SCHLUSSANTRÄGE DER FRAU GENERALANWALT
CHRISTINE STIX-HACKL
vom 10. Juli 2003(1)
Rechtssache C-320/02 Förvaltnings AB StenholmengegenRiksskatteverket
(Vorabentscheidungsersuchen des Regeringsrätt [Schweden])
„Mehrwertsteuer – Begriff des Gebrauchtgegenstandes – Lebende Tiere – Ausbildung von Pferden“
I – Einleitung
1.
Das vorliegende Vorabentscheidungsverfahren betrifft die Auslegung der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17. Mai
1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern ─ Gemeinsames Mehrwertsteuersystem:
einheitliche steuerliche Bemessungsgrundlage (im Folgenden: Sechste Richtlinie). Dabei geht es um die Frage, ob lebende Tiere
im Allgemeinen und Pferde im Besonderen als Gebrauchtgegenstände angesehen werden können.
II – Rechtlicher Rahmen
A –
Gemeinschaftsrecht
2.
Einschlägig ist hier die Bestimmung von Artikel 26a der Sechsten Richtlinie. Diese Vorschrift, die durch die Richtlinie 94/5/EG
(2)
eingefügt wurde, trägt den Titel „Sonderregelung für Gebrauchtgegenstände, Kunstgegenstände, Sammlungsstücke oder Antiquitäten“.
3.
Artikel 26a Teil B legt eine Sonderregelung für steuerpflichtige Wiederverkäufer fest. Danach unterliegen Lieferungen u. a.
von Gebrauchtgegenständen durch steuerpflichtige Wiederverkäufer einer Differenzbesteuerung. Die zu besteuernde Differenz
entspricht dabei dem Unterschied zwischen dem Wiederverkaufspreis und dem Einstandspreis. Erfasst werden Gebrauchtgegenstände,
die dem Wiederverkäufer etwa von einem Nichtsteuerpflichtigen geliefert werden.
4.
Artikel 26a Teil A enthält eine Reihe von Legaldefinitionen. Die Legaldefinition des Begriffes „Gebrauchtgegenstände“ findet
sich in Artikel 26a Teil A Buchstabe d. Sie lautet:
„ ,Gebrauchtgegenstände‘ bewegliche körperliche Gegenstände, die keine Kunstgegenstände, Sammlungsstücke oder Antiquitäten
und Edelmetalle oder Edelsteine gemäß der Definition der Mitgliedstaaten sind und die in ihrem derzeitigen Zustand oder nach
Instandsetzung erneut verwendbar sind;“
B –
Nationales Recht
5.
In Kapitel 9 a des Mervärdeskattelag (1994:200) (im Folgenden: Mehrwertsteuergesetz) finden sich besondere Bestimmungen über
Gebrauchtgegenstände, Kunstgegenstände, Sammlungsstücke und Antiquitäten. Gebrauchtgegenstände sind gemäß Kapitel 9 a § 4
Gegenstände, die in Gebrauch waren oder die ─ mit bestimmten, in dieser Rechtssache nicht anwendbaren Ausnahmen ─ in ihrem
derzeitigen Zustand oder nach Instandsetzung erneut verwendbar sind.
6.
Die Vorschriften in Kapitel 9 a Mehrwertsteuergesetz sind als Anpassung an die gemeinschaftsrechtlichen Vorschriften auf diesem
Gebiet abgefasst.
III – Sachverhalt, Ausgangsverfahren und Vorlagefragen
7.
Die Förvaltnings AB Stenholmen (im Folgenden: Stenholmen) beabsichtigt, junge Pferde von Privatpersonen zu erwerben, um sie
zu Reitpferden auszubilden und dann weiterzuverkaufen. Um sich Klarheit über die steuerlichen Konsequenzen der geplanten Tätigkeit
zu verschaffen, richtete Stenholmen folgende Frage an den Skatterättsnämnd:
Ist ein Pferd ─ das als unausgebildetes junges Pferd von einer Privatperson (die kein Züchter ist) erworben und nach der Ausbildung
zum Reitpferd verkauft wird ─ zum Verkaufszeitpunkt als Gebrauchtgegenstand anzusehen, sodass die Vorschriften über die Differenzbesteuerung
Anwendung finden können?
8.
Der Skatterättsnämnd verneinte die Frage durch einen Vorbescheid vom 12. November 2001, der auf folgende Gründe gestützt war:
9.
Kapitel 9 a Mehrwertsteuergesetz enthalte Vorschriften über die so genannte Differenzbesteuerung des Umsatzes eines steuerpflichtigen
Wiederverkäufers u. a. mit Gebrauchtgegenständen. Gebrauchtgegenstände seien gemäß § 4 Gegenstände, die in Gebrauch gewesen
oder die in ihrem derzeitigen Zustand oder nach Instandsetzung erneut verwendbar seien, ausgenommen, vereinfacht ausgedrückt,
Grundstücke, Kunstgegenstände, Sammlungsstücke oder Antiquitäten sowie Gegenstände, die ganz oder zu einem wesentlichen Teil
aus Gold, Silber oder Platin bestünden, einschließlich ungefasste natürliche oder synthetische Edelsteine. Kunstgegenstände,
Sammlungsstücke und Antiquitäten, auf die die Bestimmungen des Kapitels 9 a gleichfalls anwendbar seien, seien Gegenstand
eigener Definitionen in den folgenden §§ 5 bis 7. Steuerpflichtiger Wiederverkäufer sei gemäß § 8 Absatz 1 ein Steuerpflichtiger,
der im Rahmen seiner gewerblichen Tätigkeit Gebrauchtgegenstände, Kunstgegenstände, Sammlungsstücke oder Antiquitäten zum
Zwecke des Wiederverkaufs kaufe oder einführe.
10.
Gegenstände seien gemäß Kapitel 1 § 6 Mehrwertsteuergesetz materielle Dinge, u. a. Grundstücke und Gas einschließlich Wärme,
Kälte und elektrische Energie. Lebende Tiere seien laut Skatterättsnämnd nach dieser Definition Gegenstände im Sinne der Mehrwertsteuer.
Im vorliegenden Fall stelle sich jedoch die Frage, ob Pferde, die erworben worden seien, um sie ─ nach einer gewissen Dressur
─ wieder zu verkaufen, Gebrauchtgegenstände seien, auf die die Vorschriften über die Differenzbesteuerung angewandt werden
könnten. Gegenstände, wie z. B. Inventar, die zur Verwendung bei einer Tätigkeit bestimmt seien, fielen nicht darunter, da
kein Wiederverkauf beabsichtigt sei.
11.
Der Definition des Begriffes „Gebrauchtgegenstand“ sei zu entnehmen, dass der Gegenstand, abgesehen davon, dass er in Gebrauch
gewesen sei, in seinem derzeitigen Zustand oder nach Instandsetzung erneut verwendbar sei. Die Eigenschaft des Gegenstands
als einen gebrauchten dürfte damit definitionsgemäß beim Erwerb des Gegenstands durch den ─ späteren ─ Wiederverkäufer zu
beurteilen sein. Dies könne auch den Bestimmungen entnommen werden, in denen der Begriff des steuerpflichtigen Wiederverkäufers
definiert werde. Der Gegenstand werde somit in demselben Zustand weiterverkauft, in dem er erworben worden sei, oder ─ so
dürfe wohl vorausgesetzt werden ─ wenn er kaputt sei und ihm daher eine für den Gegenstand normale und erwartete Funktion
fehle, nachdem er durch Instandsetzung wieder verwendbar gemacht worden sei.
12.
Daraus folge offenbar, dass der Gegenstand vor seinem Wiederverkauf, solange er im Besitz des Wiederverkäufers gewesen sei,
nicht auf andere Weise als durch Instandsetzung oder Ähnliches Eigenschaften erhalten haben dürfe, die seinen Wert beeinflussten.
Dies müsse unabhängig davon gelten, ob die Eigenschaften durch einen biologischen Vorgang oder auf andere Weise hinzukämen.
Lebende Organismen, die wüchsen, machten, unabhängig davon, ob es sich um Tiere oder um Pflanzen handle, in ihrem Leben Veränderungen
solcher Art durch, dass sie in mehr oder minder großem Ausmaß ständig neue Eigenschaften erhielten, die ihren Wert beeinflussen
könnten.
13.
Darüber hinaus sei zu beachten, dass, abgesehen von dem Begriff „Gebrauchtgegenstand“, kein Zweifel daran bestehe, dass bei
Gegenständen im Sinne von Kapitel 9 a Mehrwertsteuergesetz von toten Sachen auszugehen sei, die, mit Ausnahme bestimmter Sammlungsstücke,
„hergestellt“ worden seien. Im normalen Sprachgebrauch dürfte der Begriff des Gebrauchtgegenstandes solchen Sachen vorbehalten
sein und sich nicht auf lebende Organismen erstrecken. Auch das Wort Instandsetzung deute an, dass es um etwas gehe, das hergestellt
worden sei und dessen Funktion durch die Instandsetzung wiederhergestellt werde.
14.
Angesichts dessen sowie der Tatsache, dass dem Tier außerdem im vorliegenden Fall Fertigkeiten von Reitpferden vermittelt
würden, die es zuvor nicht oder jedenfalls beim Erwerb durch Stenholmen nicht in dem Umfang wie im Zeitpunkt des Wiederverkaufs
besessen habe, könne der Verkauf von Pferden nicht zu den Umsätzen von Gebrauchtgegenständen gezählt werden. Die Bestimmungen
in Kapitel 9 a Mehrwertsteuergesetz seien daher auf die Umsätze von Stenholmen nicht anwendbar.
15.
Stenholmen erhob gegen diesen Vorbescheid Klage zum Regeringsrätt (Oberster Verwaltungsgerichtshof) und beantragte, die Frage
zu bejahen. Das Riksskatteverk (Steuerverwaltung) beantragte, den Vorbescheid zu bestätigen.
16.
Nach Auffassung des Regeringsrätt sind Tiere und andere lebende Organismen zweifellos Gegenstände im Sinne des Mehrwertsteuerrechts.
Ein lebendes Tier als „gebraucht“ anzusehen, sei allerdings mit dem allgemeinen Sprachgebrauch schwer vereinbar. Die Frage,
was unter den Begriff des Gebrauchtgegenstandes fällt, sei dem Gerichtshof offenbar bisher nicht zur Entscheidung vorgelegt
worden.
17.
Das Regeringsrätt hat Zweifel hinsichtlich der Auslegung des Begriffes und hat dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung
gemäß Artikel 234 EG vorgelegt:
a)Kann ein Tier als ein Gebrauchtgegenstand angesehen werden?
b)Für den Fall, dass diese Frage bejaht wird, wird um Beantwortung folgender Frage gebeten.
c)Ist ein Tier, das bei einer Privatperson (die kein Züchter ist) erworben und nach einer Ausbildung zu einer speziellen Verwendung
weiterverkauft wird, als Gebrauchtgegenstand anzusehen?
IV – Zur ersten Vorlagefrage
18.
Die erste Vorlagefrage zielt auf die Auslegung von Artikel 26a, Teil A, Buchstabe d der Sechsten Richtlinie ab.
A –
Wesentliche Vorbringen der Beteiligten
19.
Stenholmen geht zunächst auf die vor und von den nationalen Behörden vertretenen Standpunkte ein. Des Weiteren weist Stenholmen auf
die Rechtsprechung des Gerichtshofes
(3)
zur rechtlichen Beurteilung von Tieren als Waren im Sinne des Mehrwertsteuerrechts hin. Aus der Legaldefinition von Artikel
26a Teil A Buchstabe d folge nichts anderes. Ebenso legten das Ziel der Vermeidung der Doppelbesteuerung sowie das mit dem
System der Differenzbesteuerung verfolgte Ziel der wettbewerblichen Gleichbehandlung des Handels mit Gebrauchtgegenständen
die Erfassung von Tieren nahe.
20.
Nach Auffassung des
Riksskatteverk seien Tiere zwar als Gegenstände im Sinn der Sechsten Richtlinie anzusehen, jedoch nicht als Gebrauchtgegenstände im Sinn
von Artikel 26a. Tiere seien deshalb ausgeschlossen, weil sie weder in dem Zustand, in dem sie gekauft, noch instand gesetzt,
wiederverkauft werden könnten. Noch nicht ausgebildete Pferde könnten ebenso wenig wie andere lebende Organismen und deren
Früchte, etwa Beeren und Champignons, als gebrauchte Gegenstände angesehen werden. Zudem sei zu vermeiden, dass überhaupt
keine Steuer anfalle.
21.
Die
Kommission geht davon aus, dass Anhang A der Sechsten Richtlinie auch die Viehzucht erfasse, Anhang C führe u. a. Pferde an. Daraus folge,
dass auch Pferde als Gebrauchtgegenstände zu qualifizieren seien.
B –
Würdigung
22.
Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass die Vorlagefrage dahin geht, ob auch Tiere als Gebrauchtgegenstände im Sinne von Artikel
26a Teil A Buchstabe d der Sechsten Richtlinie angesehen werden
können und nicht, ob sie auf jeden Fall als solche anzusehen
sind.
23.
Des Weiteren ist zu betonen, dass für die Lösung dieser mehrwertsteuerrechtlichen Frage die zivilrechtliche Einordnung von
Tieren als Sachen oder als eigene Kategorie irrelevant ist. Denn erstens ist der Begriff Gebrauchtgegenstand gemeinschaftsautonom
auszulegen und zweitens würde die zivilrechtliche Auslegung dem gerade im Mehrwertsteuerrecht wichtigen Grundsatz der einheitlichen
Auslegung widersprechen, weil es ausgehend von den unterschiedlichen zivilrechtlichen Regelungen der Mitgliedstaaten zu einer
von Mitgliedstaat zu Mitgliedstaat unterschiedlichen Auslegung und Anwendung des relevanten Gemeinschaftsrechts kommen würde.
24.
Bereits ein Blick in die den Gegenstand dieses Verfahrens bildende Sechste Richtlinie weist den Weg zur Beantwortung der ersten
Vorlagefrage. So führt Anhang A II. Nummer 1 auch die „Viehhaltung“ ausdrücklich an. Somit werden Leistungen im Zusammenhang
mit Vieh, also Tieren, ausdrücklich einbezogen.
25.
Die Legaldefinition des Begriffes „Gebrauchtgegenstände“ in Artikel 26a Teil A Buchstabe d der Sechsten Richtlinie erfasst
nur „bewegliche körperliche Gegenstände“. In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass weder diese noch eine andere
Bestimmung Tiere vom Anwendungsbereich der Sonderregelung des Artikels 26a ausdrücklich ausnimmt. Auch die in dieser Vorschrift
normierten Tatbestandsmerkmale lassen nicht von vornherein den Schluss zu, dass Tiere keine Gebrauchtgegenstände im Sinne
der Sechsten Richtlinie sein können.
26.
Hinsichtlich des ersten Tatbestandsmerkmals „Gegenstände“ ist auf ein Urteil des Gerichtshofes hinzuweisen, wonach auch Pferde
als Gegenstände des Umsatzsteuerrechtes anzusehen sind
(4)
.
27.
Das zweite Tatbestandsmerkmal „beweglich“ spricht dafür, dass auch Tiere erfasst sind. Denn Tiere ─ im vorliegenden Verfahren
geht es um lebende Pferde ─ können sich im Unterschied zu vielen Gegenständen grundsätzlich selbst bewegen.
28.
Auch das dritte Tatbestandsmerkmal „körperlich“ wird von Tieren, und somit auch von Pferden, erfüllt, handelt es sich dabei
doch um Wesen mit einem Körper.
29.
Bleibt die vierte Voraussetzung, nämlich dass die Gegenstände „in ihrem derzeitigen Zustand oder nach Instandsetzung erneut
verwendbar sind“. Das kann auch auf Tiere zutreffen.
30.
Dem steht nicht entgegen, dass Tiere ─ und nicht nur Pferde ─ auch ausgebildet werden können und dadurch auch auf andere Weise
als vorher verwendet werden können, also z. B. bei Pferden nach einer Grundausbildung auch als Dressur- oder Springpferde
oder gar als Vielseitigkeitspferde.
31.
Insbesondere die Pferde, um die es im vorliegenden Verfahren geht, waren schon vor dem Ankauf durch Stenholmen „in ihrem derzeitigen
Zustand“ verwendbar, sie sollten nur weiter ausgebildet werden. Nicht selten werden nämlich Pferde von ihren Besitzern, selbst
nachdem sie bereits auf Turnieren zum Einsatz gekommen sind, weiterverkauft oder eingetauscht. Der Erwerber kann entweder
ein anderer Privater sein oder eben ein Händler, der das Pferd ─ in unserem Fall nach weiterer Ausbildung ─ wiederverkauft.
32.
Selbst wenn man durchaus die Auffassung vertreten kann, dass es Fälle gibt, in denen ein Tier nicht als Gebrauchtgegenstand
anzusehen ist, darf man daraus nicht schließen, dass Tiere grundsätzlich nicht als Gebrauchtgegenstand angesehen werden können.
Aber gerade auf diese grundsätzliche Möglichkeit zielt die Frage des vorlegenden Gerichts.
33.
In diesem Verfahren sind also nicht die vom Riksskatteverk auch aufgeworfenen Fragen zu klären, ob auch neugeborene Pferde
oder gepflückte Beeren als Gebrauchtgegenstände anzusehen wären. Eine Beantwortung wäre schon aus prozessualen Gründen unzulässig,
weil sich diese Fragen im Ausgangsrechtsstreit konkret nicht stellen.
34.
Abschließend ist auf den Zweck der durch die Richtlinie 94/5 eingefügten Vorschrift von Artikel 26a hinzuweisen, der darin
liegt, die Doppelbesteuerung zu vermeiden. Eine solche entstünde aber gerade, wenn in bestimmten Fällen nicht nur die Differenz,
sondern der gesamte Wert besteuert würde.
35.
Ferner sollen mit der Regelung von Artikel 26a der Sechsten Richtlinie auch Wettbewerbsnachteile für Händler von Gebrauchtgegenständen
vermieden werden. Zu dieser Gruppe von Wirtschaftstreibenden gehören aber nicht nur Antiquitätenhändler, sondern es können
eben auch Pferdehändler dazugehören.
36.
Auf die erste Vorlagefrage ist daher zu antworten, dass ein Tier grundsätzlich als Gebrauchtgegenstand im Sinne von Artikel
26a Teil A Buchstabe d der Sechsten Richtlinie angesehen werden kann.
V – Zur zweiten Vorlagefrage
A –
Wesentliche Vorbringen der Beteiligten
37.
Stenholmen vertritt die Auffassung, dass die Anwendung der Sonderregelung für Gebrauchtgegenstände nicht von deren Eigenschaften abhängen
dürfe. Nach der Legaldefinition von Artikel 26a Teil A Buchstabe d sei entscheidend, dass es sich um „bewegliche körperliche
Gegenstände“ handle. Deshalb dürfe nicht zwischen verschiedenen Arten (Ausbildungsstufen) von Pferden unterschieden werden.
Diese seien nämlich nicht als neuer Gegenstand im Sinne des Urteils in der Rechtssache Van Dijk’s Boekhuis anzusehen
(5)
. Es dürfe nicht danach differenziert werden, von wem ein Gegenstand gekauft werde, d. h., ob ein Pferd vom Züchter oder von
jemandem anderen, etwa einem Privaten, gekauft werde.
38.
Die Anwendbarkeit der Differenzbesteuerung hänge allein von der Erfüllung der Voraussetzungen von Artikel 26a Teil B Absatz
2 der Sechsten Richtlinie ab. Diese seien jedoch nicht Gegenstand der Vorlagefrage.
39.
Im Übrigen würden auch andere Mitgliedstaaten auf Pferde das System der Differenzbesteuerung anwenden.
40.
Das
Riksskatteverk, das auf die zweite Vorlagefrage nur hilfsweise eingeht, sieht die wirtschaftliche Tätigkeit nicht im Wiederverkauf, sondern
in der Ausbildung des Pferdes. Artikel 26a der Sechsten Richtlinie gelte jedoch lediglich für den Fall, dass eine Ware im
Hinblick auf ihren Wiederverkauf gekauft werde. Die Tätigkeit der Ausbildung bestehe aber gerade in der Veränderung der Ware
Pferd. Es handle sich dabei um die gewöhnliche Tätigkeit des Kaufes zum Zweck der Veränderung und des darauf folgenden Wiederverkaufs.
Würde man nur die Differenz besteuern, könnte das in bestimmten Fällen dazu führen, dass nur der in der letzten Phase der
Kette erzielte Mehrwert besteuert würde.
41.
Nach Auffassung der
Kommission spiele nicht die zukünftige Verwendung des Pferdes eine Rolle, sondern die wirtschaftlichen Vorgänge, deren Gegenstand das
Pferd vor seinem Verkauf an den Steuerpflichtigen war.
42.
Des Weiteren weist die Kommission darauf hin, dass das Mehrwertsteuerrecht der Gemeinschaft die Doppelbesteuerung vermeiden
solle. Das Mehrwertsteuersystem erfasse zwar keine neugeborenen Tiere, die vor ihrer Lieferung an den Wiederverkäufer noch
keiner Mehrwertsteuer unterlagen, jedoch Tiere, die zuerst einem Nichtsteuerpflichtigen geliefert und dann an einen Wiederverkäufer
verkauft wurden.
B –
Würdigung
43.
Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass auch die zweite Vorlagefrage nur einen bestimmten Aspekt der Sonderregelung von Artikel
26a der Sechsten Richtlinie, d. h. des Systems der Differenzbesteuerung, betrifft, und zwar die Anwendungsvoraussetzung „Gebrauchtgegenstände“.
Es geht also auch hier um die Auslegung von Artikel 26a Teil A Buchstabe d der Sechsten Richtlinie, doch hat die zweite im
Unterschied zur ersten Vorlagefrage nicht das allgemeine Rechtsproblem der Einordnung von Tieren überhaupt zum Gegenstand,
sondern ─ ausgehend vom Ausgangsverfahren ─ die spezielle Qualifizierung eines Tieres, das bei einer Privatperson, die kein
Züchter ist, erworben und ─ nach einer Ausbildung zu einer speziellen Verwendung ─ weiterverkauft wird, als Gebrauchtgegenstand.
44.
Diese Rechtsfrage stellt sich im Lichte des Mehrwertsteuerrechts vor folgendem wirtschaftlichen Hintergrund:
Im vorliegenden Verfahren besteht zwar wie üblich eine Absatzkette, doch besteht diese abgesehen vom Endverbraucher nicht
nur aus Unternehmern. Vielmehr ist eines der Glieder ein Nichtsteuerpflichtiger, nämlich ein Privater. Ob dieser sein Pferd,
das er einem Steuerpflichtigen, nämlich dem so genannten Wiederverkäufer, verkauft, von einem Privaten oder von einem Händler,
z. B. dem Züchter, erworben hat, spielt hier keine Rolle. Der Wiederverkäufer erwirbt das Pferd, um es auszubilden. Nach dem
Sachverhalt des Ausgangsverfahrens handelt es sich genau genommen um eine neuerliche Ausbildung eines schon ausgebildeten
Pferdes.
45.
Dass innerhalb der Kette ein Privater auftritt, ist zwar eine Besonderheit gegenüber den „normalen“ Absatzketten, doch tritt
sie nicht nur im Pferdehandel auf. Die Vorschrift von Artikel 26a Teil A Buchstabe d der Sechsten Richtlinie enthält selbst
wichtige Beispiele von Gegenständen, die häufig bei Privaten erworben werden, wie Schmuck oder Antiquitäten.
46.
Aus unseren Ausführungen zur ersten Vorlagefrage betreffend den Wortlaut von Artikel 26a Teil A Buchstabe d der Sechsten Richtlinie
folgt in Bezug auf die zweite Vorlagefrage, dass auch solche Tiere, die bei einer Privatperson, die kein Züchter ist, erworben
werden, als Gebrauchtgegenstand angesehen werden können. Genau genommen betrifft der Erwerb bei einem Privaten allerdings
nicht die Qualifizierung als Gebrauchtgegenstand, sondern stellt eine andere Anwendungsvoraussetzung für die Sonderregelung
von Artikel 26a der Sechsten Richtlinie dar.
47.
Dass ein Tier, in casu ein Pferd, nach dem Erwerb durch den Wiederverkäufer von diesem
weiterverkauft wird, ist ein Umstand, der für die Qualifizierung als Gebrauchtgegenstand ebenso wenig relevant ist. Auch das betrifft einen
nicht verfahrensgegenständlichen Aspekt der Sonderregelung von Artikel 26a der Sechsten Richtlinie, nämlich die Lieferung
durch steuerpflichtige Wiederverkäufer.
48.
Entscheidend könnte hingegen der Umstand sein, dass der Gegenstand, hier also das Pferd, erst nach einer Ausbildung zu einer
speziellen Verwendung durch den Wiederverkäufer selbst, weiterverkauft wird.
49.
In diesem Zusammenhang ist zu betonen, dass das vorlegende Gericht nicht die Frage nach der mehrwertsteuerrechtlichen Behandlung
der Ausbildungstätigkeit stellt. Davon dürfte jedoch das Riksskatteverk ausgehen.
50.
Aus den Akten geht nicht klar hervor, in welchem Zustand sich hier die Pferde im Zeitpunkt des Erwerbs bei den Privaten befanden,
d. h., wie sie verwendet werden konnten. Während dem Skatterättsnämnd eher die Frage nach der Behandlung unausgebildeter Pferde
gestellt wurde, geht Stenholmen in seiner schriftlichen Stellungnahme in diesem Vorabentscheidungsverfahren davon aus, dass
es sich um den Erwerb von Springpferden handelt, die bloß weiter ausgebildet werden sollten.
51.
Für den letztgenannten Fall kann man davon ausgehen, dass es sich um Pferde handelt, die ─ um Artikel 26a Teil A Buchstabe
d der Sechsten Richtlinie zu zitieren ─ „in ihrem derzeitigen Zustand ... erneut verwendbar“ sind. Sie sind dies vor und nach
ihrer Ausbildung. Wie Stenholmen zu Recht ausführt, handelt es sich jeweils um dasselbe Pferd und um dieselbe Funktion. Solche
Pferde sind daher im Sinne von Artikel 26a Teil A Buchstabe d der Sechsten Richtlinie als „Gebrauchtgegenstände“ anzusehen.
52.
Etwas anderes könnte man allerdings für Pferde annehmen, die zu einem anderen Zweck als dem, dem sie bisher dienten, ausgebildet
werden. Das beträfe einmal den Fall, dass das Pferd überhaupt erst angeritten werden soll. Aber selbst bei Pferden, die schon
einmal als Springpferde verwendet wurden, kann es durch bestimmte Umstände dazu kommen, dass sie ─ von ihrem jetzigen oder
auch von einem anderen Reiter ─ nicht mehr als Springpferde verwendet werden können, vor allem nicht mehr auf Reitturnieren.
Schließlich ist der ─ zugegebenermaßen seltenere ─ Fall zu nennen, dass Pferde vorher als Dressurpferde und dann als Springpferde
verwendet werden oder umgekehrt. Oft geschieht dies aber ohne dazwischenliegende gesonderte Ausbildung.
53.
Wieder eine andere Rechtsfrage wirft der Erwerb einer zusätzlichen Qualifikation auf, z. B. das Trainieren von Geländeprüfungen,
also die Ausbildung zum Vielseitigkeitspferd.
54.
Der Handel mit eingeschlossener Ausbildung von Pferden kann also sehr unterschiedliche Fallkonstellationen umfassen. Da aber
der Gerichtshof in einem Vorabentscheidungsverfahren weder alle tatsächlich auftretenden Fälle noch den konkreten Sachverhalt
zu lösen hat, können im Rahmen dieses Verfahrens nur allgemeine rechtliche Kriterien aufgestellt werden, die der nationale
Richter bei der Anwendung auf den konkreten Sachverhalt zu berücksichtigen hat.
55.
Für unseren vorliegenden Problemkreis empfiehlt es sich, von der Unterscheidung in „Gebrauchtgegenstände“ und „neue“ Gegenstände
auszugehen. Dazu ist auf das in diesem Verfahren mehrfach angesprochene Urteil in der Rechtssache Van Dijk’s zu verweisen.
Danach ist ein Gegenstand dann „neu“, „wenn ... ein Gegenstand entsteht, dessen Funktion sich nach der allgemeinen Verkehrsauffassung
von derjenigen unterscheidet, die das ausgehändigte Material besaß“
(6)
.
56.
Dieses Judikat könnte man nun dergestalt verallgemeinern, dass man den Funktionswechsel als Kriterium isoliert und zu einem
allgemeinen Unterscheidungsmerkmal macht. Dagegen spricht allerdings der Umstand, dass das Urteil die Auslegung des Begriffes
„hergestellt“ betraf. Und dass durch eine wie auch immer geartete Ausbildung ein neues Pferd hergestellt werden kann, ist
nicht möglich.
57.
Aber selbst wenn man auf den Funktionswechsel abstellt, erhebt sich die Frage, ob oder wann ein solcher bei Pferden vorliegt.
So könnte man durchaus die ─ gerade von der allgemeinen Verkehrsauffassung gestützte ─ Meinung vertreten, dass Dressur-, Sprung-
und Vielseitigkeitspferde wie auch Andalusier oder Pferde, die im Stil des Western-Reiten ausgebildet werden, dieselbe Funktion
haben, nämlich generell als Reitpferde. Eine eigene Kategorie könnten hingegen Fahrpferde, Rennpferde oder Traber bilden.
Dagegen spricht allerdings wieder der Umstand, dass alle diese Pferde auf einer noch abstrakteren Ebene dieselbe Funktion
haben: sie dienen als Sportpferde. Davon zu unterscheiden wären die ─ seltener werdenden ─ Arbeitspferde. Wieder eine eigene
Kategorie würden Pferde bilden, die wegen ihres Fleisches gehandelt werden.
58.
Abgesehen von diesen Besonderheiten in Bezug auf die unterschiedlichen Verwendungsmöglichkeiten von Pferden insgesamt stellt
sich die Frage, was für die Beurteilung der Funktion maßgeblich ist: die Absicht des Verkäufers, die Absicht des Käufers (z.
B. Erwerb zum Zweck der Teilnahme an Springbewerben ab einem bestimmten Niveau), die objektive Einsetzbarkeit des betreffenden
Pferdes oder seine bisherige Verwendung.
59.
Diese Umstände zeigen, dass das Kriterium des Funktionswechsels jedenfalls im Zusammenhang mit Tieren in der Praxis äußerst
schwierige Abgrenzungsfragen aufwirft. Wegen der damit verbundenen Rechtsunsicherheit für die beteiligten Wirtschaftskreise
erscheint ein solches Kriterium daher als nicht sehr tauglich.
60.
Die Behandlung der bei einem Nichtsteuerpflichtigen von einem Unternehmer gekauften Pferde als Gebrauchtgegenstände entspricht
dem mit der Einfügung von Artikel 26a der Sechsten Richtlinie verfolgten Ziel der Vermeidung der Doppelbesteuerung. Dieses
Ziel soll durch die Differenzbesteuerung sichergestellt werden.
61.
Würden die Pferde nämlich nicht als Gebrauchtgegenstände im Sinne der fraglichen Bestimmung behandelt, würden sie ─ erneut
in den Handel gebracht ─ erneut voll besteuert werden. Demgegenüber blieben die Pferde, die direkt von einem Privaten an einen
anderen Privaten verkauft würden, d. h. ohne Zwischenschaltung des ausbildenden Pferdehändlers, d. h. des Wiederverkäufers,
nur mit der Steuer belastet, die beim Verkauf an den ersten Privaten angefallen ist. Diese unterschiedliche Behandlung würde
zu einer Verzerrung des Wettbewerbs zwischen Direktverkäufen und Verkäufen über den Handel führen
(7)
. Das zu vermeiden ist jedoch das Ziel von Artikel 26a der Sechsten Richtlinie und die Absicht des Gemeinschaftsgesetzgebers,
wie sie aus der diese Sonderbestimmung einführenden Richtlinie 94/5 hervorgeht. Mangels einer Sonderbestimmung für den Pferdehandel
ist die fragliche Regelung über Gebrauchtgegenstände daher auch auf Fälle wie den des Ausgangsverfahrens anwendbar.
62.
Abschließend sei ergänzend darauf hingewiesen, dass die Anwendung der Differenzbesteuerung nicht dazu führt, dass der in der
Ausbildung des Pferdes bestehende Mehrwert unbesteuert bleibt. Im Gegenteil, die Differenzbesteuerung setzt ja gerade an der
Differenz, d. h. am Unterschiedsbetrag, an. Dieser ist umso höher, je höher der geschaffene Mehrwert ist, der im erzielten
Verkaufspreis seinen Ausdruck findet. Damit ist sichergestellt, dass die Ausbildung bei Pferden in derselben Weise berücksichtigt
wird wie die in Artikel 26a Teil A Buchstabe d ausdrücklich vorgesehene Instandsetzung, wie sie etwa bei Antiquitäten vorgenommen
wird.
63.
Auf die zweite Vorlagefrage ist daher zu antworten, dass ein Tier, das bei einer Privatperson (die kein Züchter ist) erworben
und nach einer Ausbildung zu einer speziellen Verwendung weiterverkauft wird, als Gebrauchtgegenstand angesehen werden kann.
VI – Ergebnis
64.
Nach alledem wird dem Gerichtshof vorgeschlagen, auf die Vorlagefragen wie folgt zu antworten:
d)Ein Tier kann als Gebrauchtgegenstand im Sinne von Artikel 26a Teil A Buchstabe d der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG des Rates
vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern ─ Gemeinsames Mehrwertsteuersystem:
einheitliche steuerliche Bemessungsgrundlage angesehen werden.
e)Ein Tier, das bei einer Privatperson (die kein Züchter ist) erworben und nach einer Ausbildung zu einer speziellen Verwendung
weiterverkauft wird, kann als Gebrauchtgegenstand im Sinne von Artikel 26a Teil A Buchstabe d der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG
des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern ─ Gemeinsames
Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerliche Bemessungsgrundlage angesehen werden.
1 –
Originalsprache: Deutsch.
2 –
Richtlinie 94/5/EG des Rates vom 14. Februar 1994 zur Ergänzung des gemeinsamen Mehrwertsteuersystems und zur Änderung der
Richtlinie 77/388/EWG ─ Sonderregelung für Gebrauchtgegenstände, Kunstgegenstände, Sammlungsstücke oder Antiquitäten (ABl.
L 60, S. 16).
3 –
Urteil vom 21. Juni 1988 in der Rechtssache 10/87 (Tattersalls Ltd, Slg. 1988, 3281).
4 –
Urteil in der Rechtssache 10/87 (zitiert in Fußnote 3).
5 –
Urteil vom 14. Mai 1985 in der Rechtssache 139/84 (Van Dijk’s Boekhuis, Slg. 1985, 1405).
6 –
Urteil in der Rechtssache 139/84 (zitiert in Fußnote 5), Randnr. 22.
7 –
Zu diesen negativen Wirkungen vor dem Hintergrund der alten Rechtslage siehe das Urteil vom 10. Juli 1985 in der Rechtssache
17/84 (Kommission/Irland, Slg. 1985, 2375, Randnrn. 14 und 17).