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SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

M. POIARES MADURO

vom 12. Juni 20081(1)

Rechtssache C-288/07

The Commissioners of Her Majesty’s Revenue & Customs

gegen

Isle of Wight Council,

Mid-Suffolk District Council,

South Tyneside Metropolitan Borough Council,

West Berkshire District Council

(Vorabentscheidungsersuchen des High Court of Justice [England & Wales], Chancery Division [Vereinigtes Königreich])

„Mehrwertsteuer – Tätigkeiten einer Einrichtung des öffentlichen Rechts – Gebührenpflichtige Parkplätze – Wettbewerbsverzerrungen“





1.        Die Fragen, die den Gegenstand des vorliegenden Vorabentscheidungsersuchens bilden, betreffen die Auslegung des Art. 4 Abs. 5 der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage(2) (im Folgenden: Sechste Richtlinie), der die Mehrwertsteuerpflichtigkeit der Einrichtungen des öffentlichen Rechts für die Tätigkeiten vorsieht, die ihnen im Rahmen der öffentlichen Gewalt obliegen, sofern eine Behandlung als Nichtsteuerpflichtige zu größeren Wettbewerbsverzerrungen führen würde. Der Gerichtshof hat damit die Voraussetzungen für diese Ausnahme von der in Art. 4 Abs. 5 Unterabs. 1 aufgeführten Regel zu präzisieren, dass die Einrichtungen des öffentlichen Rechts als Nichtsteuerpflichtige behandelt werden, soweit sie Tätigkeiten ausüben, die ihnen im Rahmen der öffentlichen Gewalt obliegen. Mit anderen Worten, der Gemeinschaftsrichter hat die Kriterien zu präzisieren, nach denen der allgemeine Grundsatz der Unterwerfung der wirtschaftlichen Tätigkeiten unter die Mehrwertsteuer wiederauflebt.

I –    Rechtlicher Rahmen, Sachverhalt des Ausgangsverfahrens und Vorabentscheidungsfragen

2.        Das Ausgangsverfahren betrifft die Bereitstellung von abgeschlossenen Parkplätzen für Autos durch vier örtliche Behörden des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland, den Isle of Wight Council, den Mid-Suffolk District Council, den South Tyneside Metropolitan Borough Council und den West Berkshire District Council(3). Der private Sektor stellt in den jeweiligen Gebieten, die unter der Verwaltung der örtlichen Behörden stehen, ähnliche Leistungen zur Verfügung.

3.        In der Vergangenheit gingen die örtlichen Gebietskörperschaften davon aus, dass sie auf die Zahlungen der Parkplatznutzer Mehrwertsteuer zu entrichten hatten. Die Mehrwertsteuer wurde den Kunden in Rechnung gestellt, und die Abgabe wurde sodann an die Finanzverwaltung des Vereinigten Königreichs abgeführt.

4.        Aufgrund des Art. 4 Abs. 5 Unterabs. 1 der Sechsten Richtlinie sind die Beklagten des Ausgangsverfahrens jedoch der Auffassung, dass ihnen ein Anspruch auf Erstattung der bereits entrichteten Mehrwertsteuer zusteht, da es dort heißt:

„Staaten, Länder, Gemeinden und sonstige Einrichtungen des öffentlichen Rechts gelten nicht als Steuerpflichtige, soweit sie die Tätigkeiten ausüben oder Leistungen erbringen, die ihnen im Rahmen der öffentlichen Gewalt obliegen, auch wenn sie im Zusammenhang mit diesen Tätigkeiten oder Leistungen Zölle, Gebühren, Beiträge oder sonstige Abgaben erheben.“

5.        Art. 4 Abs. 5 der Sechsten Richtlinie sieht in den nachfolgenden Unterabsätzen jedoch vor, dass die Einrichtungen unter bestimmten Umständen mehrwertsteuerpflichtig bleiben. Dort heißt es:

„Falls sie jedoch solche Tätigkeiten ausüben oder Leistungen erbringen, gelten sie für diese Tätigkeiten oder Leistungen als Steuerpflichtige, sofern eine Behandlung als Nichtsteuerpflichtige zu größeren Wettbewerbsverzerrungen führen würde.

Die vorstehend genannten Einrichtungen gelten in jedem Fall als Steuerpflichtige in Bezug auf die in Anhang D aufgeführten Tätigkeiten, sofern der Umfang dieser Tätigkeiten nicht unbedeutend ist.

Die Mitgliedstaaten können die Tätigkeiten der vorstehend genannten Einrichtungen, die nach Artikel 13 oder 28 von der Steuer befreit sind, als Tätigkeiten behandeln, die ihnen im Rahmen der öffentlichen Gewalt obliegen.“

6.        Nachdem die örtlichen Behörden zu dem Schluss gelangt waren, dass sie die Voraussetzungen, die für diese einzelnen Ausnahmen von der Regel der Behandlung als Nichtsteuerpflichtige gelten, nicht erfüllten, und insoweit von dem Urteil Fazenda Pública(4) bestätigt worden waren, verlangten sie die Erstattung der seit 2000 an die zuständigen Finanzbehörden (die Commissioners of Her Majesty’s Revenue & Customs, Kläger des Ausgangsverfahrens) entrichteten Mehrwertsteuer. Sie sind der Ansicht, dass ihre Behandlung als Nichtsteuerpflichtige in den ihrer Verwaltung unterstehenden Gebieten nicht zu Wettbewerbsverzerrungen und schon gar nicht zu größeren Wettbewerbsverzerrungen führen würde.

7.        Die Commissioners lehnten die Erstattung ab. Nachdem den Klagen, die die örtlichen Behörden gegen diese Entscheidung vor dem VAT and Duties Tribunal erhoben hatten, stattgegeben worden war, legten die Kläger Rechtsmittel zum High Court of Justice (England & Wales), Chancery Division (Vereinigtes Königreich), ein, der beschlossen hat, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof die folgenden Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.      Ist der Begriff „Wettbewerbsverzerrungen“ bezogen auf die einzelne öffentliche Einrichtung zu bestimmen, so dass der Begriff – im vorliegenden Fall – mit Bezug auf das Gebiet oder die Gebiete zu bestimmen ist, in dem oder in denen die betreffende Einrichtung Parkeinrichtungen zur Verfügung stellt, oder mit Bezug auf das gesamte Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats?

2.      Welche Bedeutung hat der Begriff „führen würde“? Insbesondere, welcher Wahrscheinlichkeitsgrad oder welches Maß an Gewissheit ist zur Erfüllung dieser Voraussetzung erforderlich?

3.       Welche Bedeutung hat der Begriff „größere“? Insbesondere, sind damit Auswirkungen auf den Wettbewerb, die mehr als „geringfügig“ oder de minimis sind, „erhebliche“ Auswirkungen oder „außergewöhnliche“ Auswirkungen gemeint?

II – Rechtliche Untersuchung

A –    Zur ersten Vorlagefrage

8.        Mit dieser Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob der in Art. 4 Abs. 5 Unterabs. 2 der Sechsten Richtlinie genannte Fall erfordert, dass die mögliche Wettbewerbsverzerrung infolge der Mehrwertsteuerbefreiung der Einrichtungen des öffentlichen Rechts, die im Rahmen der öffentlichen Gewalt bestimmte Tätigkeiten ausüben, auf örtlicher Ebene bestimmt wird und die Definition der Wettbewerbsbedingungen auf dem relevanten Markt voraussetzt oder ob sie nur in Bezug auf die betreffende Tätigkeit zu bestimmen ist.

1.      Vorbemerkungen zur Systematik des Art. 4 Abs. 5 der Sechsten Richtlinie

9.        Die Antwort auf die erste Frage bedarf eines kurzen Hinweises auf die Systematik des Art. 4 Abs. 5 der Sechsten Richtlinie. Die genannte Vorschrift stellt die Regel auf, dass Einrichtungen des öffentlichen Rechts nicht zur Mehrwertsteuer herangezogen werden, wenn sie im Rahmen der öffentlichen Gewalt tätig werden. Abweichend von dieser in Art. 4 Abs. 5 Unterabs. 1 der Sechsten Richtlinie niedergelegten Regel ist in Unterabs. 2 dieses Artikels bestimmt, dass die genannten Einrichtungen dennoch Mehrwertsteuer entrichten müssen, sofern die Behandlung als Nichtsteuerpflichtige zu größeren Wettbewerbsverzerrungen führen würde. Diese allgemeine Ausnahme wird zudem durch Unterabs. 3 ergänzt, der bestimmte Tätigkeiten festlegt, für die die Einrichtungen des öffentlichen Rechts stets mehrwertsteuerpflichtig sind, auch wenn diese Tätigkeiten im Rahmen der öffentlichen Gewalt erfolgen. Ist der Umfang dieser Tätigkeiten jedoch unbedeutend, können die Mitgliedstaaten, falls sie dies wollen, die Tätigkeiten dem Anwendungsbereich der Mehrwertsteuer entziehen.

10.      Die einzelnen Unterabsätze des Art. 4 Abs. 5 der Sechsten Richtlinie sind somit eng miteinander verknüpft. So setzt die Anwendung von Unterabs. 2 der Vorschrift voraus, dass man sich im Anwendungsbereich des Unterabs. 1 befindet. Der Gerichtshof hat die Bestimmung dahin ausgelegt, dass für die Steuerbefreiung zwei Voraussetzungen kumulativ erfüllt sein müssen. Zum einen müssen die Tätigkeiten von einer Einrichtung des öffentlichen Rechts ausgeübt werden, und zum anderen muss die Einrichtung die Tätigkeiten im Rahmen der öffentlichen Gewalt ausüben. Später wurde klargestellt, dass es sich bei den genannten Tätigkeiten um solche handelt, die die Einrichtungen im Rahmen einer öffentlich-rechtlichen Sonderregelung ausüben, und dass Tätigkeiten, die sie unter den gleichen rechtlichen Bedingungen ausüben wie private Wirtschaftsteilnehmer, nicht dazugehören(5).

11.      Im vorliegenden Fall kann daher, wie in der Stellungnahme der Kommission der Europäischen Gemeinschaften geschehen, bezweifelt werden, ob die genannten Voraussetzungen in Bezug auf die Bereitstellung von Parkplätzen durch die örtlichen Behörden erfüllt sind. Genauer gesagt ist nicht sicher, dass die Bereitstellung von Parkplätzen außerhalb des Straßenraums im Rahmen einer öffentlich-rechtlichen Sonderregelung erfolgt. Da jedoch das vorlegende Gericht diese Frage dem Gerichtshof nicht vorgelegt hat und es Sache des nationalen Gerichts ist, das Vorliegen der genannten Voraussetzungen zu prüfen(6), ist es nicht angebracht, dieser Frage weiter nachzugehen.

2.      Auslegung des Art. 4 Abs. 5 Unterabs. 2 der Sechsten Richtlinie

12.      Wie bereits ausgeführt, wird der Gerichtshof mit der zentralen Frage in der vorliegenden Rechtssache um die Entscheidung darüber ersucht, wie zu bestimmen ist, ob eine größere Wettbewerbsverzerrung im Sinne des Art. 4 Abs. 5 Unterabs. 2 der Sechsten Richtlinie vorliegt, aufgrund deren von der in Unterabs. 1 der Vorschrift vorgesehenen Steuerbefreiung der Einrichtungen des öffentlichen Rechts, die im Rahmen der öffentlichen Gewalt tätig werden, abgewichen wird.

13.      Die Beteiligten sind in diesem Punkt unterschiedlicher Meinung. Während sich die Beklagten des Ausgangsverfahrens und die italienische Regierung für einen wettbewerbsrechtlichen Ansatz aussprechen und für die Entscheidung, ob die beabsichtigte Leistung mehrwertsteuerpflichtig ist, eine konkrete und vorherige Analyse des relevanten Marktes verlangen, bevorzugen die Kläger des Ausgangsverfahrens einen steuerlichen Ansatz, der auf der betreffenden Tätigkeit beruht. Das Vereinigte Königreich betont überdies die Schwierigkeiten bei der Anwendung von Wettbewerbskriterien im Steuerbereich. Irland versucht, zwischen beiden Positionen zu vermitteln, und meint, die Wahl zwischen diesen liege im Ermessen der Mitgliedstaaten.

14.      Wie zu zeigen sein wird, ist dem steuerlichen Ansatz der Vorzug zu geben. Die mit der Sechsten Richtlinie eingeführte Steuerregelung soll alle wirtschaftlichen Tätigkeiten der Mehrwertsteuer unterwerfen. Demgemäß bestimmt Art. 2 der Sechsten Richtlinie: „Der Mehrwertsteuer unterliegen: 1. Lieferungen von Gegenständen und Dienstleistungen, die ein Steuerpflichtiger als solcher im Inland gegen Entgelt ausführt; 2. die Einfuhr von Gegenständen.“ Nur als Ausnahme von dieser allgemeinen Regel sind bestimmte Tätigkeiten dem Anwendungsbereich der Mehrwertsteuer entzogen. Unter diesem Blickwinkel bestimmt Art. 4 Abs. 5 Unterabs. 1 der Sechsten Richtlinie, dass die Tätigkeiten, die Einrichtungen des öffentlichen Rechts im Rahmen der öffentlichen Gewalt ausüben, nicht der Besteuerung unterliegen. Dagegen hat es der Gemeinschaftsgesetzgeber für nötig befunden, in Unterabs. 3 der genannten Vorschrift die Besteuerung für bestimmte Tätigkeiten aufrechtzuerhalten, auch wenn die Voraussetzungen für die Steuerbefreiung erfüllt sind. Da Art. 4 Abs. 5 der Sechsten Richtlinie in allen Unterabsätzen dieselben Einrichtungen betrifft, die im Rahmen öffentlicher Gewalt handeln, kann die Rechtfertigung für die unterschiedliche steuerliche Behandlung der betreffenden Tätigkeiten in den einzelnen Unterabsätzen nur auf der unterschiedlichen Natur dieser verschiedenen Tätigkeiten beruhen. Diese Auffassung wird durch den Gerichtshof bestätigt, der darauf hinweist, dass das in Art. 4 Abs. 5 Unterabs. 3 der Sechsten Richtlinie vorgesehene Wiederaufleben der Steuerpflicht „[sicherstellen] soll …, dass bestimmte Arten von wirtschaftlichen Tätigkeiten, deren Bedeutung sich aus ihrem Gegenstand ergibt, nicht … von der Mehrwertsteuer befreit werden“(7).

15.      Die Daseinsberechtigung der in Art. 4 Abs. 5 der Sechsten Richtlinie vorgesehenen Ausnahme von der Mehrwertsteuerpflicht für wirtschaftliche Tätigkeiten beruht auf der einfachen Vermutung, dass die von den Einrichtungen des öffentlichen Rechts im Rahmen der öffentlichen Gewalt ausgeübten Tätigkeiten solche sind, die im Wesentlichen auf Rechtsvorschriften beruhen und im Zusammenhang mit der Ausübung hoheitlicher Befugnisse stehen. Unter diesen Umständen hat die Nichterhebung der Mehrwertsteuer auf diese Tätigkeiten keine wettbewerbsbeschränkenden Auswirkungen auf die Tätigkeiten des privaten Sektors, da sie im Allgemeinen ausschließlich oder nahezu ausschließlich durch den öffentlichen Sektor ausgeübt werden. Die steuerliche Neutralität ist damit gewahrt.

16.      Diese Vermutung bleibt indessen eine einfache Vermutung. Da die Einrichtungen des öffentlichen Rechts, die im Rahmen der öffentlichen Gewalt tätig werden, zwar nach den gemeinschaftsrechtlichen Kriterien definiert werden, jedoch von der internen Organisation des einzelnen Mitgliedstaats abhängen, ist es recht wahrscheinlich, dass einige dieser Tätigkeiten, die von den genannten Einrichtungen des öffentlichen Rechts ausgeübt werden, auch dem privaten Sektor übertragen werden. Tätigkeiten, die im Wesentlichen wirtschaftlicher Natur sind, können die Voraussetzungen für die Ausnahme nach Art. 4 Abs. 5 Unterabs. 1 der Sechsten Richtlinie erfüllen, wenn das nationale Recht die Einrichtung des öffentlichen Rechts in den Rahmen einer „öffentlich-rechtlichen Sonderregelung“ stellt, denn die besondere Natur einer solchen Regelung hat nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs zur Folge, dass eine Einstufung als Tätigkeit erfolgt, die im Rahmen der öffentlichen Gewalt ausgeübt wird. Die Nichterhebung von Mehrwertsteuer auf diese im Wesentlichen wirtschaftlichen Tätigkeiten kann aber eine Quelle von Wettbewerbsverzerrungen werden, sofern die genannten Tätigkeiten im Allgemeinen parallel oder gar überwiegend vom privaten Sektor ausgeübt werden oder ausgeübt werden können. Die Steuerbefreiung würde daher zu einer Verbiegung des Mehrwertsteuersystems führen, das in erster Linie auf dem Grundsatz der steuerlichen Neutralität beruht.

17.      Es ist vor allem dieser Fall, den der Gemeinschaftsgesetzgeber vermeiden wollte, indem er in Art. 4 Abs. 5 Unterabs. 3 der Sechsten Richtlinie vorsah, dass bestimmte, im Anhang D dieser Richtlinie genau aufgeführte Tätigkeiten der Mehrwertsteuer unterliegen. Bei diesen Tätigkeiten handelt es sich um das Fernmeldewesen, die Lieferung von Wasser, Gas, Elektrizität und thermischer Energie, die Beförderung von Gütern, die Dienstleistungen in Häfen und auf Flughäfen, die Beförderung von Personen, die Lieferung von zum Verkauf bestimmten neuen Fertigwaren, die Umsätze der landwirtschaftlichen Interventionsstellen aus landwirtschaftlichen Erzeugnissen, die in Anwendung der Verordnungen über eine gemeinsame Marktorganisation für diese Erzeugnisse bewirkt werden, die Veranstaltung von Messen und Ausstellungen mit gewerblichem Charakter, die Lagerhaltung, die Tätigkeiten gewerblicher Werbebüros, die Tätigkeiten der Reisebüros, die Umsätze von betriebseigenen Kantinen, Verkaufsstellen und Genossenschaften und ähnlichen Einrichtungen, sowie um die nicht in Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. q genannten Tätigkeiten der Rundfunk- und Fernsehanstalten. Aus dem Inhalt dieses Unterabsatzes wird deutlich, dass die Unterwerfung unter die Mehrwertsteuer unabhängig davon gilt, ob ein wirksamer oder potenzieller Wettbewerb auf der Ebene bestimmter örtlicher Märkte besteht, auf denen die genannten Tätigkeiten genauso von Einrichtungen des öffentlichen Rechts im Rahmen einer öffentlich-rechtlichen Sonderregelung ausgeübt werden können. Einzig entscheidend ist die Natur der betreffenden Tätigkeit.

18.      Folglich ist Unterabs. 2 des Art. 4 Abs. 5 der Sechsten Richtlinie, der ebenso wie Unterabs. 3 eine Ausnahme von der Mehrwertsteuerbefreiung vorsieht, dahin auszulegen, dass er derselben Logik folgt wie Unterabs. 3, dass er also den Grundsatz der Mehrwertsteuerpflicht für die Tätigkeiten wirtschaftlicher Natur wieder einführt.

19.      Demgemäß kommt das Kriterium der Wettbewerbsverzerrung nur zum Zuge, um den zuständigen nationalen Stellen eine Hilfe bei der Entscheidung zu bieten, welche Tätigkeiten der Mehrwertsteuer zu unterwerfen sind und welche nicht. Der Begriff der Wettbewerbsverzerrung kommt nicht als regulatorisches Prinzip für besondere wirtschaftliche Sachverhalte wie Kartelle oder Missbrauch einer beherrschenden Stellung zum Zuge, sondern als indirektes Kriterium, das den Mitgliedstaaten für die Durchführung des Mehrwertsteuersystems zur Verfügung steht, damit sie entscheiden können, welche Tätigkeiten der Mehrwertsteuer zu unterwerfen sind(8). Das Kriterium fügt sich damit in die Steuerpolitik der Gemeinschaft ein, die darauf abstellt, nach Maßgabe des Grundsatzes der steuerlichen Neutralität alle wirtschaftlichen Tätigkeiten der Mehrwertsteuer zu unterwerfen.

20.      Überdies kann nur dieser Ansatz den Grundsatz der Einfachheit gewährleisten, der sich aus dem Bedürfnis nach Rechtssicherheit bei der Steuererhebung ergibt. Diese Grundsätze wären stark gefährdet, wenn die Wettbewerbsverhältnisse auf den relevanten Märkten von Fall zu Fall geprüft würden. Aus diesem Grund hat der berücksichtigte Ansatz für die zuständigen nationalen Stellen nebenbei auch den Vorteil, dass besonders hohe Verwaltungskosten vermieden werden.

21.      Daher ist Art. 4 Abs. 5 Unterabs. 2 der Sechsten Mehrwertsteuerrichtlinie dahin auszulegen, dass die Mitgliedstaaten im Rahmen des Ermessens, das ihnen für die Umsetzung dieser Bestimmung zuerkannt ist(9), anhand der betreffenden Tätigkeit zu entscheiden haben, ob die Gefahr einer Wettbewerbsverzerrung besteht, wenn die Einrichtungen des öffentlichen Rechts, die die Tätigkeiten im Rahmen der öffentlichen Gewalt ausüben, nicht der Mehrwertsteuer unterworfen sind.

B –    Zur zweiten Vorlagefrage

22.      Mit seiner zweiten Frage fragt das vorlegende Gericht nach der Bedeutung des Ausdrucks „zu größeren Wettbewerbsverzerrungen führen würde“, der in Unterabs. 2 des Art. 4 Abs. 5 der Sechsten Richtlinie verwendet wird. Es möchte wissen, ob diese Bestimmung nur den wirksamen Wettbewerb erfasst oder ob sie sich auch auf den potenziellen Wettbewerb erstreckt.

23.      Die Berücksichtigung des potenziellen Wettbewerbs ergibt sich folgerichtig aus der Auslegung, zu der ich im Rahmen der ersten Vorlagefrage gelangt bin. Da nämlich eine Konzeption erforderlich ist, die sich an der Tätigkeit orientiert, ist die Wettbewerbssituation auf einem bestimmten lokalen Markt unerheblich.

24.      Vor allem hat der Gerichtshof bereits entschieden, dass Unterabs. 2 des Art. 4 Abs. 5 der Sechsten Richtlinie, „[u]m die Steuerneutralität, ein wichtiges Ziel der Sechsten Richtlinie, zu gewährleisten, … also den Fall [berücksichtigt], dass die Einrichtungen des öffentlichen Rechts im Rahmen der eigens für sie geltenden rechtlichen Regelung Tätigkeiten ausüben, die – im Wettbewerb mit ihnen – auch von Privaten nach einer privatrechtlichen Regelung oder auch aufgrund von verwaltungsrechtlichen Genehmigungen ausgeübt werden können“(10). Dürfte aber nur der wirksame Wettbewerb berücksichtigt werden, wäre die Steuerneutralität nicht mehr gewahrt, da die Berücksichtigung nur des wirksamen Wettbewerbs es ausschließen würde, den künftigen oder sofortigen Markteintritt bestimmter privater Wirtschaftsteilnehmer zu berücksichtigen, die in jedem Fall der Mehrwertsteuer unterliegen würden. Unter diesen Umständen zeigt sich jedoch klar, dass die Nichtsteuerpflichtigkeit der öffentlichen Wirtschaftsteilnehmer, die die gleiche Tätigkeit ausüben wie private, der Besteuerung unterliegende Wirtschaftsteilnehmer zu einer Wettbewerbsverzerrung von gewisser Bedeutung führen kann.

25.      Wie im Übrigen Generalanwältin Kokott hervorhebt, kann, „[a]uch wenn aktuell kein Wettbewerber konkurrierende mehrwertsteuerpflichtige Leistungen anbietet, … die Gefahr der Wettbewerbsverzerrungen real sein. Denn eine nachteilige Ausgangslage allein ist geeignet, potenzielle Wettbewerber davon abzuhalten, auf dem Markt aktiv zu werden.“ (11)

26.      Der Ausdruck „führen würde“ ist somit entsprechend der von der Kommission vertretenen Auffassung dahin zu verstehen, dass er sowohl den wirksamen als auch den potenziellen Wettbewerb erfasst, sofern dieser real ist.

C –    Zur dritten Vorlagefrage

27.      Die dritte Frage des vorlegenden Gerichts betrifft den Ausdruck „größere Wettbewerbsverzerrungen“(12). Sind mit diesem Ausdruck Auswirkungen auf den Wettbewerb gemeint, die nicht geringfügig sind, oder nur „außergewöhnliche“ Auswirkungen, die über die Verzerrungen hinausgehen, die üblicherweise die Folge dessen sind, dass auf demselben Markt Dienstleistende, die steuerpflichtig sind, und solche, die es nicht sind, nebeneinander existieren?

28.      Ich muss zugeben, dass in einer ersten Reaktion meine Antwort wäre: weder das eine noch das andere. Zweifellos war es gerade die Absicht des Gesetzgebers, einem Ausdruck wie „größere“ den Vorzug zu geben, der eine Wettbewerbsverzerrung voraussetzt, die wahrscheinlich mehr als geringfügig ist, ohne jedoch außergewöhnlich zu sein. Insofern erinnert die Antwort, die auf diese Frage gegeben werden könnte, an die Bemerkung von Bernard Shaw: „Es gibt keine schwierigere Frage als die, auf die die Antwort offensichtlich ist.“

29.      Die Gefahr nämlich, der man sich aussetzt, wenn man ein Wort an die Stelle eines anderen setzt, ist die, dass man sich für einen ebenso mehrdeutigen Ausdruck entscheidet. Meines Erachtens ist es sachdienlicher, zunächst die Auslegungsgrenzen bestimmter Begriffe zu erfassen, die sich eigentlich jeder Bestimmung widersetzen, die im Voraus im Wege allgemeiner und abstrakter Auslegung erfolgt. Sie erhalten ihre vollständige Bedeutung erst im Augenblick ihrer Konkretisierung, im Einzelfall und im Licht der Ziele der Rechtsvorschrift, zu der sie gehören. In diesem Sinne hat die Auslegung des Begriffs „größere“ im vorliegenden Zusammenhang das Ermessen in Rechnung zu stellen, das die Richtlinie den Mitgliedstaaten einräumt, damit diese bestimmen, was der Ausdruck in seinem Anwendungszusammenhang erfasst(13).

30.      Zudem kann die Auslegung eines solchen Begriffs sehr oft nur mit Hilfe einer negativen Definition erfolgen, die stärker hervorhebt, was der Begriff nicht ist, als das, was er ist. Wie oben dargelegt, sind die einzelnen Unterabsätze von Art. 4 Abs. 5 eng miteinander verknüpft, so dass die Auslegung eines Unterabsatzes nicht von der Auslegung absehen kann, die für jeden der genannten Unterabsätze gilt. Würde man daher davon ausgehen, dass schon die Ausübung hoheitlicher Befugnisse, durch die die Tätigkeit als die einer Stelle gekennzeichnet wird, die im Rahmen der öffentlichen Gewalt tätig wird, genügt, um das Vorliegen einer Verzerrung des Wettbewerbs vor allem mit den privaten Wirtschaftsteilnehmern auszuschließen, so würde der Bestimmung des Art. 4 Abs. 5 Unterabs. 2 der Sechsten Richtlinie die praktische Wirksamkeit genommen. Ebenso wenig kann davon ausgegangen werden, dass die Nichtanwendung der Mehrwertsteuer zugunsten der Einrichtung, die im Rahmen der öffentlichen Gewalt tätig wird, für sich allein eine Wettbewerbsverzerrung bedeutet, die die Unterwerfung unter die Mehrwertsteuer nach Art. 4 Abs. 5 Unterabs. 2 der Sechsten Richtlinie rechtfertigt. Nur eine größere Wettbewerbsverzerrung nämlich muss die Zahlung der Steuer durch die im Rahmen der öffentlichen Gewalt tätige Einrichtung auslösen, da andernfalls der Bestimmung des Art. 4 Abs. 5 Unterabs. 1 die praktische Wirksamkeit genommen würde. Bei jeder anderen Auslegung bestände die Gefahr, dass praktisch alle Leistungen und Tätigkeiten einer öffentlichen Stelle, die ihr im Rahmen der öffentlichen Gewalt obliegen, unter die Ausnahme von der Regel der Mehrwertsteuerbefreiung dieser Einrichtungen fallen.

31.      Der Ausdruck „größere“ bedeutet, dass die Wettbewerbsverzerrung, ohne geringfügig oder außergewöhnlich zu sein, ungewöhnlich ist. Jede andere Konkretisierung des Begriffs ist nur im Einzelfall und im Licht der Ziele der Richtlinie möglich, die im ersten Teil der Schlussanträge erläutert worden sind. Demnach ergibt sich insoweit, dass die Auslegung dieses Begriffs in das Ermessen der Mitgliedstaaten fällt, da der Begriff seine Bedeutung erst in seinem Anwendungszusammenhang erhalten kann, sofern die Auslegung die Ziele der Richtlinie, wie sie dargelegt worden sind, beachtet.

III – Ergebnis

32.      Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor, auf die zur Vorabentscheidung vorgelegten Fragen wie folgt zu antworten:

1.      Art. 4 Abs. 5 Unterabs. 2 der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage ist dahin auszulegen, dass die Mitgliedstaaten im Rahmen des Ermessens, das ihnen für die Umsetzung dieser Bestimmung zuerkannt ist, anhand der betreffenden Tätigkeiten zu entscheiden haben, ob die Gefahr einer Wettbewerbsverzerrung besteht, wenn die Einrichtungen des öffentlichen Rechts, die die Tätigkeiten im Rahmen der öffentlichen Gewalt ausüben, nicht der Mehrwertsteuer unterworfen sind.

2.      Der Ausdruck „führen würde“ ist dahin zu verstehen, dass er sowohl den wirksamen Wettbewerb als auch den potenziellen Wettbewerb erfasst, sofern dieser real ist.

3.      Der Ausdruck „größere“ bedeutet, dass die Wettbewerbsverzerrung, ohne geringfügig oder außergewöhnlich zu sein, ungewöhnlich ist. Die Auslegung dieses Begriffs fällt in das Ermessen der Mitgliedstaaten, da der Begriff seine Bedeutung erst in seinem Anwendungszusammenhang erhalten kann, sofern die Auslegung die Ziele der Richtlinie, wie sie dargelegt worden sind, beachtet.


1 – Originalsprache: Französisch.


2 – ABl. L 145, S. 1. Diese Richtlinie ist mehrfach geändert und schließlich durch die Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 (ABl. L 347, S. 1) aufgehoben worden. Die letztgenannte Richtlinie übernimmt in ihrem Art. 13 Abs. 1 Unterabs. 2 wörtlich die Bestimmungen des Art. 4 Abs. 5 Unterabs. 2 der Sechsten Richtlinie. Anhang D, der in Art. 4 Abs. 5 Unterabs. 3 genannt wird, ist nunmehr Anhang I der Richtlinie 2006/112.


3 – Im Folgenden: örtliche Behörden oder Beklagte des Ausgangsverfahrens.


4 – Urteil vom 14. Dezember 2000 (C-446/98, Slg. 2000, I-11435).


5 – Urteil Fazenda Pública (Randnrn. 16 und 17).


6 – Urteil vom 17. Oktober 1989, Comune di Carpaneto Piacentino u. a. („Carpaneto I“, 231/87 und 129/88, Slg. 1989, 3233, Randnr. 16), und Urteil Fazenda Pública (Randnr. 23).


7 – Urteil Carpaneto I (Randnr. 26), Hervorhebung nur hier.


8 – Vgl. in diesem Sinne auch die Auffassung, die Generalanwalt Mischo in den Nrn. 14 und 15 der Schlussanträge in der Rechtssache Comune di Carpaneto Piacentino u. a. („Carpaneto II“, Urteil vom 15. Mai 1990, C-4/89, Slg. 1990, I-1869) vertreten hat.


9 – Wegen der Bestätigung dieses den Mitgliedstaaten eingeräumten Ermessens vgl. insbesondere Urteile Carpaneto I (Randnr. 23), Carpaneto II (Randnr. 13) und Fazenda Pública (Randnrn. 31 und 32). Es ist auch darauf hinzuweisen, dass das Ermessen der Mitgliedstaaten im Rahmen des Unterabs. 2 von Art. 4 Abs. 5 der Sechsten Mehrwertsteuerrichtlinie daher weiter als das Ermessen bei der Umsetzung des Unterabs. 3 ist, in dessen Rahmen die Tätigkeiten, die grundsätzlich der Mehrwertsteuer zu unterwerfen sind, zuvor vom Gemeinschaftsgesetzgeber festgelegt werden.


10 – Urteil Carpaneto I (Randnr. 22). An das von diesem Unterabsatz verfolgte Ziel der Steuerneutralität ist in ständiger Rechtsprechung erinnert worden, vgl. unlängst Urteil vom 8. Juni 2006, Feuerbestattungsverein Halle (C-430/04, Slg. 2006, I-4999, Randnr. 24).


11 – Nr. 131 der Schlussanträge in der Rechtssache Hutchison 3G u. a. (Urteil vom 26. Juni 2007, C-369/04, Slg. 2007, I-5247).


12 – Hervorhebung nur hier.


13 – Für einen ähnlichen Gedankengang vgl. Urteil vom 27. Juni 2000, Océano Grupo Editorial und Salvat Editores (C-240/98 bis C-244/98, Slg. 2000, I-4941, Randnrn. 25 ff.).