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SCHLUSSANTRÄGE DER GENERALANWÄLTIN

JULIANE KOKOTT

vom 24. Februar 2005(1)

Rechtssache C-305/03

Kommission der Europäischen Gemeinschaften

gegen

Vereinigtes Königreich Großbritannien und Nordirland

„Mehrwertsteuer – Ermäßigter Steuersatz – Einfuhr von Kunstgegenständen, Sammlungsstücken und Antiquitäten – Öffentliche Versteigerung von Gütern, die einer Regelung der vorübergehenden Einfuhr unterliegen – Marge des Versteigerers“






I –    Einleitung

1.     Der europäische Kunsthandel hat seinen Schwerpunkt im Vereinigten Königreich, insbesondere in London.(2) Nicht selten werden Kunstgegenstände, Sammlungsstücke und Antiquitäten (im Folgenden zusammengefasst als Kunstgegenstände bezeichnet) allein zum Zwecke der Versteigerung durch ein Kunstauktionshaus vorübergehend aus Drittstaaten in das Vereinigte Königreich verbracht und anschließend wieder in Drittstaaten ausgeführt.

2.     Die Einfuhr und die Lieferung der Gegenstände bleiben mehrwertsteuerfrei, wenn diese dem besonderen Zollregime für Waren zur vorübergehenden Verwendung in der Gemeinschaft unterworfen werden. Nur wenn die Objekte nach der Versteigerung endgültig in die Gemeinschaft eingeführt werden, fällt Mehrwertsteuer an. Die Ursache für das vorliegende Vertragsverletzungsverfahren liegt vor allem in der Unklarheit der Tragweite dieses Sonderregimes für vorübergehend eingeführte Kunstgegenstände.

3.     Im Vereinigten Königreich wird der Versteigerungspreis einschließlich der Marge des Versteigerers als Besteuerungsgrundlage herangezogen. Diese Summe wird entsprechend den besonderen Vorschriften für die Einfuhr von Kunstgegenständen so verringert, dass die Mehrwertsteuer im Ergebnis 5 % des Preises beträgt. Man könnte insofern auch von einem effektiven Steuersatz von 5 % sprechen.

4.     Nach Ansicht der Kommission verstößt diese Praxis gegen die Sechste Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage (im Folgenden: Sechste Richtlinie)(3). Die Kommission meint, für die Provision des Versteigerers gelte der normale Steuersatz von – im Vereinigten Königreich – 17,5 %, da sie als Teil der Gegenleistung für eine Lieferung im Inland oder für eine Dienstleistung zu behandeln sei. Der ermäßigte Satz dürfe nur auf den Einfuhrwert, also den Versteigerungserlös abzüglich der Marge des Versteigerers, angewandt werden.

II – Rechtlicher Rahmen

A –    Gemeinschaftsrecht

1.      Einschlägige Bestimmungen der Sechsten Richtlinie

5.     Nach Artikel 2 unterliegen der Mehrwertsteuer:

„1.       Lieferungen von Gegenständen und Dienstleistungen, die ein Steuerpflichtiger als solcher im Inland gegen Entgelt ausführt;

2.       die Einfuhr von Gegenständen.“

6.     Gemäß Artikel 5 Absatz 4 Buchstabe c gilt als Lieferung auch „die Übertragung eines Gegenstands auf Grund eines Vertrages über eine Einkaufs- oder Verkaufskommission“.

7.     Dienstleistungen sind in Artikel 6 Absatz 1 definiert „als jede Leistung, die keine Lieferung eines Gegenstands im Sinne des Artikels 5 ist“.

8.     Was unter der Einfuhr eines Gegenstands zu verstehen ist, wird in Artikel 7 wie folgt näher bestimmt:

„(1) Die Einfuhr eines Gegenstands liegt vor,

a)       wenn ein Gegenstand, der nicht die Bedingungen der Artikel 9 und 10 des Vertrages zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft [jetzt Artikel 23 und 24 EG] erfüllt … in die Gemeinschaft verbracht wird,

b)       wenn ein nicht unter Buchstabe a) fallender Gegenstand mit Herkunft aus einem Drittlandsgebiet in die Gemeinschaft verbracht wird.

(2) Die Einfuhr eines Gegenstandes erfolgt in dem Mitgliedstaat, in dessen Hoheitsgebiet sich der Gegenstand zu dem Zeitpunkt befindet, in dem er in die Gemeinschaft verbracht wird.

(3) Bei einem Gegenstand im Sinne des Absatzes 1 Buchstabe a), der vom Zeitpunkt seiner Verbringung in die Gemeinschaft an einer der Regelungen nach Artikel 16 Absatz 1 Teil B, Buchstaben a), b), c) und d) der Regelung der vorübergehenden Einfuhr bei vollständiger Befreiung von Eingangsabgaben oder dem externen Versandverfahren unterliegt, erfolgt abweichend von Absatz 2 die Einfuhr in dem Mitgliedstaat, in dessen Hoheitsgebiet der Gegenstand nicht mehr diesen Regelungen unterliegt.

Unterliegt ein Gegenstand im Sinne des Absatzes 1 Buchstabe b) vom Zeitpunkt seiner Verbringung in die Gemeinschaft an einer der Regelungen nach Artikel 33a Absatz 1 Buchstabe b) oder c), so erfolgt die Einfuhr in den Mitgliedstaat, in dessen Hoheitsgebiet der Gegenstand nicht mehr diesen Regelungen unterliegt.“

9.     Artikel 11 Teil B Absatz 1 der Sechsten Richtlinie enthält folgende Regelungen für die Besteuerungsgrundlage bei Einfuhren:

„Die Besteuerungsgrundlage ist, auch für die Einfuhr von Gegenständen im Sinne des Artikels 7 Absatz 1 Buchstabe b), der Wert, der durch die geltenden Gemeinschaftsvorschriften als Zollwert bestimmt ist.“

10.   Für Kunstgegenstände enthält Artikel 11 Teil B Absatz 6 folgende Sonderregelung:

„Abweichend von den Absätzen 1 bis 4 können die Mitgliedstaaten, die am 1. Januar 1993 nicht von der Möglichkeit nach Artikel 12 Absatz 3 Buchstabe a) Unterabsatz 3 Gebrauch gemacht haben, vorsehen, dass die Besteuerungsgrundlage bei der Einfuhr von Kunstgegenständen, Sammlungsstücken oder Antiquitäten im Sinne von Artikel 26a Teil A Buchstaben a), b) und c) einem Bruchteil des gemäß den Absätzen 1 bis 4 festgesetzten Betrags entspricht.

Dieser Bruchteil wird so festgelegt, dass sich die dergestalt für die Einfuhr geschuldete Mehrwertsteuer in jedem Fall auf mindestens 5 v. H. des gemäß den Absätzen 1 bis 4 festgesetzten Betrags beläuft.“

11.   Hinsichtlich der Steuersätze bestimmt Artikel 12 Absatz 3:

„a)      Der Normalsatz der Mehrwertsteuer wird von jedem Mitgliedstaat als ein Prozentsatz der Besteuerungsgrundlage festgelegt, der für Lieferungen von Gegenständen und für Dienstleistungen gleich ist. …

Die Mitgliedstaaten können außerdem einen oder zwei ermäßigte Sätze anwenden. Diese ermäßigten Sätze werden als ein Prozentsatz der Besteuerungsgrundlage festgelegt, der nicht niedriger als 5 % sein darf, und sind nur auf Lieferungen von Gegenständen und Dienstleistungen der in Anhang H genannten Kategorien anwendbar.

c)       Die Mitgliedstaaten können vorsehen, dass der ermäßigte oder ein ermäßigter Steuersatz, den sie gemäß Buchstabe a) Unterabsatz 3 anwenden, auch auf die Einfuhr von Kunstgegenständen, Sammlungsstücken oder Antiquitäten im Sinne von Artikel 26a Teil A Buchstaben a), b) und c) anwendbar ist.“

12.   Artikel 16 der Sechsten Richtlinie in der Fassung, die er durch Artikel 28 c Teil E(4) erhalten hat, sieht Folgendes vor:

„(1) Unbeschadet der übrigen gemeinschaftlichen Steuerbestimmungen können die Mitgliedstaaten vorbehaltlich der Konsultation nach Artikel 29 Sondermaßnahmen treffen, um folgende Umsätze oder einige von ihnen nicht der Mehrwertsteuer zu unterwerfen, sofern diese nicht für eine endgültige Verwendung und/oder einen Endverbrauch bestimmt sind und sofern der beim Verlassen der nachfolgend in den Teilen A bis E bezeichneten Regelungen oder Sachverhalte geschuldete Mehrwertsteuerbetrag der Höhe der Abgabe entspricht, die bei der Besteuerung dieser Umsätze im Inland geschuldet worden wäre:

E.      die Lieferungen

–      von Gegenständen nach Artikel 7 Absatz 1 Buchstabe a) unter Wahrung der Regelung der vorübergehenden Einfuhr bei vollständiger Befreiung von den Eingangsabgaben oder des externen Versandverfahrens,

sowie die mit diesen Lieferungen zusammenhängenden Dienstleistungen.

Ist das Verlassen der in diesem Absatz genannten Regelungen oder Sachverhalte mit einer Einfuhr im Sinne von Artikel 7 Absatz 3 verbunden, so trifft der Einfuhrmitgliedstaat die erforderlichen Maßnahmen, um eine Doppelbesteuerung innerhalb des Landes zu vermeiden; …“

13.   Artikel 26a(5) enthält u. a. die nachfolgend wiedergegeben Sonderregelungen für Gebrauchtgegenstände, Kunstgegenstände, Sammlungsstücke oder Antiquitäten:

„A. Definitionen

e)       ‚steuerpflichtiger Wiederverkäufer‘ jeder Steuerpflichtige, der im Rahmen seiner gewerblichen Tätigkeit Gebrauchtgegenstände, Kunstgegenstände, Sammlungsstücke oder Antiquitäten kauft oder zur Deckung seines unternehmerischen Bedarfs verwendet oder zum Zwecke des Wiederverkaufs einführt, gleich, ob er auf eigene Rechnung oder aufgrund eines Einkaufs- oder Verkaufskommissionsvertrags auf fremde Rechnung handelt;

f)      ‚Veranstalter einer öffentlichen Versteigerung‘ jeder Steuerpflichtige, der im Rahmen seiner gewerblichen Tätigkeit Gegenstände zur öffentlichen Versteigerung anbietet, um sie an den Meistbietenden zu verkaufen;

g)       ‚Kommittent eines Veranstalters öffentlicher Versteigerungen‘ jede Person, die einem Veranstalter öffentlicher Versteigerungen einen Gegenstand aufgrund eines Verkaufskommissionsvertrags zu folgenden Bedingungen übergibt:

–      der Veranstalter der öffentlichen Versteigerung bietet den Gegenstand im eigenen Namen, aber für Rechnung seines Kommittenten zur öffentlichen Versteigerung an;

–      der Veranstalter der öffentlichen Versteigerung übergibt den Gegenstand im eigenen Namen, aber für Rechnung seines Kommittenten an den Meistbietenden, der in der öffentlichen Versteigerung den Zuschlag erhalten hat.

C. Sonderregelung für öffentliche Versteigerungen

(1) Abweichend von Teil B können die Mitgliedstaaten die Besteuerungsgrundlage für die Lieferung von Gebrauchtgegenständen, Kunstgegenständen, Sammlungsstücken oder Antiquitäten entsprechend den folgenden Bestimmungen festsetzen, wenn sie durch einen Veranstalter öffentlicher Versteigerungen geliefert werden, der im eigenen Namen aufgrund eines Kommissionsvertrags zum Verkauf dieser Gegenstände im Wege einer öffentlichen Versteigerung für Rechnung eines Dritten handelt, und zwar entweder

(2) Die Besteuerungsgrundlage für jede Lieferung von Gegenständen nach Absatz 1 ergibt sich aus dem dem Käufer vom Veranstalter der öffentlichen Versteigerung nach Absatz 4 in Rechnung gestellten Gesamtbetrag abzüglich

–       des nach Absatz 3 festgelegten, vom Veranstalter der öffentlichen Versteigerung an seinen Kommittenten gezahlten oder zu zahlenden Nettobetrags und

–       des Betrags der vom Veranstalter der öffentlichen Versteigerung für seine Lieferung zu entrichtenden Steuer.

(3) Der vom Veranstalter der öffentlichen Versteigerung an seinen Kommittenten gezahlte oder zu zahlende Nettobetrag entspricht der Differenz zwischen

–       dem Preis, zu dem in der Versteigerung der Zuschlag für den Gegenstand erteilt wurde, und

–       dem Betrag der Provision, die der Veranstalter der öffentlichen Versteigerung von seinem Kommittenten gemäß dem Verkaufskommissionsvertrag erhält oder zu erhalten hat.

(7) Die Lieferung eines Gegenstands an einen steuerpflichtigen Veranstalter öffentlicher Versteigerungen gilt als zum Zeitpunkt des Verkaufs dieses Gegenstands im Wege der öffentlichen Versteigerung erfolgt.“

14.   Artikel 28 enthält schließlich die folgenden Übergangsbestimmungen:

„(1a) Bis zum 30. Juni 1999 kann das Vereinigte Königreich Großbritannien und Nordirland bei der Einfuhr von Kunstgegenständen, Sammlungsstücken oder Antiquitäten, die am 1. Januar 1993 von der Steuer befreit waren, Artikel 11 Teil B Absatz 6 dergestalt anwenden, dass sich die bei der Einfuhr geschuldete Mehrwertsteuer in jedem Falle auf 2,5 v. H. des gemäß Artikel 11 Teil B Absätze 1 bis 4 festgelegten Betrags beläuft.“

2.      Zollrechtliche Bestimmungen

15.   Da Artikel 11 Teil B Absatz 1 für die Bestimmung der Besteuerungsgrundlage bei Einfuhren auf den Zollwert Bezug nimmt, ist noch Artikel 29 des Zollkodex(6) zu erwähnen, der auszugsweise wie folgt lautet:

„(1) Der Zollwert eingeführter Waren ist der Transaktionswert, das heißt der für die Waren bei einem Verkauf zur Ausfuhr in das Zollgebiet der Gemeinschaft tatsächlich gezahlte oder zu zahlende Preis, gegebenenfalls nach Berichtigung gemäß den Artikeln 32 und 33

(3) a) Der tatsächlich gezahlte oder zu zahlende Preis ist die vollständige Zahlung, die der Käufer an den Verkäufer oder zu dessen Gunsten für die eingeführten Waren entrichtet oder zu entrichten hat, und schließt alle Zahlungen ein, die als Bedingung für das Kaufgeschäft über die eingeführten Waren vom Käufer an den Verkäufer oder vom Käufer an einen Dritten zur Erfüllung einer Verpflichtung des Verkäufers tatsächlich entrichtet werden oder zu entrichten sind.“

16.   Weitere Regelungen über die Einbeziehung von Provisionen bei der Zollwertbestimmung sind in Artikel 32 und 33 des Zollkodex enthalten:

„Artikel 32

(1) Bei der Ermittlung des Zollwerts nach Artikel 29 sind dem für die eingeführten Waren tatsächlich gezahlten oder zu zahlenden Preis hinzuzurechnen:

a)       folgende Kosten, soweit sie für den Käufer entstanden, aber nicht in dem für die Waren tatsächlich gezahlten oder zu zahlenden Preis enthalten sind:

i)      Provisionen und Maklerlöhne ausgenommen Einkaufsprovisionen

(4) Unter dem Begriff "Einkaufsprovisionen" sind in diesem Kapitel Beträge zu verstehen, die ein Einführer jemandem dafür zahlt, dass er für ihn beim Kauf der zu bewertenden Waren tätig wird.

Artikel 33

(1) Die nachstehenden Aufwendungen oder Kosten werden nicht in den Zollwert einbezogen, vorausgesetzt, dass sie getrennt von dem für die eingeführten Waren tatsächlich gezahlten oder zu zahlenden Preis ausgewiesen werden:

e)      Einkaufsprovisionen;

…“

17.   Artikel 7 und Artikel 16 der Sechsten Richtlinie knüpfen für die Befreiung von der Mehrwertsteuer von vorübergehend in die Gemeinschaft eingeführten Gegenständen an das entsprechende zollrechtliche Regime an. Für Kunstgegenstände, die zur Versteigerung eingeführt werden, findet sich die Befreiung von Einfuhrabgaben in Artikel 576 Absatz 3 der Verordnung Nr. 2454/93 zur Durchführung des Zollkodex (Zoll-Durchführungsverordnung)(7):

„Die vollständige Befreiung von Einfuhrabgaben wird für Folgendes gewährt:

a)      Kunstgegenstände, Sammlungsstücke und Antiquitäten des Anhangs I der Richtlinie 77/388/EWG, die eingeführt werden, um ausgestellt und gegebenenfalls verkauft zu werden;

b)      für andere als neu hergestellte Waren, die im Hinblick auf ihre Versteigerung eingeführt werden.“

18.   Ergänzend dazu sieht Artikel 582 Absatz 1 der Zoll-Durchführungsverordnung sieht schließlich Folgendes vor:

„Werden gemäß Artikel 576 in das Verfahren übergeführte Waren zum zollrechtlich freien Verkehr angemeldet, so wird der Betrag der Zollschuld anhand der Bemessungsgrundlagen ermittelt, die für diese Waren im Zeitpunkt der Annahme der Zollanmeldung zur Überführung in den zollrechtlich freien Verkehr gelten.“

B –    Nationales Recht

19.   Gemäß Artikel 3 der Value Added Tax (Treatment of Transaction) Order 1995 (S.I. 1995/958) ist die Übertragung des Eigentums an Gebrauchtgegenständen, die vorübergehend aus Drittstaaten zur Versteigerung eingeführt worden sind, und an Kunstgegenständen, die vorübergehend zur Ausstellung und zum eventuellen Verkauf eingeführt worden sind, weder als Lieferung noch als Dienstleistung anzusehen. Das Vereinigte Königreich hat mit dieser Regelung nach seiner Darstellung Gebrauch von der Freistellungsmöglichkeit nach Artikel 16 der Sechsten Richtlinie gemacht.

20.   Die Value Added Tax (Special Provisions) Order 1995 (S.I. 1995/1268) regelt in ihrem Artikel 12 die sogenannte Margenbesteuerung bei der Lieferung von Kunstgegenständen, Sammlungsstücken und Antiquitäten,(8) wie sie in Artikel 26a der Sechsten Richtlinie vorgesehen ist.

III –  Sachverhalt, vorgerichtliches Verfahren und Anträge

21.   Die Transaktionen, die die Behörden des Beklagten nach Ansicht der Kommission unter Verstoß gegen die Sechste Richtlinie besteuern, lassen sich wie folgt beschreiben:

22.   Im Vereinigten Königreich ansässige Auktionshäuser verbringen Kunstgegenstände aus Drittstaaten zur Versteigerung ins Inland. Dabei werden die Gegenstände nach dem Verfahren für Gegenstände zur vorübergehenden Verwendung in der Gemeinschaft gemäß Artikel 137 ff. des Zollkodex in Verbindung mit Artikel 576 Absatz 3 der Zoll-Durchführungsverordnung von Einfuhrabgaben befreit. Nach Artikel 16 der Sechsten Richtlinie fällt zunächst auch keine Mehrwertsteuer an.

23.   Die Objekte werden versteigert, noch während sie sich in dieser zoll- und mehrwertsteuerrechtlichen „Quarantäne“ befinden. Von dem bei der Versteigerung erzielten Preis behält der Versteigerer einen bestimmten Prozentsatz (meist zwischen 7 % und 20 %) als Provision ein (seller's commission). Zusätzlich zu dem Preis hat der Erwerber in der Regel noch ein Aufgeld an den Versteigerer zu entrichten (buyer's premium). In der britischen Rechtsprechung und Lehre wird der Versteigerer deswegen bis zum Hammerschlag als Beauftragter (agent) des Verkäufers und danach als Beauftragter des Käufers angesehen.(9)

24.   Wird der Kunstgegenstand nach der Versteigerung nicht wieder in ein Drittland verbracht, sondern endgültig in die Gemeinschaft eingeführt, erhebt die Steuerverwaltung Mehrwertsteuer auf die Einfuhr. Besteuerungsgrundlage ist der Versteigerungserlös (hammer price) einschließlich der Provision des Auktionators. Formal findet dabei zwar der normale Steuersatz Anwendung. Die Besteuerungsgrundlage wird jedoch entsprechend Artikel 11 Teil B Absatz 6 der Sechsten Richtlinie fiktiv so verringert, dass der effektive Steuersatz 5 % beträgt.

25.   Wegen dieser Praxis richtete die Kommission am 17. März 1997 ein erstes Mahnschreiben an das Vereinigte Königreich. Darin rügte sie einen Verstoß gegen Artikel 28 Absatz 1a und Artikel 28c Buchstabe E Absatz 1 (also Artikel 16 in seiner neuen Fassung) der Sechsten Richtlinie. Der ermäßigte Steuersatz von (damals noch) 2,5 % auf vorübergehend eingeführte und versteigerte Kunstgegenstände dürfe nicht auf die Gewinnmarge des Versteigerers angewandt werden.

26.   Nach einer Stellungnahme der Regierung des Vereinigten Königreichs vom 15. Mai 1997 ergänzte die Kommission das erste Mahnschreiben mit Schreiben vom 10. August 1998 um eine ausführlichere rechtliche Analyse. Sie warf dem Vereinigten Königreich darin vor, außer gegen die bereits genannten Bestimmungen auch gegen die Artikel 2 Nummer 1, 5 Absatz 4 Buchstabe c, 12 Absatz 3 und 26a der Sechsten Richtlinie zu verstoßen. Die Steuerbehörden des Vereinigten Königreichs behandelten die Versteigerung zu Unrecht einheitlich als Einfuhrvorgang. Vielmehr liege neben der Einfuhr auch eine Lieferung im Inland vor. Die Marge des Versteigerers sei gemäß Artikel 26a der Sechsten Richtlinie Bestandteil der Gegenleistung für diese Lieferung und daher dem Normalsatz zu unterwerfen.

27.   Da die Antwort des Vereinigten Königreichs vom 12. Oktober 1998 die Kommission nicht überzeugte, versandte sie am 3. August 2000 eine mit Gründen versehene Stellungnahme, in der sie im Wesentlichen die Verletzung derselben Vorschriften geltend machte wie im ergänzenden Mahnschreiben. Nur die Rüge des Artikels 28 Absatz 1a der Sechsten Richtlinie wurde fallen gelassen, da die Regierung des Vereinigten Königreichs mit Schreiben vom 16. November 1999 mitgeteilt hatte, dass der ermäßigte Satz für die Einfuhr von Kunstgegenständen von 2,5 % auf 5 % angehoben worden sei. Auch der ursprünglich beanstandete Verstoß gegen Artikel 26a der Sechsten Richtlinie wird in der mit Gründen versehenen Stellungnahme nicht aufrechterhalten.

28.   Nachdem das Vereinigte Königreich seinen Standpunkt mit Schreiben vom 16. November 2000 noch einmal bekräftigt hatte, reichte die Kommission am 16. Juli 2003 Klage gemäß Artikel 226 EG ein. Sie beantragt,

1.       festzustellen, dass das Vereinigte Königreich gegen seine Verpflichtungen aus den Artikeln 2 Nummer 1, 5 Absatz 4 Buchstabe c, 12 Absatz 3 und 16 Absatz 1 der Sechsten Richtlinie des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern verstoßen hat, indem es einen ermäßigten Mehrwertsteuersatz auf die Provision angewandt hat, die an Auktionatoren anlässlich des Verkaufs durch Versteigerung von Kunstgegenständen, Antiquitäten und Sammlungsstücken gezahlt wird, die im Rahmen von Regelungen zur vorübergehenden Verwendung eingeführt worden sind;

2.       dem Vereinigten Königreich die Kosten des Verfahrens aufzuerlegen.

29.   Das Vereinigte Königreich beantragt,

1.      die Klage abzuweisen;

2.      der Kommission der Europäischen Gemeinschaften die Kosten des Verfahrens aufzuerlegen.

30.   Nach Abschluss des schriftlichen Verfahrens hat der Gerichtshof Fragen an die Parteien gerichtet, die sie mit Schreiben vom 19. November 2004 beantwortet haben. Am 16. Dezember 2004 fand die mündliche Verhandlung statt.

IV – Vorbringen der Parteien

31.   Die Kommission hebt hervor, dass die Anwendung des Verfahrens der Einfuhr zur vorübergehenden Verwendung nicht zu einer steuerlich günstigeren Behandlung führen könne als die Einfuhr und anschließende Versteigerung. Nach Artikel 16 Absatz 1 der Sechsten Richtlinie sei die Freistellung an die Bedingung geknüpft, dass bei einer nachfolgenden endgültigen Einfuhr derselbe Steuerbetrag geschuldet wird wie bei der Besteuerung von inländischen Umsätzen.

32.   Die Steuerermäßigung für die Einfuhr der Kunstgegenstände sei auf den Wert der Gegenstände vor der Versteigerung zu beschränken, d. h. auf den Betrag, der sich aus dem Versteigerungserlös abzüglich der Marge des Auktionators ergebe. Auf dessen Provision sei der Normalsatz anzuwenden.

33.   Die Regierung des Vereinigten Königreichs steht dagegen auf dem Standpunkt, dass keine Lieferung im Inland vorliege, sondern ein „Verkauf zur Ausfuhr“ in das Zollgebiet der Gemeinschaft(10), da die Versteigerung vor der (endgültigen) Einfuhr in die Gemeinschaft stattfinde.

34.   Der Ansatz der Kommission stehe nicht in Einklang mit Artikel 11 Teil B Absatz 1 der Sechsten Richtlinie in Verbindung Artikel 29 Absatz 1 des Zollkodex. Maßgeblich für die Besteuerung sei danach der Transaktionswert einschließlich der Provision des Versteigerers. Gemäß Artikel 11 Teil B Absatz 3 Buchstabe b sei außerdem das Aufgeld bei der Ermittlung des Einfuhrwerts einzubeziehen. Es würde zu einer Doppelbesteuerung führen, wenn die Provision im Rahmen der Besteuerung für eine Lieferung im Inland berücksichtigt würde, obwohl sie als Teil des Einfuhrwertes bereits besteuert worden sei.

35.   Die Besteuerungspraxis des Vereinigten Königreichs stelle eine nach Artikel 16 Absatz 1 der Sechsten Richtlinie erlaubte Sondermaßnahme dar. Das Vereinigte Königreich komme dabei insbesondere der Pflicht aus Artikel 16 Absatz 1 Teil E letzter Unterabsatz nach, eine Doppelbesteuerung zu vermeiden. Die Bestimmung betreffe zudem nur die Erhebung der Mehrwertsteuer bei Einfuhr, nicht die angeblich erforderliche Besteuerung als Lieferung im Inland.

V –    Rechtliche Würdigung

A –    Vorbemerkung zum Gegenstand des Verfahrens

36.   Die steuerrechtliche Einordnung der streitgegenständlichen Versteigerungsumsätze hängt wesentlich davon ab, ob der Versteigerer die Kunstgegenstände im eigenen Namen oder in fremdem Namen verkauft, wie auch die Parteien in ihren Antworten auf die Fragen des Gerichtshofes bestätigt haben.

37.   Nur wenn der Auktionator im eigenen Namen handelt, führt er eine Lieferung im Sinne von Artikel 4 der Sechsten Richtlinie durch. Die steuerpflichtige Lieferung liegt dabei normalerweise in der Übertragung der „Befähigung, wie ein Eigentümer über einen Gegenstand zu verfügen“ (Artikel 2 Nummer 1 in Verbindung mit Artikel 5 der Sechsten Richtlinie). Artikel 5 Absatz 4 Buchstabe c der Sechsten Richtlinie stellt die Übergabe eines Gegenstands aufgrund eines Kommissionsgeschäfts der Lieferung gleich. Dies ist deswegen konsequent, weil der Veräußerer dem Kommissionär die Ware übergibt, damit dieser sie im eigenen Namen an einen Dritten verkauft, obwohl er nicht ihr Eigentümer ist.

38.   Artikel 26a Teil C der Sechsten Richtlinie räumt den Mitgliedstaaten, in den Fällen, in denen der Auktionator im eigenen Namen handelt, die Möglichkeit ein, nur auf dessen Marge Mehrwertsteuer zu erheben und nicht auf den vollen Versteigerungspreis.

39.   Handelt der Versteigerer dagegen in fremdem Namen, kommt die Lieferbeziehung unmittelbar zwischen dem Verkäufer des Gegenstands (dem Auftraggeber des Auktionators) und dem Erwerber zustande. Der Versteigerer muss in diesem Fall keine Mehrwertsteuer für die Lieferung abführen, sondern allenfalls der Verkäufer (sofern er den Kunstgegenstand im Rahmen seiner wirtschaftlichen Tätigkeit, z. B. als Kunsthändler, veräußert). Der Versteigerer ist jedoch für die von ihm erbrachte Dienstleistung steuerpflichtig. Besteuerungsgrundlage hierfür ist die entsprechende Gegenleistung, die in Form der Provision an den Versteigerer fließt. Im Ergebnis wird bei Handeln in fremdem Namen also zumeist auch nur die Marge des Versteigerers belastet.

40.   In dieser Konstellation ist Artikel 26a Teil C der Sechsten Richtlinie nicht anwendbar, wie sich schon aus dem Wortlaut seines ersten Absatzes ergibt. Es besteht auch gar keine Notwendigkeit eine Sonderregelung auf den Umsatz des Versteigerers anzuwenden, da er schon nach den allgemeinen Vorschriften nur seine Marge als Gegenleistung für seine Dienstleistung zu versteuern hat. Für die Anwendung von Artikel 5 Absatz 4 der Sechsten Richtlinie bleibt ebenfalls kein Raum.

41.   Ob der Versteigerer im eigenen Namen oder in fremdem Namen handelt, hängt von den konkreten Vertragsbeziehungen zwischen den Beteiligten ab. Nach Auskunft der Regierung des Vereinigten Königreichs lässt das nationale Recht Raum für beide Vertragsgestaltungen. Dies sieht die Kommission ebenso. Ihrer Ansicht nach wird der Versteigerer jedoch meistens als undisclosed agen“ (besser als agent of an undisclosed principal) tätig, also als Vertreter, der nicht offen legt, wer sein Geschäftsherr ist.

42.   Im Fall der undisclosed agency handelt der Versteigerer nach Ansicht beider Parteien in eigenem Namen. Dem stünde nicht entgegen, dass die Erwerber möglicherweise vermuteten, der Versteigerer handele tatsächlich für einen ungenannt gebliebenen Geschäftsherrn. Diese Ansicht überzeugt, jedenfalls soweit es um Fragen der Mehrwertsteuer geht, denn sie gestattet die problemlose Ermittlung des Steuerpflichtigen. Die zivilrechtlichen Beziehungen zwischen den Beteiligten sind möglicherweise anders zu beurteilen.

43.   Es kann dahinstehen, wie die Verträge im Einzelfall ausgestaltet sind und welche Vertragsgestaltungen im Vereinigten Königreich überwiegend gewählt werden. Klar ist jedenfalls, dass das vorliegende Vertragsverletzungsverfahren nur den Fall betrifft, dass der Versteigerer im eigenen Namen handelt.

44.   Die Kommission hat nämlich im gesamten Verfahren nur auf diese Konstellation abgestellt und ist von einer Lieferung durch den Versteigerer ausgegangen. Dies zeigt sich etwa daran, dass sie in der mit Gründen versehenen Stellungnahme eine Verletzung von Artikel 26a der Sechsten Richtlinie gerügt hat und noch immer den Verstoß gegen Artikel 5 Absatz 4 der Sechsten Richtlinie geltend macht. Beide Vorschriften sind – wie dargelegt – nur bei Handeln im eigenen Namen anwendbar.

45.   Lediglich in Randnummer 15 der Erwiderung führt die Kommission aus, es sei unbeachtlich für den vorliegenden Fall, ob die Leistung des Versteigerers als Dienstleistung zu qualifizieren sei oder als Lieferung im Sinne des Artikels 26a der Sechsten Richtlinie. Da beide Arten von Leistungen bei Anwendung des Artikels 16 der Sechsten Richtlinie zu beachten seien, bleibe die Argumentation der Kommission die Gleiche.

46.   Zwar könnte es zutreffen, dass Dienstleistungen des Auktionators (bei der Versteigerung in fremdem Namen) oder Lieferungen im eigenen Namen im Rahmen des Artikels 16 der Sechsten Richtlinie gleich zu beurteilen sind. Jedoch hat die Kommission eine gegen die Richtlinie verstoßende Besteuerung der Leistung des Versteigerers als Dienstleistung bis zur Erwiderung überhaupt nicht erwähnt. Sofern die Kommission in der zitierten Passage eine entsprechende Rüge vorbringen wollte, wäre diese unzulässig, da der Streitgegenstand in diesem Verfahrensstadium nicht mehr geändert oder erweitert werden darf.(11)

47.   Im Folgenden steht demnach nur zur Beurteilung, inwieweit das Vereinigte Königreich gegen den Vertrag verstoßen hat, indem es Versteigerungen von vorübergehend eingeführten Kunstgegenständen, bei denen der Versteigerer im eigenen Namen tätig wird, nicht in Einklang mit der Sechsten Richtlinie besteuert.

B –    Zulässigkeit

48.   In der Gegenerwiderung und in der mündlichen Verhandlung hat die Regierung des Vereinigten Königreichs der Kommission vorgeworfen, diese habe in der Erwiderung ihren Rechtsstandpunkt gegenüber der mit Gründen versehenen Stellungnahme und der Klage geändert.

49.   Ursprünglich habe die Kommission gerügt, dass die Provision des Auktionators in die Bemessungsgrundlage für die Mehrwertsteuer bei der Einfuhr einbezogen und nicht als Gegenleistung für eine Lieferung im Inland besteuert würde. In der Erwiderung habe die Kommission dagegen zugestanden, dass die Provision als Teil des Einfuhrwerts anzusehen sei. Als unzulässige neue Rüge habe sie zugleich eine angeblich fehlerhafte Berechnungsmethode für die Mehrwertsteuer auf die Einfuhr geltend gemacht.

50.   Nach ständiger Rechtsprechung wird der Gegenstand eines Vertragsverletzungsverfahrens durch das Vorverfahren eingegrenzt, so dass eine Klage gegenüber dem Inhalt der mit Gründen versehenen Stellungnahme zwar beschränkt, aber nicht mehr erweitert werden kann.(12) Erst recht ist es unzulässig, in der Erwiderung neue Angriffsmittel vorzubringen.

51.   Im Kern hat die Kommission während des gesamten vorgerichtlichen und gerichtlichen Verfahrens beanstandet, dass die Provision des Auktionators nicht mit dem Normalsatz besteuert wird, obwohl es sich bei dieser Leistung um eine Lieferung im Inland handele. Es ist die Kehrseite derselben Medaille, wenn die Kommission fordert, dass der ermäßigte Steuersatz auf die Einfuhr der Kunstgegenstände nur auf den Versteigerungspreis abzüglich der Marge anzuwenden ist.(13)

52.   In der Erwiderung tritt die Kommission dem Einwand der Regierung des Vereinigten Königreichs entgegen, dass ihre Rechtsauffassung zu einer doppelten Besteuerung der Marge führe, und zwar einmal im Rahmen der Erhebung der Einfuhrmehrwertsteuer und ein zweites Mal als Gegenwert für eine Lieferung im Inland. Sie erläutert in diesem Zusammenhang nur, was sich auch schon aus ihrem bisherigen Vortrag ergab, nämlich dass sie eine Aufspaltung der Bemessungsgrundlage in zwei Teile verlangt, auf die jeweils ein anderer Steuersatz anzuwenden ist. Es ist nicht nachvollziehbar, inwieweit diese Darlegung im Widerspruch zu der vorherigen Argumentation stehen soll.

53.   Folglich ist die Rüge der Regierung des Vereinigten Königreichs zurückzuweisen, die Kommission habe im Laufe des Verfahrens ihren Rechtsstandpunkt geändert und neue Angriffsmittel eingeführt.

C –    Begründetheit

54.   Die Ursache des vorliegenden Rechtsstreits liegt vor allem in der Unklarheit der Tragweite des Sonderregimes für Kunstgegenstände, die vorübergehend zur Versteigerung eingeführt werden. Dieses Sonderregime ist vorab kurz zu erläutern.

1.      Das Sonderregime für Kunstgegenstände, die zur Versteigerung eingeführt werden

55.   Das mehrwertsteuerrechtliche Regime, das die Sechste Richtlinie für Kunstgegenstände eröffnet, die zur Versteigerung eingeführt werden, hat in dreierlei Hinsicht Ausnahmecharakter.

56.   Erstens können die Mitgliedstaaten Gegenstände bei der Verbringung in das Gebiet der Gemeinschaft gemäß Artikel 16 Absatz 1 Teil E der Sechsten Richtlinie von der Mehrwertsteuer befreien, die an sich nach Artikel 2 Nummer 2 in Verbindung mit Artikel 7 bei der Einfuhr entstehen würde. Die mehrwertsteuerrechtliche Behandlung knüpft dabei an das Zollregime der Einfuhr zur vorübergehenden Verwendung an.

57.   Grund für die Freistellung von Zoll und Mehrwertsteuer ist, dass vor der Versteigerung noch nicht klar ist, ob die Kunstgegenstände in der Gemeinschaft verbleiben oder wieder in Drittstaaten ausgeführt werden. Im Fall der Wiederausfuhr soll die vorübergehende Einfuhr abgabenneutral sein, damit sich die Auktionen in die Gemeinschaft nicht verteuern und den europäischen Standorten keine Nachteile im internationalen Wettbewerb entstehen.

58.   Die zweite Sonderregelung kommt zum Tragen, wenn die Kunstgegenstände das Zoll- und Steuergebiet der Gemeinschaft nach der Versteigerung nicht wieder verlassen, sondern endgültig eingeführt werden. Dann wird gemäß Artikel 12 Absatz 3 Buchstabe a) und c) der Sechsten Richtlinie ein ermäßigter Steuersatz angewendet. In den Mitgliedstaaten, in denen – wie im Vereinigten Königreich – zum Stichtag 1. Januar 1993 kein ermäßigter Satz auf die Einfuhr von Kunstgegenständen galt, wird das gleiche Ergebnis durch eine fiktive Absenkung der Besteuerungsgrundlage nach Artikel 11 Teil B Absatz 6 der Sechsten Richtlinie erreicht.

59.   Drittens schließlich eröffnet Artikel 26a der Sechsten Richtlinie den Mitgliedstaaten die Möglichkeit, beim Handel (auch im Wege der Versteigerung) mit Gebrauchtgegenständen, Kunstgegenständen, Sammlungsstücken und Antiquitäten allein die Marge des Wiederverkäufers bzw. des Versteigerers zu besteuern. Damit bleibt der Wert des Gegenstandes selbst von der Steuer befreit. Jeder Gegenstand ist nämlich bei dem ersten Erwerb durch einen Endverbraucher bereits einmal besteuert worden. Ohne das System der Margenbesteuerung bestünde die Gefahr der Doppelbesteuerung, wenn derselbe Gegenstand nach dem Erwerb und Gebrauch durch einen Endverbraucher erneut in den Wirtschaftskreislauf zurückgeführt und nochmals durch einen Steuerpflichtigen verkauft wird.(14)

60.   Die Parteien sind sich im Ergebnis darin einig, dass das System der Margenbesteuerung im vorliegenden Fall keine Schwierigkeiten bereitet. Für die Regierung des Vereinigten Königreichs ist dies schon deswegen nicht der Fall, weil ihrer Auffassung nach keine Lieferung im Inland erfolgt, die der Margenbesteuerung zu unterwerfen wäre. Auch wenn die Kommission in diesem Punkt anderer Ansicht ist, so meint auch sie, dass die Anwendung von Artikel 26a der Sechsten Richtlinie unproblematisch ist.

2.      Überblick über die gerügten Vorschriften

61.   Die Parteien streiten im Kern um die Frage, ob die Marge der Auktionatoren bei der Versteigerung von Kunstgegenständen, während diese sich noch unter dem Regime der Einfuhr zur vorübergehenden Verwendung befinden, als Lieferung im Inland mit dem Normalsatz zu versteuern ist. Die Kommission stellt dabei den Verstoß gegen Artikel 16 Absatz 1 der Sechsten Richtlinie in den Vordergrund.

62.   Daneben macht sie eine Verletzung der Artikel 2 Nummer 1, 5 Absatz 4 c und 12 Absatz 3 der Sechsten Richtlinie geltend. Bevor näher untersucht wird, ob die streitige Besteuerungspraxis gegen Artikel 16 Absatz 1 verstößt, ist zu erörtern, welche Bedeutung die anderen geltend gemachten Vorschriften für den vorliegenden Rechtsstreit haben.

–       Artikel 2 Nummer 1 der Sechsten Richtlinie

63.   Nach Artikel 2 Nummer 1 der Sechsten Richtlinie unterliegen Lieferungen von Gegenständen, die ein Steuerpflichtigen als solcher im Inland ausführt, der Mehrwertsteuer. Artikel 3 Absatz 2 der Sechsten Richtlinie erläutert näher, was unter „Inland“ zu verstehen ist, nämlich insbesondere das Territorium der Mitgliedstaaten, in dem auch der EG-Vertrag zur Anwendung kommt. Nach dem Wortlaut dieser Bestimmungen könnte eine Lieferung im Inland zu bejahen sein, weil die Kunstgegenstände sich im Zeitpunkt der Versteigerung rein körperlich im Gemeinschaftsgebiet befinden.

64.   Dabei wäre die Leistung des Versteigerers nicht nach Artikel 14 Absatz 1 Buchstabe i der Sechsten Richtlinie von der Steuer befreit. Diese Befreiung bezieht sich nämlich auf Dienstleistungen, die sich auf die Einfuhr von Gegenständen beziehen und deren Wert nach Artikel 11 Teil B Absatz 3 Buchstabe b der Sechsten Richtlinie in der Besteuerungsgrundlage enthalten ist. Zu denken wäre etwa an die Abwicklung der Einfuhrformalitäten. Die Veranstaltung der Versteigerung steht jedoch nicht unmittelbar im Zusammenhang mit der Einfuhr, sondern mit der Lieferung.

65.   Zweifel am Vorliegen einer Lieferung im Inland bestehen aber deswegen, weil die Gegenstände sich zwar im Gemeinschaftsgebiet befinden, de iure aber noch nicht (endgültig) eingeführt worden sind, während sie versteigert werden. Dieses Auseinanderfallen der tatsächlichen und (zoll)rechtlichen Lage wird durch das Sonderregime der Einfuhr zur vorläufigen Verwendung möglich.

66.   Welche Auswirkungen die Anwendung dieses besonderen Zollregimes auf die Erhebung der Mehrwertsteuer hat, wird in der Spezialvorschrift des Artikels 16 abschließend geregelt. Diese Bestimmung legt zum einen nahe, dass mangels einer endgültigen Einfuhr nicht von einer Lieferung im Inland gesprochen werden kann. Sie verlangt aber zum anderen die Gleichstellung der Umsätze während des vorübergehenden Einfuhrregimes mit inländischen Umsätzen. Ob eine Verletzung von Artikel 2 Nummer 1 der Sechsten Richtlinie vorliegt, hängt damit im Ergebnis von den Vorgaben ab, die Artikel 16 für diese Gleichstellung macht.

–       Artikel 5 Absatz 4 Buchstabe c der Sechsten Richtlinie

67.   Auch eine Verletzung von Artikel 5 Absatz 4 Buchstabe c der Sechsten Richtlinie lässt sich nicht losgelöst von Artikel 16 feststellen. Artikel 5 Absatz 4 Buchstabe c besagt, dass die Übergabe eines Gegenstands von einem Kommittenten an den Kommissionär und die Weitergabe von diesem an den Erwerber jeweils als Lieferung im Sinne der Richtlinie einzuordnen ist.

68.   Voraussetzung für das Vorliegen eines nach Artikel 5 steuerbaren Umsatzes ist indes, dass der Anwendungsbereich der Sechsten Richtlinie nach ihrem Artikel 2 Nummer 1 überhaupt eröffnet ist, weil die Lieferung im Inland erbracht wird. Dies hängt – wie bereits ausgeführt – davon ab, welche mehrwertsteuerrechtlichen Folgen sich gemäß Artikel 16 aus der Anwendung des Verfahrens der Einfuhr zur vorläufigen Verwendung ergeben.

–       Artikel 12 Absatz 3 der Sechsten Richtlinie

69.   Artikel 12 Absatz 3 der Sechsten Richtlinie legt den mindestens anzuwenden Normalsatz der Mehrwertsteuer fest und enthält nähere Bestimmungen über die Höhe und die Anwendungsvoraussetzungen für ermäßigte Steuersätze. Die Kommission hat diese Vorschrift angeführt, weil das Vereinigte Königreich die Provision des Versteigerers in der vorliegenden Konstellation angeblich nicht dem Normalsatz unterwirft.

70.   Hierzu kann bereits an dieser Stelle festgestellt werden, dass dieser Vorwurf nicht gerechtfertigt ist. Zwar trifft es zu, dass auf den Importwert einschließlich der Provision des Versteigerers nur ein effektiver Satz von 5 % angewandt wird. Dieses Ergebnis wird jedoch durch die fiktive Reduzierung der Bemessungsgrundlage nach Artikel 11 Teil B Absatz 6 der Sechsten Richtlinie erreicht. Auf die so korrigierte Bemessungsgrundlage wird dann aber Mehrwertsteuer in Höhe des Normalsatzes und nicht in Höhe eines ermäßigten Satzes erhoben.

71.   Es kann allenfalls Zweifeln unterliegen, ob das Vereinigte Königreich hinsichtlich der Leistung des Versteigerers nicht gemäß Artikel 11 Teil A Absatz 1 Buchstabe a der Sechsten Richtlinie den vollen Wert der Gegenleistung zur Grundlage der Besteuerung machen müsste, ohne den Korrekturmechanismus nach Artikel 11 Teil B Absatz 6 für die Einfuhr von Kunstgegenständen darauf zu erstrecken. Da die Kommission aber keinen Verstoß gegen Artikel 11 der Sechsten Richtlinie geltend gemacht hat, braucht einer eventuellen Verletzung dieser Bestimmung nicht nachgegangen zu werden.

3.      Verstoß gegen Artikel 16 Absatz 1 der Sechsten Richtlinie

72.   Artikel 16 Absatz 1 der Sechsten Richtlinie schreibt vor, dass die Mitgliedstaaten Umsätze mit vorübergehend eingeführten Gegenständen von der Mehrwertsteuer freistellen können. Dabei muss gewährleistet sein, dass beim späteren Verlassen des Sonderregimes und bei der endgültigen Einfuhr Mehrwertsteuer in dem gleichen Umfang erhoben wird, wie sie auch bei inländischen Umsätzen geschuldet wäre.

73.   Nach Ansicht der Kommission ist diese Bedingung bei der Besteuerung im Vereinigten Königreich nicht erfüllt. Sie belegt diese These mit einer Vergleichsbetrachtung, wie sie Artikel 16 Absatz 1 verlangt. Der Versteigerung von vorübergehend eingeführten und erst anschließend endgültig eingeführten Kunstgegenständen stellt die Kommission folgenden Vergleichsfall gegenüber: Die Kunstgegenstände werden sogleich endgültig eingeführt und somit im Inland versteigert, wenn sie sich dort bereits im freien Verkehr befinden.

74.   In dem Vergleichsfall werde zunächst die Mehrwertsteuer bei Einfuhr mit dem effektiven Satz von 5 % fällig. Anschließend falle Mehrwertsteuer auf die Lieferung durch den Versteigerer an, wobei gemäß Artikel 26a der Sechsten Richtlinie dessen Marge die Bemessungsgrundlage bilde. Die Marge wäre mit dem Normalsatz von 17,5 % Mehrwertsteuer zu belegen. Die Besteuerungspraxis im Vereinigten Königreich im Hinblick auf zunächst vorübergehend eingeführte, dann versteigerte und anschließend endgültig eingeführte Kunstgegenstände führe nicht zu dem gleichen Steuerbetrag wie im Vergleichsfall, da die Marge des Auktionators danach nur einem effektiven Steuersatz von 5 % unterworfen sei.

75.   Um in beiden Fällen zu einer gleich hohen Besteuerung zu gelangen, muss nach Auffassung der Kommission folgendermaßen vorgegangen werden: Die Bemessungsrundlage (der Versteigerungspreis) wird in zwei Bestandteile aufgeteilt: die Marge des Auktionators, die mit dem Normalsatz zu versteuern ist und den Preis abzüglich der Marge, der dem Einfuhrwert entspricht. Nur auf diesen fiktiven Einfuhrwert ist der ermäßigte Satz von 5 % anzuwenden.

76.   Gegen diese Auffassung der Kommission erhebt die Regierung des Vereinigten Königreichs eine Reihe von Einwänden, auf die im Folgenden einzugehen ist.

–       Fakultativer Charakter des Sonderregimes

77.   Zunächst verweist die Regierung des Vereinigten Königreichs auf den fakultativen Charakter des ersten Teils von Artikel 16 Absatz 1, der den Mitgliedstaaten die Möglichkeit einräume, Sondermaßnahmen zur Freistellung der betroffenen Umsätze zu ergreifen. Nach der früheren Fassung von Artikel 16(15) sei die britische Praxis als zulässige Sondermaßnahme in diesem Sinne angesehen worden. Die geringen Änderungen des Wortlauts, die Artikel 16 durch die Richtlinie 95/7(16) erfahren habe, hätten daran nichts geändert.

78.   Zwar trifft es zu, dass Artikel 16 insofern keinen zwingenden Charakter hat, als er es den Mitgliedstaaten freistellt, Sondermaßnahmen im Hinblick auf Waren zu ergreifen, die Regelungen der vorübergehenden Einfuhr unterworfen sind. Die Verwendung des Begriffs der Sondermaßnahmen macht zudem auch deutlich, dass Artikel 16 die Mitgliedstaaten zu Abweichungen von den allgemeinen Regeln der Sechsten Richtlinie ermächtigt.

79.   Macht ein Mitgliedstaat jedoch von dieser Option Gebrauch, so muss er sich an die zwingenden Vorgaben halten, die Artikel 16 für die Ausgestaltung der Sondermaßnahmen aufstellt, wie die Kommission zu Recht entgegnet hat. Danach besteht insbesondere die Pflicht, die Waren nach dem Ende des Sonderregimes in demselben Umfang zu besteuern wie entsprechende Umsätze im Inland.

80.   Es ist nicht ersichtlich, inwieweit die britische Praxis nach dem früheren Wortlaut von Artikel 16 Absatz 1 der Sechsten Richtlinie eher zulässig gewesen sein soll als nach dem geltenden Wortlaut. Dies kann aber letztlich dahinstehen, da in dem anhängigen Verfahren auf die gegenwärtige Rechtslage abzustellen ist.

–       Bestimmung der Bemessungsgrundlage und Vermeidung der Doppelbesteuerung

81.   Des Weiteren betont die Regierung des Vereinigten Königreichs, dass Artikel 16 Absatz 1 letzter Unterabsatz der Sechsten Richtlinie die Mitgliedstaaten verpflichte, Maßnahmen zur Vermeidung einer Doppelbesteuerung zu treffen, wenn Waren das Regime der vorübergehenden Einfuhr verlassen und endgültig eingeführt werden. Da die Marge des Versteigerers gemäß Artikel 11 Teil B Absatz 1 der Sechsten Richtlinie in Verbindung mit Artikel 29 des Zollkodex Bestandteil des Einfuhrwertes sei, müsse darauf Einfuhrmehrwertsteuer erhoben werden. Eine nochmalige Belastung der Marge als Lieferung im Inland sei mit dem Verbot der Doppelbesteuerung nicht zu vereinbaren.

82.   Der Regierung des Vereinigten Königreichs ist darin Recht zu geben, dass das Verbot der Doppelbesteuerung in Artikel 16 Absatz 1 letzter Unterabsatz die Mitgliedstaaten bei der Ausgestaltung der Sondermaßnahmen bindet. Es ist auch richtig, dass jedenfalls die vom Verkäufer zu tragende Kommission (seller's commission) Bestandteil des Zollwerts nach Artikel 29 des Zollkodex ist. Maßgeblich für die Zollschuld ist nämlich gemäß Artikel 582 Absatz 1 der Zoll-Durchführungsverordnung die Bemessungsgrundlage im Zeitpunkt der Anmeldung zum freien Verkehr. Zu diesem Zeitpunkt steht der Transaktionswert fest, der für die Anwendung des Artikels 29 des Zollkodex heranzuziehen ist. Er schließt die Verkäuferkommission ein.

83.   Unklar ist hingegen die Einordnung des vom Käufer zu zahlenden Aufgelds (buyer's premium). Hierbei könnte es sich um eine Einkaufskommission im Sinne des Artikels 32 Absatz 1 Buchstabe a, i) und Absatz 4 sowie des Artikels 33 Absatz 1 Buchstabe e des Zollkodex handeln, die nicht Bestandteil des Zollwerts ist. Dies wäre der Fall, wenn das Aufgeld als eine Vergütung für Leistungen des Versteigerers zugunsten des Erwerbers anzusehen wäre. Dafür spricht insbesondere, dass der Auktionator in der britischen Lehre auch als Beauftragter des Erwerbers angesehen wird.(17) Die Regierung des Vereinigten Königreichs bestreitet allerdings, dass das Aufgeld eine Einkaufsprovision im zollrechtlichen Sinne ist.

84.   Die Frage nach der Einordnung des Aufgeldes kann jedoch offen bleiben, wenn der Zollwert abweichend von Artikel 11 Teil B Absatz 1 der Sechsten Richtlinie im vorliegenden Fall nicht uneingeschränkt für die Bestimmung des mehrwertsteuerrechtlichen Einfuhrwerts heranzuziehen ist. Die Verweisung des Artikel 11 Teil B Absatz 1 der Sechsten Richtlinie auf den Zollwert als Bemessungsgrundlage für den Einfuhrwert kann nämlich nicht losgelöst von Artikel 16 Absatz 1 dieser Richtlinie ausgelegt werden. Soweit sich aus dieser für das temporäre Einfuhrregime spezielleren Bestimmung eine abweichende Bemessungsgrundlage für die Mehrwertsteuer bei der Einfuhr ergibt, geht diese Regelung vor.

85.   Nach Artikel 16 müssen zwei Ziele erreicht werden: Erstens soll die Anwendung des temporären Einfuhrregimes in steuerrechtlicher Hinsicht neutral sein, wenn der Kunstgegenstand später eingeführt wird. Dies soll durch die (nachträgliche) Gleichstellung mit inländischen Umsätzen gewährleistet werden. Zweitens gilt es, eine Doppelbesteuerung zu vermeiden. Kurz zusammengefasst könnte man auch sagen, die Anwendung des Verfahrens der vorübergehenden Einfuhr soll weder zu einer besseren noch einer schlechteren Behandlung im Vergleich zur unmittelbaren Einfuhr ohne Zwischenschaltung des temporären Regimes führen.

86.   Die im Vereinigten Königreich angewandte Methode erreicht nur das zweite Ziel. Das erste Ziel verfehlt sie. Denn während die Marge des Versteigerers bei einem im freien Verkehr befindlichen Gegenstand mit dem Normalsatz zu versteuern wäre, so liegt der Mehrwertsteuersatz nach dem britischen Modell bei der Versteigerung von Kunstgegenständen im temporären Einfuhrregime nur bei 5 %. Somit führt das Sonderregime, wie es das Vereinigte Königreich anwendet, insgesamt zu einer günstigeren Besteuerung. Man kann – mit anderen Worten – Steuern sparen, wenn man einen Kunstgegenstand zunächst vorübergehend einführt und versteigert, statt ihn sogleich endgültig einzuführen und erst danach zu versteigern. Gerade dieser Effekt soll nach Artikel 16 Absatz 1 der Sechsten Richtlinie aber ausgeschlossen sein.

87.   Die von der Kommission vertretene Auffassung stellt sicher, dass beide Ziele erreicht werden. Durch die Aufspaltung der Bemessungsgrundlage in zwei Teile und die Anwendung unterschiedlicher Steuersätze auf die beiden Teile ist die Gleichstellung mit Lieferungen im Inland nach der Einfuhr weitgehend gewährleistet und eine Doppelbesteuerung ausgeschlossen.

88.   Die von der Kommission geforderte Methode steht allerdings nicht in Einklang mit den Regeln für die Bestimmung des Einfuhrwertes nach Artikel 11 Teil B Absatz 1 der Sechsten Richtlinie. So verlangt sie insbesondere, den zollrechtlich maßgeblichen, einheitlichen Transaktionswert für die Erhebung der Mehrwertsteuer in zwei Bestandteile aufzuspalten. Es ist jedoch kein anderer Weg ersichtlich, wie allen Vorgaben des Artikels 16 Absatz 1 der Sechsten Richtlinie in anderer Weise genügt werden kann. Letztlich ist diese atypische Berechnungsmethode der Mehrwertsteuer die einzig mögliche Antwort auf die atypische Lage, die aus der Suspendierung der Mehrwertsteuerpflicht während der vorübergehenden Einfuhr herrührt.

89.   Im Übrigen begrenzt diese Methode die Tragweite der Sonderregelungen für Kunstgegenstände und trägt damit dem geschilderten Ausnahmecharakter dieser Regelungen Rechnung. Der effektiv ermäßigte Einfuhrsteuersatz wird insbesondere nicht auf einen Mehrwert angewandt, der dem Kunstgegenstand durch die Leistung des Auktionators zwar vor der endgültigen Einfuhr, aber bereits im Gebiet der Gemeinschaft hinzugefügt wird. Vielmehr beschränkt sich seine Anwendung auf den Wert, den die Ware bei Grenzübertritt (fiktiv) hatte.

–       Auswirkungen auf den Wettbewerb

90.   Die Regierung des Vereinigten Königreichs tritt überdies dem Vorwurf der Kommission entgegen, die britische Praxis verschaffe den einheimischen Auktionshäusern Wettbewerbsvorteile. Es stehe den anderen Mitgliedstaaten frei, eine entsprechende Regelung anzuwenden. Vergleiche man die Besteuerung der Umsätze mit vorübergehend eingeführten und versteigerten Kunstgegenständen mit den entsprechenden Versteigerungsumsätzen im Inland, so seien Letztere sogar besser gestellt. Hier falle nur Mehrwertsteuer auf die Marge an, während der Wert des Gegenstandes in der Regel nicht versteuert werden müsse. Bei eingeführten Kunstwerken müsse dagegen der Wert selbst ebenfalls versteuert werden, wenn auch mit einem (effektiv) ermäßigten Satz.

91.   Sondervorschriften nach Artikel 16 der Sechsten Richtlinie können in der Tat alle Mitgliedstaaten einführen. Dabei gelten aber für alle Mitgliedstaaten dieselben Bedingungen, insbesondere der Grundsatz der steuerlichen Neutralität der Befreiung zugunsten vorübergehend eingeführter Kunstgegenstände. Bevorzugt ein Mitgliedstaat Versteigerungsumsätze mit solchen Kunstgegenständen unter Verstoß gegen Artikel 16, so liegt darin ein rechtswidriger Wettbewerbsvorteil für Auktionshäuser mit Sitz in diesem Mitgliedstaat. Diesen Vorteil können andere Mitgliedstaaten nicht einräumen, ohne ebenfalls gegen das Gemeinschaftsrecht zu verstoßen.

92.   Die Tatsache, dass nach Artikel 26a Teil C im Vereinigten Königreich bei Versteigerungen von Kunstgegenständen im Inland nur die Marge der Mehrwertsteuer unterliegt, rechtfertigt die britische Besteuerungspraxis in Bezug auf die Versteigerung vorübergehend eingeführter Kunstgegenstände nicht. Ziel des Artikels 16 Absatz 1 ist es nicht, dieselbe Steuerbelastung für Kunstgegenstände, die aus Drittstaaten eingeführt werden, und im Inland befindliche Kunstgegenstände zu garantieren. Die Regierung des Vereinigten Königreichs stellt hier zwei nicht vergleichbare Konstellationen gegenüber.

93.   Artikel 16 bezweckt vielmehr, dass bei der Anwendung des Verfahrens der vorübergehenden Einfuhr keine andere Steuerbelastung auftritt, als wenn der Gegenstand unmittelbar, also ohne Zwischenschaltung des temporären Regimes eingeführt wird. Dieses Ziel erreicht die Kommission mit ihrer Methode weitgehend.

94.   Leichte Unterschiede bei der Besteuerung in den beiden Fällen können allerdings auftreten. Führt ein Auktionshaus nämlich einen Kunstgegenstand bereits vor seiner Versteigerung endgültig ein und nicht erst im Anschluss daran, so kann für die Ermittlung der Bemessungsgrundlage für Mehrwertsteuer bei Einfuhr nicht auf den Transaktionswert (abzüglich der Marge des Versteigerers) zurückgegriffen werden. Denn dieser Wert ist ja erst nach dem Zuschlag bekannt. Stattdessen muss bei der Ermittlung des Einfuhrwerts nach der in Artikel 31 des Zollkodex vorgesehenen Schlussmethode vorgegangen werden. Damit ist nicht gewährleistet, dass in jedem der beiden Fälle eine genau gleich hohe Bemessungsgrundlage zugrunde gelegt wird. Diese möglichen Unterschiede in der Besteuerung sind jedoch nicht zu vermeiden.

–       Fehlende Vorhersehbarkeit der geschuldeten Mehrwertsteuer

95.   In der mündlichen Verhandlung hat der Vertreter des Vereinigten Königreichs schließlich noch darauf hingewiesen, dass der Erwerber nach der Berechnungsmethode der Kommission bei Abgabe seines Gebots die Steuerbelastung nicht vorhersehen kann.

96.   Tatsächlich wird die Höhe der Verkäuferprovision häufig vertraulich behandelt. Bei einigen Auktionshäusern scheint sie insbesondere davon abzuhängen, wie hoch die gesamten Umsätze des Einlieferers sind. Der Erwerber weiß also nicht genau, wie hoch der Anteil der Provision am Versteigerungspreis ist und welcher Betrag damit dem höheren Normalsteuersatz unterliegt.

97.   Dasselbe Problem besteht aber ganz allgemein bei der Anwendung der Margenbesteuerung. Denn selbst wenn keine Einfuhrmehrwertsteuer anfällt, ist ohne Kenntnis der Höhe der Verkäuferkommission für den Käufer nicht ersichtlich, wie viel Mehrwertsteuer anfallen wird. Dieser Einwand kann die von der Kommission geforderte Besteuerung der Marge mit dem Normalsatz daher nicht in Frage stellen.

98.   Die Kommission hat somit nachgewiesen, dass die Besteuerungspraxis des Vereinigten Königreichs in Bezug auf die Versteigerung im eigenen Namen von vorübergehend eingeführten Kunstgegenständen gegen Artikel 16 Absatz 1 der Sechsten Richtlinie verstößt. Da diese Bestimmung verlangt, die Marge des Versteigerers wie eine Lieferung im Inland zu behandeln, liegt zugleich auch ein Verstoß gegen die Artikel 2 Absatz 1 und 5 Absatz 4 Buchstabe c der Sechsten Richtlinie vor.

99.   Artikel 12 Absatz 3 der Sechsten Richtlinie ist hingegen nicht verletzt, weil im Vereinigten Königreich auf die streitigen Umsätze – wenigstens formal – kein ermäßigter Steuersatz zur Anwendung kommt, sondern die Verringerung durch eine Korrektur der Bemessungsgrundlage nach Artikel 11 Teil B Absatz 6 der Sechsten Richtlinie erreicht wird. Die Zurückweisung dieses Teils der Klage ist jedoch nur von untergeordneter Bedeutung, da die Anwendung des unzutreffenden Steuersatzes bzw. die unrichtige Bestimmung der Bemessungsgrundlage letztlich eine Folge der fehlerhaften Anwendung von Artikel 16 Absatz 1 der Sechsten Richtlinie ist.

VI – Kosten

100. Nach Artikel 69 § 2 der Verfahrensordnung ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Da die Kommission einen entsprechenden Antrag gestellt hat und das Vereinigte Königreich mit seinem Vorbringen ganz überwiegend unterlegen ist, sind ihm die Kosten aufzuerlegen.

VII – Ergebnis

101. Im Ergebnis schlage ich dem Gerichtshof vor, wie folgt zu entscheiden:

1.      Das Vereinigte Königreich hat gegen seine Verpflichtungen aus den Artikeln 2 Nummer 1, 5 Absatz 4 Buchstabe c und 16 Absatz 1 der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern verstoßen, indem es einen ermäßigten Mehrwertsteuersatz auf die Provision angewandt hat, die an Auktionatoren anlässlich des Verkaufs durch Versteigerung in deren eigenem Namen von Kunstgegenständen, Antiquitäten und Sammlungsstücken gezahlt wird, welche im Rahmen von Regelungen zur vorübergehenden Verwendung eingeführt worden sind.

2.      Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

3.      Das Vereinigte Königreich trägt die Kosten des Verfahrens.


1 – Originalsprache: Deutsch.


2  – Nach einem Bericht der Kommission aus dem Jahr 1999 werden dort fast 50 % der innergemeinschaftlichen Umsätze getätigt. Betrachtet man nur die Umsätze bei Kunstauktionen, so liegt der britische Anteil sogar bei rund 60 % (vgl. Bericht der Kommission vom 28. April 1999 an den Rat über die Auswirkungen der Richtlinie 94/5/EG des Rates auf die Wettbewerbsfähigkeit des Kunstmarktes der Gemeinschaft im Vergleich zu den Kunstmärkten von Drittländern, KOM(1999) 185 endg., S. 6 f.).


3  – ABl. L 145, S. 1.


4  – Artikel 28 c wurde eingeführt durch die Richtlinie 95/7/EG des Rates vom 10. April 1995 zur Änderung der Richtlinie 77/388/EWG und zur Einführung weiterer Vereinfachungsmaßnahmen im Bereich der Mehrwertsteuer – Geltungsbereich bestimmter Steuerbefreiungen und praktische Einzelheiten ihrer Durchführung (ABl. L 102, S. 18).


5  – Eingefügt durch die Richtlinie 94/5/EG des Rates vom 14. Februar 1994 zur Ergänzung des gemeinsamen Mehrwertsteuersystems und zur Änderung der Richtlinie 77/388/EWG – Sonderregelung für Gebrauchtgegenstände, Kunstgegenstände, Sammlungsstücke oder Antiquitäten (ABl. L 60, S. 16).


6  – Verordnung (EWG) Nr. 2913/92 des Rates vom 12. Oktober 1992 zur Festlegung des Zollkodex der Gemeinschaften (ABl. L 302, S. 1).


7  – Verordnung (EWG) Nr. 2454/93 der Kommission vom 2. Juli 1993 mit Durchführungsvorschriften zu der Verordnung (EWG) Nr. 2913/92 des Rates zur Festlegung des Zollkodex der Gemeinschaften (L 253, S. 1), in der Fassung der Verordnung (EG) Nr. 993/2001 der Kommission vom 4. Mai 2001 (ABl. L 141, S. 1).


8  – Siehe dazu auch die Erläuterungen in: HM Customs and Excise, Notice 718, Margin schemes for second-hand goods, works of art, antiques and collectors' items (May 2003) (www.hmce.gov.uk).


9  – Vgl. Chitty on Contract, Volume II, (Beale u. a. Hrsg.), 99. Aufl., London 2004, 31-014; Beatson, Anson's Law of Contract, 28. Aufl., Oxford 2002, S. 672.


10  – Dieser Begriff ist im vorliegenden Zusammenhang etwas irreführend. Ein Verkauf zur Ausfuhr in die Gemeinschaft liegt normalerweise vor, wenn ein Gegenstand in einem Drittstaat verkauft wird, um von dort in die Gemeinschaft ausgeführt zu werden. Das Vereinigte Königreich verwendet diesen Begriff auch hier, weil der Gegenstand zum Zeitpunkt des Verkaufs noch nicht endgültig eingeführt ist. Allerdings befindet er sich auch nicht mehr in einem Drittstaat, aus dem er noch ausgeführt werden könnte.


11  – Urteile vom 20. März 1997 in der Rechtssache C-96/95 (Kommission/Deutschland, Slg. 1997, I-1653, Randnr. 23), vom 10. Mai 2001 in der Rechtssache C-152/98 (Kommission/Niederlande, Slg. 2001, I-3463, Randnr. 23) und vom 24. Juni 2004 in der Rechtssache C-350/02 (Kommission/Niederlande, noch nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, Randnr. 20).


12  – Siehe dazu die Nachweise in Fußnote 11.


13  – Allerdings ist die Haltung der Kommission zu der Frage, inwieweit die Marge des Auktionators in den Zollwert einzubeziehen ist, nicht ganz klar. Vgl. etwa Randnr. 41 der Klageschrift: „That is true notwithstanding the general rules of customs valuation laid down in Articles 29 and 144 of the Customs Code and the general rule laid down in Article 11 (B)(1) of the Sixth Directive. Article 16(1) of the Sixth Directive imposes the overriding requirement that the tax due on importation must correspond to the amount of tax which would have been due had the sale at auction been taxed within Community territory.“


14  – Vgl. die Ausführungen der Kommission in ihrem Entwurf für die Richtlinie 94/5, KOM(88) 846 endg., S. 3. Mit dieser Problematik hatte sich der Gerichtshof zuvor bereits im Urteil vom 10. Juli 1985 in der Rechtssache 16/84 (Kommission/Niederlande, Slg. 1985, 2355, Randnrn. 14 ff.) auseinandergesetzt.


15  – In seiner ursprünglichen Fassung lautete Artikel 16 Absatz 1: „Unbeschadet der übrigen gemeinschaftlichen Steuerbestimmungen können die Mitgliedstaaten vorbehaltlich der Konsultation nach Artikel 29 Sondermaßnahmen treffen, um folgende Umsätze oder einige von ihnen nicht der Mehrwertsteuer zu unterwerfen, sofern diese nicht für eine endgültige Verwendung und/oder einen Endverbrauch bestimmt sind und sofern der bei dem Verbringen in den freien Verkehr erhobene Mehrwertsteuerbetrag der Höhe der Abgabe entspricht, die bei der Besteuerung dieser Umsätze bei der Einfuhr oder im Inland hätte erhoben werden müssen.“


16  – Zitiert in Fußnote 4.


17  – Siehe dazu oben, Nr. 23.