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SCHLUSSANTRÄGE DER GENERALANWÄLTIN

ELEANOR SHARPSTON

vom 8. Mai 2008 1(1)

Rechtssache C-138/07

Belgische Staat

gegen

N.V. Cobelfret

„Steuern – Gesellschaften – Von einer Tochtergesellschaft an ihre Muttergesellschaft ausgeschüttete Gewinne – Steuerbefreiung“





1.        Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 90/435/EWG des Rates vom 23. Juli 1990 über das gemeinsame Steuersystem der Mutter- und Tochtergesellschaften verschiedener Mitgliedstaaten(2) (im Folgenden: Mutter-Tochter-Richtlinie oder Richtlinie) sieht vor, dass, wenn eine in einem Mitgliedstaat ansässige Muttergesellschaft eine Dividende von ihrer in einem anderen Mitgliedstaat ansässigen Tochtergesellschaft bezieht, der Mitgliedstaat der Muttergesellschaft entweder die Dividende nicht besteuern darf oder zulassen muss, dass die Muttergesellschaft auf die darauf zu bezahlende Steuer die von der Tochtergesellschaft entrichtete Steuer für die ausgeschütteten Gewinne anrechnen kann.

2.        In dieser Rechtssache fragt der Hof van beroep (Berufungsgericht) te Antwerpen (Belgien) den Gerichtshof im Wesentlichen, ob Art. 4 der Richtlinie nationalen Rechtsvorschriften entgegensteht, nach denen solche Dividenden in einem ersten Schritt in die Besteuerungsgrundlage der Muttergesellschaft einbezogen werden und in einem späteren Schritt nur insoweit hiervon abgezogen werden, als die Muttergesellschaft steuerpflichtige Gewinne hat.

 Mutter-Tochter-Richtlinie

3.        Die Mutter-Tochter-Richtlinie soll die steuerrechtliche Benachteiligung beseitigen, der Gesellschaften verschiedener Mitgliedstaaten im Vergleich zu Gesellschaften desselben Mitgliedstaats ausgesetzt sind, wenn sie zur Zusammenarbeit aus Mutter- und Tochtergesellschaften bestehende Unternehmensgruppen bilden(3). Hierzu sieht sie zweierlei vor.

4.        Erstens gilt nach Art. 4 Abs. 1, dass, wenn eine Muttergesellschaft(4) von einer Tochtergesellschaft ausgeschüttete Gewinne bezieht, der Mitgliedstaat der Muttergesellschaft „diese Gewinne entweder nicht [besteuert]“ (Befreiungsmethode) oder „im Fall einer Besteuerung [zulässt], dass die Gesellschaft auf die Steuer den Steuerteilbetrag, den die Tochtergesellschaft für die von ihr ausgeschütteten Gewinne entrichtet … bis zur Höhe der entsprechenden innerstaatlichen Steuer anrechnen kann“ (Anrechnungsmethode).

5.        Zweitens schreibt Art. 5 Abs. 1 vor, dass die Mitgliedstaaten die Gewinne, die von einer Tochtergesellschaft an ihre Muttergesellschaft ausgeschüttet werden, vom Steuerabzug an der Quelle befreien.

 Nationale Rechtsvorschriften

6.        Obwohl die Vorlageentscheidung in Bezug auf die relevanten nationalen Vorschriften wortkarg ist, scheint unstreitig zu sein, dass die belgischen Rechtsvorschriften(5), soweit relevant, Folgendes vorsehen. Erstens werden von Tochtergesellschaften bezogene Dividenden im Sinne der Richtlinie der Besteuerungsgrundlage der Muttergesellschaft hinzugerechnet. Zweitens werden 95 % dieses Dividendenbetrags von den steuerpflichtigen Gewinnen der Muttergesellschaft abgezogen(6). Dieser Abzug heißt „aftrek van definitief belaste inkomsten“ (Abzug von endgültig besteuerten Einkünften; im Folgenden: ADBI). Drittens ist der ADBI auf die Gewinne des betreffenden Besteuerungszeitraums beschränkt. In einem Jahr, in dem keine Gewinne erzielt werden, kann der ADBI daher nicht vorgenommen werden; außerdem kann, wenn der ADBI die erzielten Gewinne übersteigt, der nicht genutzte Teil des ADBI nicht übertragen werden.

 Ausgangsverfahren und Vorlagefrage

7.        Auch hierzu enthält die Vorlageentscheidung nur spärliche Angaben. Den schriftlichen Erklärungen lassen sich jedoch, soweit relevant, folgende Tatsachen entnehmen.

8.        In den Jahren 1992 bis 1998 erhielt die Cobelfret NV (im Folgenden: Cobelfret), eine belgische Gesellschaft, jährlich Dividenden aufgrund ihrer Beteiligung an Gesellschaften in Belgien und im Vereinigten Königreich. Es ist unstreitig, dass Cobelfret in Bezug auf ihre Beteiligung an den belgischen Gesellschaften eine Muttergesellschaft und diese Gesellschaften ihre Tochtergesellschaften im Sinne der Richtlinie sind.

9.        Cobelfret erlitt 1994, 1995 und 1997 Verluste und war daher nicht in der Lage, für diese Jahre den ADBI vorzunehmen. Im Jahr 1996 überschritt der der Cobelfret zustehende ADBI die steuerpflichtigen Gewinne um 277 432 Euro. Sie konnte den nicht genutzten Teil nicht auf das folgende Jahr, in dem sie Verluste machte, übertragen. Cobelfret ist der Ansicht, dass Belgien deshalb Dividenden nicht wirklich von der Steuer befreie, da Steuerverluste, die übertragen werden könnten, so verringert würden, dass der steuerpflichtige Gewinn im Folgejahr künstlich um die Dividenden, die steuerbefreit hätten sein sollen, erhöht werde.

10.      Cobelfret trug bei der Rechtbank van eerste aanleg (Gericht erster Instanz), Antwerpen, mit Erfolg vor, dass diese Beschränkung des ADBI gegen Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie verstoße. Die belgischen Steuerbehörden legten Berufung zum Hof van beroep te Antwerpen ein, der dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt hat:

Ist eine Bestimmung wie die belgische Regelung über die endgültig besteuerten Einkünfte, nach der die zu berücksichtigenden Dividenden in einem ersten Schritt der Besteuerungsgrundlage des Mutterunternehmens hinzugerechnet werden und der Betrag der ausgeschütteten Dividenden in einem späteren Schritt nach Art. 205 Abs. 2 W.I.B. nur insoweit von der Besteuerungsgrundlage des Mutterunternehmens abgezogen wird (in Höhe von 95 %), als das Mutterunternehmen steuerpflichtige Gewinne hat, angesichts dessen mit Art. 4 [der Mutter-Tochter-Richtlinie] vereinbar, dass eine solche Beschränkung des ADBI dazu führt, dass ein Mutterunternehmen in einem späteren Besteuerungszeitraum für die ausgeschütteten Dividenden Steuern zahlen muss, wenn es keine oder unzureichende steuerpflichtige Gewinne während des Besteuerungszeitraums hatte, in dem die Dividenden ausgeschüttet wurden, zumindest aber dazu, dass die steuerlichen Verluste des Besteuerungszeitraums zu Unrecht verbraucht werden und dadurch bis zum Betrag der ausgeschütteten Dividenden, die ohne steuerliche Verluste ohnehin zu 95 % freigestellt wären, nicht mehr übertragbar sind?

11.      Cobelfret, Belgien und die Kommission haben schriftliche Erklärungen eingereicht und waren in der mündlichen Verhandlung vertreten.

 Unmittelbare Wirkung

12.      Die Vorlagefrage bezieht sich nicht auf die unmittelbare Wirkung des Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie. In der Vorlageentscheidung wird jedoch festgestellt, dass das vorlegende Gericht der Ansicht ist, dass es „erforderlich [ist], Aufschluss darüber zu erlangen, ob die … Richtlinie unmittelbare Wirkung hat“, und alle Beteiligten machen zu diesem Punkt Ausführungen. Entsprechend will ich kurz Folgendes anmerken.

13.      Nach ständiger Rechtsprechung kann sich der Einzelne in Ermangelung fristgemäß erlassener Umsetzungsmaßnahmen auf Bestimmungen einer Richtlinie, die inhaltlich unbedingt und hinreichend genau sind, gegenüber allen nicht richtlinienkonformen innerstaatlichen Vorschriften berufen; er kann sich auf diese Bestimmungen auch berufen, soweit sie so geartet sind, dass sie Rechte festlegen, die der Einzelne dem Staat gegenüber geltend machen kann(7). Eine Gemeinschaftsvorschrift ist unbedingt, wenn sie eine Verpflichtung normiert, die an keine Bedingung geknüpft ist und zu ihrer Durchführung oder Wirksamkeit auch keiner weiteren Maßnahmen der Gemeinschaftsorgane oder der Mitgliedstaaten bedarf(8). Sie ist hinreichend genau, um von einem Einzelnen in Anspruch genommen und von den Gerichten angewandt werden zu können, wenn sie in eindeutigen Worten eine Verpflichtung festlegt(9).

14.      Ich stimme mit Cobelfret und der Kommission darin überein, dass Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie diese beiden Kriterien erfüllt. Die in ihr enthaltene Verpflichtung, nämlich ausgeschüttete Gewinne nicht zu besteuern, die eine Muttergesellschaft von ihrer Tochtergesellschaft bezogen hat, oder im Fall einer Besteuerung zuzulassen, dass die Gesellschaft auf die Steuer den Steuerbetrag, den die Tochtergesellschaft für die von ihr ausgeschütteten Gewinne entrichtet, anrechnen kann, ist in eindeutigen Worten festgelegt, an keine Bedingung geknüpft und bedarf zu ihrer Durchführung oder Wirksamkeit auch keiner weiteren Maßnahmen der Gemeinschaftsorgane oder der Mitgliedstaaten.

15.      Belgien trägt vor, dass Art. 4 Abs. 1 keine unmittelbare Wirkung haben könne, da es den Mitgliedstaaten eine Wahl bei den Methoden zur Erreichung des gewünschten Ergebnisses lasse.

16.      Wie Cobelfret darlegt, hat der Gerichtshof jedoch entschieden, dass „[d]ie Tatsache, dass der Staat zwischen mehreren möglichen Mitteln zur Erreichung des durch eine Richtlinie vorgeschriebenen Ziels wählen kann, nicht aus[schließt], dass der Einzelne vor den nationalen Gerichten die Rechte geltend machen kann, deren Inhalt sich bereits aufgrund der Richtlinie mit hinreichender Genauigkeit bestimmen lässt“(10).

17.      Dementsprechend bin ich der Ansicht, dass Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie unmittelbare Wirkung hat.

 Vereinbarkeit mit Art. 4 Abs. 1

18.      Cobelfret und die Kommission tragen vor, dass die belgischen Vorschriften der Richtlinie widersprechen; die belgische Regierung vertritt die entgegengesetzte Meinung.

19.      Ich schließe mich der ersten Ansicht an.

20.      Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie verlangt, dass Mitgliedstaaten entweder die Dividende nicht besteuern oder zulassen, dass die Muttergesellschaft auf die darauf zu zahlende Steuer die von der Tochtergesellschaft entrichtete Steuer für die ausgeschütteten Gewinne anrechnen kann. Nach meiner Ansicht wird durch die belgischen Bestimmungen keine der beiden Methoden korrekt umgesetzt.

21.      Diese Bestimmungen bewirken, dass die von einer Tochtergesellschaft ausgeschütteten Dividenden immer der Besteuerungsgrundlage der Muttergesellschaft hinzugerechnet, aber nicht immer davon abgezogen werden, da kein Abzug stattfindet, wenn die Muttergesellschaft für den gleichen Zeitraum keine steuerpflichtigen Gewinne hat. In einem solchen Fall führt die Berücksichtigung der Dividenden bei der Besteuerungsgrundlage zu höheren Gesamtsteuern, da sie den übertragbaren Verlust verringert. Folglich wird die Steuer im folgenden Jahr, in dem Gewinn erzielt wird, auf den zusätzlichen Betrag erhoben, der ganz oder teilweise den Dividenden entspricht.

22.      Die belgische Regelung sieht folglich keine systematische Befreiung der Dividenden vor. Eine Befreiung ist nur vorgesehen, wenn andere steuerpflichtige Gewinne vorliegen. Daher unterwirft Belgien die Steuerbefreiung der Dividenden einer Voraussetzung, die die Richtlinie nicht vorsieht. Es handelt sich daher nicht um eine echte Befreiungsregelung.

23.      Der Gerichtshof hat bereits entschieden, dass die Mitgliedstaaten, da der Zweck der Richtlinie die Lockerung der steuerrechtlichen Regelung für die grenzüberschreitende Zusammenarbeit sei, nicht einseitig restriktive Maßnahmen treffen dürften, etwa indem sie verlangten, dass die Mindestbeteiligungszeit bei Ausschüttung der Gewinne, für die die Steuervergünstigung beantragt werde, bereits zurückgelegt sein müsse(11). Ich sehe keinen Grund, diesen Grundsatz nicht auch auf die faktische Voraussetzung, dass die Muttergesellschaft steuerpflichtige Gewinne haben muss, anzuwenden.

24.      Die belgische Regelung ist auch keine Anrechnungsregelung, die vorsieht, dass von der Tochtergesellschaft gezahlte Steuern von der von der Muttergesellschaft zu zahlenden Steuer abgezogen werden.

25.      Belgien trägt erstens vor, dass die Beschränkung des ADBI mindestens zu dem gleichen Ergebnis wie die Anrechnungsmethode führe. Wenn die Anrechnungsmethode Art. 4 Abs. 1 entspreche, müsse dies für den ADBI ebenso gelten, da es keinen Grund gebe, warum die Nichtbesteuerung ausgeschütteter Gewinne zu einem großzügigeren Ergebnis als die Anrechnungsmethode führen müsse.

26.      Das Vorbringen Belgiens zu diesem Punkt überzeugt mich nicht. Führt die Begrenzung des ADBI zu einem Ergebnis, das für den Steuerzahler mindestens so günstig wie das nach der Anrechnungsmethode ist, kann sich ein Mitgliedstaat nach ständiger Rechtsprechung nicht auf die Art und Weise berufen, wie er eine Richtlinie hätte umsetzen können, wenn er sich entschieden hätte, dies auf eine besondere Weise zu tun(12). Belgien behauptet nicht, sich bei der Umsetzung des Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie für die Anrechnungsmethode entschieden zu haben. Daher ist es meiner Ansicht nach irrelevant, ob und inwieweit sich die von ihr gewählte andere Methode nicht ungünstiger als die Anrechnungsmethode auswirkt.

27.      Belgien trägt zweitens vor, dass aus dem Wortlaut des Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie, nach dem die Mitgliedstaaten Dividenden „nicht [besteuern]“, nicht folge, dass Mitgliedstaaten eine „Befreiung“ gewähren müssten und dass für eine solche „Befreiung“ erforderlich sei, dass ausgeschüttete Dividenden keine Auswirkung auf den Betrag des Verlustvortrags haben könnten. Die Erwägungsgründe der Richtlinie und der Wortlaut des Art. 4 Abs. 1 bezögen sich nur darauf, solche Gewinne „nicht [zu besteuern]“, und nicht auf eine „Befreiung“.

28.      Diesem Vorbringen ist nicht zu folgen. Nach der Systematik und dem Zweck der Richtlinie weist nichts darauf hin, dass es einen nennenswerten Unterschied zwischen den Konzepten „nicht besteuern“ und „von der Steuer befreien“ gibt. Wie Cobelfret darlegt, soll nach den Erwägungsgründen einer Richtlinie, mit der die Mutter-Tochter-Richtlinie kürzlich geändert wurde, durch Art. 4 Abs. 1 in der Tat „eine Doppelbesteuerung entweder durch Steuerbefreiung oder durch Anrechnung der Steuer vermieden werden“(13). Der Gerichtshof hat darüber hinaus den Begriff „befreien“ wahlweise neben dem des „nicht [besteuern]“ im Sinne des Art. 4 Abs. 1 verwendet(14).

29.      Belgien ist drittens der Ansicht, dass seine Rechtsvorschriften mit dem Ziel des Art. 4 Abs. 1, insbesondere der Beseitigung der Benachteiligung der grenzüberschreitenden Mutter-Tochter-Beziehungen gegenüber solchen Beziehungen im innerstaatlichen Kontext, übereinstimmten(15). Die Beschränkung des ADBI benachteilige nicht die Aufnahme von Mutter-Tochter-Beziehungen, insbesondere grenzüberschreitender Beziehungen, wie die Art, wie der belgische Markt in der Praxis funktioniere, und die Tatsache, dass die Anwendung des begrenzten ADBI innerstaatliche und grenzüberschreitende Mutter-Tochter-Beziehungen gleichbehandele, deutlich zeigten. Die Begrenzung des ADBI stehe daher nicht im Widerspruch zum Ziel des Art. 4 Abs. 1.

30.      Auch dies überzeugt mich nicht. Selbst wenn Belgiens Behauptungen zuträfen, kann die bloße Tatsache, dass die fehlerhafte Umsetzung einer Vorschrift einer Richtlinie durch einen Mitgliedstaat den Zielen dieser Richtlinie nicht widerspricht, diese Umsetzung nicht fehlerfrei machen.

31.      Belgien weist weiter auf die Richtlinie 90/434/EWG des Rates über das gemeinsame Steuersystem für Fusionen, Spaltungen, die Einbringung von Unternehmensteilen und den Austausch von Anteilen, die Gesellschaften verschiedener Mitgliedstaaten(16) hin, die von den Mitgliedstaaten im Wesentlichen verlangt, sicherzustellen, dass solche Reorganisationen nicht zur Besteuerung von Wertzuwachs und befreiten Rückstellungen führen. In Bezug auf Verluste durch grenzüberschreitende Reorganisationen stellt Belgien fest, dass die Richtlinie von den Mitgliedstaaten nur verlange, dass sie solche Verluste gleichbehandelten wie Verluste aus Reorganisationen innerhalb eines einzigen Mitgliedstaats(17). Belgien scheint vorzutragen, dass Art. 4 Abs. 1 der Mutter-Tochter-Richtlinie im Wege der Analogie einem Mitgliedstaat auch erlaube, eine Regelung wie die Vorschriften über den ADBI auf Dividenden anzuwenden, die eine Muttergesellschaft von einer Tochtergesellschaft in einem anderen Mitgliedstaat bezogen hat, sofern er dieselbe Regelung auf von einer innerstaatlichen Tochtergesellschaft bezogene Dividenden anwendet. Das steht jedoch nicht in Art. 4 Abs. 1, und ich kann nicht erkennen, wie eine Bestimmung eines ganz anderen Rechtsakts relevant sein soll.

32.      Schließlich weist Belgien auf das von der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (im Folgenden: OECD) veröffentlichte Musterabkommen über Steuern auf Einkommen und Vermögen hin(18). Abschnitt V („Methoden zur Vermeidung der Doppelbesteuerung“) sieht sowohl die Befreiungsmethode (Art. 23A) als auch die Anrechnungsmethode (Art. 23B) vor. Belgien trägt vor, dass das Musterabkommen keine detaillierten Vorgaben enthalte, wie die Befreiungsmethode umzusetzen sei, so dass die Vertragsstaaten dies selbst bestimmen könnten.

33.      Nach ständiger Rechtsprechung bleiben die Mitgliedstaaten in Ermangelung gemeinschaftsrechtlicher Vereinheitlichungs- oder Harmonisierungsmaßnahmen befugt, insbesondere zur Beseitigung der Doppelbesteuerung die Kriterien für die Aufteilung ihrer Steuerhoheit vertraglich oder einseitig festzulegen und dabei auch die in der internationalen Besteuerungspraxis befolgten Verteilungskriterien einschließlich der OECD-Musterabkommen heranzuziehen(19). Ich kann jedoch nicht erkennen, wie das für die vorliegende Rechtssache, in der es um die Auslegung einer harmonisierenden Gemeinschaftsmaßnahme geht, relevant sein soll.

 Zeitliche Begrenzung

34.      Belgien schließt seine schriftlichen Erklärungen mit dem Antrag ab, der Gerichtshof möge, wenn er feststellen sollte, dass Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie nationalen Rechtsvorschriften wie der ADBI-Regelung entgegenstehe, die Wirkungen dieser Entscheidung zeitlich begrenzen. Es stützt sich in diesem Zusammenhang auf (i) die Rechtssicherheit, die die Kommission mit ihrer (allerdings stillschweigenden) Zustimmung zur ADBI-Regelung geschaffen habe, (ii) die unklare Tragweite des Art. 4 Abs. 1, (iii) die mangelnde Rechtsprechung zu diesem Punkt und (iv) die Auswirkungen auf den Haushalt, sollten die belgischen Vorschriften als unvereinbar angesehen werden.

35.      Aus der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs ergibt sich, dass die finanziellen Konsequenzen, die sich aus einem im Vorabentscheidungsverfahren ergangenen Urteil für einen Mitgliedstaat ergeben können, für sich allein nicht die zeitliche Begrenzung der Wirkungen dieses Urteils rechtfertigen können – eine solche Begrenzung wird nur unter ganz bestimmten Umständen auferlegt, namentlich wenn a) die Gefahr schwerwiegender wirtschaftlicher Auswirkungen besteht, die insbesondere mit der großen Zahl von Rechtsverhältnissen zusammenhängen, die gutgläubig auf der Grundlage der als gültig betrachteten Regelung eingegangen wurden, und b) sich herausstellt, dass sowohl die Einzelnen als auch die nationalen Behörden zu einem mit dem Gemeinschaftsrecht unvereinbaren Verhalten veranlasst wurden, weil eine objektive, bedeutende Unsicherheit hinsichtlich der Tragweite der Gemeinschaftsbestimmungen besteht, zu der eventuell auch das Verhalten anderer Mitgliedstaaten oder der Kommission der Europäischen Gemeinschaften beigetragen hat(20).

36.      In der vorliegenden Rechtssache kann dahingestellt bleiben, inwieweit das sonstige Vorbringen Belgiens durchgreift; jedenfalls hat es weder in seinen schriftlichen Erklärungen noch in seinen mündlichen Ausführungen versucht, nachzuweisen, dass eine solche Gefahr schwerwiegender wirtschaftlicher Auswirkungen bestehe.

37.      Folglich ist es meines Erachtens nicht angebracht, dass der Gerichtshof, wenn er feststellen sollte, dass Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie nationalen Rechtsvorschriften wie der ADBI-Regelung entgegensteht, die Wirkungen dieser Entscheidung zeitlich begrenzt.

 Ergebnis

38.      Aus den vorstehenden Gründen bin ich der Ansicht, dass die vom Hof van beroep te Antwerpen (Belgien) vorgelegte Frage wie folgt zu beantworten ist:

Art. 4 der Richtlinie 90/435/EWG des Rates steht nationalen Rechtsvorschriften entgegen, nach denen Dividenden, die eine Muttergesellschaft in einem Mitgliedstaat von ihrer Tochtergesellschaft in einem anderen Mitgliedstaat bezogen hat, in einem ersten Schritt der Besteuerungsgrundlage des Mutterunternehmens hinzugerechnet werden und in einem späteren Schritt nur insoweit von dieser Besteuerungsgrundlage (in Höhe von 95 %) abgezogen werden, als das Mutterunternehmen steuerpflichtige Gewinne hat.


1 – Originalsprache: Englisch.


2 – ABl. L 225, S. 6. Die Richtlinie wurde später geändert, aber das Ausgangsverfahren bezieht sich nur auf die Originalfassung.


3 – Vgl. den 3. Erwägungsgrund: „Die für die Beziehungen zwischen Mutter- und Tochtergesellschaften verschiedener Mitgliedstaaten geltenden Steuerbestimmungen weisen von einem Staat zum anderen erhebliche Unterschiede auf und sind im Allgemeinen weniger günstig als die auf die Beziehung zwischen Mutter- und Tochtergesellschaften desselben Mitgliedstaats anwendbaren Bestimmungen. Die Zusammenarbeit von Gesellschaften verschiedener Mitgliedstaaten wird auf diese Weise gegenüber der Zusammenarbeit zwischen Gesellschaften desselben Mitgliedstaats benachteiligt. Diese Benachteiligung ist durch Schaffung eines gemeinsamen Steuersystems zu beseitigen, wodurch Zusammenschlüsse von Gesellschaften auf Gemeinschaftsebene erleichtert werden.“


4 – „Muttergesellschaft“ und „Tochtergesellschaft“ werden in Art. 3 der Richtlinie definiert. Die Definition enthält die Voraussetzung, dass die Muttergesellschaft und die Tochtergesellschaft in Bezug auf den steuerlichen Wohnsitz in verschiedenen Mitgliedstaaten ansässig sind.


5 – Art. 202, 204 und 205 des Wetboek van de inkomstenbelastingen (Einkommensteuergesetz) 1992.


6 – Nach Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie können Mitgliedstaaten, die die Befreiungsmethode gewählt haben, die Befreiung auf 95 % der bezogenen Dividenden beschränken.


7 – Vgl. z. B. Urteil vom 28. Juni 2007, JP Morgan Fleming Claverhouse Investment Trust und The Association of Investment Trust Companies (C-363/05, Slg. 2007, I-5517, Randnr. 58 und die dort angeführte Rechtsprechung).


8 – Urteil vom 29. Mai 1997, Klattner (C-389/95, Slg. 1997, I-2719, Randnr. 33).


9 – Ebd.


10 – Urteile vom 19. November 1991, Francovich u. a. (C-6/90 und C-9/90, Slg. 1991, I-5357, Randnr. 17), und vom 14. Juli 1994, Faccini Dori (C-91/92, Slg. 1994, I-3325, Randnr. 17).


11 – Urteil vom 17. Oktober 1996, Denkavit u. a. (C-283/94, C-291/94 und C-292/94, Slg. 1996, I-5063, Randnr. 26).


12 – Francovich u. a. (angeführt in Fn. 10, Randnr. 21) und Urteil vom 30. März 2006, Uudenkaupungin kaupunki (C-184/04, Slg. 2006, I-3039, Randnr. 28).


13 – Richtlinie 2003/123/EG des Rates vom 22. Dezember 2003 zur Änderung der Richtlinie 90/435/EWG über das gemeinsame Steuersystem der Mutter- und Tochtergesellschaften verschiedener Mitgliedstaaten (ABl. 2004, L 7, S. 41), 10. Erwägungsgrund. Vgl. auch Randnr. 17 der Begründung zum Vorschlag für diese Richtlinie (KOM[2003] 462 endg.).


14 – Urteile vom 12. Dezember 2006, Test Claimants in the FII Group Litigation (C-446/04, Slg. 2006, I-11753, Randnr. 102); vom 12. Dezember 2006, Test Claimants in Class IV of the ACT Group Litigation (C-374/04, Slg. 2006, I-11673, Randnr. 53).


15 – Vgl. 3. Erwägungsgrund, zitiert in Fn. 3.


16 – Richtlinie vom 23. Juli 1990 (ABl. L 225, S. 1).


17 – Art. 6 bestimmt: „Wenden die Mitgliedstaaten für den Fall, dass die in Artikel 1 genannten Vorgänge zwischen Gesellschaften des Staates der einbringenden Gesellschaft erfolgen, Vorschriften an, die die Übernahme der bei der einbringenden Gesellschaft steuerlich noch nicht berücksichtigten Verluste durch die übernehmende Gesellschaft gestatten, so dehnen sie diese Vorschriften auf die Übernahme der bei der einbringenden Gesellschaft steuerlich noch nicht berücksichtigten Verluste durch die in ihrem Hoheitsgebiet gelegenen Betriebsstätten der übernehmenden Gesellschaft aus.“


18 – Das Musterabkommen wurde ursprünglich 1963 veröffentlicht. Seitdem wurde es regelmäßig aktualisiert. Die am 28. Januar 2003 geltende Fassung ist unter http://www.oecd.org/dataoecd/52/34/1914467.pdf zu finden.


19 – Urteil vom 13. März 2007, Test Claimants in the Thin Cap Group Litigation (C-524/04, Slg. 2007, I-2107, Randnr. 49 und die dort angeführte Rechtsprechung).


20 – Vgl. zuletzt Urteil vom 18. Januar 2007, Brzeziński (C-313/05, Slg. 2007, I-513, Randnrn. 57 und 58).