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SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

JÁN MAZÁK

vom 25. Oktober 20071(1)

Rechtssache C-271/06

Netto Supermarkt GmbH & Co. OHG

gegen

Finanzamt Malchin

(Vorabentscheidungsersuchen des Bundesfinanzhofs [Deutschland])

„Sechste Mehrwertsteuerrichtlinie – Art. 15 Abs. 2 – Steuerbefreiung bei Ausfuhrlieferungen – Mit der Sorgfalt eines ordentlichen Kaufmanns handelnder Lieferer – Betrügerisches Verhalten Dritter – Gefälschte Ausfuhrnachweise“





I –    Einleitung

1.     Mit Beschluss vom 2. März 2006 hat der Bundesfinanzhof (Deutschland) dem Gerichtshof eine Frage nach der Auslegung der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage(2) in der Fassung der Richtlinie 95/7/EG(3) (im Folgenden: Sechste Richtlinie), insbesondere zu Art. 15, vorgelegt.

2.     Das vorlegende Gericht möchte im Wesentlichen wissen, ob die in Art. 15 Abs. 2 der Sechsten Richtlinie niedergelegten Regelungen über die Steuerbefreiung bei Ausfuhren in ein Drittland dahin auszulegen sind, dass sie einer Gewährung der Steuerbefreiung im Billigkeitswege durch einen Mitgliedstaat entgegenstehen, wenn zwar die Voraussetzungen für die Befreiung tatsächlich nicht vorliegen, der Steuerpflichtige deren Fehlen aber wegen des betrügerischen Verhaltens der vermeintlichen Abnehmer auch bei Beachtung der Sorgfalt eines ordentlichen Kaufmanns nicht erkennen konnte.

3.     Die Frage stellte sich vor dem Hintergrund, dass polnische Staatsbürger über Jahre hinweg von dem deutschen Supermarkt „Netto“ (im Folgenden: Netto Supermarkt) betrügerisch die Erstattung von Umsatzsteuer auf Waren, die angeblich aus der Gemeinschaft ausgeführt worden waren, beantragten und gewährt bekamen, indem sie liegengebliebene Kassenbons auf den Parkplätzen, in den Einkaufskörben und den Papierkörben des Supermarkts einsammelten und mit gefälschten Vordrucken und gefälschten Zollstempeln Ausfuhrnachweise nachfertigten.

II – Rechtlicher Rahmen

A –    Die Sechste Richtlinie

4.     Die für den vorliegenden Fall relevanten Bestimmungen von Art. 15 der Sechsten Richtlinie mit der Überschrift „Steuerbefreiungen bei Ausfuhren nach einem Drittland, gleichgestellten Umsätzen und grenzüberschreitenden Beförderungen“ lauten:

„Unbeschadet sonstiger Gemeinschaftsbestimmungen befreien die Mitgliedstaaten unter den Bedingungen, die sie zur Gewährleistung einer korrekten und einfachen Anwendung der nachstehenden Befreiungen sowie zur Verhütung von Steuerhinterziehungen, Steuerumgehungen und etwaigen Missbräuchen festsetzen, von der Steuer:

2.      Lieferungen von Gegenständen, die durch den nicht im Inland ansässigen Abnehmer oder für dessen Rechnung nach Orten außerhalb der Gemeinschaft versandt oder befördert werden, mit Ausnahme der vom Abnehmer selbst beförderten Gegenstände zur Ausrüstung oder Versorgung von Sportbooten und Sportflugzeugen sowie von sonstigen Beförderungsmitteln, die privaten Zwecken dienen;

         Erstreckt sich die Lieferung auf Gegenstände zur Mitführung im persönlichen Gepäck von Reisenden, so gilt diese Steuerbefreiung, wenn

–      der Reisende nicht in der Gemeinschaft ansässig ist;

–      die Gegenstände vor Ablauf des dritten auf die Lieferung folgenden Kalendermonats nach Orten außerhalb der Gemeinschaft befördert werden;

–      der Gesamtwert der Lieferung einschließlich Mehrwertsteuer den Gegenwert von 175 ECU in Landeswährung übersteigt, der gemäß Artikel 7 Absatz 2 der Richtlinie 69/169/EWG festgelegt wurde; die Mitgliedstaaten können jedoch auch eine Lieferung, deren Gesamtwert niedriger als dieser Betrag ist, von der Steuer befreien.

         Bei Anwendung des Unterabsatzes 2

–      gilt als nicht in der Gemeinschaft ansässiger Reisender ein Reisender, dessen Wohnsitz oder gewöhnlicher Aufenthalt sich nicht in der Gemeinschaft befindet. Zur Anwendung dieser Bestimmung gilt als ‚Wohnsitz oder gewöhnlicher Aufenthaltsort‘ der Ort, der im Reisepass, im Personalausweis oder in jedem sonstigen Dokument eingetragen ist, das in dem Mitgliedstaat, in dem die Lieferung erfolgt, als Identitätsnachweis anerkannt ist;

–      wird der Nachweis der Ausfuhr durch Rechnungen oder entsprechende Belege erbracht, die mit dem Sichtvermerk der Ausgangszollstelle der Gemeinschaft versehen sein müssen.

Jeder Mitgliedstaat übermittelt der Kommission ein Muster des von ihm für die Erteilung des in Unterabsatz 3 zweiter Gedankenstrich genannten Sichtvermerks verwendeten Stempelabdrucks. Die Kommission leitet diese Information an die Steuerbehörden der übrigen Mitgliedstaaten weiter.“

B –    Einschlägiges nationales Recht

5.     Die Sechste Richtlinie wurde in Deutschland durch das Umsatzsteuergesetz 1993 (im Folgenden: UStG 1993) umgesetzt.

6.     Die Bestimmungen über Mehrwertsteuerbefreiungen bei Ausfuhrumsätzen und gleichgestellten Umsätzen sind in § 4 Abs. 1 Buchst. a und in § 6 UStG 1993 enthalten.

7.     Nach § 4 Abs. 1 Buchst. a UStG 1993 sind von den unter § 1 Abs. 1 Nr. 1 UStG 1993 fallenden Umsätzen u. a. die Ausfuhrlieferungen (§ 6 UStG 1993) steuerfrei.

8.     Eine Ausfuhrlieferung liegt nach § 6 Abs. 1 Nr. 2 UStG 1993 vor, wenn bei einer Lieferung der Abnehmer den Gegenstand der Lieferung in das Drittlandsgebiet, ausgenommen Gebiete nach § 1 Abs. 3 UStG 1993, befördert oder versandt hat und ein ausländischer Abnehmer ist.

9.     Gemäß § 6 Abs. 4 UStG 1993 müssen die Voraussetzungen u. a. des Abs. 1 vom Unternehmer nachgewiesen werden. Das Bundesministerium der Finanzen kann mit Zustimmung des Bundesrats durch Rechtsverordnung bestimmen, wie der Unternehmer die Nachweise zu führen hat.

10.   Das Bundesministerium der Finanzen hat von der Ermächtigung des § 6 Abs. 4 UStG 1993 in § 8 Abs. 1 der Umsatzsteuer-Durchführungsverordnung (im Folgenden: UStDV) Gebrauch gemacht. Danach muss bei Ausfuhrlieferungen der Unternehmer im Geltungsbereich dieser Verordnung durch Belege nachweisen, dass er oder der Abnehmer den Gegenstand der Lieferung in das Drittlandsgebiet befördert oder versandt hat (Ausfuhrnachweis). Die Voraussetzung muss sich aus den Belegen eindeutig und leicht nachprüfbar ergeben.

11.   Für die innergemeinschaftliche Lieferung sieht § 6a Abs. 4 UStG 1993 eine Vertrauensschutzregelung vor, die wie folgt lautet:

„Hat der Unternehmer eine Lieferung als steuerfrei behandelt, obwohl die Voraussetzungen nach Absatz 1 nicht vorliegen, so ist die Lieferung gleichwohl als steuerfrei anzusehen, wenn die Inanspruchnahme der Steuerbefreiung auf unrichtigen Angaben des Abnehmers beruht und der Unternehmer die Unrichtigkeit dieser Angaben auch bei Beachtung der Sorgfalt eines ordentlichen Kaufmanns nicht erkennen konnte. In diesem Fall schuldet der Abnehmer die entgangene Steuer.“

12.   Eine entsprechende Vertrauensschutzregelung sieht das nationale Recht bei der Ausfuhrlieferung in Drittländer nicht vor.

13.   § 227 der deutschen Abgabenordnung (im Folgenden: AO) enthält jedoch folgende allgemeine Billigkeitsregelungen:

„Die Finanzbehörden können Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis ganz oder zum Teil erlassen, wenn deren Einziehung nach Lage des einzelnen Falls unbillig wäre; unter den gleichen Voraussetzungen können bereits entrichtete Beträge erstattet oder angerechnet werden.“

III – Sachverhalt, Verfahren und Vorlagefragen

14.   Im Ausgangsverfahren streiten Netto Supermarkt (Kläger und Revisionskläger) und das Finanzamt Malchin (Beklagter und Revisionsbeklagter, im Folgenden: Finanzamt) um den Erlass von Umsatzsteuer, die das Finanzamt gegen Netto Supermarkt wegen des Fehlens der Voraussetzungen für steuerfreie Ausfuhrlieferungen festgesetzt hat.

15.   Netto Supermarkt betreibt im deutschen Bundesland Mecklenburg-Vorpommern mehrere Discount-Supermärkte. Hinsichtlich der Erstattung von Umsatzsteuer hatte Netto Supermarkt betriebsintern festgelegt, dass sie die Umsatzsteuer im nichtkommerziellen Reiseverkehr nur erstattet, wenn sich der Stempelaufdruck hälftig auf dem Bon und dem Zollformular befindet und der ausländische Bürger seinen Pass vorlegt. Diese Regelungen führte Netto Supermarkt vor dem Erscheinen des Merkblatts des Bundesministeriums der Finanzen zur Umsatzsteuerbefreiung für Ausfuhrlieferungen im nichtkommerziellen Reiseverkehr vom 18. März 1999 ein, in dem Empfehlungen für den Nachweis der Ausfuhr im nichtkommerziellen Reiseverkehr enthalten sind.

16.   In den Jahren 1992 bis 1998 erstattete Netto Supermarkt an einige ihrer Kunden Mehrwertsteuerbeträge in erheblicher Höhe in der irrigen Annahme, die rechtlichen Voraussetzungen für eine Steuerbefreiung bei Ausfuhrlieferungen seien erfüllt. Die vom Finanzamt durchgeführten Ermittlungen ergaben später, dass polnische Staatsbürger Netto Supermarkt gefälschte Vordrucke der Zollbehörde und von anderen Kunden zurückgelassene Kassenbons vorgelegt hatten, die sie auf Parkplätzen der Netto-Supermärkte gefunden hatten. Sie hatten anschließend die gefälschten Vordrucke und die zurückgelassenen Bons mit einem Stempel versehen, bei dem es sich um eine Nachfertigung des Originalstempels der Zollbehörde handelte.

17.   Das betrügerische Verhalten wurde entdeckt, als sich Netto Supermarkt 1998 an das Hauptzollamt (HZA) Neubrandenburg wandte, um sich zu erkundigen, ob der häufig auftretende Stempel und die dazu gehörenden Papiere gefälscht seien. Nachdem eine Mitarbeiterin des Hauptzollamts die Vordrucke und den Stempel zunächst für echt gehalten hatte, stellte das Hauptzollamt nach weiterer Prüfung fest, die übergebenen Unterlagen seien gefälscht.

18.   Daraufhin verlangte das Finanzamt von Netto Supermarkt Entrichtung der Mehrwertsteuer für die Jahre 1993 bis 1997 sowie für den Monat Dezember 1998.

19.   Den von Netto Supermarkt beantragten Erlass der nachgeforderten Umsatzsteuer für die Jahre 1993 bis 1998 lehnte das Finanzamt mit Bescheid vom 14. Februar 2000 ab.

20.   Der Einspruch dagegen hatte nur zum Teil Erfolg. Im Übrigen wies das Finanzamt den Einspruch mit Entscheidung vom 3. Mai 2000 zurück, in der es insbesondere ausführte, die Einziehung sei nicht sachlich unbillig und die Durchsetzung des Anspruchs aus dem Steuerschuldverhältnis unter den besonderen Umständen des Einzelfalls laufe den gesetzlichen Wertungen nicht zuwider. Netto Supermarkt müsse sich zurechnen lassen, dass sie die ungerechtfertigte Auszahlung der Umsatzsteuern mitverschuldet habe, auch wenn durch ihr bedachtes Handeln weiterer Schaden verhindert worden sei.

21.   Gegen diese Entscheidung erhob Netto Supermarkt Klage beim Finanzgericht, die ohne Erfolg blieb.

22.   Im Ausgangsverfahren hat der Bundesfinanzhof über die von Netto Supermarkt gegen das Finanzgerichtsurteil eingelegte Revision zu entscheiden. Zu deren Begründung trägt Netto Supermarkt im Wesentlichen vor, das Finanzgericht hätte die Lieferungen an polnische Abnehmer in analoger Anwendung des § 6a Abs. 4 UStG 1993 als steuerfrei behandeln müssen und im Übrigen seien die Voraussetzungen einer Steuerfestsetzung aus Billigkeitsgründen nach dem in der AO geregelten Ausnahmetatbestand gegeben.

23.   Der Bundesfinanzhof hält es im Hinblick auf u. a. die Rechtsprechung des Gerichtshofs zum Grundsatz des Vertrauensschutzes und des Schutzes des guten Glaubens im Mehrwertsteuerrecht für zweifelhaft, ob die Steuerfreiheit einer Ausfuhrlieferung auch dann regelmäßig versagt werden darf, wenn der liefernde Unternehmer die Fälschung des Ausfuhrnachweises, den der Abnehmer ihm vorlegt, auch bei Beachtung der Sorgfalt eines ordentlichen Kaufmanns nicht hat erkennen können.

24.   Der Bundesfinanzhof hat daher dem Gerichtshof die folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:

Stehen die gemeinschaftsrechtlichen Regelungen über die Steuerbefreiung bei Ausfuhren in ein Drittland einer Gewährung der Steuerbefreiung im Billigkeitswege durch den Mitgliedstaat entgegen, wenn zwar die Voraussetzungen der Befreiung nicht vorliegen, der Steuerpflichtige deren Fehlen aber auch bei Beachtung der Sorgfalt eines ordentlichen Kaufmanns nicht erkennen konnte?

IV – Rechtliche Würdigung

1.      Wesentliches Vorbringen der Beteiligten

25.   Im vorliegenden Verfahren haben die deutsche und die polnische Regierung sowie die Kommission und Netto Supermarkt schriftliche Erklärungen eingereicht.

26.   Die deutsche und die polnische Regierung sind der Ansicht, dass die Vorlagefrage zu bejahen sei.

27.   Die deutsche Regierung weist darauf hin, dass nach dem Wortlaut von Art. 15 Abs. 2 der Sechsten Richtlinie Steuerhinterziehungen, Steuerumgehungen und etwaige Missbräuche verhütet werden müssten. Da es sich um eine Ausnahmevorschrift handele, sei sie eng auszulegen. Die Mitgliedstaaten dürften die Steuerbefreiung nur in Fällen gewähren, in denen die Voraussetzungen der Bestimmungen tatsächlich erfüllt seien, was der Leistende nachzuweisen habe.

28.   Nach Auffassung der deutschen Regierung überwiegt das gemeinsame Interesse an einer steuerlichen Gleichbehandlung grundsätzlich das Interesse des einzelnen Unternehmers, in einer bestimmten Weise behandelt zu werden.

29.   Darüber hinaus diene die in Art. 15 Abs. 2 der Sechsten Richtlinie vorgesehene Befreiung der Schaffung eines einheitlichen Binnenmarkts. Eine Vertrauensschutzregelung wie in § 6a Abs. 4 UStG 1993 bei innergemeinschaftlichen Lieferungen könne daher nicht entsprechend auf Ausfuhrlieferungen angewandt werden.

30.   Die deutsche Regierung macht ferner geltend, die Rechtsprechung des Gerichtshofs zum Vertrauensschutz (Schutz des guten Glaubens) im Mehrwertsteuerrecht(4) sei auf den vorliegenden Fall nicht anwendbar, da der Gerichtshof in den genannten Fällen eine Doppelbesteuerung desselben Umsatzes habe verhindern wollen, während im vorliegenden Fall sichergestellt werden solle, dass der streitige Umsatz überhaupt besteuert werde. Die vom vorlegenden Gericht angeführte Rechtsprechung des Gerichtshofs zu den Voraussetzungen für den Erlass von Eingangs- oder Ausgangsabgaben(5) spreche dafür, dass in einem Fall wie dem hier streitigen eine Befreiung des Lieferers nicht gerechtfertigt sei. Ein derartiges Risiko müsse der Unternehmer, nicht die Allgemeinheit tragen.

31.   Für den Fall, dass der Gerichtshof ihrer Argumentation nicht folgen sollte, trägt die deutsche Regierung hilfsweise vor, eine Steuerbefreiung aus Gründen des Vertrauensschutzes und des Schutzes des guten Glaubens könne nur unter sehr engen Voraussetzungen gewährt werden, die im vorliegenden Fall nicht gegeben seien, da Netto Supermarkt bei angemessener Sorgfalt den über sechs Jahre andauernden Betrug hätte verhindern können.

32.   Mit im Wesentlichen ähnlichen Argumenten wie die deutsche Regierung macht die polnische Regierung geltend, es könne keine Steuerbefreiung in einem Fall wie dem streitigen geben, in dem die Voraussetzungen für eine Steuerbefreiung, insbesondere die Voraussetzung, dass eine Ausfuhrlieferung vorliegen müsse, nicht erfüllt seien. Art. 15 Abs. 2 der Sechsten Richtlinie lasse keine Abweichung aus Billigkeitsgründen oder bei Beachtung der Sorgfalt eines ordentlichen Kaufmanns zu. Darüber hinaus sei der Schutzbedarf der nationalen Haushalte und der Eigenmittel der Europäischen Gemeinschaften mit Blick auf das Mehrwertsteueraufkommen zu berücksichtigen.

33.   Demgegenüber sind die Kommission und Netto Supermarkt der Ansicht, dass die gemeinschaftsrechtlichen Regelungen über die Steuerbefreiung bei Ausfuhrlieferungen in Fällen wie dem hier streitigen der Gewährung der Steuerbefreiung im Billigkeitsweg nicht entgegenstünden. Beide Beteiligten meinen übereinstimmend, dass die vom vorlegenden Gericht angeführte Protokollerklärung zur Ratstagung am 16. Dezember 1991 zu Art. 28c Teil A der Richtlinie 77/388/EWG in der Fassung der sogenannten Binnenmarkt-Richtlinie 91/680/EWG vom 16. Dezember 1991(6), die zwar in erster Linie die Schaffung eines einheitlichen Binnenmarkts zum Gegenstand habe, allgemeine Grundsätze des Gemeinschaftsrechts zum Ausdruck bringe und eher für als gegen ihre Ansicht spreche.

34.   Sowohl die Kommission als auch Netto Supermarkt machen geltend(7), dass ein Lieferer, der alles getan habe, was von einem Unternehmen, das die Sorgfalt eines ordentlichen Kaufmanns anwende, vernünftigerweise zur Verhinderung von Steuerbetrug verlangt werden könne, auf die Rechtmäßigkeit seines Handelns vertrauen dürfe und nicht für betrügerische Handlungen Dritter einzustehen habe. Angesichts der Fallumstände und des Beitrags, den Netto Supermarkt zur Aufdeckung der streitigen Betrugshandlungen geleistet habe, seien die Voraussetzungen für die Steuerbefreiung von Netto Supermarkt aus Gründen des Vertrauensschutzes und – wie die Kommission hinzufügt – nach dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz erfüllt.

35.   Schließlich trägt Netto Supermarkt vor, die Gemeinschaftsregelungen über Eingangs- und Ausgangsabgaben seien in mancherlei Hinsicht nicht mit denen über die Errichtung des Mehrwertsteuersystems zu vergleichen, so dass die Rechtsprechung zu Erstattung oder Erlass von Eingangs- oder Ausgangsabgaben nicht ohne Weiteres auf den vorliegenden Fall anwendbar sei.

2.      Würdigung

36.   Bei der Beantwortung der Vorlagefrage ist zunächst zu beachten, dass nach dem Sachverhalt des Ausgangsverfahrens die Bedingungen für eine in Art. 15 der Sechsten Richtlinie vorgesehene Befreiung der Lieferung von Gegenständen, die nach einem Drittland versandt oder befördert werden, unstreitig nicht gegeben sind.

37.   Außerdem darf – worauf die deutsche und die polnische Regierung zutreffend hingewiesen haben – eine Steuerbefreiung wie die hier streitige grundsätzlich nur gewährt werden, wenn die Erfüllung der Befreiungsvoraussetzungen nachgewiesen wird.

38.   Die Besonderheit des vorliegenden Falls liegt jedoch gerade in seinem kriminellen Einschlag sowie darin, dass es aufgrund von Betrugshandlungen Dritter, der (angeblichen) Abnehmer und Ausführer, für den Lieferer den Anschein hatte, dass die Voraussetzungen für die Steuerbefreiung bei Ausfuhrlieferungen vorlagen.

39.   Aus dem Vorlagebeschluss und der Formulierung der Vorlagefrage ergibt sich, dass das vorlegende Gericht insoweit davon ausgeht, dass Netto Supermarkt, der Steuerpflichtige, gutgläubig handelte, d. h., dass das Unternehmen auch bei Beachtung der Sorgfalt eines ordentlichen Kaufmanns nicht erkennen konnte, dass die Befreiungsvoraussetzungen nicht gegeben waren. Diese Feststellung des vorlegenden Gerichts ist im Rahmen des vorliegenden Verfahrens nicht in Zweifel zu ziehen.

40.   Bei der Vorlagefrage geht es daher darum, ob ein Mitgliedstaat den Steuerpflichtigen auch dann, wenn wie hier die Voraussetzungen für eine Befreiung tatsächlich nicht vorliegen, aus Billigkeitsgründen aus seiner Steuerpflicht entlassen darf.

41.   Aus den nachstehenden Gründen schließe ich mich der Ansicht von Netto Supermarkt und der Kommission an, dass die Vorlagefrage, die auf die Risikoverteilung bei betrügerischem Verhalten Dritter und den Schutz des gutgläubig handelnden Steuerpflichtigen abzielt, zu bejahen ist.

42.   Da die Sechste Richtlinie keine Vorschriften zur Regelung einer Situation wie der hier streitigen enthält, ist zunächst daran zu erinnern, dass nach ständiger Rechtsprechung die Mitgliedstaaten bei der Ausübung der Befugnisse, die ihnen die Gemeinschaftsrichtlinien verleihen, die allgemeinen Rechtsgrundsätze, die Teil der Gemeinschaftsrechtsordnung sind, wie etwa die Grundsätze der Verhältnismäßigkeit, der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes, beachten müssen(8).

43.   Zum Grundsatz der Verhältnismäßigkeit hat der Gerichtshof bereits darauf hingewiesen, dass es zwar legitim ist, dass die Maßnahmen der Mitgliedstaaten darauf abzielen, die Ansprüche der Staatskasse möglichst wirksam zu schützen; sie dürfen jedoch nicht über das hinausgehen, was hierzu erforderlich ist(9).

44.   Dabei ist zu beachten, dass im gemeinsamen Mehrwertsteuersystem die Mehrwertsteuer, die eine Verbrauchsteuer ist, zwar vom Lieferer als Steuerpflichtigem zu entrichten ist, die Mehrwertsteuerbelastung jedoch vom Endverbraucher getragen wird(10). Da die Steuerpflichtigen selbst naturgemäß offenkundig keinen Vorteil aus der Mehrwertsteuer ziehen und kein natürliches Interesse an ihrer Entrichtung haben und da sie die Steuer wirtschaftlich auch nicht tragen sollen, werden sie als Steuereinnehmer für Rechnung des Staates(11) und im Interesse der Staatskasse tätig.

45.   Angesichts dessen halte ich es für eindeutig unverhältnismäßig, bei einem Sachverhalt wie dem des Ausgangsverfahrens den Steuerpflichtigen für den durch Betrugshandlungen Dritter verursachten Steuerausfall haften zu lassen. Von einem Steuerpflichtigen kann sicherlich erwartet werden, dass er die ihm im Rahmen des gemeinsamen Mehrwertsteuersystems übertragene Aufgabe mit aller gebotenen Sorgfalt ausführt und dass er für dabei auftretende Defizite einsteht. Bei Defiziten außerhalb des Einflussbereichs des Steuerpflichtigen ist es jedoch Sache des Mitgliedstaats, im Interesse der Staatskasse die Funktionsfähigkeit des Systems insgesamt sicherzustellen sowie Steuerhinterziehungen, Steuerumgehungen und etwaige Missbräuche zu verhüten. Die damit verbundenen Risiken sind somit ebenfalls vom Mitgliedstaat zu tragen.

46.   Gestützt wird diese Auffassung durch eine Reihe von Entscheidungen des Gerichtshofs, aus denen sich trotz gewisser Sachverhaltsunterschiede klar ergibt, dass ein Steuerpflichtiger, der gutgläubig handelt, genauer gesagt, der an den Unregelmäßigkeiten nicht beteiligt war und alle vernünftigerweise zu verlangenden Maßnahmen getroffen hat, nicht für das betrügerische Verhalten anderer einzustehen hat(12).

47.   So hat der Gerichtshof im Urteil Optigen u. a. ausgeführt, dass das Vorsteuerabzugsrecht eines Steuerpflichtigen, der Umsätze ausführt, die nicht selbst mit einem Mehrwertsteuerbetrug behaftet sind, nicht dadurch berührt wird, dass in der Lieferkette, zu der diese Umsätze gehören, ein anderer Umsatz, der dem vom Steuerpflichtigen getätigten Umsatz vorausgeht oder nachfolgt, mit einem Mehrwertsteuerbetrug behaftet ist, ohne dass dieser Steuerpflichtige hiervon Kenntnis hat oder haben kann(13).

48.   Im gleichen Sinne hat der Gerichtshof später im Urteil Kittel festgestellt, dass „Wirtschaftsteilnehmer, die alle Maßnahmen treffen, die vernünftigerweise von ihnen verlangt werden können, um sicherzustellen, dass ihre Umsätze nicht in einen Betrug – sei es eine Mehrwertsteuerhinterziehung oder ein sonstiger Betrug – einbezogen sind, auf die Rechtmäßigkeit dieser Umsätze vertrauen können [müssen], ohne Gefahr zu laufen, ihr Recht auf Vorsteuerabzug zu verlieren“(14).

49.   Ein Lieferer wie im Ausgangsverfahren, der – wie das vorlegende Gericht festgestellt hat – auch bei Beachtung der Sorgfalt eines ordentlichen Kaufmanns nicht erkennen konnte, dass die Voraussetzungen der Befreiung tatsächlich nicht vorlagen, erfüllt sicherlich die von der oben genannten Rechtsprechung vorgesehenen Anforderungen an Gutgläubigkeit und Sorgfalt. Insoweit ist noch hinzuzufügen, dass – wie aus dem Vorlagebeschluss hervorgeht – auch die von Netto Supermarkt eingeschalteten Zollbehörden auf den ersten Blick nicht ohne Weiteres erkennen konnten, dass es sich bei den vorgelegten Unterlagen um Fälschungen handelte.

50.   Was darüber hinaus die Protokollerklärung zur Ratstagung vom 16. Dezember 1991 betrifft, so ist zwar richtig, dass diese den Vertrauensschutz und den Schutz des guten Glaubens des Steuerpflichtigen bei innergemeinschaftlichen Lieferungen zum Gegenstand hat. Daraus lässt sich aber – wie die Kommission und Netto Supermarkt zutreffend ausgeführt haben – nicht herleiten, dass der Steuerpflichtige keinen entsprechenden Schutz bei Ausfuhrlieferungen genießt. Da, wie sich aus den vorstehenden Überlegungen ergibt, der Grund für die Gewährung der Befreiung in einem Fall wie dem vorliegenden der Schutz des einzelnen gutgläubig handelnden Lieferers ist, kann ich nicht erkennen, warum das Ziel, die Rechtsvorschriften über die Umsatzsteuern zur Errichtung eines gemeinsamen Markts zu harmonisieren, der Gewährung derartigen Schutzes bei Ausfuhrlieferungen entgegenstehen sollte.

51.   Durch eine solche gemeinschaftsrechtliche Differenzierung würden nämlich Unternehmen, die aufgrund der Art der von ihnen gelieferten Gegenstände, aufgrund ihres Standorts oder aus sonstigen Gründen einen hohen Anteil Ausfuhrlieferungen haben, gegenüber Unternehmen mit vorwiegend innergemeinschaftlichen Lieferungen erheblich benachteiligt.

52.   Aus meiner Sicht könnte es daher sogar dem Gleichheitssatz zuwiderlaufen, gutgläubig handelnde Steuerpflichtige bei einem Sachverhalt wie dem vorliegenden Fall zur Steuer auf Ausfuhrlieferungen heranzuziehen, während ihnen im gleichen Fall, in dem Dritte einen Betrug begangen haben, für innergemeinschaftliche Lieferungen eine Befreiung gewährt würde.

53.   Bezüglich des Hinweises der deutschen Regierung auf die Rechtsprechung des Gerichtshofs zum Zollrecht stimme ich der Kommission und Netto Supermarkt zu, dass aufgrund der Unterschiede in Aufbau, Zielsetzung und Zweck zwischen dem gemeinsamen System zur Erhebung von Zöllen und dem gemeinsamen Mehrwertsteuersystem nach Maßgabe der Sechsten Richtlinie die Ausführungen des Gerichtshofs zum Zollrecht auf die konkrete Lage eines Steuerpflichtigen nach dem Mehrwertsteuersystem nicht übertragen werden können, so dass sich an den vorstehenden Ergebnissen nichts ändert(15).

54.   Aus den vorstehenden Erwägungen folgt, dass in Fällen wie dem hier streitigen die gemeinschaftsrechtlichen Regelungen über die Steuerbefreiung bei Ausfuhren in ein Drittland einer Gewährung der Steuerbefreiung im Billigkeitswege durch den Mitgliedstaat nicht entgegenstehen, wenn zwar die Voraussetzungen für die Befreiung nicht vorliegen, der Steuerpflichtige deren Fehlen aber auch bei Beachtung der Sorgfalt eines ordentlichen Kaufmanns nicht erkennen konnte.

V –    Ergebnis

55.   Demnach schlage ich dem Gerichtshof vor, die Vorlagefrage wie folgt zu beantworten:

In einem Fall wie dem des Ausgangsverfahrens ist Art. 15 Abs. 2 der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage in der Fassung der Richtlinie 95/7/EG des Rates dahin auszulegen, dass er einer Gewährung der Steuerbefreiung im Billigkeitswege durch den Mitgliedstaat nicht entgegensteht, wenn zwar die Voraussetzungen der Befreiung nicht vorliegen, der Steuerpflichtige deren Fehlen aber auch bei Beachtung der Sorgfalt eines ordentlichen Kaufmanns nicht erkennen konnte.


1 – Originalsprache: Englisch.


2 – ABl. L 145, S. 1.


3 – Richtlinie 95/7/EG des Rates vom 10. April 1995 zur Änderung der Richtlinie 77/388/EWG und zur Einführung weiterer Vereinfachungsmaßnahmen im Bereich der Mehrwertsteuer – Geltungsbereich bestimmter Steuerbefreiungen und praktische Einzelheiten ihrer Durchführung (ABl. L 102, S. 18).


4 – Urteile vom 13. Dezember 1989, Genius Holding (C-342/87, Slg. 1989, 4227), und vom 19. September 2000, Schmeink & Cofreth und Strobel (C-454/98, Slg. 2000, I-6973).


5 – Urteile vom 18. Januar 1996, SEIM (C-446/93, Slg. 1996, I-73), und vom 13. November 1984, Van Gend & Loos und Expeditiebedrijf Wim Bosman/Kommission (98/83 und 230/83, Slg. 1984, 3763); vgl. auch Urteil des Gerichts erster Instanz vom 11. Juli 2002, Hyper/Kommission (T-205/99, Slg. 2002, II-3141).


6 – Richtlinie 91/680/EWG des Rates zur Ergänzung des gemeinsamen Mehrwertsteuersystems und zur Änderung der Richtlinie 77/388/EWG im Hinblick auf die Beseitigung der Steuergrenzen (ABl. L 376, S. 1); der angeführte Passus lautet: „Der Rat und die Kommission erklären, dass die Anwendung der Bestimmungen der Übergangsregelung auf keinen Fall zur Folge haben darf, dass die Befreiung nach Artikel 28c Buchstabe A verweigert wird, wenn sich nachträglich herausstellt, dass der Erwerber materiell falsche Angaben gemacht hat, während der Steuerpflichtige die erforderlichen Maßnahmen ergriffen hat, um bei Lieferungen seines Unternehmens einer inkorrekten Anwendung der MwSt-Vorschriften vorzubeugen.“


7 – U. a. unter Bezugnahme auf die Urteile vom 12. Januar 2006, Optigen u. a. (C-354/03, C-355/03 und C-484/03, Slg. 2006, I-483), vom 6. Juli 2006, Kittel und Recolta Recycling (C-439/04 und C-440/04, Slg. 2006, I-6161), und vom 11. Mai 2006, Federation of Technological Industries u. a. (C-384/04, Slg. 2006, I-4191).


8 – Vgl. in diesem Sinne u. a. Urteile Federation of Technological Industries u. a., in Fn. 7 angeführt, Randnr. 29, und vom 14. September 2006, Elmeka (C-181/04 bis C-183/04, Slg. 2006, I-8167, Randnr. 31).


9 – Vgl. in diesem Sinne Urteile vom 18. Dezember 1997, Garage Molenheide u. a. (C-286/94, C-340/95, C-401/95 und C-47/96, Slg. 1997, I-7281, Randnr. 47), und Federation of Technological Industries u. a., in Fn. 7 angeführt, Randnr. 30.


10 – Vgl. in diesem Sinne Urteil vom 3. Oktober 2006, Banca popolare di Cremona (C-475/03, Slg. 2006, I-9373, Randnrn. 22 und 28).


11 – Vgl. Urteil vom 20. Oktober 1993, Maurizio Balocchi (C-10/92, Slg. 1993, I-5105, Randnr. 25).


12 – Vgl. in diesem Sinne Schlussanträge von Generalanwältin Kokott in der Rechtssache Teleos u. a. (C-409/04, Urteil vom 27. September 2007, Slg. 2007, I-0000, Nr. 77 und Fn. 27).


13 – Vgl. in diesem Sinne Urteil Optigen u. a., in Fn. 7 angeführt, Randnrn. 51 f.


14 – Urteil Kittel, in Fn. 7 angeführt, Randnr. 51, mit Verweis auf das Urteil Federation of Technological Industries u. a., in Fn. 7 angeführt. Demgegenüber hat der Gerichtshof in den in Fn. 4 angeführten Urteilen Genius Holding, insbesondere in Randnr. 18, und Schmeink & Cofreth und Strobel, Randnr. 61, ausgeführt, dass in einem Fall zu Unrecht in Rechnung gestellter Mehrwertsteuer eine Ausfallhaftung des Ausstellers der Rechnung in Betracht kommt, wenn dieser nicht gutgläubig gehandelt hat.


15 – Vgl. in diesem Sinne auch die Schlussanträge von Generalanwältin Kokott in der Rechtssache Teleos u. a., in Fn. 12 angeführt, insbesondere Nr. 80.