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SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

YVES BOT

vom 13. September 20071(1)

Rechtssache C-401/06

Kommission der Europäischen Gemeinschaften

gegen

Bundesrepublik Deutschland

„Vertragsverletzung eines Mitgliedstaats – Mehrwertsteuer – Dienstleistungen – Testamentsvollstrecker – Ort der Leistungserbringung – Sechste Richtlinie – Art. 9 Abs. 1 und 2 Buchst. e“





1.     Das vorliegende Vertragsverletzungsverfahren betrifft die Vorschriften des deutschen Rechts, die den Ort der Erbringung der Dienstleistungen eines Testamentsvollstreckers für die Zwecke der Mehrwertsteuer bestimmen. Nach deutschem Recht werden diese Leistungen an dem Ort erbracht, von dem aus der Testamentsvollstrecker seine Tätigkeit entfaltet.

2.     Die Kommission der Europäischen Gemeinschaften ist der Auffassung, diese Leistungen seien gemäß den Bestimmungen von Art. 9 Abs. 2 Buchst. e der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG des Rates(2) als am Ort der Niederlassung oder Einrichtung des Leistungsempfängers erbracht anzusehen, und Empfänger der Leistungen sei der Erbe.

3.     Mit der vorliegenden Klage beantragt die Kommission, festzustellen, dass die Bundesrepublik Deutschland dadurch gegen ihre Verpflichtungen verstoßen hat, dass sie den Ort der steuerlichen Anknüpfung der von einem Testamentsvollstrecker erbrachten Leistungen nicht gemäß dieser Vorschrift bestimmt hat.

I –    Rechtlicher Rahmen

A –    Gemeinschaftsrecht

4.     Die Sechste Richtlinie harmonisiert die Voraussetzungen für die Anwendung der Mehrwertsteuer in der Union. Nach Art. 2 Nr. 1 dieser Richtlinie unterliegen der Mehrwertsteuer Dienstleistungen, die ein Steuerpflichtiger als solcher in einem Mitgliedstaat ausführt.

5.     Für die Zwecke der Mehrwertsteuer legt Art. 9 der genannten Richtlinie den Ort der Dienstleistung fest. Dieser Artikel bezweckt, sowohl Zuständigkeitskonflikte zwischen Mitgliedstaaten, die zu einer Doppelbesteuerung führen können, als auch das Unterbleiben jeglicher Besteuerung zu vermeiden.

6.     Art. 9 Abs. 1 der Sechsten Richtlinie enthält eine allgemeine Regel, nach der der Ort einer Dienstleistung der Ort ist, an dem der Dienstleistende den Sitz seiner beruflichen Tätigkeit hat. So gilt nach dieser Bestimmung als „Ort einer Dienstleistung … der Ort, an dem der Dienstleistende den Sitz seiner wirtschaftlichen Tätigkeit oder eine feste Niederlassung hat, von wo aus die Dienstleistung erbracht wird, oder in Ermangelung eines solchen Sitzes oder einer solchen festen Niederlassung sein Wohnort oder sein üblicher Aufenthaltsort“.

7.     Art. 9 Abs. 2 der Sechsten Richtlinie sieht auch andere Anknüpfungspunkte vor. Diese lassen sich in zwei Kategorien einteilen.

8.     Zur ersten Kategorie gehören Leistungen, die materiell einem Ort zugeordnet werden können. Es handelt sich um solche, die im Zusammenhang mit einem Grundstück stehen, um Beförderungsleistungen, um Tätigkeiten auf dem Gebiet der Kultur, der Künste, des Sports, der Wissenschaften oder um ähnliche Tätigkeiten sowie schließlich um die Vermietung beweglicher körperlicher Gegenstände. Diese Leistungen werden dem Belegenheitsort des Grundstücks, dem Ort, an dem die Beförderung stattfindet, dem Ort, an dem die Leistungen bewirkt werden bzw. dem Ort der Nutzung der vermieteten beweglichen Sache zugeordnet.

9.     Bei der zweiten Kategorie ist der maßgebliche Anknüpfungspunkt das Land des Leistungsempfängers. Nach dem siebten Erwägungsgrund der Sechsten Richtlinie sollte, wenn auch als Ort der Dienstleistung grundsätzlich der Ort gelten muss, an dem der Dienstleistende den Sitz seiner beruflichen Tätigkeit hat, doch insbesondere für bestimmte zwischen Mehrwertsteuerpflichtigen erbrachte Dienstleistungen, deren Kosten in den Preis der Waren eingehen, als Ort der Dienstleistung das Land des Dienstleistungsempfängers gelten.

10.   Diese Leistungen werden in Art. 9 Abs. 2 Buchst. e der Sechsten Richtlinie aufgeführt. Unter den genannten Leistungen finden sich z. B. die Abtretung und Einräumung von Urheberrechten, Leistungen auf dem Gebiet der Werbung, Bank-, Finanz- und Versicherungsumsätze oder auch die Gestellung von Personal.

11.   Unter dem dritten Gedankenstrich werden auch Leistungen von Anwälten und sonstige ähnliche Leistungen aufgeführt. So bestimmt Art. 9 Abs. 2 der Sechsten Richtlinie:

„Es gilt jedoch

e)      als Ort der folgenden Dienstleistungen, die an außerhalb der Gemeinschaft ansässige Empfänger oder an innerhalb der Gemeinschaft, jedoch außerhalb des Landes des Dienstleistenden ansässige Steuerpflichtige erbracht werden, der Ort, an dem der Empfänger den Sitz seiner wirtschaftlichen Tätigkeit oder eine feste Niederlassung hat, für welche die Dienstleistung erbracht worden ist, oder in Ermangelung eines solchen Sitzes oder einer solchen Niederlassung sein Wohnort oder sein üblicher Aufenthaltsort:

         …

–      Leistungen von Beratern, Ingenieuren, Studienbüros, Anwälten, Buchprüfern und sonstige ähnliche Leistungen sowie die Datenverarbeitung und die Überlassung von Informationen,

…“

12.   Schließlich sieht Art. 9 Abs. 3 der Sechsten Richtlinie vor:

„Um Doppelbesteuerung, Nichtbesteuerung oder Wettbewerbsverzerrungen zu vermeiden, können die Mitgliedstaaten bei den in Absatz 2 Buchstabe e) bezeichneten Dienstleistungen und bei der Vermietung beweglicher körperlicher Gegenstände

a)      den Ort einer Dienstleistung, der nach diesem Artikel im Inland liegt, so behandeln, als läge er außerhalb der Gemeinschaft, wenn dort die tatsächliche Nutzung oder Auswertung erfolgt;

b)      den Ort einer Dienstleistung, der nach diesem Artikel außerhalb der Gemeinschaft liegt, so behandeln, als läge er im Inland, wenn dort die tatsächliche Nutzung oder Auswertung erfolgt.“

B –    Nationales Recht

13.   § 3a des Umsatzsteuergesetzes (im Folgenden: UStG) lautet:

„(1)      Eine sonstige Leistung wird vorbehaltlich der §§ 3b und 3f an dem Ort ausgeführt, von dem aus der Unternehmer sein Unternehmen betreibt. …

(3)      Ist der Empfänger einer der in Absatz 4 bezeichneten sonstigen Leistungen ein Unternehmer, so wird die sonstige Leistung abweichend von Absatz 1 dort ausgeführt, wo der Empfänger sein Unternehmen betreibt. …

...

(4)       Sonstige Leistungen im Sinne des Absatzes 3 sind:

...

3.       die sonstigen Leistungen aus der Tätigkeit als Rechtsanwalt, ... Steuerberater, ... insbesondere die rechtliche, wirtschaftliche und technische Beratung;

...“

14.   Nach Abschnitt 33 der Umsatzsteuer-Richtlinien fallen die Leistungen der Testamentsvollstrecker unter § 3a Abs. 1 UStG.

15.   Aufgrund dieser Bestimmungen und ihrer Auslegung durch den Bundesfinanzhof (Deutschland) gelten die Dienstleistungen eines Testamentsvollstreckers auch dann, wenn sie von einem Rechtsanwalt, Steuerberater oder Wirtschaftsprüfer erbracht werden, als an dem Ort erbracht, von dem aus der Testamentsvollstrecker sein Unternehmen betreibt.

II – Verfahren und Anträge der Parteien

16.   Nach Auffassung der Kommission ist bei Dienstleistungen, die in der Eigenschaft als Testamentsvollstrecker an außerhalb der Gemeinschaft ansässige Empfänger oder an in einem anderen Mitgliedstaat als Deutschland ansässige Steuerpflichtige erbracht werden, der Ort der Dienstleistung nach Art. 9 Abs. 2 Buchst. e dritter Gedankenstrich der Sechsten Richtlinie zu bestimmen. Hierüber setzte die Kommission die deutschen Behörden durch ein Aufforderungsschreiben vom 19. April 2005 in Kenntnis.

17.   Mit Schreiben vom 23. Juni 2005 trat die Bundesrepublik Deutschland dieser Beurteilung mit der Begründung entgegen, die Dienstleistungen eines Testamentsvollstreckers seien mit denen eines Rechtsanwalts nicht vergleichbar und auch keine ähnlichen Leistungen im Sinne des Art. 9 Abs. 2 Buchst. e dritter Gedankenstrich der Sechsten Richtlinie.

18.   In einer mit Gründen versehenen Stellungnahme vom 19. Dezember 2005 wiederholte die Kommission ihre Ausführungen hinsichtlich der Unvereinbarkeit der deutschen Rechtsvorschriften mit dem Gemeinschaftsrecht.

19.   Die Bundesrepublik Deutschland hielt in ihrem Schreiben vom 2. März 2006 an ihrer Meinung fest.

20.   Mit Klageschrift, die am 27. September 2006 bei der Kanzlei eingegangen ist, hat die Kommission die vorliegende Klage erhoben. Die Bundesrepublik Deutschland hat sich hiergegen mit einem Schriftsatz verteidigt, der am 20. November 2006 in das Register der Kanzlei eingetragen worden ist. Hierauf hat die Kommission eine Erwiderung und die Bundesrepublik Deutschland eine Gegenerwiderung eingereicht.

21.   Eine mündliche Verhandlung haben die Parteien nicht beantragt. Der Gerichtshof hat eine mündliche Verhandlung ebenfalls für nicht erforderlich gehalten.

22.   Die Kommission beantragt, festzustellen, dass die Bundesrepublik Deutschland gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 9 Abs. 2 Buchst. e der Sechsten Richtlinie verstoßen hat, indem der Ort der Leistung hinsichtlich der Tätigkeit eines Testamentsvollstreckers nicht nach dieser Vorschrift bestimmt wird, wenn die Dienstleistungen an außerhalb der Gemeinschaft ansässige Empfänger oder an innerhalb der Gemeinschaft, jedoch außerhalb des Landes des Dienstleistenden ansässige Steuerpflichtige erbracht werden.

23.   Die Kommission beantragt außerdem, der Beklagten die Kosten aufzuerlegen.

24.   Die Bundesrepublik Deutschland beantragt, die Klage abzuweisen und der Kommission die Kosten aufzuerlegen.

III – Vorbringen der Parteien

25.   Die Kommission hält den Standpunkt Deutschlands für nicht begründet; der Ort der Dienstleistungen eines Testamentsvollstreckers müsse aus folgenden Gründen gemäß Art. 9 Abs. 2 Buchst. e dritter Gedankenstrich der Sechsten Richtlinie bestimmt werden.

26.   Nach der Rechtsprechung sei bei der Frage, ob eine Tätigkeit unter diese Bestimmung falle, nicht auf die dort genannten Berufe, sondern auf die gewöhnlich in deren Rahmen erbrachten Leistungen abzustellen.

27.   Ein Testamentsvollstrecker habe den vom Verstorbenen zum Ausdruck gebrachten Willen zu vollziehen. Seine Aufgabe sei somit mit der Verteidigung der Interessen eines Mandanten vergleichbar. Der Testamentsvollstrecker gestalte fremde Rechtsverhältnisse, und seine Tätigkeit weise außerdem ein wirtschaftliches Gepräge auf. Die Tätigkeit erfordere auch spezifische erbrechtliche Kenntnisse. Sie werde hauptsächlich von Fachanwälten auf diesem Gebiet ausgeübt.

28.   Die Leistungen eines Testamentsvollstreckers könnten darüber hinaus unter die „sonstigen ähnlichen Leistungen“ im Sinne von Art. 9 Abs. 2 Buchst. e dritter Gedankenstrich der Sechsten Richtlinie subsumiert werden. Hierfür reiche es aus, dass die Tätigkeit eines Testamentsvollstreckers dem gleichen Zweck diene wie eine der ausdrücklich in dieser Vorschrift genannten Tätigkeiten. Die Tätigkeit eines Anwalts und die eines Testamentsvollstreckers hätten gemeinsam, dass es um die Vertretung fremder Interessen gehe. In beiden Fällen seien diese Tätigkeiten fremdbestimmt.

29.   Die Kommission beruft sich auch auf die einstimmig gefasste Leitlinie des Beratenden Ausschusses für die Mehrwertsteuer, wonach der Leistungsort eines Erbenermittlers nach Art. 9 Abs. 2 Buchst. e dritter Gedankenstrich der Sechsten Richtlinie zu bestimmen sei. Diese Leitlinie sei, auch wenn sie nicht bindend sei, zu beachten, weil sie den Willen des Gesetzgebers zeige. Die Erwägungen, die zu dieser Auffassung hinsichtlich des Leistungsorts eines Erbenermittlers geführt hätten, gälten erst recht für den Ort der Leistungen eines Testamentsvollstreckers.

30.   Die Kommission macht außerdem geltend, dass auch die Systematik und Zielsetzung von Art. 9 Abs. 2 der Sechsten Richtlinie für ihren Standpunkt sprächen. Zweck dieser Vorschrift sei es, die Besteuerung der Dienstleistung dorthin zu verlagern, wo diese Leistung tatsächlich bewirkt werde. Die Leistungen eines Testamentsvollstreckers würden dort bewirkt, wo sich der Erbe aufhalte, weil die Aufgabe des Testamentsvollstreckers darin bestehe, dafür zu sorgen, dass dem Erben das Erbe zugeführt werde.

31.   Schließlich vertritt die Kommission die Ansicht, dass die praktischen Schwierigkeiten, zu denen die Umsetzung ihres Standpunkts führen könne, wenn der Verstorbene mehrere Erben habe, die in verschiedenen Ländern ansässig seien, kein stichhaltiges Argument und im Fall der Tätigkeit des Erbenermittlers nicht kleiner seien.

32.   Die Bundesrepublik Deutschland tritt diesen Ausführungen mit folgenden Erwägungen entgegen.

33.   Die Tätigkeit des Testamentsvollstreckers könne von einem Verwandten, einem Erben, dem Ehegatten oder einem Rechtsanwalt, einem Verein, einer juristischen Person wie einer Treuhandgesellschaft oder einer Bank wahrgenommen werden. Der Testamentsvollstrecker könne durch Testament oder Erbvertrag ernannt werden. Sein Auftrag besteht darin, den Willen des Verstorbenen umzusetzen.

34.   Mit der Ernennung eines Testamentsvollstreckers könnten verschiedene Zwecke verfolgt werden. Sie könne das Ziel haben, geschäftlich wenig erfahrene oder unerfahrene Erben zu schützen, das Vermögen von Minderjährigen bis zu deren Volljährigkeit zu schützen, Streitigkeiten zwischen Erben zu vermeiden oder Auflagen und Vermächtnisse zu vollziehen.

35.   Der Testamentsvollstrecker könne daher zwei Arten von Aufgaben wahrnehmen: entweder die Abwicklung des Vermögens gemäß den letztwilligen Verfügungen des Verstorbenen, so dass seine Aufgabe ende, wenn der Nachlass auseinandergesetzt sei, oder die Verwaltung des Nachlasses während einer bestimmten Zeit, beispielsweise bis zur Volljährigkeit des Erben.

36.   Daraus folge, dass die Tätigkeiten eines Testamentsvollstreckers keine Leistungen von Rechtsanwälten und auch keine sonstigen ähnlichen Leistungen im Sinne von Art. 9 Abs. 2 Buchst. e dritter Gedankenstrich der Sechsten Richtlinie seien.

IV – Würdigung

37.   Ich bin von der Begründetheit der Vertragsverletzungsklage der Kommission nicht überzeugt.

38.   Zwar sind, worauf auch die Kommission hinweist, die Bestimmungen von Art. 9 Abs. 2 Buchst. e dritter Gedankenstrich der Sechsten Richtlinie nicht als Ausnahme zu der allgemeinen Regel von Art. 9 Abs. 1 der Sechsten Richtlinie zu verstehen und somit nicht eng auszulegen. Nach ständiger Rechtsprechung enthält Art. 9 Abs. 2 der Sechsten Richtlinie spezifische Anknüpfungspunkte, so dass der Ort der steuerlichen Anknüpfung einer wirtschaftlichen Tätigkeit, wenn die Tätigkeit unter einen dieser Punkte subsumiert werden kann, gemäß dieser Vorschrift und nicht nach der allgemeinen, in Art. 9 Abs. 1 der Sechsten Richtlinie aufgestellten Regel zu bestimmen ist(3).

39.   Außerdem steht fest, dass Art. 9 Abs. 2 Buchst. e der Sechsten Richtlinie sich nicht auf Berufe als solche bezieht, sondern auf Leistungen, die in den Mitgliedstaaten hauptsächlich und gewöhnlich im Rahmen dieser Berufe erbracht werden(4).

40.   Im vorliegenden Fall stellt sich daher die Frage, ob sich die Leistungen eines Testamentsvollstreckers, wie die Kommission meint, unter den spezifischen Anknüpfungspunkt in Art. 9 Abs. 2 Buchst. e dritter Gedankenstrich der Sechsten Richtlinie subsumieren lassen.

41.   Nach dieser Bestimmung ist, wie gesagt, Ort der steuerlichen Anknüpfung der dort aufgezählten Leistungen der Ort, an dem der Leistungsempfänger wohnt oder sich üblicherweise aufhält, wenn diese Leistungen an einen außerhalb der Gemeinschaft ansässigen Empfänger bzw. an einen innerhalb der Gemeinschaft, jedoch außerhalb des Landes des Dienstleistenden ansässigen Steuerpflichtigen erbracht werden.

42.   Nach der von der Kommission vertretenen Auffassung sind der oder die Erben des Verstorbenen Empfänger der Leistungen des Testamentsvollstreckers. Meiner Ansicht nach lässt sich diese Auffassung aus folgenden Gründen nicht halten.

43.   Der Begriff „Empfänger“ in Art. 9 Abs. 2 Buchst. e dritter Gedankenstrich der Sechsten Richtlinie verlangt meiner Meinung nach, dass zwischen diesem Empfänger und dem Dienstleistenden eine Rechtsbeziehung besteht.

44.   Dieses Erfordernis ergibt sich zunächst schon aus der Natur der Mehrwertsteuer, bei der es sich bekanntlich um eine Verbrauchsteuer handelt. Der Erwerb eines Gegenstands oder der Bezug einer Dienstleistung bildet den Steuertatbestand und lässt den Steueranspruch gegenüber dem Erwerber des Gegenstands oder dem Empfänger der Dienstleistung entstehen, und zwar sowohl dann, wenn dieser Erwerb oder Bezug für die Ausübung der wirtschaftlichen Tätigkeit des Erwerbers oder Empfängers in seiner Eigenschaft als Steuerpflichtiger erfolgt, als auch dann, wenn dies für die Befriedigung seiner persönlichen Bedürfnisse als Endverbraucher geschieht.

45.   Im Mehrwertsteuersystem findet diese Steuer somit auf allen Ebenen des Produktions- oder Vertriebsprozesses eines Gegenstands oder einer Dienstleistung Anwendung und wird auf jeder Stufe dieses Prozesses immer dann geschuldet, wenn zwischen zwei Parteien ein Rechtsverhältnis besteht, in dessen Rahmen gegenseitige Leistungen ausgetauscht werden(5).

46.   Sodann ergibt sich die Notwendigkeit einer Rechtsbeziehung zwischen Empfänger und Dienstleistendem meiner Ansicht nach aus dem in Art. 9 Abs. 2 Buchst. e der Sechsten Richtlinie vorgesehenen System. Gemäß diesem System beurteilt sich nach dem Gegenstand des mit dem Dienstleistenden abgeschlossenen Vertrags, ob sich die vorgesehene Leistung unter eine der in dieser Vorschrift aufgezählten Leistungen subsumieren lässt. Der Empfänger im Sinne der genannten Vorschrift ist somit meiner Ansicht nach notwendigerweise derjenige, der Partei des mit dem Dienstleistenden geschlossenen Vertrags ist.

47.   Prüft man nun, in welchem Verhältnis der oder die Erben des Verstorbenen zum Testamentsvollstrecker stehen, so ist festzustellen, dass sie keine Vereinbarung geschlossen haben. Der Testamentsvollstrecker verpflichtet sich zur Vollziehung der Verfügungen des Erblassers, und die Leistungen, die er zu erbringen hat, sowie deren Kosten werden durch den Erblasser bestimmt. Die einzige Entscheidung, die der Erbe zu treffen hat, wenn der Verfügende verstirbt und die Leistungen des Testamentsvollstreckers fällig werden, ist die, ob er die Erbschaft annimmt oder ausschlägt. Diese Willenserklärung macht aus ihm aber nicht den Empfänger der vom Testamentsvollstrecker erbrachten Leistungen, weil er weder deren Inhalt noch deren Preis bestimmt.

48.   Die Kommission hat in ihren Ausführungen zum Nachweis der Ähnlichkeit der Leistungen eines Testamentsvollstreckers und derjenigen eines Anwalts vorgetragen, dass auch der Testamentsvollstrecker die Interessen eines Mandanten wahrnehme. In ihren Schriftsätzen hat sie allerdings eingeräumt, dass Aufgabe des Testamentsvollstreckers in erster Linie die Vertretung der Interessen des Erblassers sei.

49.   Die Stellung des Erben gegenüber dem Testamentsvollstrecker unterscheidet sich daher meiner Ansicht nach von der, in der sich der Erbe gegenüber einem Erbenermittler befindet und auf die die Kommission in ihren Schriftsätzen Bezug nimmt. Gegenüber einem solchen Dienstleistenden erscheint der Erbe durchaus als Leistungsempfänger. Wenn der Erbe vom Erbenermittler über seine Erbberechtigung unterrichtet wird, wird er von diesem Dienstleistenden nämlich zum Abschluss eines Vertrags aufgefordert, in dem der Betrag der Vergütung festgelegt wird, gegen die der Erbenermittler ihn über den Inhalt dieser Rechte und die Mittel zu deren Wahrnehmung exakt in Kenntnis setzt. In einem solchen Fall gibt es durchaus einen Vertrag zwischen dem Erben und dem Dienstleistenden.

50.   Folglich vermag der Umstand, dass der Beratende Ausschuss für die Mehrwertsteuer in einer Leitlinie die Auffassung vertreten hat, dass der Ort der steuerlichen Anknüpfung der Dienstleistungen eines Erbenermittlers gemäß Art. 9 Abs. 2 Buchst. e der Sechsten Richtlinie zu bestimmen sei, nicht die Stichhaltigkeit des von der Kommission zum Testamentsvollstrecker vertretenen Standpunkts zu belegen.

51.   Entgegen der Auffassung der Kommission bin ich sodann nicht davon überzeugt, dass mit der örtlichen Zuordnung der Leistungen eines Testamentsvollstreckers zu dem Drittland, in dem sich der Erbe aufhält – der naturgemäß nur ein Endverbraucher sein kann –, die Leistungen an den Ort ihrer tatsächlichen Nutzung oder Auswertung verlagert werden.

52.   Zwar ist der Erbe durchaus Nutznießer der Leistungen des Testamentsvollstreckers, da dessen Aufgabe, worauf die Regierung der Bundesrepublik Deutschland hingewiesen hat, darin besteht, dem Erben die Rechte zu vermitteln, die ihm am Vermögen des Verstorbenen zustehen. Der Erbe trägt auch den Preis hierfür, da die Kosten der Leistungen des Testamentsvollstreckers von der Erbmasse in Abzug gebracht werden, es sei denn, dass der Erblasser beschlossen hat, diese Kosten zu Lebzeiten zu begleichen. Diese Umstände reichen aber meiner Ansicht nach nicht aus, um daraus abzuleiten, dass die Leistungen des Testamentsvollstreckers, wenn der Erbe in einem Drittland wohnt oder sich üblicherweise dort aufhält, tatsächlich außerhalb der Gemeinschaft genutzt oder ausgewertet werden.

53.   Denn in diesem Dreiecksverhältnis, das den Erben mit dem Erblasser und dem Testamentsvollstrecker verbindet, spielt der Erbe – außer im Fall besonderer Verfügungen des Erblassers – eine passive Rolle. Grundsätzlich trifft nicht er die Entscheidung, diesen Dienstleistenden einzuschalten, und bestimmt auch nicht seinen Auftrag. Er nimmt nur entgegen, was ihm an Rechten gemäß der vom Erblasser getroffenen Verfügung zusteht, ohne selbst notwendigerweise in Beziehung zum Testamentsvollstrecker zu treten. Daher halte ich diese Situation nicht etwa für mit derjenigen eines Endverbrauchers vergleichbar, der sich außerhalb der Gemeinschaft aufhält und mit der Wahrnehmung seiner Interessen einen in einem Mitgliedstaat ansässigen Rechtsanwalt betraut, damit dieser ihn vor einem Gericht eines Drittlands vertrete.

54.   Mit anderen Worten: Eine tatsächliche Nutzung oder Auswertung einer Leistung kann meiner Ansicht nach nur durch eine Person erfolgen, die die Leistungen eines Steuerpflichtigen in Anspruch nehmen will und diese Leistungen zur Ausübung ihrer beruflichen Tätigkeit, insbesondere der Herstellung von Gegenständen, in Anspruch nehmen könnte; auf diesen Fall stellt der Gemeinschaftsgesetzgeber im siebten Erwägungsgrund der Sechsten Richtlinie ab(6).

55.   Schließlich tut die Kommission nicht dar, inwieweit es den Zielsetzungen von Art. 9 Abs. 1 der Sechsten Richtlinie zuwiderliefe, wenn gemäß dieser Vorschrift die Leistungen eines Testamentsvollstreckers dem Ort der Niederlassung dieses Dienstleistenden zugeordnet werden.

56.   Wie bereits ausgeführt, verfolgt Art. 9 der Sechsten Richtlinie insbesondere das Ziel, das Unterbleiben einer Besteuerung zu vermeiden. Die Zuordnung der von einem Testamentsvollstrecker erbrachten Leistungen zu dem Ort, von dem aus er seine Tätigkeit entfaltet – wie vom deutschen Recht vorgesehen – , führt dazu, dass die von in diesem Mitgliedstaat niedergelassenen und derartige Tätigkeiten ausübenden Rechtsanwälten erbrachten Leistungen in Deutschland besteuert werden, wo auch immer die Erben wohnhaft sind. Die von der Kommission verfochtene Auffassung führt dazu, dass die Leistungen des Testamentsvollstreckers steuerfrei bleiben, wenn der Erbe des Verstorbenen in einem Drittland wohnt.

57.   Nach alledem bin ich der Auffassung, dass die Kommission nicht dargetan hat, dass die Bundesrepublik Deutschland gegen ihre Verpflichtungen aus Art. 9 Abs. 2 Buchst. e der Sechsten Richtlinie verstoßen hat, indem der Ort der Leistung hinsichtlich der Tätigkeit eines Testamentsvollstreckers nicht nach dieser Vorschrift bestimmt wird, wenn die Dienstleistungen an außerhalb der Gemeinschaft ansässige Empfänger oder an innerhalb der Gemeinschaft, jedoch außerhalb des Landes des Dienstleistenden ansässige Steuerpflichtige erbracht werden.

58.   Folgt der Gerichtshof meinen Schlussanträgen, hat die Kommission gemäß Art. 69 § 2 der Verfahrensordnung die Kosten zu tragen.

V –    Ergebnis

59.   Aufgrund der vorstehenden Erwägungen schlage ich dem Gerichtshof vor, die vorliegende Vertragsverletzungsklage als unbegründet abzuweisen und der Kommission der Europäischen Gemeinschaften die Kosten aufzuerlegen.


1 – Originalsprache: Französisch.


2 – Richtlinie vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage (ABl. L 145, S. 1, im Folgenden: Sechste Richtlinie).


3 – Urteil vom 6. März 1997, Linthorst, Pouwels und Scheres (C-167/95, Slg. 1997, I-1195, Randnrn. 10 und 11 und die dort angeführte Rechtsprechung).


4 – Urteil vom 16. September 1997, von Hoffmann (C-145/96, Slg. 1997, I-4857, Randnr. 17).


5 – Urteil vom 23. März 2006, FCE Bank (C-210/04, Slg. 2006, I-2803, Randnr. 34 und die dort angeführte Rechtsprechung).


6 – Deshalb kann meines Erachtens der Erblasser auch nicht als Empfänger der Leistungen des Testamentsvollstreckers im Sinne von Art. 9 Abs. 2 Buchst. e der Sechsten Richtlinie angesehen werden, weil die Leistungen erst nach seinem Tode erbracht werden.