. Juli 1995 in der Rechtssache C─62/93 (BP Soupergaz, Slg. 1995, I─1883, Randnr. 18), vom 21. März 2000 in den verbundenen Rechtssachen C─110/98 bis C─147/98 (Gabalfrisa u. a., Slg. 2000, I─1577, Randnr. 47) und in der Rechtssache C─400/98 (zitiert in Fußnote 5), Randnr. 34.


9 – Siehe dazu nur die Urteile vom 14. Februar 1985 in der Rechtssache 268/83 (Rompelman, Slg. 1985, 655, Randnr. 23), vom 29. Februar 1996 in der Rechtssache C─110/94 (INZO, Slg. 1996, I─857, Randnr. 16), in den verbundenen Rechtssachen C─110/98 bis C─147/98 (zitiert in Fußnote 8), Randnr. 45, und in der Rechtssache C─400/98 (zitiert in Fußnote 5), Randnr. 37.


10 – Urteil in den verbundenen Rechtssachen C─110/98 bis C─147/98 (zitiert in Fußnote 8), Randnrn. 53 ff.