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SCHLUSSANTRÄGE DER GENERALANWÄLTIN

SHARPSTON

vom 25. Oktober 20071(1)

Rechtssache C-132/06

Kommission der Europäischen Gemeinschaften

gegen

Italien

„Mehrwertsteuer-Amnestie – Schutz vor Kontrollen – Verhältnis von fälligen Beträgen zu eingezogenen Beträgen – Vereinbarkeit mit der Sechsten Richtlinie“





1.        Die Kommission beantragt die Feststellung, dass Italien dadurch, dass es ausdrücklich vorgesehen hat, auf die Überprüfung der in mehreren Besteuerungszeiträumen getätigten steuerbaren Umsätze generell zu verzichten, gegen seine Verpflichtungen aus der Sechsten Mehrwertsteuerrichtlinie(2) und Art. 10 EG verstoßen hat.

2.        Die fraglichen nationalen Bestimmungen sehen eine Steueramnestie vor, wonach die Nichtabrechnung der auf verschiedene Steuern fälligen Beträge in den Steuerjahren 1998 (bzw. in einigen Fällen 1997) bis 2001 nicht verfolgt oder nicht untersucht wird, wenn bestimmte Erklärungen abgegeben und bestimmte Beträge sofort entrichtet werden(3).

3.        Die Kommission macht geltend, die Amnestie, soweit sie die Mehrwertsteuer betreffe, verstoße gegen die Bestimmungen von Art. 2 der Sechsten Richtlinie, wonach Umsätze besteuert werden müssten, und von Art. 22 der Sechsten Richtlinie, mit dem verschiedene Pflichten zur Erklärung und Entrichtung von Mehrwertsteuer auferlegt würden.

4.        Italien trägt vor, die Amnestie bewirke keinen generellen und unterschiedslosen Verzicht auf jede Überprüfung, sie könne nur von einem begrenzten Teil der Mehrwertsteuerpflichtigen in Anspruch genommen werden, sie habe sich – was die Steuereinnahmen angehe – als äußerst produktiv erwiesen und sei somit eine Maßnahme zur vernünftigen Nutzung begrenzter Ressourcen, die sich im Rahmen des den Mitgliedstaaten notwendigerweise zustehenden Ermessens halte.

 Bestimmungen des Gemeinschaftsrechts

5.        Durch Art. 10 EG obliegt den Mitgliedstaaten eine allgemeine Verpflichtung, „alle geeigneten Maßnahmen allgemeiner oder besonderer Art zur Erfüllung der Verpflichtungen [zu treffen], die sich aus diesem Vertrag oder aus Handlungen der Organe der Gemeinschaft ergeben“, „dieser die Erfüllung ihrer Aufgabe [zu erleichtern] und alle Maßnahmen [zu unterlassen], welche die Verwirklichung der Ziele dieses Vertrags gefährden könnten“.

6.        Art. 2 der Sechsten Richtlinie lautet:

„Der Mehrwertsteuer unterliegen:

1.      Lieferungen von Gegenständen und Dienstleistungen, die ein Steuerpflichtiger als solcher im Inland gegen Entgelt ausführt;

2.      die Einfuhr von Gegenständen.“(4)

7.        Der ursprüngliche Art. 22 der Sechsten Richtlinie wurde durch eine der sogenannten „Übergangsbestimmungen“ in Abschnitt XVI ersetzt; der einschlägige Text findet sich in Art. 28h. Die Vorschrift trägt die Überschrift „Verpflichtungen im inneren Anwendungsbereich“ und ist der umfangreichste Artikel der Richtlinie(5).

8.        Bezüglich der vorgeworfenen Vertragsverletzung im vorliegenden Fall führt die Kommission zunächst drei Bestimmungen in den Abs. 4, 5 und 8 des Artikels an:

„4.   (a)   Jeder Steuerpflichtige hat innerhalb eines Zeitraums, der von den einzelnen Mitgliedstaaten festzulegen ist, eine Steuererklärung abzugeben. …

5.     Jeder Steuerpflichtige hat bei der Abgabe der periodischen Steuererklärung den sich nach Vornahme des Vorsteuerabzugs ergebenden Mehrwertsteuerbetrag zu entrichten. …

8.     Die Mitgliedstaaten können … weitere Pflichten vorsehen, die sie als erforderlich erachten, um eine genaue Erhebung der Steuer sicherzustellen und Steuerhinterziehungen zu vermeiden, …“(6)

9.        Im Weiteren macht die Kommission auf eine Reihe anderer Verpflichtungen der Steuerpflichtigen nach Art. 22 aufmerksam:

–        Anzeige der Aufnahme, des Wechsels und der Beendigung seiner Tätigkeit als Steuerpflichtiger (Abs. 1 Buchst. a(7));

–        Führung von Aufzeichnungen, die so ausführlich sind, dass sie die Anwendung der Mehrwertsteuer und die Überprüfung durch die Steuerverwaltung ermöglichen (Abs. 2 Buchst. a(8));

–        Vorlage einer Aufstellung über innergemeinschaftliche Umsätze (Abs. 6 Buchst. b(9)).

10.      Schließlich verweist die Kommission auf andere Bestimmungen in Art. 22, in denen Verpflichtungen der Mitgliedstaaten geregelt sind:

–        Vorkehrungen, damit jeder Steuerpflichtige eine eigene Umsatzsteuer-Identifikationsnummer erhält (Abs. 1 Buchst. c, d und e(10));

–        Ergreifung der erforderlichen Maßnahmen, damit die Personen, die anstelle eines Steuerpflichtigen als Steuerschuldner angesehen werden, die erwähnten Verpflichtungen der Steuerpflichtigen zur Erklärung und Zahlung erfüllen (Abs. 7, 10 und 11(11)).

 Bestimmungen des nationalen Rechts

11.      Die Kommission wendet sich gegen die Art. 8 und 9 des italienischen Haushaltsgesetzes für das Jahr 2003.(12) Danach haben Steuerpflichtige, die keine vollständigen Erklärungen abgegeben haben, die Möglichkeit, sich durch Vorlage ergänzender Erklärungen und Zahlung eines Geldbetrags weiter gehender Steuerschulden für die angegebenen Zeiträume, nämlich die Steuerjahre 1998 (bzw. in einigen Fällen 1997) bis 2001 einschließlich, zu entledigen. Die Regelung erstreckt sich auf verschiedene Steuern, jedoch richtet sich die Klage der Kommission ausschließlich auf den Bereich der Mehrwertsteuer, und die nachstehende Zusammenfassung der einschlägigen Rechtsvorschriften beschränkt sich auf die Rechtslage in diesem Steuerbereich.

 Art. 8

12.      Art. 8 eröffnet die Möglichkeit, Erklärungen, die vor dem 31. Oktober 2002 hätten abgegeben werden müssen, „zu vervollständigen“. Hierzu sind zwei Verfahrensalternativen vorgesehen, die in Abs. 3 bzw. Abs. 4 geregelt sind.

13.      Nach Art. 8 Abs. 3 besteht die Vervollständigung in der Vorlage einer ergänzenden Erklärung für jedes einschlägige Steuerjahr sowie in der Zahlung der zusätzlichen Beträge, die nach den in den einzelnen Jahren geltenden Bestimmungen fällig waren. Unter bestimmten Voraussetzungen, wenn nämlich der Käufer selbst die Vorsteuer zu entrichten hat, diese aber nicht gemeldet hat, betrifft das Verfahren nur die Mehrwertsteuer, die nicht als Vorsteuer hätte abgezogen werden können. Die ergänzende Erklärung ist nur gültig, wenn darin zusätzliche fällige Beträge in Höhe von mindestens 300 Euro für jedes Steuerjahr angegeben sind. Die Zahlungen können in zwei gleichen Raten erfolgen, wenn der Betrag 3 000 Euro im Fall natürlicher Personen bzw. 6 000 Euro in allen anderen Fällen übersteigt.

14.      Das Verfahren nach Art. 8 Abs. 4 kann nicht in Anspruch genommen werden, wenn der Steuerpflichtige für keines der fraglichen Jahre eine Steuerklärung abgegeben hat. Wer das Verfahren jedoch in Anspruch nehmen darf, kann Erklärungen und Zahlungen über bestimmte zugelassene Stellen vornehmen. Die fälligen Beträge können in Monatsraten – allerdings mit zusätzlichen Zinsen – entrichtet werden. Das Verfahren ist insoweit anonym, als die konkret fälligen Beträge den Steuerpflichtigen nicht individuell zugeordnet werden.

15.      Wurde das Verfahren nach Art. 8 Abs. 3 oder nach Art. 8 Abs. 4 eingehalten, so gilt nach Art. 8 Abs. 6 bis zur zweifachen Höhe der gemäß der ergänzenden Erklärung fälligen Mehrwertsteuer, dass a) weder der Steuerpflichtige noch ein anderer haftender Gesamtschuldner einer Überprüfung unterliegt, b) gegebenenfalls verhängte Steuersanktionen entfallen und c) bestimmte Verfahren wegen Steuerhinterziehung nicht mehr eingeleitet werden können (bereits anhängige Strafverfahren werden jedoch nicht eingestellt). In Art. 8 Abs. 6bis wird allerdings bestätigt, dass Steuerprüfungen durchgeführt werden können, wenn die fälligen Beträge die in Art. 8 Abs. 6 bezeichnete Höhe übersteigen.

16.      Wer das anonyme Verfahren nach Art. 8 Abs. 4 in Anspruch genommen hat, entgeht gemäß Art. 8 Abs. 9 jeder Überprüfung, die über eine Stimmigkeitsprüfung seiner ergänzenden Erklärung hinausgeht.

17.      Nach Art. 8 Abs. 10 ist die Anwendung des gesamten Art. 8 ausgeschlossen, wenn zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des Gesetzes für ein bestimmtes Steuerjahr a) bereits ein Nachforderungsbescheid erlassen oder b) ein Strafverfahren wegen Steuerhinterziehung eingeleitet worden war. In einigen Fällen besteht jedoch die Möglichkeit, einem früheren Nachforderungsbescheid nachzukommen und für andere Zeiträume das Verfahren nach Art. 8 in Anspruch zu nehmen.

18.      Gemäß Art. 8 Abs. 12 kann die Einreichung der ergänzenden Erklärung keine Anzeige einer Straftat darstellen.

 Art. 9

19.      Art. 9 betrifft die „automatische Bereinigung“ der Verhältnisse für die zurückliegenden Jahre(13). Steuerpflichtige, die eine solche Bereinigung beantragen, müssen Steuererklärungen für sämtliche Steuerjahre abgeben, für die bis zum 31. Oktober 2002 Erklärungen hätten vorgelegt werden müssen.

20.      Gemäß Art. 9 Abs. 2 Buchst. b besteht die automatische Bereinigung für jedes Steuerjahr in der Zahlung eines Betrags in Höhe von 2 % der Mehrwertsteuer auf die vom Steuerpflichtigen bewirkten Umsätze und 2 % der in dem betreffenden Jahr abgezogenen Vorsteuer. Dieser Prozentsatz mindert sich auf 1,5 % der Mehrwertsteuer auf die bewirkten Umsätze bzw. 1,5 % der Vorsteuer für Beträge über 200 000 Euro und auf 1 % für Beträge über 300 000 Euro; führt die Anwendung der Bestimmung zur Entrichtung von Beträgen über 11 600 000 Euro, reduziert sich der Prozentsatz für den diese Summe übersteigenden Betrag um 80 %. In Art. 9 Abs. 6 ist jedoch für das einzelne Jahr jeweils ein fälliger Mindestbetrag festgesetzt, und zwar in Höhe von 500 Euro bei einem Unternehmensumsatz bis zu 50 000 Euro, 600 Euro bei einem Unternehmensumsatz zwischen 50 000 Euro und 180 000 Euro und 700 Euro bei einem Unternehmensumsatz über 180 000 Euro.

21.      Für einzelne Jahre, für die keinerlei Steuererklärungen abgegeben wurden, wird nach Art. 9 Abs. 8 für jedes einzelne Steuerjahr von natürlichen Personen ein Pauschalbetrag in Höhe von 1 500 Euro und von Kapital- und Personengesellschaften in Höhe von 3 000 Euro verlangt.

22.      Nach Art. 9 Abs. 9 sind mit der automatischen Bereinigung weitere, vom Steuerpflichtigen nicht bereits geltend gemachte Abzüge oder Erstattungen ausgeschlossen. Die Vorschrift schließt jedoch bestimmte Kontrollen, insbesondere bezüglich der Stimmigkeit zwischen den abgegebenen Erklärungen und den entrichteten Beträgen sowie bezüglich früherer Anträge auf Mehrwertsteuererstattung, nicht aus.

23.      Art. 9 Abs. 10 entspricht Art. 8 Abs. 6. Wurde das Verfahren nach Art. 9 eingehalten, so a) unterliegt weder der Steuerpflichtige noch ein anderer Gesamtschuldner einer Überprüfung, b) entfallen gegebenenfalls verhängte Steuersanktionen und c) können bestimmte Verfahren wegen Steuerhinterziehung nicht mehr eingeleitet werden (bereits anhängige Strafverfahren werden jedoch nicht eingestellt). Im Gegensatz zu Art. 8 Abs. 6 gelten für diesen Schutz jedoch keine Höchstgrenzen, die sich an dem jetzt entrichteten oder gemeldeten zusätzlichen Mehrwertsteuerbetrag orientieren.

24.      Art. 9 Abs. 12 ermöglicht die Zahlung von zwei gleichen Raten, wenn der fällige Betrag 3 000 Euro im Fall natürlicher Personen bzw. 6 000 Euro in allen anderen Fällen übersteigt.

25.      Art. 9 Abs. 13 entspricht Art. 8 Abs. 9. Wer das anonyme Verfahren in Anspruch genommen hat, entgeht jeder Überprüfung, die über eine Stimmigkeitsprüfung seiner ergänzenden Erklärung hinausgeht.

26.      Art. 9 Abs. 14 entspricht Art. 8 Abs. 10. Danach ist die Anwendung des gesamten Art. 9 ausgeschlossen, wenn zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des Gesetzes für ein bestimmtes Steuerjahr a) bereits ein Nachforderungsbescheid erlassen oder b) ein Strafverfahren wegen Steuerhinterziehung eingeleitet worden war. Die Vorschrift enthält jedoch einen weiteren Ausschlusstatbestand, der in Fällen eingreift, in denen c) der Steuerpflichtige für die erfassten Steuerjahre keinerlei Steuererklärung abgegeben hat.

27.      Gemäß Art. 9 Abs. 15 sind die Ausschlusstatbestände des Art. 9 Abs. 14 Buchst. a und b auf die Steuerjahre beschränkt, für die sie gelten. Des Weiteren tritt nach Art. 9 Abs. 15 eine automatische Bereinigung dann nicht ein, wenn die Daten nicht mit denen in der abgegebenen Steuererklärung übereinstimmen. Schließlich wird durch Art. 9 Abs. 15 eine Erstattung bereits gezahlter Beträge ausgeschlossen; diese gelten vielmehr als Vorauszahlungen auf fällige Steuer.

 Vorprozessuales Verfahren

28.      Da die Kommission die Art. 8 und 9 des Haushaltsgesetzes 2003 für unvereinbar mit den Art. 2 und 22 der Sechsten Richtlinie hielt, richtete sie am 19. Dezember 2003 ein Mahnschreiben gemäß Art. 226 EG an Italien. In seiner Antwort vom 30. März 2004 bestritt Italien die Unvereinbarkeit. Die Kommission erachtete dies nicht als zufriedenstellend und setzte Italien in einer mit Gründen versehenen Stellungnahme vom 13. Oktober 2004 eine Frist von zwei Monaten, um seinen Verpflichtungen nachzukommen. Italien antwortete am 31. Dezember 2005 und bestritt weiterhin die Unvereinbarkeit. Die Kommission hat am 8. März 2006 die vorliegende Klage erhoben.

 Beantragte Feststellung

29.      Die Kommission beantragt, festzustellen, dass die Italienische Republik dadurch, dass sie in den Art. 8 und 9 des Gesetzes Nr. 289 vom 27. Dezember 2002 (Haushaltsgesetz 2003) ausdrücklich vorgesehen hat, auf die Überprüfung der in mehreren Besteuerungszeiträumen getätigten steuerbaren Umsätze generell zu verzichten, gegen ihre Verpflichtungen aus den Art. 2 und 22 der Sechsten Richtlinie in Verbindung mit Art. 10 EG-Vertrag verstoßen hat. Die Kommission beantragt ferner, Italien die Kosten des Verfahrens aufzuerlegen.

30.      Italien beantragt, die Klage abzuweisen und der Kommission die Kosten aufzuerlegen.

 Würdigung

 Zulässigkeit

31.      Italien macht geltend, die Kommission habe in der mit Gründen versehenen Stellungnahme einen neuen Vorwurf erhoben, mit dem die Verletzung des Grundsatzes der Mehrwertsteuerneutralität sowie eine Wettbewerbsverzerrung durch die streitigen Vorschriften gerügt werde. Die Kommission hält dem entgegen, sie habe zur Erwiderung auf die Argumente Italiens lediglich an die Rechtsprechung des Gerichtshofs erinnert, die bei der Beurteilung der Rüge einer Verletzung der Art. 2 und 22 der Sechsten Richtlinie einschlägig sei.

32.      Da die Kommission nicht die Feststellung beantragt, dass die italienischen Vorschriften konkret gegen den Neutralitätsgrundsatz verstoßen oder zu einer Wettbewerbsverzerrung führen, scheint ihr Standpunkt vernünftig. Meines Erachtens steht daher der Zulässigkeit der Klage nichts entgegen.

 Begründetheit

33.      Die Verfahrensbeteiligten streiten um eine Reihe miteinander verzahnter Probleme, die ich unter folgenden Überschriften behandeln will: (i) Wesen und Umfang der Verpflichtungen der Mitgliedstaaten aus den Art. 2 und 22 der Sechsten Richtlinie, besonders mit Blick auf Kontrolle und Durchsetzung der Einhaltung der Vorschriften seitens der Steuerpflichtigen; (ii) praktische Folgen der streitigen Amnestiebestimmungen in Anbetracht dieser Verpflichtungen; (iii) Bedeutung der verschiedenen Einschränkungen der Amnestiebestimmungen in dieser Hinsicht; (iv) relative Wirksamkeit der Amnestiebestimmungen, insbesondere Nutzung von Ressourcen im Verhältnis zu den eingenommenen Beträgen, Ermessensspielraum der Mitgliedstaaten bei der Mehrwertsteuerverwaltung sowie die Frage, inwieweit die Amnestiebestimmungen sich im Rahmen dieses Ermessensspielraums halten.

34.      Es wäre zwar möglich – und interessant –, einer Reihe weiterer allgemeinerer Fragen zur Zulässigkeit und/oder Erwünschtheit von Mehrwertsteueramnestien nachzugehen, die im Verfahrensverlauf zum Teil angesprochen worden sind. Ich halte es jedoch nicht für sachdienlich, wenn der Gerichtshof zur Entscheidung, ob die von der Kommission konkret gerügten Bestimmungen mit der Sechsten Richtlinie vereinbar sind, diese allgemeinen Fragen im Detail behandelt. Ich werde meine Prüfung daher im Wesentlichen auf die Aspekte beschränken, die für die beantragte Feststellung relevant sind, und auf die weiter gehende Thematik nur am Rande eingehen.

 Verpflichtungen aus der Sechsten Richtlinie

35.      Ich schließe mich der von der Kommission vorgetragenen Darstellung der Verpflichtungen, die sich sowohl für die einzelnen Steuerpflichtigen als auch für die Mitgliedstaaten aus der Sechsten Richtlinie ergeben, an. Übrigens scheint auch Italien dem Kern der Darstellung zuzustimmen, wenngleich es geltend macht, die Einzelheiten der Anwendung und der Erhebung seien Sache der Mitgliedstaaten. Der Standpunkt der Kommission lässt sich wie folgt zusammenfassen und wiedergeben.

36.      Aus den Erwägungsgründen der Sechsten Richtlinie ergibt sich, dass die eigenen Mittel der Gemeinschaften „unter anderem Mehrwertsteuereinnahmen [umfassen], die sich aus der Anwendung eines gemeinsamen Satzes auf eine steuerpflichtige Bemessungsgrundlage ergeben, welche einheitlich nach Gemeinschaftsvorschriften bestimmt wird“(14), dass „das Ziel im Auge zu behalten ist, … die Neutralität des gemeinsamen Umsatzsteuersystems in Bezug auf den Ursprung der Gegenstände und Dienstleistungen zu wahren, damit schließlich ein gemeinsamer Markt verwirklicht wird, auf dem ein gesunder Wettbewerb herrscht und der mit einem echten Binnenmarkt vergleichbare Merkmale aufweist“(15), und dass „die Pflichten der Steuerpflichtigen … soweit wie möglich harmonisiert werden [müssen], um die erforderliche Gleichmäßigkeit bei der Steuererhebung in allen Mitgliedstaaten sicherzustellen“(16).

37.      Ferner ist nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs bei der Auslegung der Sechsten Richtlinie der Grundsatz der steuerlichen Neutralität zu beachten, der dem gemeinsamen Mehrwertsteuersystem innewohnt(17) und der es nicht zulässt, dass Wirtschaftsteilnehmer, die gleichartige Umsätze tätigen, bei der Erhebung der Mehrwertsteuer unterschiedlich behandelt werden(18).

38.      Die besonderen Verpflichtungen aus Art. 22 der Sechsten Richtlinie sollen gewährleisten, dass den nationalen Behörden alle erforderlichen Informationen zur Verfügung stehen, um die Erhebung der Mehrwertsteuer und ihre Überprüfung durch die Steuerverwaltung sicherzustellen.(19) Diese Verpflichtungen sind die Konsequenz aus der Vorschrift in Art. 2, dass alle Umsätze, die in den Anwendungsbereich dieser Bestimmung fallen, zu besteuern sind (sofern keine besondere Befreiung eingreift). Diese Vorschrift stellt eine allgemeine Regel auf, von der kein Mitgliedstaat einseitig abweichen darf(20). Nach Art. 27 der Sechsten Richtlinie(21) kann ein Mitgliedstaat zwar beim Rat eine Ermächtigung zur Einführung von der Richtlinie abweichender Maßnahmen beantragen, „um die Steuererhebung zu vereinfachen oder Steuerhinterziehungen oder -umgehungen zu verhindern“, aber solche Vereinfachungsmaßnahmen „dürfen den Gesamtbetrag der von dem Mitgliedstaat … erhobenen Steuer nur in unerheblichem Maße beeinflussen“ (und im Übrigen ist unstreitig, dass Italien im vorliegenden Fall keine Ermächtigung beantragt hat).

39.      Jeder Mitgliedstaat ist daher zur Vornahme aller legislativen und administrativen Maßnahmen verpflichtet, um sicherzustellen, dass die Mehrwertsteuer in seinem Hoheitsgebiet in vollem Umfang in der gleichen Weise wie in den anderen Mitgliedstaaten erhoben wird. Diese Verpflichtung ist in der Sechsten Richtlinie zwar nicht ausdrücklich formuliert, sie ergibt sich aber zwingend aus dem Rechtsakt in seiner Gesamtheit, aus Art. 10 EG und aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs(22). Auch wenn die Harmonisierung nicht allumfassend ist und bestimmte administrative Aspekte zwangsläufig im Zuständigkeitsbereich der Mitgliedstaaten verbleiben, so implizieren die Verpflichtungen aus Art. 22 der Sechsten Richtlinie jedenfalls eine detaillierte Harmonisierung auf Rechtsetzungsebene.

40.      Gemäß dieser Harmonisierung sind die Mitgliedstaaten für die Überprüfung der Steuererklärungen, der Rechnungslegungs- und anderen relevanten Unterlagen sowie für die Berechnung und Erhebung der fälligen Steuer verantwortlich. Bei der Anwendung steht ihnen – zumindest im Einzelfall – ein gewisses Ermessen bei der Entscheidung zu, wie sie die ihnen zur Verfügung stehenden Ressourcen am wirkungsvollsten und gerechtesten einsetzen wollen, aber dieses Ermessen wird insoweit eingeschränkt, als sie dafür zu sorgen haben, dass

–        die eigenen Einnahmen der Gemeinschaft durch wirksame Erhebungsmaßnahmen gesichert werden und

–        weder innerhalb eines Mitgliedstaats selbst noch zwischen den einzelnen Mitgliedstaaten erhebliche Unterschiede in der Behandlung Steuerpflichtiger bestehen.

41.      Italien bestreitet nicht, dass die Mitgliedstaaten im Rahmen der ihnen zur Verfügung stehenden Mittel die Einhaltung der Mehrwertsteuervorschriften seitens der Steuerpflichtigen überwachen und kontrollieren müssen. Es bestreitet jedoch, dass die streitigen Bestimmungen die Grenzen des legitimen Ermessens überschritten, das den Mitgliedstaaten zur Erfüllung dieser Aufgaben zustehe.

42.      Daher sind zunächst die praktischen Folgen dieser Bestimmungen zu untersuchen.

 Folgen der streitigen Bestimmungen

43.      Nach Ansicht der Kommission werden durch die gerügten Bestimmungen die sich aus der Mehrwertsteuerpflicht ergebenden normalen Rechtsbeziehungen durch neue Beziehungen ersetzt, in deren Rahmen diese Pflicht endgültig erlösche und an ihre Stelle eine andere Pflicht zur Zahlung von Beträgen trete, die zu den Beträgen, die nach den normalen Mehrwertsteuervorschriften hätten festgesetzt und abgeführt werden müssen, kaum einen Bezug aufweise. Die Kommission bezeichnet die Amnestie als „generellen, unterschiedslosen und von vornherein geltenden“ Verzicht auf das Recht zur Überprüfung und Nachforderung, während nach der Richtlinie über etwaige Amnestieabsprachen mit Steuerpflichtigen immer nur im Einzelfall entschieden werden dürfe. Darüber hinaus liege eine schwere Störung der Grundsätze der Mehrwertsteuerneutralität und der Gleichbehandlung von Steuerpflichtigen vor.

44.      Zugegebenermaßen sind die Vorschriften kompliziert, und die Parteien waren im Verfahren hinsichtlich der praktischen Folgen unterschiedlicher Meinung. Anhand der Auskünfte auf das Ersuchen des Gerichtshofs um präzisere Angaben lassen sich die Folgen meines Erachtens jedoch wie folgt zusammenfassen.

45.      Hat ein Steuerpflichtiger überhaupt keine Mehrwertsteuererklärung für die betreffenden Steuerjahre abgegeben, kann er nicht in den Genuss der Amnestie nach Art. 8 Abs. 4 bzw. Art. 9 kommen. Eine Amnestie nach entweder Art. 8 oder Art. 9 ist jedoch möglich, wenn er a) für irgendeines der betreffenden Steuerjahre eine (vollständige oder unvollständige) Steuererklärung abgegeben hat, nicht jedoch für andere Jahre, oder wenn er b) für alle betreffenden Jahre Steuererklärungen abgegeben hat, von denen jedoch einige oder alle unvollständig oder ungenau sind.

46.      Gibt ein Steuerpflichtiger für ein bestimmtes Steuerjahr eine ergänzende Erklärung nach dem Verfahren gemäß Art. 8 ab, in der ein höherer zu versteuernder Mehrwert (Differenz zwischen den besteuerten Eingangsumsätzen und zu versteuernden Ausgangsumsätzen) angegeben ist als der ursprünglich gemeldete, a) muss er einen Betrag in Höhe der auf den zusätzlichen Betrag fälligen Mehrwertsteuer (vorbehaltlich eines Mindestbetrags von 300 Euro) bezahlen und b) erlangt er bis zum Zweifachen des jetzt zusätzlich gezahlten Mehrwertsteuerbetrags Schutz vor einer Nachforderung der Mehrwertsteuer für die von ihm bewirkten Umsätze für das betreffende Jahr.

47.      Das Verfahren nach Art. 9 führt zu abweichenden Ergebnissen je nachdem, ob ursprünglich eine Steuererklärung abgegeben worden ist und in welcher Höhe Vorsteuer abgezogen worden ist. Für jedes betroffene Jahr (gleichviel, ob dafür eine Erklärung abgegeben worden war oder nicht, und gleichviel, ob eine solche Erklärung richtig war oder nicht) muss jedoch ein Betrag geleistet werden, und weitere Abzüge sind nicht zulässig. Für Jahre, für die eine Erklärung abgegeben worden war, beläuft sich der zu zahlende Betrag auf 1 % bis 2 % der ursprünglich abgezogenen Vorsteuer plus 1 % bis 2 % der ursprünglich gemeldeten Mehrwertsteuer auf die bewirkten Umsätze für das Jahr;(23) dabei gelten Mindestbeträge von 500, 600 oder 700 Euro je nach Höhe des jeweiligen Gesamtumsatzes. Für jedes Jahr, für das ursprünglich keine Steuererklärung abgegeben wurde, haben natürliche Personen 1 500 Euro und Gesellschaften 3 000 Euro ungeachtet des tatsächlich zu niedrig oder gar nicht angegebenen Betrags zu entrichten.

48.      Demnach zahlt ein Steuerpflichtiger, der das Verfahren nach Art. 8 in Anspruch nimmt, einen Betrag in voller Höhe der Mehrwertsteuer, die auf seinen früher nicht, jetzt aber doch angegebenen Mehrwert fällig ist – jedoch nur für die Jahre, für die er keine vollständigen und richtigen Steuererklärungen abgegeben hat. Er ist damit aber vor jeder weiteren Nachforderung fälliger Beträge bis zum Zweifachen dieses Betrags geschützt. In der Praxis dürfte es daher wohl unwahrscheinlich sein, dass er mehr als die Hälfte des zuvor nicht gemeldeten Mehrwerts angibt. Die Steuerbehörden nehmen dann bis die Hälfte der tatsächlich fälligen Steuer ein, verzichten aber gleichzeitig auf jede Möglichkeit, die andere Hälfte einzuziehen.

49.      Steuerpflichtige, die das Verfahren nach Art. 9 in Anspruch nehmen, müssen eine Zahlung für jedes Jahr in dem betreffenden Zeitraum leisten, und zwar unabhängig davon, ob für das betreffende Jahr ursprünglich eine richtige Steuererklärung abgegeben worden war oder nicht. War eine (richtige oder unzutreffende) Erklärung erfolgt, beläuft sich die Zahlung auf einen geringen Prozentsatz (bis zu 2 %) der ursprünglich gemeldeten Vorsteuer und Mehrwertsteuer auf die bewirkten Umsätze; war keine Erklärung erfolgt, beläuft sich die Zahlung ungeachtet der nichtgemeldeten Mehrwertsteuer auf einen Pauschalbetrag von 1 500 Euro oder 3 000 Euro. In beiden Fällen erlangt der Steuerpflichtige Schutz vor weiteren Nachforderungen.

50.      Hat ein Steuerpflichtiger die Wahl zwischen den beiden Verfahren (und will er eines davon in Anspruch nehmen), kann man vernünftigerweise davon ausgehen, dass er sich für dasjenige Verfahren entscheidet, das ihn weniger kostet. In Fällen, in denen sich das Maß der zu niedrigen oder völlig unterbliebenen Meldung in Grenzen hält (und die daher vielleicht eher auf einem genuinen Fehler beruhen), scheint das Verfahren nach Art. 8 vorteilhafter zu sein, das dem Steuerpflichtigen gegen Entrichtung der Hälfte der fälligen Mehrwertsteuer Schutz vor weiteren Ermittlungen gewährt. Bei umfangreicheren Abweichungen (die daher vielleicht eher auf einem vorsätzlichen Betrug beruhen) bietet das Verfahren nach Art. 9 Schutz gegen Entrichtung eines Betrags, der einem geringeren (in Extremfällen verschwindend geringen(24)) Teil der fälligen, aber nicht abgerechneten Steuer entspricht.

51.      Die Kommission weist darauf hin, dass nach Art. 9 ein Steuerpflichtiger gegen eine Zahlung, die zu dem Betrag der normalerweise zu einem Satz von 20 % anfallenden Mehrwertsteuer kaum einen Bezug aufweise, jedem Risiko einer Überprüfung oder Nachforderung für mehrere Besteuerungszeiträume entgehen könne. Auch die Amnestie nach Art. 8 bewahre die Steuerpflichtigen vor weiteren Überprüfungen oder Nachforderungen, wenn auch gegen Entrichtung eines höheren Betrags. Nach Auffassung der Kommission verzerrt ein derart pauschaler Verzicht der Steuerbehörden auf ihre Kontrollbefugnisse schwerwiegend die Neutralität des gemeinsamen Mehrwertsteuersystems. Steuerpflichtige, die vergleichbare Umsätze tätigten, würden sehr unterschiedlich behandelt, was wiederum den gesunden Wettbewerb beeinträchtige.

52.      Auch hier kann ich der Kommission nur zustimmen, dass eine gesetzliche Regelung, bei der ehrliche und gewissenhafte Wirtschaftsteilnehmer Mehrwertsteuer in voller Höhe abführen, wohingegen betrügerische oder nachlässige Wirtschaftsteilnehmer gegen Entrichtung bestenfalls der Hälfte und möglicherweise eines sehr viel niedrigeren Teils der tatsächlich fälligen Mehrwertsteuer jeder weiteren Untersuchung entgehen können, nicht mit den Verpflichtungen der Mitgliedstaaten insbesondere aus den Art. 2 und 22 der Sechsten Richtlinie vereinbar ist. Vor allem lässt die Regelung in Art. 9 des italienischen Haushaltsgesetzes 2003 die von der Kommission angeführten detaillierten Bestimmungen von Art. 22 der Sechsten Richtlinie(25) insofern völlig unbeachtet, als keine Steuererklärung über die tatsächlich bewirkten Umsätze abgegeben werden muss und die zu zahlenden Beträge keinerlei Bezug zu der Steuer aufweisen, die auf diese Umsätze hätte abgeführt werden müssen. Darüber hinaus gilt die Amnestie, wie die Kommission zutreffend ausführt, völlig unterschiedslos, insoweit nämlich zwischen gelegentlich oder regelmäßig zu niedrigen Meldungen, zwischen kleinen und großen Beträgen und zwischen Fahrlässigkeit und Betrug nicht differenziert wird.

53.      Italien verteidigt sich jedoch vor allem mit dem Argument, die Amnestie gelte nur mit Einschränkungen und sei eine wirksame Maßnahme, die sich im Rahmen des den Mitgliedstaaten zustehenden Ermessens halte, um die Einnahme von Beträgen sicherzustellen, die den Steuerbehörden andernfalls entgehen würden. Vor einer abschließenden Bewertung sind daher diese Gesichtspunkte zu untersuchen.

 Einschränkungen der Amnestiebestimmungen

54.      Die Kommission bezeichnet die gerügte Amnestie als generellen und unterschiedslosen Verzicht auf das Recht zur Überprüfung und Nachforderung, während die italienische Regierung auf eine Reihe von Einschränkungen des Geltungsbereichs der Amnestiebestimmungen hinweist. Diese seien erheblich, so dass die Amnestie nicht als generell oder unterschiedslos bezeichnet werden könne.

55.      Erstens gelte die Amnestie nicht für Steuerpflichtige, die ursprünglich überhaupt keine Mehrwertsteuererklärung für die betreffenden Steuerjahre abgegeben hätten(26). Dem hält die Kommission entgegen, dass es sich dabei naturgemäß nur um marginale Fälle handele.

56.      In der Tat kann man nur hoffen, dass derartige Fälle ungewöhnlich sind, und Italien hat insoweit dem Begriff „marginal“ nicht widersprochen. In der Praxis mögen Unternehmen von nennenswerter Größe auch dann, wenn sie die Steuerbehörden betrügen wollen, hinreichend plausible Steuererklärungen abgeben, um keine Aufmerksamkeit zu erregen. Das völlige Unterlassen von Steuererklärungen mag hingegen unter kleineren Wirtschaftsteilnehmern weiter verbreitet sein, die darauf hoffen, der Entdeckung ganz zu entgehen oder die eine Steuerhinterhinterziehung als eine Art moralische De-minimis-Regel betrachten(27). Außerdem werden wahrscheinlich zahlreiche illegale Tätigkeiten mehrwertsteuerlich überhaupt nicht gemeldet, selbst wenn sie grundsätzlich der Steuer unterliegen(28).

57.      Ich bin daher nicht überzeugt, dass die Ausschlussfälle insgesamt marginal sind. Was die sogenannte sichtbare Wirtschaft betrifft, so sind die Fälle zweifellos marginal, einfach weil jeder, der sichtbar einer steuerpflichtigen Geschäftstätigkeit nachgeht, es für erforderlich halten wird, zumindest so viel dieser Geschäftstätigkeit anzugeben, dass unangenehme Untersuchungen ausbleiben, und wer dies tut, der wird nicht von der Amnestie ausgeschlossen. Dieses Argument gilt jedoch nicht für die sogenannte unsichtbare Wirtschaft, die Untergrundwirtschaft, deren Anteil am Bruttoinlandsprodukt in Italien auf über 26 % geschätzt wird(29).

58.      Andererseits ist bei jemandem, der jedenfalls theoretisch steuerpflichtig ist, der aber völlig der Erfassung durch die Steuerbehörden entgehen will, die Wahrscheinlichkeit, dass er sich um den mit einer Amnestie verbundenen Schutz bemüht, wohl geringer als bei einem Steuerpflichtigen, der den Steuerbehörden bereits bekannt ist, diesen aber etwas vorenthalten hat. Auch die Durchführung einer Steuerprüfung ist bei ihm weniger wahrscheinlich, vor allem, wenn die Ressourcen der Behörden begrenzt sind, wie es Italien vorträgt.

59.      Insgesamt halte ich es daher für unwahrscheinlich, dass der Ausschluss Steuerpflichtiger, die überhaupt keine Steuerklärung für die betreffenden Steuerjahre abgegeben haben, sich signifikant auf die Anzahl der Personen auswirkt, die von der Amnestie profitieren oder dies zumindest versuchen.

60.      Zweitens trägt die italienische Regierung vor, die Amnestie gelte nicht, wenn Unregelmäßigkeiten bereits aufgedeckt worden seien(30). Die Kommission erwidert, es handele sich dabei um keinen vollständigen Ausschluss von der Amnestie – in bestimmten Fällen könne nämlich ein anderes Bereinigungsverfahren nach den Art. 15 und 16 des Gesetzes Nr. 289/2002 beschritten werden, um Nachforderungsverfahren einzustellen und die Möglichkeit eines Rückgriffs auf die Amnestie erneut zu eröffnen; hierauf erwidert die italienische Regierung, die fragliche Regelung betreffe nur diejenigen Personen, die in derartigen Verfahren noch Rechtsmittel einlegen könnten.

61.      Aus dem von Italien in seiner Gegenerwiderung vorgelegten Wortlaut der Art. 15 und 16 ergibt sich, dass Nachforderungsverfahren, in denen noch keine rechtskräftige Verfügung oder Entscheidung ergangen ist, eingestellt werden können, wenn ein Betrag in Höhe von mindestens 150 Euro bis höchstens 50 % des geforderten Steuerbetrags gezahlt wird, und aus Art. 8 Abs. 10 und Art. 9 Abs. 14 geht hervor, dass der Steuerpflichtige nach Zahlung dieses Betrags innerhalb der relevanten Frist die Amnestie entweder nach Art. 8 oder nach Art. 9 in Anspruch nehmen kann.

62.      Demzufolge ist der Anwendungsbereich des von der italienischen Regierung geltend gemachten Ausschlusses begrenzt. Es liegt in der Natur der Sache, dass eine Steueramnestie, mit der freiwillige Zahlungen anstelle der Steuer eingenommen werden sollen, die an sich fällig wäre, deren Erhebung mit anderen Mitteln jedoch für schwierig gehalten wird, nicht so weit gehen würde, dass zugunsten des Steuerpflichtigen Verfahren wiedereröffnet werden, die bereits zugunsten der Steuerbehörde abgeschlossen sind. Steuerpflichtige, gegen die ein Verfahren anhängig ist, können jedoch amnestiert werden, wenn sie zusätzlich zu dem in dem Verfahren geforderten Betrag noch einen weiteren Prozentsatz dieses Betrags zahlen. Diese Amnestie ist für die Steuerpflichtigen immer noch attraktiv, wenn sie dadurch Schutz vor weiteren Verfahren erlangen und dafür insgesamt einen geringeren Betrag entrichten müssen als den, den sie im Falle eines für sie negativen Ausgangs des Verfahrens voraussichtlich zu zahlen hätten. Die Folge hiervon ist jedoch, dass die Steuerbehörden einen niedrigeren Betrag einnehmen, als sie sonst hätten einnehmen können, und dass sie gleichzeitig auf jede weitere Überprüfung verzichten.

63.      Drittens weist die italienische Regierung darauf hin, dass(31) der im Rahmen der Amnestie gezahlte Betrag anhand der in den Steuererklärungen angegebenen Zahlen überprüft werden könne und dass in Fällen, in denen bereits Erstattungsansprüche geltend gemacht worden seien, der Rückgriff auf das Amnestieverfahren die Überprüfung der Richtigkeit dieser Ansprüche nicht ausschließe.

64.      Wie die Kommission zutreffend ausführt, ist die erstgenannte Überprüfung eine reine Formsache und muss sich vollkommen auf die Richtigkeit der abgegebenen Steuererklärungen verlassen – die ihrerseits aufgrund des Amnestieverfahrens der Überprüfung entzogen sind.

65.      Die zweite Form der Überprüfung betrifft Ansprüche auf Mehrwertsteuererstattung, d. h. Fälle, in denen die Vorsteuer höher ist als die Mehrwertsteuer auf die bewirkten Umsätze, so dass sich ein Saldo zugunsten des Steuerpflichtigen anstatt der Steuerbehörden ergibt. Die italienische Regierung macht geltend, in solchen Fällen könne sich die Kontrolle ungeachtet der Amnestie auch auf die Lieferer erstrecken, die die Rechnungen, auf der die Vorsteuer ausgewiesen sei, ausgestellt hätten und die im Übrigen als Rechnungsaussteller zur Entrichtungen der Steuer verpflichtet seien(32).

66.      Meines Erachtens dürften die Fälle, in denen dieser Ausschluss vom Schutz vor Überprüfungen zum Tragen kommt, ebenfalls nur marginal sein. Ein Wirtschaftsteilnehmer, der eine Mehrwertsteuererstattung beantragt hat, auf die er keinen Anspruch hat, wird dies mit oder ohne Komplizenschaft seiner Lieferanten getan haben, die ihm Rechnungen zur Verfügung stellen, in denen ein tatsächlich nicht abgeführter Vorsteuerbetrag ausgewiesen ist. Besteht eine solche Komplizenschaft, ist es fraglich, ob er – sofern nicht bereits unmittelbare Entdeckung droht – die Amnestie überhaupt beantragt, denn er befindet sich in Besitz von Unterlagen, die prima facie seinen Erstattungsanspruch belegen, und ein Rückgriff auf die Amnestie würde notwendigerweise bedeuten, dass er seine Betrugskomplizen denunzieren müsste. In „Missing-Trader“-Betrugsfällen (in denen ein oder mehrere Händler untertauchen, ohne Mehrwertsteuer an die Behörden abzuführen) sind Ermittlungen gegen die Lieferanten ohnehin zwecklos. Sollte keine Komplizenschaft bestanden haben, ist es noch unwahrscheinlicher, dass bei einer Überprüfung Unregelmäßigkeiten in den vorgelagerten Umsätzen nachgewiesen werden können.

67.      Insgesamt gesehen scheinen die von der italienischen Regierung geltend gemachten Einschränkungen im Anwendungsbereich der Amnestie zwar nicht vollkommen aus der Luft gegriffen, jedoch unerheblich.

 Wirksame Einnahmemaßnahme und Ermessen der Mitgliedstaaten

68.      Im Mehrwertsteuersystem sind beim gegenwärtigen Stand der Harmonisierung die Mitgliedstaaten unstreitig für die Überwachung der Vorschrifteneinhaltung seitens der Steuerpflichtigen, für die Überprüfung der Steuererklärungen, Rechnungslegungs- und sonstigen relevanten Unterlagen sowie für Berechnung und Erhebung der fälligen Steuerbeträge zuständig. Ferner ist unbestritten, dass ihnen dabei ein gewisses Ermessen im Hinblick auf einen möglichst effektiven Einsatz der ihnen zur Verfügung stehenden Mittel zusteht.

69.      Italien trägt vor, durch die streitigen Bestimmungen würden einige Steuerpflichtige spontan veranlasst, bisher nicht gemeldete Beträge anzugeben, so dass Ressourcen für Steuerprüfungen bei unverbesserlichen Steuerpflichtigen freigesetzt und im Gesamtergebnis höhere Einnahmen erzielt würden, als man andernfalls hätte erreichen können. Dies halte sich in den Grenzen des auch von der Kommission selbst anerkannten Ermessens, das den Mitgliedstaaten bei der Entscheidung über die Nutzung von Ressourcen zur Optimierung der Vorschrifteneinhaltung und -durchsetzung zustehe.

70.      Die italienische Regierung gibt an, insgesamt 162 000 Steuerpflichtige hätten die Amnestie nach Art. 8 und 750 000 Steuerpflichtige die Amnestie nach Art. 9 in Anspruch genommen. Die letztgenannte Zahl entspreche 13,37 % der im Jahr 2001 in Italien gemeldeten 5 309 654 Steuerpflichtigen(33). Der im Jahr 2003 eingenommene Gesamtbetrag (1,938 Milliarden Euro) entspreche rund 1,9 % der in jenem Jahr insgesamt erhobenen Mehrwertsteuer (101,890 Milliarden Euro). Im Gegensatz hierzu seien die Mehrwertsteuerbeträge, die 1999 bis 2002 nach konventionellen Prüfungen eingenommen worden seien, wesentlich niedriger gewesen, hätten zwischen 140 Millionen Euro und 357 Millionen Euro geschwankt und hätten sich für den genannten Zeitraum von vier Jahren auf insgesamt lediglich 1,049 Milliarden belaufen(34). Dies zeige – so Italien –, wie unbegründet die Klage sei.

71.      Die Kommission erwidert, diese Zahlen belegten vielmehr, dass viel zu viele Steuerpflichtige mit viel zu geringem Erfolg amnestiert worden seien. Die mit der Amnestie verbundenen angeblichen Vorteile (höhere und effizienter erzielte Einnahmen) seien illusorisch (die Einnahmen machten nur einen winzigen Prozentsatz aus, und die einzige reale Folge sei, dass eine Kontrolle seitens der Steuerbehörden ausgeschlossen sei) und seien im Übrigen angesichts der in den Art. 2 und 22 der Sechsten Richtlinie bindend festgelegten Anforderungen ohnehin irrelevant.

72.      In seiner Gegenerwiderung führt Italien aus, die streitigen Bestimmungen förderten spontane Steuererklärungen, die dadurch freigesetzten Ressourcen könnten für Steuerprüfungen bei Steuerpflichtigen eingesetzt werden, die die Bestimmungen nicht in Anspruch nähmen, bezüglich solcher Steuerpflichtiger verlängere Art. 10 des Haushaltsgesetzes 2003 die mögliche Überprüfungsfrist um zwei Jahre und es seien nennenswert höhere Beträge eingenommen worden, als dies sonst der Fall gewesen wäre. Die Vorteile seien daher real und nicht als irrelevant zu bezeichnen. Darüber hinaus sei Folgendes zu beachten: a) die Amnestie gelte in Fällen, in denen die Unterlassung der Steuererklärung nicht entdeckt worden sei und vielleicht nie entdeckt worden wäre, b) nach Art. 9 habe der Steuerpflichtige für jedes Steuerjahr in der Reihe der vom Gesetz erfassten Besteuerungszeiträume einen Betrag zu entrichten, selbst wenn die ursprüngliche Unterlassung nur ein Steuerjahr betreffe, c) der Steuerbetrag möge zwar niedriger als der theoretisch geschuldete sein, werde aber sofort eingenommen und nicht erst nach langwierigen Ermittlungen und Einzugsverfahren.

73.      Die Kommission scheint nicht absolut jede Mehrwertsteueramnestie abzulehnen, sie wendet sich jedoch vehement gegen die Form der Amnestie in den streitigen Bestimmungen.

74.      Es mag daher hilfreich sein, sich kurz mit dem Phänomen an sich zu befassen. Steueramnestien beinhalten üblicherweise Schutz vor strafrechtlichen Sanktionen, vor Geldbußen sowie (teilweise oder vollständig) vor Zinsforderungen – und die Kommission räumt ausdrücklich ein, dass im Bereich der Mehrwertsteuer derartige Regelungen im Zuständigkeitsbereich der Mitgliedstaaten lägen und nicht durch Gemeinschaftsrecht beschränkt seien. Ebenso üblich ist jedoch, als Voraussetzung für eine Amnestie die Entrichtung des geschuldeten Betrags in voller Höhe ohne Befreiung von einer Überprüfung zu verlangen. Das Ziel besteht generell darin, die Steuerpflichtigen zu freiwilligen Zahlungen zu veranlassen, indem ihnen Straffreiheit gewährt wird (die Androhung von Strafe soll zwar von vornherein die Einhaltung der Vorschriften bewirken, kann aber von einer nachträglichen Einhaltung abhalten kann, wenn der Preis der Reue zu hoch ist), ohne dabei so weit zu gehen, diejenigen günstiger zu stellen, die erst eine Steuerhinterziehung begehen und dann Reue zeigen, als diejenigen, die von vornherein eine richtige und ehrliche Erklärung abgeben; ein weiteres Ziel ist, Steuerpflichtige, die sich eine Verfehlung haben zuschulden kommen lassen, für die Zukunft wieder auf den rechten Weg zu bringen.

75.      In der Literatur(35) werden u. a. folgende Voraussetzungen für die Effektivität von Steueramnestien genannt: Es sollte sich um eine einmalige Maßnahme handeln (andernfalls ändern bei wiederholter Anwendung die Steuerpflichtigen in Erwartung zukünftiger Amnestien ihre Taktik), es sollten zumindest der fällige Betrag und in der Regel auch einige Zinsen gefordert werden (andernfalls entsteht der Eindruck, dass Steuerhinterziehung belohnt wird), und mit der Amnestie sollte zumindest eine glaubwürdige Ankündigung einhergehen, dass verschärfte Steuerprüfungen durchgeführt werden (andernfalls erscheint es günstiger, das Risiko der Entdeckung einzugehen als eine Erklärung abzugeben).

76.      Es liegt auf der Hand, dass die streitige Amnestie keines dieser Merkmale aufweist. Sie ist sogar auf anschließende Steuerjahre ausgedehnt worden(36), so dass möglicherweise die Erwartung zukünftiger Amnestien geweckt und damit die Wahrscheinlichkeit eines vorschriftenkonformen Verhaltens gemindert wird. Darüber hinaus hat Italien in der Vergangenheit nachweislich ausgiebigen Gebrauch von Steueramnestien gemacht.(37) In der Tat vertreten Kommentatoren die Auffassung, Amnestien fänden dort so regelmäßig statt, dass die Erwartung weiterer Maßnahmen ein Grund dafür sei, warum die Einhaltung der Steuervorschriften landesweit einen so niedrigen Stand aufweise(38). Selbst wenn sich das Mehrwertsteueraufkommen in den folgenden Jahren tatsächlich erhöht haben sollte, wie Italien erklärt, wurden doch keine Nachweise erbracht, dass dies konkret auf die Amnestie (und nicht auf eine der zahlreichen anderen möglichen Ursachen) zurückzuführen sei oder dass diese Folge von Dauer sei.

77.      Italien macht geltend, die eingezogenen Beträge beliefen sich insgesamt auf fast 2 % der jährlichen Mehrwertsteuereinnahmen. Wenn der Mehrwertsteuerausfall (d. h. die Differenz zwischen dem theoretisch einziehbaren Betrag und dem tatsächlich eingezogenen Betrag) in Italien auf 35 % bis 40 % geschätzt werden kann(39), ergibt sich ein tatsächlich eingezogener Betrag in der Größenordnung von 3 % bis 4 % des theoretisch fälligen, aber nicht gemeldeten Betrags(40).

78.      Es trifft zwar zu, dass keine Steuerbehörde jemals hoffen kann, jeden Steuerbetrug aufzudecken, und es ist nicht Sache des Gerichtshofs, Italien Ratschläge für einen optimalen Einsatz der Ressourcen zu erteilen, selbst wenn er die notwendige Sachkunde hierfür besäße. Gleichwohl halte ich ein Vorgehen, das offenbar rund 3 % bis 4 % der nichteingezogenen Steuer einbringt (und somit den nichteingezogenen Betrag zu mindestens 95 % nicht erfasst, wobei dieser wenigstens zum Teil endgültig uneinbringlich ist), für keine offensichtlich effiziente Nutzung von Ressourcen.

 Fazit

79.      Es lässt sich nicht ernsthaft behaupten, dass die in den Art. 8 und 9 des italienischen Haushaltsgesetzes verankerten Steuereinnahmeverfahren in irgendeiner Form mit den Vorschriften der Sechsten Richtlinie zu vereinbaren sind, die die Mitgliedstaaten bei der Anwendung der Mehrwertsteuer zu beachten haben. In dieser Richtlinie gibt es keine Bestimmung, die einem Mitgliedstaat erlauben würde, Mehrwertsteuer zum halben Normalsatz zu erheben (was ja die praktische Folge von Art. 8 ist)(41). Noch weniger gestattet sie die Erhebung eines Betrags in Höhe von 2 % der gemeldeten Vorsteuer plus 2 % der gemeldeten Mehrwertsteuer auf bewirkte Umsätze anstelle eines völlig unbestimmten Mehrwertsteuerbetrags, der hätte angegeben werden müssen, aber nicht angegeben wurde. Schließlich sind – auch wenn die Mehrwertsteuer eine Selbstbemessungssteuer ist – die Mitgliedstaaten eindeutig verpflichtet, die Einhaltung der Vorschriften zu kontrollieren und durchzusetzen, und nicht befugt, diese Verantwortung für ganze Bereiche steuerpflichtiger Wirtschaftstätigkeit aufzugeben.

80.      Die streitigen Amnestiebestimmungen gelten theoretisch für den gesamten nichtgemeldeten steuerpflichtigen Handel in Italien, der nach durchgängigen Schätzungen der Ökonomen einen beträchtlichen Prozentsatz des Bruttosozialprodukts des Landes ausmacht – vielleicht 25 % bis 40 %. Laut den Zahlenangaben der italienischen Regierung haben sich in der Praxis über 17 % der Steuerpflichtigen auf diese Bestimmungen berufen(42). Ihre Folgen sind daher alles andere als unbedeutend und stellen eine schwerwiegende Beeinträchtigung der sachgerechten Anwendung der Mehrwertsteuer nach Maßgabe der Harmonisierungsvorschriften der Sechsten Richtlinie dar.

81.      Es erscheint auch nicht plausibel, die Bestimmungen mit dem effizienten Einsatz von Ressourcen verteidigen zu wollen. Im Gegenteil, sowohl nach dem gesunden Menschenverstand als auch bei wirtschaftlicher Analyse ergibt sich, dass sie (mindestens) mittel- und langfristig dazu führen können, dass die Mehrwertsteuervorschriften in geringerem Umfang eingehalten werden, weil die Amnestiebestimmungen die Nichteinhaltung gegenüber der Einhaltung begünstigen und aus historischer Sicht die begründete Hoffnung erwecken, dass auch in Zukunft eine derart günstige Behandlung erfolgen wird.

82.      Die von der Kommission geltend gemachte Vertragsverletzung ist daher festzustellen.

 Kosten

83.      Nach Artikel 69 § 2 der Verfahrensordnung ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Da meiner Meinung nach die von der Kommission beantragte Feststellung auszusprechen ist und die Kommission einen Kostenantrag gestellt hat, sind Italien folglich die Kosten des Verfahrens aufzuerlegen.

 Ergebnis

84.      Meines Erachtens sollte der Gerichtshof daher

–        feststellen, dass die Italienische Republik dadurch, dass sie in den Art. 8 und 9 des Gesetzes Nr. 289 vom 27. Dezember 2002 (Haushaltsgesetz 2003) ausdrücklich vorgesehen hat, auf die Überprüfung der in mehreren Besteuerungszeiträumen getätigten steuerbaren Umsätze generell zu verzichten, gegen ihre Verpflichtungen aus den Art. 2 und 22 der Sechsten Richtlinie in Verbindung mit Art. 10 EG-Vertrag verstoßen hat;

–        der Italienischen Republik die Kosten auferlegen.


1 – Originalsprache: Englisch.


2 – Sechste Richtlinie des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern - Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage (77/388/EWG), ABl. L 145, S. 1 (mehrfach geändert). Am 1. Januar 2007 wurde die Sechste Richtlinie aufgehoben und durch die Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem, ABl. L 347, S. 1, ersetzt.


3 – Die streitige Amnestie wurde auf nachfolgende Jahre ausgedehnt, wogegen die Kommission eine weitere Klage (Rechtssache C-174/07) erhoben hat, die derzeit anhängig ist.


4 –      Diese Bestimmungen finden sich jetzt in Art. 2 Abs. 1 Buchst. a und d der Richtlinie 2006/112.


5 – An seine Stelle sind insbesondere die Art. 213 bis 271 der Richtlinie 2006/112 getreten.


6 – Die Bestimmungen finden sich jetzt in Art. 252 Abs. 1, Art. 206 bzw. Art. 273 der Richtlinie 2006/112.


7 – Art. 213 Abs. 1 der Richtlinie 2006/112.


8 – Die Kommission verweist an dieser Stelle allerdings auf Abs. 3; jetzt Art. 242 der Richtlinie 2006/112.


9 – Art. 262 ff. der Richtlinie 2006/112.


10 – Art. 214 bis 216 der Richtlinie 2006/112.


11 – Art. 207, 209, 210, 256 bis 258 und 267 der Richtlinie 2006/112.


12 – Legge 289/2002, GURI vom 31. Dezember 2002, in der geänderten Fassung.


13 – Die Lösung wird als „condono tombale“ (Friedhofsamnestie) bezeichnet, wohl weil alle Steuerschulden „begraben“ werden.


14 – Zweiter Erwägungsgrund; achter Erwägungsgrund der Richtlinie 2006/112.


15 – Vierter Erwägungsgrund; nicht in den Erwägungsgründen der Richtlinie 2006/112.


16 – 14. Erwägungsgrund; 45. Erwägungsgrund der Richtlinie 2006/112.


17 – Vgl. z. B. Urteil vom 8. Dezember 2005, Jyske Finans (C-280/04, Slg. 2005, I-10683, Randnr. 36).


18 – Urteil vom 16. September 2004, Cimber Air (C-382/02, Slg. 2004, I-8379, Randnr. 24).


19 – Vgl. z. B. Urteile vom 5. Dezember 1996, Reisdorf (C-85/95, Slg. 1996, I-6257, Randnr. 24), und vom 17. September 1997, Langhorst (C-141/96, Slg. 1997, I-5073, Randnrn. 17 und 28).


20 – Vgl. z. B. Urteil vom 21. Februar 1989, Kommission/Italien (203/87, Slg. 1989, 371, Randnr. 10).


21 – Art. 395 der Richtlinie 2006/112.


22 – Sowohl Italien als auch die Kommission haben das Urteil vom 28. September 2006, Kommission/Österreich (C-128/05, Slg. 2006, I-9265) angeführt, mit dem der Gerichtshof entschied, dass Österreich gegen seine Verpflichtungen verstoßen habe, weil es bestimmte ausländische Beförderungsunternehmen vollständig von der Mehrwertsteuerpflicht befreit habe. Vgl. auch Urteil vom 14. September 2006, Stradasfalti (C-228/05, Slg. 2006, I-8391, insbesondere Randnr. 66); dort führt der Gerichtshof aus, dass Italien nicht einseitig einem Steuerpflichtigen eine Abweichung vom Grundsatz des Vorsteuerabzugs entgegenhalten dürfe.


23 – Dieser Prozentsatz reduziert sich noch weiter, wenn Beträge über 11 600 000 Euro zu zahlen sind; diese werden um 80 % gemindert, d. h. also auf 0,2 % der ursprünglich angegebenen Vorsteuer und/oder Mehrwertsteuer auf bewirkte Umsätze.


24 – Die Kommission führt den Fall eines Steuerpflichtigen an, der in einem bestimmten Steuerjahr keinerlei Steuererklärung abgegeben hat, jedoch 600 000 Euro hätte abführen müssen. Im Verfahren nach Art. 9 beläuft sich der Höchstbetrag, der gezahlt werden muss, um vollständigen Schutz zu erlangen, auf 3 000 Euro – den Steuerbehörden entsteht definitiv ein Ausfall von 597 000 Euro. Ich möchte hinzufügen, dass der entgangene Anteil noch exorbitanter sein könnte, da in der Vorschrift ausdrücklich von Beträgen in Höhe von mehr als 11 600 000 Euro die Rede ist.


25 – Siehe oben, Nrn. 8 bis 10.


26 – Art. 8 Abs. 4 und Art. 9 Abs. 14 Buchst. c.


27 – Im Gegensatz zu anderen Mitgliedstaaten gilt in Italien keine Schwelle für die Mehrwertsteuerpflicht, so dass selbst die kleinsten Unternehmen Mehrwertsteuer abführen müssen.


28 – Vgl. z. B. Urteil vom 6. Juli 2006, Kittel und Recolta Recycling (C-439/04 und C-440/04, Slg. 2006, I-6161, Randnr. 50 und die dort angeführte Rechtsprechung).


29 – Vgl. z. B. European Employment Observatory Review, Herbst 2004, insbesondere S. 77 und 106 bis 110.


30 – Art. 8 Abs. 10 und Art. 9 Abs. 14.


31 – Gemäß Art. 9 Abs. 9, insbesondere nach der Auslegung im Urteil der Corte costituzionale vom 27. Juli 2005.


32 – Art. 54bis des Decreto del Presidente della Republica Nr. 633/72; vgl. Art. 21 Abs. 1 Buchst. d (in Art. 28g) der Sechsten Richtlinie, Art. 203 der Richtlinie 2006/112.


33 – Hier scheint ein Rechenfehler vorzuliegen. 750 000 ergibt bezogen auf 5 309 654 einen Prozentsatz von 14,125 %. Die für Art. 8 genannte Zahl von 162 000 Personen entspricht 3,05 % der Steuerpflichtigen insgesamt.


34 – Bei einem Vergleich dieser Zahlen mit dem von der italienischen Regierung angegebenen Gesamtbetrag der erhobenen Mehrwertsteuer in den vier Jahren ergibt sich nach meiner Berechnung, dass sich die nach Prüfungen eingenommenen Steuerbeträge auf 0,18 % bis 0,38 % des in jeweils einem Jahr erhobenen Gesamtbetrags bzw. auf 0,3 % des Gesamtbetrags im genannten Vierjahreszeitraum beliefen.


35 – Etwa IWF-Arbeitspapier 89/42, An economic analysis of tax amnesties, Stella, P., 1989; Deferral and the utility of amnesty, Boise, C. M., George Mason University Law Review 2007, S. 667, insbesondere 693 ff.


36 – Siehe oben, Fn. 3.


37 – Laut einem Papier des Kongresses der USA aus dem Jahr 1998 „hat Italien mehr als ein Dutzend Steueramnestien durchgeführt, in letzter Zeit im Durchschnitt alle zwei Jahre“. In einem Artikel, den die Kommission in ihrer Klageschrift anführt (Il condono fiscale tra genesi politica e limiti costituzionali, De Mita, Diritto e pratica tributaria, 2004, Teil I, S. 1449) heißt es, die Amnestie im Jahr 2003 sei die 58. seit dem Jahr 1900 gewesen.


38 – Is One More Tax Amnesty Really That Bad? Some Empirical Evidence from the Italian 1991 VAT Amnesty, Marè, M., und Salleo, C., 59. IIPF-Kongress, Prag, August, 2003. Vgl. auch Gradual Recovery in Euroland, Carstensen, K., Gern, K.-J., Kamps, C., Scheide, J., Kieler Diskussionsbeiträge 405: „… im ersten Halbjahr 2003 erzielte Italien im Zuge einer weitreichenden Steueramnestie zusätzliche Steuereinnahmen in Höhe von etwa 0,8 % des Bruttoinlandsprodukts. Dank dieser einmaligen Maßnahme konnte Italien kurzfristig ein Überschreiten der mit dem Stabilitäts- und Wachstumspakt festgesetzten Schwelle verhindern. Mittelfristig steigt jedoch die Wahrscheinlichkeit eines Überschreitens der 3%-Schwelle. Wie die Erfahrung zeigt, führen häufige Steueramnestien – in Italien war es die dritte Amnestie in 20 Jahren – zu einer Abnahme der Steuerehrlichkeit. Im Ergebnis sind die Steuereinnahmen mittel- und langfristig niedriger als sie ohne die Amnestie wären“.


39 – IWF-Arbeitspapier 07/31, VAT fraud and evasion: what do we know and what can be done, Keen, M., und Smith, S., Februar 2007, S. 19.


40 – D. h. 2 % der 60 % bis 65 %, die eingezogen wurden, entsprechen (ungefähr) 3 % bis 4 % der 35 % bis 40 %, die nicht eingezogen wurden.


41 – Insoweit ist zu beachten, dass die Hälfte des in Italien geltenden Normalsatzes von 20 % bei 10 % läge, also niedriger als der nach Art. 12 Abs. 3 Buchst. a der Sechsten Richtlinie zulässigen Mindestnormalsatz von 15 %.


42 – Nach Angaben der Kommission in der mündlichen Verhandlung ist die Anzahl der Personen, die die Amnestie in Anspruch genommen haben, erheblich größer als die Anzahl aller Steuerpflichtigen in einem Staat mittlerer Größe wie etwa Belgien.