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SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

M. Poiares Maduro

vom 7. Dezember 20051(1)

Rechtssache C-384/04

Commissioners of Customs & Excise,

Attorney General

gegen

Federation of Technological Industries

(Vorabentscheidungsersuchen des Court of Appeal [England & Wales]           [Civil Division])

„Sechste Mehrwertsteuerrichtlinie – Artikel 21 Absatz 3 und Artikel 22 Absatz 8 – Gesamtschuldnerische Haftung für die Zahlung der Mehrwertsteuer – Grundsätze der Verhältnismäßigkeit und der Rechtssicherheit – Innergemeinschaftlicher Missing-trader-Betrug – Karussellbetrug“





1.     Dieses Ersuchen um Vorabentscheidung des Court of Appeal (England & Wales) (Civil Division) betrifft die Auslegung der Artikel 21 Absatz 3 und 22 Absatz 8 der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG des Rates(2). Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen 53 Händlern von Mobiltelefonen und Computerprozessoren und ihrem Interessenverband Federation of Technological Industries einerseits (im Folgenden gemeinsam als „Federation“ bezeichnet) und den Commissioners of Customs and Excise und Her Majesty’s Attorney-General (im Folgenden: Commissioners) andererseits. Die Rüge betrifft die Gültigkeit der Sections 17 und 18 des Finance Act (Finanzgesetz) 2003, die für den Umgang mit Praktiken erlassen wurden, die die Mehrwertsteuervorschriften über innergemeinschaftliche Warenverkäufe ausnutzen. Der Gerichtshof wird um Vorabentscheidung ersucht, um es dem nationalen Gericht zu ermöglichen, die Vereinbarkeit der Sections 17 und 18 mit dem Gemeinschaftsrecht zu beurteilen.

I –    Rechtlicher Rahmen

A –    Gemeinschaftsrecht

2.     Artikel 21 der Sechsten Richtlinie bestimmt:

„(1)      Im inneren Anwendungsbereich schuldet die Mehrwertsteuer:

a)      der Steuerpflichtige, der eine steuerpflichtige Lieferung von Gegenständen durchführt bzw. eine steuerpflichtige Dienstleistung erbringt, mit Ausnahme der unter den Buchstaben b) und c) genannten Fälle.

Wird die steuerpflichtige Lieferung von Gegenständen bzw. die steuerpflichtige Dienstleistung von einem nicht im Inland ansässigen Steuerpflichtigen bewirkt bzw. erbracht, so können die Mitgliedstaaten gemäß den von ihnen festgelegten Bedingungen vorsehen, dass der Empfänger der steuerpflichtigen Lieferung von Gegenständen bzw. der steuerpflichtigen Dienstleistung die Steuer schuldet;

b)      der steuerpflichtige Empfänger einer in Artikel 9 Absatz 2 Buchstabe e) genannten Dienstleistung oder der Empfänger einer in Artikel 28b Teile C, D, E und F genannten Dienstleistung, der im Inland für Zwecke der Mehrwertsteuer erfasst ist, wenn die Dienstleistung von einem im Ausland ansässigen Steuerpflichtigen erbracht wird;

c)      der Empfänger der Lieferung, wenn folgende Voraussetzungen erfüllt sind:

–      Der steuerpflichtige Umsatz ist eine Lieferung von Gegenständen nach Maßgabe des Artikels 28c Teil E Absatz 3;

–      der Empfänger dieser Lieferung ist ein anderer Steuerpflichtiger oder eine nicht steuerpflichtige juristische Person, die im Inland für Zwecke der Mehrwertsteuer erfasst ist;

–      die von dem nicht im Inland ansässigen Steuerpflichtigen ausgestellte Rechnung entspricht Artikel 22 Absatz 3.

Die Mitgliedstaaten können jedoch eine Ausnahme von dieser Verpflichtung für den Fall vorsehen, dass ein nicht im Inland ansässiger Steuerpflichtiger in diesem Land einen Steuervertreter benannt hat;

d)      jede Person, die die Mehrwertsteuer in einer Rechnung ausweist;

e)      die Person, die einen steuerpflichtigen innergemeinschaftlichen Erwerb von Gegenständen bewirkt.

(2)      Abweichend von Absatz 1:

a)      Ist der Steuerschuldner im Sinne von Absatz 1 ein nicht im Inland ansässiger Steuerpflichtiger, so können die Mitgliedstaaten ihm gestatten, einen Steuervertreter zu benennen, der die Steuer schuldet. Diese Option unterliegt den von jedem Mitgliedstaat festgelegten Bedingungen und Modalitäten.

b)      Wird der steuerpflichtige Umsatz von einem nicht im Inland ansässigen Steuerpflichtigen vorgenommen und besteht mit dem Staat, in dem dieser Steuerpflichtige ansässig ist oder seinen Geschäftssitz hat, keine Rechtsvereinbarung über die gegenseitige Amtshilfe, deren Anwendungsbereich mit dem der Richtlinien 76/308/EWG und 77/799/EWG sowie der Verordnung (EWG) Nr. 218/92 des Rates vom 27. Januar 1992 über die Zusammenarbeit der Verwaltungsbehörden auf dem Gebiet der indirekten Besteuerung (MwSt.) vergleichbar ist, so können die Mitgliedstaaten Regelungen treffen, nach denen ein von dem nicht im Inland ansässigen Steuerpflichtigen benannter Steuervertreter die Steuer schuldet.

(3)      In den Fällen nach den Absätzen 1 und 2 können die Mitgliedstaaten bestimmen, dass eine andere Person als der Steuerschuldner die Steuer gesamtschuldnerisch zu entrichten hat.

(4)      Bei der Einfuhr wird die Mehrwertsteuer von der Person oder den Personen geschuldet, die vom Mitgliedstaat der Einfuhr als Steuerschuldner bezeichnet oder anerkannt wird oder werden.“

3.     Artikel 22 Absatz 7 der Sechsten Richtlinie bestimmt:

„Die Mitgliedstaaten ergreifen die erforderlichen Maßnahmen, damit die Personen, die nach Artikel 21 Absätze 1 und 2 anstelle eines im Ausland ansässigen Steuerpflichtigen als Steuerschuldner angesehen werden, die vorstehend erwähnten Verpflichtungen zur Erklärung und Zahlung erfüllen; sie ergreifen darüber hinaus die erforderlichen Maßnahmen, damit die Personen, die nach Artikel 21 Absatz 3 die Steuer gesamtschuldnerisch zu entrichten haben, die vorstehend erwähnten Zahlungspflichten erfüllen.“

4.     Artikel 22 Absatz 8 der Sechsten Richtlinie lautet:

„Die Mitgliedstaaten können unter Beachtung der Gleichbehandlung der von Steuerpflichtigen im Inland und zwischen Mitgliedstaaten bewirkten Umsätze weitere Pflichten vorsehen, die sie als erforderlich erachten, um eine genaue Erhebung der Steuer sicherzustellen und Steuerhinterziehungen zu vermeiden, sofern diese Pflichten im Handelsverkehr zwischen den Mitgliedstaaten nicht zu Förmlichkeiten beim Grenzübertritt führen.

Die in Unterabsatz 1 vorgesehene Möglichkeit darf nicht dazu genutzt werden, zusätzlich zu den in Absatz 3 genannten Pflichten noch weitere Pflichten aufzuerlegen.“

B –    Nationales Recht

5.     Schedule 11 Paragraph 4 des Value Added Tax Act (Mehrwertsteuergesetz) 1994 (im Folgenden: VAT Act 1994), geändert durch Section 17 des Finance Act 2003, lautet wie folgt:

„(1)      Die Commissioners können als Voraussetzung für die Gewährung oder die Erstattung von Vorsteuer an eine Person die Vorlage von Nachweisen über die Mehrwertsteuer verlangen, die sie spezifizieren können.

(1A)      Halten die Commissioners es zum Schutz der Einnahmen für erforderlich, so können sie als Voraussetzung für eine Mehrwertsteuergutschrift die Leistung einer ihnen angemessen erscheinenden Sicherheit in Höhe dieses Betrages verlangen.

(2)      Halten die Commissioners es zum Schutz der Einnahmen für erforderlich, so können sie einen Steuerpflichtigen auffordern, als Voraussetzung für die Erbringung oder den Erhalt einer Warenlieferung oder einer Dienstleistung im Rahmen eines steuerpflichtigen Umsatzes eine Sicherheit oder eine weitere Sicherheit für die Zahlung eines Mehrwertsteuerbetrags zu leisten, der von

a)     dem Steuerpflichtigen oder

b)     einer Person, von der oder an die die betreffenden Waren oder Dienstleistungen geliefert oder erbracht werden, geschuldet wird.

(3)      Die ‚betreffenden Waren oder Dienstleistungen‘ gemäß Subparagraph 2 sind die Waren oder Dienstleistungen, die von dem oder an den Steuerpflichtigen geliefert oder erbracht werden.

(4)      Die Sicherheit nach Subparagraph 2 ist in der Höhe und in der Form zu leisten, die die Commissioners bestimmen.

(5)      Die den Commissioners in Subparagraph 2 verliehenen Befugnisse lassen ihre Befugnisse nach Section 48 (7) unberührt.“

6.     Section 77A des VAT Act 1994, die durch Section 18 des Finance Act 2003 eingefügt wurde, bestimmt Folgendes:

„Gesamtschuldnerische Haftung von Händlern in einer Lieferkette, wenn die Steuer nicht gezahlt wurde

(1)      Diese Section gilt für Waren der folgenden Beschreibungen:

a)      Telefone und andere zur Verwendung im Zusammenhang mit Telefonen oder Telekommunikation hergestellte oder modifizierte Geräte, einschließlich Teile und Zubehör;

b)      Computer und andere zur Verwendung im Zusammenhang mit Computern oder Computersystemen hergestellte oder modifizierte Geräte, einschließlich Teile, Zubehör und Software.

(2)      Wenn

a)      an einen Steuerpflichtigen eine steuerpflichtige Lieferung von Waren, auf die diese Section Anwendung findet, bewirkt worden ist und

b)      dieser Steuerpflichtige im Zeitpunkt der Lieferung wusste oder für ihn hinreichende Verdachtsgründe dafür bestanden, dass die aufgrund dieser oder einer früheren oder späteren Lieferung dieser Waren fällige Mehrwertsteuer ganz oder teilweise unbezahlt bleiben würde,

können die Commissioners ihm eine Mitteilung zustellen, in der die Höhe der ausstehenden fälligen Mehrwertsteuer und die Wirkung der Mitteilung angegeben sind.

(3)      Die Wirkung einer Mitteilung nach dieser Section besteht darin, dass

a)      die Person, der die Mitteilung zugestellt worden ist, und

b)      die Person, die unabhängig von dieser Section in Höhe des in der Mitteilung angegebenen Betrages haftet,

         hinsichtlich dieses Betrages Gesamtschuldner der Commissioners sind.

(4)      Für die Zwecke von Subsection 2 ist der Mehrwertsteuerbetrag, der hinsichtlich einer Lieferung fällig ist, der geringere Betrag der folgenden beiden Beträge:

a)      der für die Lieferung zu entrichtende Betrag,

b)      der Betrag, der auf der Steuererklärung des Lieferanten (sofern er eine abgegeben hat) für den fraglichen vorgeschriebenen Abrechnungszeitraum als geschuldet ausgewiesen wird, zusammen mit jedem Betrag, der als von ihm für diesen Zeitraum geschuldet festgestellt ist (vorbehaltlich von Einwendungen von seiner Seite).

(5)      Die Bezugnahme in Subsection 4 (b) auf die Feststellung eines Betrages als von einer Person geschuldet umfasst auch den Fall, dass ihr dieser Betrag nicht mitgeteilt wird, weil dies nicht durchführbar ist.

(6)      Für die Zwecke der Subsection 2 wird vermutet, dass für eine Person hinreichende Verdachtsgründe für unter Buchstabe b dieser Subsection genannte Umstände bestehen, wenn der von ihr für die betreffenden Waren zu zahlende Preis

a)      niedriger war als der niedrigste Preis, dessen Erzielung für diese Waren auf dem freien Markt vernünftigerweise erwartet werden könnte, oder

b)      niedriger war als der Preis für eine frühere Lieferung derartiger Waren.

(7)      Die Vermutung in Subsection 6 kann durch den Beweis widerlegt werden, dass der niedrige Preis der Waren auf Umstände zurückzuführen war, die mit der Nichtabführung der Mehrwertsteuer nicht im Zusammenhang standen.

(8)      Subsection 6 steht anderweitigen Nachweisen für hinreichende Verdachtsgründe nicht entgegen.

(9)      Der Finanzminister kann Subsection 1 durch Verordnung ändern; in einer derartigen Verordnung können alle Sekundär-, Ergänzungs-, Folge- und Übergangsvorschriften getroffen werden, die der Finanzminister für angemessen hält.

(10)      Für die Zwecke dieser Section

a)      schließt der Begriff ‚Waren‘ Dienstleistungen mit ein;

b)      gilt ein Mehrwertsteuerbetrag als unbezahlt nur bis zu der Höhe, in der er einen geschuldeten Erstattungsbetrag übersteigt.“

II – Das Ausgangsverfahren und die Vorabentscheidungsfragen

7.     Im Ausgangsverfahren geht es um die Vereinbarkeit der Bestimmungen der Sections 17 und 18 des Finance Act 2003 mit dem Gemeinschaftsrecht. Diese Sections wurden erlassen, um mit dem als innergemeinschaftlicher „missing trader“ (fehlender Händler) bezeichneten Phänomen umzugehen. Wie im Vorlagebeschluss ausgeführt, können zwei Kategorien des innergemeinschaftlichen missing trader unterschieden werden.

8.     Die erste Kategorie wird von den Commissioners als „Erwerbsbetrug“ bezeichnet. Ein im Vereinigten Königreich zur Mehrwertsteuer angemeldeter Händler kauft Waren aus einem anderen Mitgliedstaat und verkauft sie im Vereinigten Königreich. Der Verkauf ist im Versandstaat gemäß Artikel 28c Teil A Buchstabe a der Sechsten Richtlinie von der Mehrwertsteuer befreit, während der Erwerber im Vereinigten Königreich nach Artikel 28a Absatz 1 Buchstabe a der Sechsten Richtlinie steuerpflichtig ist. Der Händler verkauft die Waren zu einem Preis einschließlich Mehrwertsteuer, führt aber die auf die weitergeleitete Lieferung erhaltene Mehrwertsteuer nicht an die Commissioners ab und verschwindet.

9.     Die zweite Kategorie ist als „Karussellbetrug“ bekannt geworden. Dieser umfasst ein komplizierteres System, das im Wesentlichen wie folgt funktioniert: Eine Gesellschaft (B) mit Sitz im Vereinigten Königreich kauft Waren von einer Gesellschaft (A) in einem anderen Mitgliedstaat. A schuldet für den Kauf keine Mehrwertsteuer, B jedoch muss die Mehrwertsteuer bei ihren Weiterverkäufen im Vereinigten Königreich ausweisen. B verkauft die Waren, für gewöhnlich mit einem Preisnachlass, an eine dritte Gesellschaft (C) ebenfalls mit Sitz im Vereinigten Königreich, weist dafür jedoch die Mehrwertsteuer nicht aus. C wird als „buffer company“ (Puffer-Gesellschaft) bezeichnet. Sie verkauft die Waren mit geringem Gewinn an eine andere Gesellschaft im Vereinigten Königreich, weist die Mehrwertsteuer für den Verkauf aus, beansprucht aber Vorsteuerabzug. Es kann eine Reihe weiterer Verkäufe vorliegen, schließlich aber erreichen die Waren eine Gesellschaft, die sie an einen in einem anderen Mitgliedstaat zur Mehrwertsteuer angemeldeten Händler verkauft. Dieser Verkauf ist von der Mehrwertsteuer befreit, der Verkäufer ist jedoch berechtigt, Vorsteuererstattung zu verlangen, und versucht daher von den Commissioners die Mehrwertsteuer erstattet zu erhalten, die er für seinen Erwerb der Waren von der letzten Puffer-Gesellschaft gezahlt hat. Erfolgt eine solche Erstattung, so zahlen die Commissioners an diese Gesellschaft die Mehrwertsteuer, die die letzte Puffer-Gesellschaft für den Verkauf in Rechnung gestellt hat, erhalten aber nicht den von B als Mehrwertsteuer ausgewiesenen Betrag. Kennzeichen eines echten Karussellbetrugs ist es, dass die Waren schließlich an den ursprünglichen Verkäufer, die Gesellschaft A, zurückveräußert werden. Der Kreislauf kann dann wieder beginnen. Bei jedem Durchlauf des Karussells wird der als Mehrwertsteuer an B gezahlte Betrag dem Steueraufkommen entzogen. Das Karussell kann sich täglich in dieser Weise drehen. B kann eine „entführte“ Umsatzsteuernummer eines nichts ahnenden Dritten benutzen oder sich zur Mehrwertsteuer anmelden und einfach verschwinden, bevor die Steuerbehörden tätig werden. Die betroffenen Waren sind für gewöhnlich von geringer Größe und hohem Wert. Im Vorlagebeschluss wird ausgeführt, dass diese Art von Betrug das Vereinigte Königreich Steuereinnahmen von mehr als 1,5 Milliarden GBP im Jahr koste.

10.   Die Nichtigkeitsklage gegen die Sections 17 und 18 des Finance Act 2003 wurde zunächst beim Administrative Court, Queen’s Bench Division, High Court of Justice (England & Wales), und dann im Rechtsmittel beim Court of Appeal (England & Wales) (Civil Division) behandelt. Die Federation beanstandet die Sections 17 und 18 des Finance Act 2003 wegen fehlender Gesetzgebungsbefugnis. Die Bestimmungen würden weder durch Artikel 21 Absatz 3 noch durch Artikel 22 Absatz 8 der Sechsten Richtlinie zugelassen. Der Court of Appeal hat beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof die folgenden Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.      Ermächtigt Artikel 21 Absatz 3 der Richtlinie 77/388/EWG des Rates in der durch die Richtlinie 2000/65/EG des Rates geänderten Fassung die Mitgliedstaaten, vorzusehen, dass jede Person mit einer anderen Person, die nach Artikel 21 Absatz 1 oder Absatz 2 Steuerschuldner ist, gesamtschuldnerisch auf Zahlung der Steuer in Anspruch genommen werden kann, sofern nur die allgemeinen Grundsätze des Gemeinschaftsrechts gewahrt sind, nämlich dass eine solche Maßnahme objektiv gerechtfertigt, vernünftig und verhältnismäßig sein und dem Grundsatz der Rechtssicherheit genügen muss?

2.      Erlaubt Artikel 22 Absatz 8 der Richtlinie den Mitgliedstaaten, anzuordnen, dass jede Person in dieser Weise haftbar gemacht werden kann oder dass von einer Person Sicherheitsleistung für die Steuerschuld eines anderen verlangt werden kann, sofern nur die genannten allgemeinen Grundsätze gewahrt sind?

3.      Falls Frage 1 verneint wird, welche anderen Grenzen als diejenigen, die sich aus den genannten allgemeinen Grundsätzen ergeben, gelten für die durch Artikel 21 Absatz 3 verliehene Befugnis?

4.      Falls Frage 2 verneint wird, welche anderen Grenzen als diejenigen, die sich aus den genannten allgemeinen Grundsätzen ergeben, gelten für die durch Artikel 22 Absatz 8 verliehene Befugnis?

5.      Ist es den Mitgliedstaaten nach der Richtlinie in der geänderten Fassung untersagt, eine gesamtschuldnerische Haftung von Steuerpflichtigen vorzusehen oder von einem Steuerpflichtigen Sicherheitsleistung für die Steuerschuld eines anderen zu verlangen, um einen Missbrauch des Mehrwertsteuersystems zu verhindern und die nach diesem System ordnungsgemäß geschuldeten Einnahmen zu sichern, wenn diese Maßnahmen im Einklang mit den genannten allgemeinen Grundsätzen stehen?

11.   Schriftliche Erklärungen haben die Federation, die Regierung des Vereinigten Königreichs, die deutsche Regierung, Irland, die zypriotische Regierung, die niederländische Regierung, die portugiesische Regierung und die Kommission eingereicht. In der mündlichen Verhandlung vom 5. Oktober 2005 hat der Gerichtshof die mündlichen Ausführungen der Regierung des Vereinigten Königreichs, der Federation, Irlands und der Kommission angehört.

III – Beurteilung

12.   Ich werde meine Beurteilung mit der Prüfung der Fragen zu Artikel 21 Absatz 3 der Sechsten Richtlinie beginnen. Danach werde ich die Fragen zu Artikel 22 Absatz 8 prüfen.

13.   Zunächst muss in Erinnerung gerufen werden, dass der Gerichtshof im Rahmen eines Verfahrens nach Artikel 234 EG nicht über die Vereinbarkeit innerstaatlicher Rechtsnormen mit dem Gemeinschaftsrecht entscheiden kann. Die Rolle des Gerichtshofes beschränkt sich darauf, dem vorlegenden Gericht Hinweise zur Auslegung des Gemeinschaftsrechts zu geben, um es diesem zu ermöglichen, diese Entscheidung zu treffen(3).

A –    Zur ersten und zur dritten Frage

14.   Mit seiner ersten und seiner dritten Frage will das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob und in welchem Umfang Artikel 21 Absatz 3 der Sechsten Richtlinie den Mitgliedstaaten eine Befugnis verleiht, eine Person zusammen mit einer anderen gesamtschuldnerisch auf Zahlung der Mehrwertsteuer in Anspruch zu nehmen.

15.   Die Federation argumentiert, dass Artikel 21 Absatz 3 den Mitgliedstaat zwar ermächtige, eine gesamtschuldnerische Haftung vorzusehen, diese Ermächtigung aber eng ausgelegt werden müsse. Artikel 21 Absatz 3 räume den Mitgliedstaaten nur eine Befugnis ein, gesamtschuldnerische Haftung in Fällen anzuordnen, in denen Artikel 21 Absatz 1 und Artikel 21 Absatz 2 Personenpaare identifizierten, die gesamtschuldnerisch in Anspruch genommen werden könnten. Insoweit bezieht sich die Federation auf die vier in Artikel 21 Absatz 1 Buchstabe a Satz 2, Artikel 21 Absatz 1 Buchstabe c, Artikel 21 Absatz 2 Buchstabe a und Artikel 21 Absatz 2 Buchstabe b genannten Fälle. Sie macht außerdem geltend, dass die Mitgliedstaaten die allgemeinen Grundsätze des Gemeinschaftsrechts beachten müssten, wenn sie sich dafür entschieden, nach Artikel 21 Absatz 3 eine gesamtschuldnerische Haftung anzuordnen.

16.   Die Regierung des Vereinigten Königreichs trägt vor, dass Artikel 21 Absatz 3 den Mitgliedstaaten erlaube, vorzusehen, dass jede Person zusammen mit einer Person, die nach Artikel 21 Absatz 1 oder Absatz 2 Schuldner der Mehrwertsteuer sei, gesamtschuldnerisch in Anspruch genommen werden könne, sofern nur die allgemeinen Grundsätze des Gemeinschaftsrechts gewahrt seien. Die einleitende Formulierung in Artikel 21 Absatz 3 beziehe sich auf alle Fälle in Artikel 21 Absatz 1 und Absatz 2, nicht nur auf einige davon. Die portugiesische Regierung, Irland, die zypriotische Regierung und die Kommission sind im Wesentlichen der gleichen Auffassung wie das Vereinigte Königreich.

17.   Die niederländische Regierung argumentiert, dass eine Maßnahme wie Section 18 des Finance Act außerhalb des Anwendungsbereichs der Sechsten Richtlinie liege, weil sie nicht den Steuertatbestand, sondern die Einziehung der Mehrwertsteuer betreffe. Insoweit beziehen sich die Niederlande u. a. auf den Beschluss des Gerichtshofes in der Rechtssache C-395/02 (Transport Service)(4), in dem festgestellt worden sei, dass es grundsätzlich Sache der Mitgliedstaaten sei, die Voraussetzungen festzulegen, unter denen die Mehrwertsteuer erhoben werden könnte, wobei jedoch die Grenzen, die sich aus dem Gemeinschaftsrecht ergäben, beachtet werden müssten. Unter Bezugnahme insbesondere auf das Urteil Molenheide u. a.(5) macht die niederländische Regierung geltend, dass die Mitgliedstaaten im Bereich der Erhebung von Mehrwertsteuerschulden ermächtigt seien, eine Vorschrift zu erlassen, wonach eine Person für die ausstehende Zahlung einer Mehrwertsteuerschuld eines anderen gesamtschuldnerisch in Anspruch genommen werden könne, sofern die sich aus dem Gemeinschaftsrecht ergebenden Grenzen einschließlich der Grundsätze der Verhältnismäßigkeit und der Rechtssicherheit beachtet würden.

18.   Ich werde zunächst das Vorbringen prüfen, wonach eine Maßnahme wie die im vorliegenden Fall keiner Rechtsgrundlage in der Sechsten Richtlinie bedarf.

19.   Es ist zwischen der Bestimmung des Schuldners der Mehrwertsteuer und den Maßnahmen zu unterscheiden, die sich lediglich auf die Erhebung der Mehrwertsteuer beziehen. Neben anderem folgt aus dem Urteil Molenheide u. a., dass die Mitgliedstaaten berechtigt sind, Maßnahmen zu erlassen, um sich selbst in Fällen, in denen kein echtes Mehrwertsteuerguthaben besteht, vor der Gefahr der Rückerstattung zu schützen(6), wie Vorschriften über den Nachweis des Rechts zum Vorsteuerabzug(7) oder Vorschriften, in denen die Informationen spezifiziert werden, die in Rechnungen enthalten sein müssen, auf die ein Recht zum Vorsteuerabzug gestützt wird(8). Im Beschluss Transport Services, der eine Lieferung betraf, die fälschlich, aber angeblich in gutem Glauben als mehrwertsteuerbefreit ausgewiesen worden war, führt der Gerichtshof aus, da keine Bestimmung der Sechsten Richtlinie diese Frage behandele, sei es Sache der Mitgliedstaaten, die Voraussetzungen festzulegen, unter denen die Behörden die Mehrwertsteuer erheben könnten(9). Diese Rechtsprechung betrifft jedoch nur die Erhebung und Einziehung der Mehrwertsteuer. Wer Schuldner der Mehrwertsteuer ist – eine Frage, die der der Erhebung und Einziehung logisch vorausgeht –, wird spezifisch in Artikel 21 der Sechsten Richtlinie behandelt. Hinsichtlich der Bestimmung des Steuerschuldners müssen die Mitgliedstaaten daher strikt den harmonisierten Bestimmungen in der Richtlinie nachkommen. Ich werde mich daher dem Vorbringen zur Auslegung von Artikel 21 Absatz 3 zuwenden.

20.   Artikel 21 Absatz 3 bestimmt: „In den Fällen nach den Absätzen 1 und 2 können die Mitgliedstaaten bestimmen, dass eine andere Person als der Steuerschuldner die Steuer gesamtschuldnerisch zu entrichten hat.“

21.   Meiner Ansicht nach ist das Vorbringen der Federation, dass sich Artikel 21 Absatz 3 nur auf einige der von Artikel 21 Absatz 1 und Absatz 2 erfassten Fälle beziehe, unrichtig. Der Wortlaut des Artikels 21 Absatz 3 enthält keinerlei Anhaltspunkt in dieser Hinsicht. Die von der Federation vertretene Auslegung des Artikels 21 Absatz 3 folgt auch nicht aus der Systematik der Mehrwertsteuerrichtlinie. Zwar sieht Artikel 21 Absatz 3 eine Ausnahme von dem allgemeinen Grundsatz vor, dass es für jede Art von Umsatz nur einen Steuerschuldner gibt. Doch diese Ausnahme besteht aus Gründen der Sicherung der Steuererhebung und zur Verhinderung des Missbrauchs – Zwecke, die in der Sechsten Richtlinie anerkannt und durch sie besonders gefördert werden(10).

22.   Die Federation argumentiert, dass ihre einschränkende Auslegung des Artikels 21 Absatz 3 durch die Gesetzgebungsgeschichte des Artikels 21 gestützt werde. Vor Erlass der Richtlinie 2000/65, die den jetzigen Artikel 21 Absatz 3 eingeführt habe, sei nämlich die Möglichkeit, eine andere Person für die Entrichtung der Mehrwertsteuer haftbar zu machen, offenbar begrenzter gewesen(11). Meiner Auffassung nach ist dies jedoch kein hinreichender Grund dafür, Artikel 21 Absatz 3 entgegen seiner offensichtlichen Bedeutung auszulegen, nämlich dass sich die Wendung „[i]n den Fällen nach den Absätzen 1 und 2“ auf alle in Artikel 21 Absatz 1 und Absatz 2 genannten Fälle bezieht.

23.   Natürlich bedeutet das nicht, dass die Steuerbehörden nach dem Gemeinschaftsrecht freie Hand haben, um eine gesamtschuldnerische Haftung für die Entrichtung der Mehrwertsteuer anzuordnen. Bei der Umsetzung der Sechsten Richtlinie haben die nationalen Behörden die allgemeinen Grundsätze des Gemeinschaftsrechts zu beachten(12). Zu diesen gehören, wie das vorlegende Gericht zutreffend bemerkt hat, die Grundsätze der Rechtssicherheit und der Verhältnismäßigkeit.

24.   Insoweit ist daran zu erinnern, dass nach dem Grundsatz der Rechtssicherheit nach Artikel 21 Absatz 3 der Sechsten Richtlinie erlassene Maßnahmen eindeutig sein müssen und ihre Anwendung für die ihnen unterworfenen Personen vorhersehbar sein muss(13); nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit dagegen müssen Maßnahmen im Hinblick auf das Ziel, das mit ihnen erreicht werden soll, angemessen sein(14).

25.   Im vorliegenden Zusammenhang wird das nationale Gericht einen Ausgleich zwischen dem Erfordernis, die Erhebung der Mehrwertsteuer sicherzustellen, und dem Interesse daran vorzunehmen haben, dass normaler Handel nicht durch die Drohung der Haftung für die Entrichtung der Mehrwertsteuerschuld eines anderen unverhältnismäßig erschwert wird.

26.   Die Federation macht geltend, dass die in Section 77A (6) des VAT Act 1994 enthaltenen Vermutungen den allgemeinen Grundsätzen des Gemeinschaftsrechts zuwiderliefen, weil es außerordentlich schwierig sei, einen freien Wettbewerbspreis auf den Märkten für Mobiltelefone und Computerprozessoren zu ermitteln und so zu erkennen, ob ein Angebot unter diesem freien Wettbewerbspreis gemacht werde. Eine gesamtschuldnerische Haftung aller Unternehmen in derselben Umsatzkette bringe, insbesondere wenn sie auf Vermutungen in Bezug auf den Preis vorangegangener Umsätze gestützt werde, finanzielle Risiken mit sich, die für die Investoren unannehmbar seien. In der Praxis sei es für Händler unmöglich, über ihre unmittelbaren Kunden und Lieferanten hinaus Nachforschungen über eine Umsatzkette anzustellen. Folglich könnten Händler sich nicht angemessen schützen, wie viel Sorgfalt sie auch aufwendeten und unabhängig von der Tatsache, dass sie sich keines Fehlverhaltens schuldig machten.

27.   Meiner Ansicht nach können die Mitgliedstaaten nach der Sechsten Richtlinie eine Person auf Zahlung der Mehrwertsteuer in Anspruch nehmen, wenn sie zu dem Zeitpunkt, in dem sie den Umsatz tätigte, wusste oder vernünftigerweise hätte wissen müssen, dass die Mehrwertsteuer in der Umsatzkette nicht entrichtet werden würde(15). Insoweit können sich die nationalen Steuerbehörden auf Vermutungen für eine solche Kenntnis stützen. Gleichwohl dürfen solche Vermutungen nicht de facto ein System unbedingter Haftung einführen.

28.   Folglich müssen sich Vermutungen für einen Mehrwertsteuerbetrug aus Umständen ergeben, die auf einen Mehrwertsteuerbetrug hindeuten und deren Kenntnis bei den Händlern vernünftigerweise erwartet werden kann. Die Mitgliedstaaten können den Händlern die Verpflichtung auferlegen, wachsam zu sein und sich über den Hintergrund der Gegenstände, mit denen sie handeln, zu informieren. Diese Verpflichtung darf die Händler, die die erforderlichen Vorkehrungen treffen, um sicherzustellen, dass sie in gutem Glauben Handel treiben, jedoch nicht zu sehr belasten.

29.   Außerdem müssen die Vermutungen widerlegbar sein, ohne dass der Nachweis von Tatsachen verlangt wird, die für die Händler äußerst schwierig feststellbar sind(16).

30.   Wenn diese Voraussetzungen nicht erfüllt sind, würde die Anwendung von Vermutungen nämlich das Erfordernis unterlaufen, dass eine Person nur dann auf Zahlung der Mehrwertsteuer in Anspruch genommen werden kann, wenn sie wusste oder vernünftigerweise hätte wissen müssen, dass die Mehrwertsteuer nicht entrichtet werden würde. Dies käme der Einführung einer unbedingten Haftung durch die Hintertür gleich.

31.   Das in Section 77A (6) des VAT Act 1994 enthaltene System von Vermutungen im Licht dieser Kriterien zu beurteilen, ist Sache des nationalen Gerichts, dessen Aufgabe es ist, zu prüfen, ob die nationalen Vorschriften und die in Rede stehende Praxis mit dem Gemeinschaftsrecht vereinbar sind(17).

B –    Zur zweiten und zur vierten Frage

32.   Mit seiner zweiten und seiner vierten Frage fragt das vorlegende Gericht danach, ob und in welchem Ausmaß Artikel 22 Absatz 8 der Sechsten Richtlinie die Mitgliedstaaten dazu ermächtigt, eine gesamtschuldnerische Haftung vorzusehen, und ob Artikel 22 Absatz 8 es den Mitgliedstaaten erlaubt, von einer anderen Person als dem Steuerschuldner die Leistung einer Sicherheit für die Zahlung der Steuer zu verlangen.

33.   Die Regierung des Vereinigten Königreichs macht geltend, dass eine Befugnis zum Erlass von Vorschriften über die gesamtschuldnerische Haftung zwar nicht aus Artikel 21 abgeleitet werden könne, Artikel 22 Absatz 8 aber eine derartige Befugnis vorsehe. Diese Vorschrift erlaube es den Mitgliedstaaten, zu bestimmen, dass jede Person zusammen mit einer anderen Person, die nach Artikel 21 Absatz 1 oder Absatz 2 der Sechsten Richtlinie Steuerschuldner sei, gesamtschuldnerisch auf Zahlung der Mehrwertsteuer in Anspruch genommen werden könne, oder zu bestimmen, dass von einer Person die Leistung einer Sicherheit für die Mehrwertsteuerschuld eines anderen verlangt werden könne, sofern die betreffenden Vorschriften als erforderlich erachtet würden, um eine genaue Erhebung der Mehrwertsteuer sicherzustellen und Steuerhinterziehungen zu vermeiden, und die allgemeinen Grundsätze des Gemeinschaftsrechts wahrten.

34.   Die Federation macht dagegen geltend, dass Artikel 22 Absatz 8 es den Mitgliedstaaten nicht gestatte, Maßnahmen einzuführen, mit denen einer anderen Person als dem Steuerpflichtigen nach Artikel 21 der Richtlinie Verpflichtungen auferlegt würden.

35.   Irland macht in ähnlicher Weise geltend, dass Artikel 22 Absatz 8 nicht selbst die Grundlage für eine gesamtschuldnerische Haftung sein könne. Die Mitgliedstaaten könnten vorsehen, dass eine Person, die nach Artikel 21 Absatz 3 auf Zahlung der Mehrwertsteuer in Anspruch genommen werden könne, nach Artikel 22 Absatz 8 verpflichtet werden könne, eine Sicherheit für die Steuerschuld eines anderen zu leisten, sofern die allgemeinen Grundsätze des Gemeinschaftsrechts gewahrt seien. Die portugiesische und die zypriotische Regierung unterstützen diese Auffassung im Wesentlichen.

36.   Ebenso führt die Kommission aus, dass Artikel 22 Absatz 8 der Sechsten Richtlinie den Mitgliedstaaten nicht gestatte, die Haftung für die Zahlung der Mehrwertsteuer auf Personen, die nicht nach Artikel 21 der Richtlinie Steuerschuldner seien, auszudehnen. Artikel 22 Absatz 8 selbst erlaube den Mitgliedstaaten auch nicht, vorzusehen, dass von einer Person verlangt werden könne, eine Sicherheit für die Mehrwertsteuerschuld eines anderen zu leisten. Sei jedoch die gesamtschuldnerische Haftung gemäß einer aufgrund von Artikel 21 Absatz 3 der Sechsten Richtlinie erlassenen Maßnahme eingeführt worden, so ermögliche es Artikel 22 Absatz 8 in Verbindung mit Artikel 22 Absatz 7 der Richtlinie, jedem Gesamtschuldner der Zahlung die Pflicht aufzuerlegen, eine Sicherheit für die ausstehenden Beträge zu leisten, sofern die allgemeinen Grundsätze des Gemeinschaftsrechts gewahrt seien.

37.   Ich stimme dieser Auffassung zu. Nach Artikel 22 Absatz 8 können die Mitgliedstaaten „weitere Pflichten vorsehen, die sie als erforderlich erachten, um eine genaue Erhebung der Steuer sicherzustellen und Steuerhinterziehungen zu vermeiden“. Diese Vorschrift enthält jedoch keinen Haftungstatbestand für eine Steuerzahlung, der nicht an anderer Stelle in der Sechsten Richtlinie festgelegt ist. Die Bestimmung des Schuldners der Mehrwertsteuer ist Gegenstand des Artikels 21 der Richtlinie. Artikel 22 sieht spezifische administrative Pflichten der so bestimmten Schuldner vor, und Artikel 22 Absatz 8 erlaubt den Mitgliedstaaten, diesen Personen weitere Pflichten über diejenigen hinaus aufzuerlegen, die ausdrücklich in den vorangehenden Absätzen des Artikels 22 festgelegt sind(18). Daher kann die Einführung der gesamtschuldnerischen Haftung nur auf Artikel 21 Absatz 3 gestützt werden, während sich die administrativen Pflichten, die diese Haftung erzeugt, aus Artikel 22 ergeben. Insoweit hat die Kommission zutreffend darauf hingewiesen, dass Artikel 22 Absatz 7 verlangt, dass die Mitgliedstaaten die erforderlichen Maßnahmen ergreifen, um sicherzustellen, dass die Personen, die nach Artikel 21 Absatz 3 als Gesamtschuldner für die Entrichtung der Mehrwertsteuer haften, die in Artikel 22 festgelegten Pflichten erfüllen. Artikel 22 Absatz 7 und Absatz 8 erlauben daher den Mitgliedstaaten, von jeder Person, die nach Artikel 21 Absatz 3 Steuerschuldner ist, die Leistung einer Sicherheit für die Zahlung der Mehrwertsteuer zu verlangen. Artikel 22 Absatz 8 enthält jedoch keine Grundlage für die Erweiterung der Haftung für die Zahlung der Mehrwertsteuer, noch erlaubt es diese Bestimmung den Mitgliedstaaten, von einer Person, die nicht nach Artikel 21 Steuerschuldner ist, die Leistung einer Sicherheit für die Zahlung der Mehrwertsteuerschuld eines anderen zu verlangen.

C –    Zur fünften Frage

38.   Angesichts der Beantwortung der vorangegangenen Fragen halte ich es nicht für erforderlich, zur fünften Vorabentscheidungsfrage gesondert Stellung zu nehmen.

IV – Ergebnis

39.   Ich schlage dem Gerichtshof daher vor, die Vorabentscheidungsfragen wie folgt zu beantworten:

1.      Artikel 21 Absatz 3 der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage erlaubt es den Mitgliedstaaten, vorzusehen, dass jeder zusammen mit einer Person, die nach Artikel 21 Absatz 1 oder Absatz 2 dieser Richtlinie Schuldner der Mehrwertsteuer ist, gesamtschuldnerisch für die Zahlung der Mehrwertsteuer in Anspruch genommen werden kann, sofern die allgemeinen Grundsätze des Gemeinschaftsrechts wie der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und der Grundsatz der Rechtssicherheit gewahrt sind.

         Im Licht dieser Grundsätze kann eine Person gesamtschuldnerisch für die Zahlung der Mehrwertsteuer in Anspruch genommen werden, wenn sie zu dem Zeitpunkt, in dem der Umsatz getätigt wurde, wusste oder hätte wissen müssen, dass in der Umsatzkette keine Mehrwertsteuer entrichtet werden würde. Insoweit können sich die nationalen Steuerbehörden auf Vermutungen stützen, sofern diese Vermutungen widerleglich sind und sich aus Umständen ergeben, die auf das Vorliegen eines Mehrwertsteuerbetrugs hinweisen und bei denen von den Händlern erwartet werden kann, dass sie sie kennen, oder von ihnen vernünftigerweise verlangt werden kann, dass sie sich darüber informieren.

2.      Artikel 22 Absatz 8 der Richtlinie gestattet es den Mitgliedstaaten nicht, vorzusehen, dass jeder zusammen mit einer Person, die nach Artikel 21 Absatz 1 oder Absatz 2 Steuerschuldner ist, gesamtschuldnerisch für die Zahlung der Mehrwertsteuer haftbar gemacht werden kann; Artikel 22 Absatz 8 gestattet es den Mitgliedstaaten auch nicht, von einer Person, die nicht nach Artikel 21 der Richtlinie Steuerschuldner ist, die Leistung einer Sicherheit für die Zahlung der Mehrwertsteuerschuld eines anderen zu verlangen.


1 – Originalsprache: Portugiesisch.


2 – Richtlinie vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage (ABl. L 145, S. 1), geändert durch die Richtlinie 2000/65/EG des Rates vom 17. Oktober 2000 zur Änderung der Richtlinie 77/388 bezüglich der Bestimmung des Mehrwertsteuerschuldners (ABl. L 269, S. 44) (im Folgenden: Sechste Richtlinie).


3 – Vgl. z. B. Urteile vom 30. April 1986 in den verbundenen Rechtssachen 209/84 bis 213/84 (Asjes u. a., Slg. 1986, 1425, Randnr. 12), vom 15. Dezember 1993 in der Rechtssache C-292/92 (Hünermund u. a., Slg. 1993, I-6787, Randnr. 8), vom 7. Juli 1994 in der Rechtssache C-130/93 (Lamaire, Slg. 1994, I-3215, Randnr. 10), vom 25. Juni 1997 in den verbundenen Rechtssachen C-304/94, C-330/94, C-342/94 und C-224/95 (Tombesi u. a., Slg. 1997, I-3561, Randnr. 36), vom 1. Dezember 1998 in der Rechtssache C-410/96 (André Ambry, Slg. 1998, I-7875, Randnr. 19), vom 3. Mai 2001 in der Rechtssache C-28/99 (Verdonck u. a., Slg. 2001, I-3399, Randnr. 28), vom 12. Juli 2001 in der Rechtssache C-399/98 (Ordine degli Architetti u. a., Slg. 2001, I-5409, Randnr. 48), vom 27. November 2001 in den verbundenen Rechtssachen C-285/99 und C-286/99 (Lombardini und Mantovani, Slg. 2001, I-9233, Randnr. 27) und vom 9. September 2003 in der Rechtssache C-151/02 (Jaeger, Slg. 2003, I-8389, Randnr. 43).


4 – Vom 3. März 2004 (Slg. 2004, I-1991, Randnr. 29).


5 – Vom 18. Dezember 1997 in den verbundenen Rechtssachen C-286/94, C-340/95, C-401/95 und C-47/96 (Slg. 1997, I-7281, Randnr. 43).


6 – Urteil Molenheide u. a., Randnr. 41, und die Schlussanträge von Generalanwalt Fennelly in dieser Rechtssache, Nr. 39.


7 – Wie im Urteil Molenheide u. a. Vgl. auch Urteil vom 5. Dezember 1996 in der Rechtssache C-85/95 (Reisdorf, Slg. 1996, I-6257, Randnr. 29).


8 – Urteil vom 14. Juli 1988 in den verbundenen Rechtssachen 123/87 und 330/87 (Jeunehomme u. a., Slg. 1988, 4517, Randnr. 16).


9 – Oben angegeben, Randnr. 27. Der Gerichtshof stellte fest, dass der Grundsatz der Steuerneutralität einen Mitgliedstaat nicht daran hindere, von einem Steuerpflichtigen, der eine Lieferung fälschlich als mehrwertsteuerbefreit ausgewiesen habe, nachträglich Mehrwertsteuer zu erheben.


10 – Vgl. hinsichtlich des Zweckes der Verhinderung von Missbrauch meine Schlussanträge in den Rechtssachen C-255/02 (Halifax), C-419/02 (BUPA) und C-223/03 (University of Huddersfield, insbesondere Nr. 73 und die dort zitierte Rechtsprechung).


11 – So sah z. B. Artikel 21 Nr. 1 Buchstabe b der Sechsten Richtlinie vor seiner Änderung vor, dass der Lieferer bei der Lieferung immaterieller Dienste gesamtschuldnerisch haften konnte, während Artikel 21 Nr. 1 Buchstabe c die Möglichkeit der gesamtschuldnerischen Haftung in Bezug auf jede Person, die Mehrwertsteuer auf einer Rechnung ausweist, nicht erwähnte. Die Möglichkeit, gesamtschuldnerische Haftung anzuordnen, bestand jedoch ausdrücklich nach Artikel 21 Nr. 1 Buchstabe a hinsichtlich des Steuerschuldners, wenn der steuerpflichtige Umsatz von Waren oder Dienstleistungen von einem im Ausland ansässigen Steuerpflichtigen erbracht wurde. Vgl. auch Terra, B., und Kajus, J., „Directive 2000/65/EC on the Determination of the Person Liable for Payment of VAT; Representation Rules Simplified“, International VAT Monitor, Bd. 11, Nr. 6 (2000), S. 272-273. Diese Autoren verweisen auf die neunte Begründungserwägung der Richtlinie 2000/65, wonach die Mitgliedstaaten weiterhin Regelungen über die gesamtschuldnerische Haftung treffen können müssen. Daraus schließen sie, dass mit Artikel 21 Absatz 3 nicht bezweckt gewesen sei, die Möglichkeit, eine andere Person haften zu lassen, zu erweitern. Meiner Auffassung nach ist die Begründungserwägung indessen allgemeiner als Hinweis darauf zu verstehen, dass Artikel 21 weiterhin die Anordnung der gesamtschuldnerischen Haftung ermöglicht und dass die Änderung diese Möglichkeit jedenfalls nicht einschränken sollte.


12 – Vgl. u. a. Urteil vom 26. April 1988 in der Rechtssache 316/86 (Krücken, Slg. 1988, 2213, Randnr. 22).


13 – Vgl. entsprechend Urteile vom 22. Februar 1984 in der Rechtssache 70/83 (Kloppenburg, Slg. 1984, 1075, Randnr. 11) und vom 29. April 2004 in der Rechtssache C-17/01 (Sudholz, Slg. 2004, I-4243).


14 – Vgl. z. B. Urteil Molenheide u. a., Randnr. 47.


15 – Vgl. entsprechend meine Schlussanträge in den verbundenen Rechtssachen C-354/03, C-355/03 und C-484/03 (Optigen u. a., Slg. 2005, I-0000, Nr. 41).


16 – Urteil Molenheide u. a., Randnr. 52, und entsprechend Urteil vom 14. Juli 2005 in der Rechtssache C-435/03 (British Amerian Tobacco, Slg. 2005, I-0000, Randnr. 28) sowie meine Schlussanträge in dieser Rechtssache, Nr. 17.


17 – Vgl. entsprechend Urteil Molenheide u. a., Randnr. 49, und die in Fußnote 3 angeführte Rechtsprechung.


18 – Vgl. auch Urteil Reisdorf, Randnr. 27.