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SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

JÁN MAZÁK

vom 26. Oktober 2010(1)

Rechtssache C-103/09

Commissioners for Her Majesty’s Revenue & Customs

gegen

Weald Leasing Limited

(Vorabentscheidungsersuchen des Court of Appeal [England and Wales])

„Mehrwertsteuer – Sechste Richtlinie 77/388/EWG des Rates – Begriff der missbräuchlichen Praxis, der normalen Geschäftstätigkeit und der normalen Handelsgeschäfte – Umsatz, mit dem einzig ein Steuervorteil bezweckt wird – Leasing- und Unterleasingumsätze mit dem Zweck, die Entrichtung der Mehrwertsteuer aufzuschieben – Neudefinition einer missbräuchlichen Praxis“





I –    Einführung

1.        Das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen betrifft u. a. die Auslegung des Begriffs der missbräuchlichen Praxis im Sinne des Urteils Halifax u. a.(2) sowie die Anwendung dieses Begriffs in den Urteilen Part Service(3) und Ampliscientifica und Amplifin(4). Die Vorlage ist im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen den Commissioners for Her Majesty’s Revenue and Customs (im Folgenden: Commissioners) und der Weald Leasing Limited (im Folgenden: Weald Leasing) über die Besteuerung der von Weald Leasing getätigten Leasingumsätze erfolgt.

II – Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

2.        Die Churchill-Unternehmensgruppe (im Folgenden: Churchill-Gruppe) erbringt vorwiegend von der Mehrwertsteuer befreite Versicherungsdienstleistungen.(5) Die Churchill Management Limited (im Folgenden: CML) sowie deren Tochtergesellschaften Churchill Accident Repair Centre (im Folgenden: CARC) und Weald Leasing(6) gehören zur Churchill-Gruppe. Die Vorsteuerabzugsquote von CML und CARC beträgt ungefähr 1 %, so dass sie beim Erwerb von Wirtschaftsgütern bzw. Ausrüstung lediglich 1 % der dabei entrichteten Mehrwertsteuer als Vorsteuer abziehen können.(7) Die alleinige geschäftliche Tätigkeit von Weald Leasing besteht im Erwerb von Wirtschaftsgütern bzw. Ausrüstungsgegenständen und deren anschließendem Verleasen an die Suas Limited (im Folgenden: Suas). Weald Leasing ist eigenständig zur Mehrwertsteuer registriert.

3.        Inhaber von Suas sind ein für die Churchill-Gruppe tätiger Mehrwertsteuerberater und dessen Ehefrau; die Gesellschaft gehört nicht zur Churchill-Gruppe und ist eigenständig für die Mehrwertsteuer registriert. Als einzige geschäftliche Tätigkeit von Bedeutung least Suas Wirtschaftsgüter von Weald Leasing und verleast diese wiederum an CML und CARC.

4.        Wann immer CML oder CARC neue Ausrüstung benötigte, kaufte Weald Leasing diese ein und verleaste sie sodann an Suas, die sie ihrerseits wiederum an CML oder CARC verleaste. Infolge dieser Umsatzstaffelung brauchten CML und CARC die benötigte Ausrüstung nicht unmittelbar zu erwerben und auch nicht den Gesamtbetrag der nicht abziehbaren Mehrwertsteuer auf diese Käufe in einem Zug zu entrichten. Die Umsätze bezweckten, die Entrichtung dieses Betrags der Höhe nach und zeitlich zu staffeln, um die Mehrwertsteuerschuld der Churchill-Gruppe aufzuschieben. CML und CARC schuldeten nicht unmittelbar die nicht abziehbare Mehrwertsteuer auf die Gesamtanschaffungskosten der Ausrüstung, sondern die Mehrwertsteuer auf die Mietbeträge für die Ausrüstung, die sich auf die Laufzeit der Leasingverträge erstreckten.

5.        Die Commissioners erließen Mehrwertsteuerbescheide, da sie den Vorsteuerabzug, den Weald Leasing für die verleasten Wirtschaftsgüter in den Zeiträumen Oktober 2000 bis Oktober 2004 geltend gemacht hatte, mit der Begründung nicht anerkannten, dass es sich bei den Umsätzen nicht um eine wirtschaftliche Tätigkeit gehandelt habe und dass die Umsätze einen Rechtsmissbrauch darstellten. Weald Leasing legte gegen die Bescheide Rechtsbehelf ein und trug vor, dass die Umsätze nicht ausschließlich einen Steuervorteil bezweckten und dass die Sechste Richtlinie steuerbaren Lieferungen oder Dienstleistungen im Wege des Leasings nicht entgegenstehe. Nach Erlass des Urteils Halifax(8) gaben die Commissioners ihr Argument, dass die fraglichen Leasingumsätze keine wirtschaftliche Tägigkeit darstellten, auf und machten in der Folgezeit nur noch geltend, die Umsätze stellten eine missbräuchliche Praxis dar.

6.        Mit Entscheidung vom 7. Februar 2007 stellte das VAT and Duties Tribunal fest, dass mit den Umsätzen im Wesentlichen ein Steuervorteil bezweckt werde. Damit sei die in Randnr. 75 des Urteils Halifax genannte zweite Voraussetzung für die Anwendung des Missbrauchsverbots erfüllt. Das Tribunal führte insbesondere aus, es halte „jede andere Begründung für die Umsätze als diejenige, dass die Churchill-Mehrwertsteuer-Unternehmensgruppe Steuervorteile erlangen sollte, nicht einmal ansatzweise für überzeugend“. Die Gewährung des Steuervorteils verstoße nicht gegen die einschlägigen Bestimmungen der Sechsten Richtlinie, so dass die in Randnr. 74 des Urteils Halifax genannte erste Voraussetzung nicht erfüllt sei. Die Sechste Richtlinie enthalte keine Anhaltspunkte dafür, dass es einem von der Mehrwertsteuer befreiten Unternehmer verwehrt sei, die Vorsteuerbelastungen durch Leasing aufzuschieben oder über einen längeren Zeitraum zu verteilen; dies gelte auch in Fällen wie dem vorliegenden, in dem Weald Leasing ein mit CML und CARC verbundenes Unternehmen sei. Ein Missbrauch könne nicht aufgrund der Leasingverträge als solcher angenommen werden, sondern lediglich aufgrund der Höhe der nach Maßgabe dieser Verträge zu entrichtenden Mietbeträge und aufgrund der Vorkehrungen zur Vermeidung einer Verfügung der Commissioners nach Schedule 6 des Value Added Tax Act 1994 (Mehrwertsteuergesetz von 1994, im Folgenden: VAT Act 1994).(9) 

7.        Gegen diese Entscheidung legten die Commissioners Rechtsbehelf bei der Chancery Division des High Court of Justice (England & Wales) ein. In jenem Verfahren ging es ausschließlich darum, ob der von der Churchill-Gruppe erlangte Steuervorteil dem mit der Sechsten Richtlinie verfolgten Ziel zuwiderläuft. Mit Urteil vom 16. Januar 2008 wies die Chancery Division des High Court of Justice (England & Wales) das von den Commissioners gegen die Entscheidung eingelegte Rechtsmittel mit der Begründung zurück, dass allein aus der Tatsache, dass die fraglichen Umsätze nicht im Rahmen normaler Handelsgeschäfte getätigt worden seien, noch nicht folge, dass es sich um eine missbräuchliche Praxis handele, da der von der Churchill-Gruppe durch die Gestaltung der Umsätze erlangte Steuervorteil weder gegen den Grundsatz der steuerlichen Neutralität noch gegen andere Bestimmungen der Sechsten Richtlinie verstoße.(10)

8.        Unter diesen Umständen hat der Court of Appeal (England & Wales) (Civil Division) das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

1.      Wenn unter Umständen wie denen des vorliegenden Falls ein von der Mehrwertsteuer größtenteils befreites Unternehmen eine Leasingvertragsgestaltung für Wirtschaftsgüter unter Einschaltung eines Dritten wählt, anstatt die Wirtschaftsgüter unmittelbar zu erwerben, führt dann diese Leasingvertragsgestaltung für Wirtschaftsgüter ganz oder teilweise zu einem Steuervorteil, der im Sinne des Urteils [Halifax] dem mit der Sechsten Richtlinie verfolgten Ziel zuwiderläuft?

2.      Stellt es unter Berücksichtigung der Tatsache, dass die Sechste Richtlinie das Vermieten von Wirtschaftsgütern durch von der Mehrwertsteuer ganz oder teilweise befreite Unternehmen vorsieht, unter Berücksichtigung der Bezugnahme des Gerichtshofs auf „normale Handelsgeschäfte“ im Urteil Halifax, Randnr. 69, und im Urteil [Ampliscientifica und Amplifin], Randnr. 27, sowie auf „normale Geschäftstätigkeit“ im Urteil Halifax, Randnr. 80, und unter Berücksichtigung des Fehlens einer solchen Bezugnahme im Urteil [Part Service] eine missbräuchliche Praxis dar, wenn ein von der Mehrwertsteuer ganz oder teilweise befreites Unternehmen so vorgeht, obwohl es im Rahmen seiner normalen Handelsgeschäfte keine Leasingumsätze tätigt?

3.      Falls Frage 2 zu bejahen ist:

a)      Welche Relevanz hat der Begriff „normale Handelsgeschäfte“ für die Randnrn. 74 und 75 des Urteils Halifax? Ist der Begriff für Randnr. 74 oder für Randnr. 75 oder für beide Randnummern relevant?

b)      Sind unter „normalen Handelsgeschäften“ zu verstehen:

(1)      Geschäfte, die der betreffende Steuerpflichtige typischerweise tätigt;

(2)      Geschäfte, die zwei oder mehr Beteiligte zu Marktbedingungen tätigen;

(3)      Geschäfte, die wirtschaftlich vertretbar sind;

(4)      Geschäfte, bei denen wirtschaftliche Belastungen und Risiken entstehen, die typischerweise mit den entsprechenden wirtschaftlichen Vorteilen verbunden sind;

(5)      Geschäfte, die insofern nicht künstlich sind, als sie wirtschaftlichen Wert haben, oder

(6)      irgendeine andere Art oder Kategorie von Geschäften?

4.      Wenn festgestellt wird, dass die Leasingvertragsgestaltung für Wirtschaftsgüter ganz oder teilweise eine missbräuchliche Praxis darstellt, wie ist diese Vertragsgestaltung dann angemessen neu zu definieren? Sollen das nationale Gericht oder die Steuererhebungsbehörde insbesondere

a)      die Existenz des zwischengeschalteten Dritten ignorieren und verfügen, dass Mehrwertsteuer auf den Normalwert der Leasingleistungen zu entrichten ist;

b)      die Leasingvertragsgestaltung als unmittelbaren Kauf neu definieren oder

c)      die Umsätze in irgendeiner anderen Weise neu definieren, die entweder das Gericht oder die Steuererhebungsbehörde für angemessen hält, um auf die Lage abzustellen, die ohne die die missbräuchliche Praxis darstellenden Umsätze bestanden hätte?

III – Verfahren vor dem Gerichtshof

9.        Weald Leasing, die griechische Regierung, Irland, die italienische Regierung, die Regierung des Vereinigten Königreichs sowie die Kommission haben schriftliche Erklärungen eingereicht. Mit Ausnahme der italienischen Regierung haben alle diese Verfahrensbeteiligten in der Sitzung vom 3. Juni 2010 mündliche Ausführungen gemacht.

IV – Vorbemerkungen

10.      Aus dem Urteil Halifax folgt, dass das grundsätzliche Rechtsmissbrauchsverbot, das der Gerichtshof in seiner Rechtsprechung entwickelt hat und dem zufolge eine Berufung auf das Unionsrecht zu missbräuchlichen oder betrügerischen Zwecken unzulässig ist, auch im Mehrwertsteuerrecht gilt. Die Ausdehnung des grundsätzlichen Rechtsmissbrauchsverbots auf das Gebiet der Mehrwertsteuer darf jedoch weder die Rechtssicherheit gefährden noch in das Recht eines Unternehmens eingreifen, seine Tätigkeit so zu gestalten bzw. Geschäfte so zu tätigen, dass weniger Mehrwertsteuer anfällt.(11)

11.      Da das Vorliegen eines Rechtsmissbrauchs im Bereich der Mehrwertsteuer geltend gemacht wird, obwohl das Unternehmen der Mehrwertsteuergesetzgebung der Form nach entsprochen hat, darf das grundsätzliche Rechtsmissbrauchsverbot meines Erachtens nur in Ausnahmefällen angewandt werden, in denen der Missbrauch offensichtlich ist, und darf Abhilfe nur zurückhaltend und nur in einem auf den konkreten Missbrauch beschränkten Maß geschaffen werden. Der Gerichtshof hat im Urteil Halifax ausgeführt, dass im Fall der Feststellung einer missbräuchlichen Praxis Sanktionen ohne klare und unzweideutige Rechtsgrundlage unzulässig sind.(12) Vielmehr sind Umsätze im Rahmen einer missbräuchlichen Praxis in der Weise neu zu definieren, dass auf die Lage abgestellt wird, die ohne die diese missbräuchliche Praxis darstellenden Umsätze bestanden hätte.(13)

12.      Im Urteil Halifax hat der Gerichtshof zwei Kriterien genannt, die erfüllt sein müssen, um eine missbräuchliche Praxis feststellen zu können. Zum einen ist erforderlich, dass die fraglichen Umsätze trotz formaler Anwendung der Bedingungen der einschlägigen Bestimmungen der Sechsten Richtlinie und des zu ihrer Umsetzung erlassenen nationalen Rechts einen Steuervorteil zum Ergebnis haben, dessen Gewährung dem mit diesen Bestimmungen verfolgten Ziel zuwiderliefe. Zum anderen muss auch aus einer Reihe objektiver Anhaltspunkte ersichtlich sein, dass mit den fraglichen Umsätzen im Wesentlichen ein Steuervorteil bezweckt wird.(14)

13.      Diese beiden Voraussetzungen gelten, wie die griechische Regierung vorgetragen hat, kumulativ. Für die Feststellung einer im Hinblick auf die Mehrwertsteuer missbräuchlichen Praxis genügt daher nicht allein der Nachweis, dass ein bestimmter Umsatz zu einem Steuervorteil führt, und nicht einmal der Nachweis, dass mit dem Umsatz im Wesentlichen ein Steuervorteil bezweckt wird bzw. dass es für den Umsatz keine andere Begründung oder Erklärung als die Erlangung eines Steuervorteils gibt. Andernfalls würde nämlich insbesondere das anerkannte Recht eines Unternehmens beeinträchtigt, seine Steuerschuld in Grenzen zu halten.(15) Vielmehr muss darüber hinaus festgestellt werden, dass der Umsatz zu einem Steuervorteil führt, der dem Ziel, das mit der Sechsten Richtlinie und mit dem zu ihrer Umsetzung erlassenen nationalen Recht verfolgt wird, zuwiderläuft.

14.      Aus dem Vorlagebeschluss ergibt sich, dass das zweite der im Urteil Halifax genannten beiden Kriterien im Ausgangsrechtsstreit erfüllt ist, da nach den Feststellungen des VAT and Duties Tribunal mit den betreffenden Leasing- und Unterleasingabsprachen im Wesentlichen ein Steuervorteil bezweckt wurde. Dem Vorlagebeschluss zufolge wirkten sich die Absprachen u. a. günstig auf den Cashflow von CARC und CML aus.

15.      Im Vorlagebeschluss heißt es außerdem, dass aus diesem Grund die nach Maßgabe der Leasingverträge zu zahlenden Mieten niedrig gehalten worden seien, denn je höher die Miete gewesen sei, desto höher sei die von CML und CARC zu entrichtende, für sie nicht abziehbare Vorsteuer gewesen. Des Weiteren geht aus dem Vorlagebeschluss hervor, dass gemäß dem Leasingvertrag zwischen Weald Leasing und Suas die Mietraten für die Wirtschaftsgüter so berechnet waren, dass Weald Leasing die Anschaffungskosten nach zehn Jahren – ungeachtet der erwarteten Lebensdauer des jeweiligen Wirtschaftsguts bzw. Ausrüstungsgegenstands – in voller Höhe wieder eingenommen hatte.

V –    Zur ersten und zur vierten Frage

16.      Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob die vorstehend dargestellten Absprachen ganz oder teilweise zu einem Steuervorteil führen, dessen Gewährung dem Ziel, das mit der Sechsten Richtlinie und mit dem zu ihrer Umsetzung erlassenen nationalen Recht verfolgt wird, zuwiderliefe.

17.      Weald Leasing macht geltend, dass für ein ganz oder teilweise von der Mehrwertsteuer befreites Unternehmen ein mehrwertsteuerlicher Vorteil des Leasings darin bestehe, die für das Unternehmen nicht abziehbare Vorsteuer auf die Laufzeit des Leasingvertrags verteilen zu können. Dieser Steuervorteil allein mache die Umsätze jedoch nicht missbräuchlich, da er lediglich die steuerliche Folge einer von dem Unternehmen getroffenen Wahl darstelle, die in der Sechsten Richtlinie ausdrücklich vorgesehen sei. Der Vorteil sei deshalb nicht missbräuchlich, weil er nicht rechtswidrig erlangt worden sei. Insbesondere hätten CML und CARC nicht versucht, einen höheren Vorsteuerabzug geltend zu machen, als ihnen zustehe. Weald Leasing habe zwar einen Cashflowvorteil erlangt, es sei aber weder zu einer tatsächlichen Steuerersparnis gekommen, noch sei eine solche bezweckt worden. Nach Ansicht von Weald Leasing unterscheidet sich der vorliegende Fall insoweit grundlegend von dem dem Urteil University of Huddersfield(16) zugrunde liegenden Sachverhalt, da das einzige Element der Leasingabsprachen, das möglicherweise als missbräuchlich angesehen werden könne, die Miethöhe sei. Es komme allenfalls ein Verstoß gegen Ziff. 1 des Schedule 6 des VAT Act 1994 in Betracht, bei der es sich jedoch um eine innerstaatliche Rechtsvorschrift handele, die nicht der Umsetzung der Sechsten Richtlinie diene. Die Vorschrift stelle lediglich eine Ausnahme von der grundsätzlichen Bewertungsregel des Art. 11 Teil A Abs. 1 der Sechsten Richtlinie dar, die das Vereinigte Königreich gemäß einer ihm aufgrund Art. 27 Abs. 1 dieser Richtlinie erteilten Abweichungsermächtigung erlassen habe. Derartige Abweichungen begründeten keine gemeinschaftsrechtlichen (und jetzt unionsrechtlichen) Rechte und Pflichten.(17) Daher komme das unionsrechtliche Missbrauchsverbot bei Verstößen gegen Ziff. 1 des Schedule 6, die ausschließlich nach innerstaatlichem Recht zu beurteilen seien, nicht zur Anwendung.

18.      Die Regierung des Vereinigten Königreichs ist der Auffassung, dass die fraglichen Absprachen trotz des formalen Anscheins von Leasinggeschäften nicht zu Marktbedingungen zustande gekommen seien und dass sie einen ausgeklügelten und künstlichen Versuch zur Verschleierung der zugrunde liegenden kommerziellen und wirtschaftlichen Realität darstellten, nämlich dass die Churchill-Gruppe mittels CML und CARC Wirtschaftsgüter zur Verwendung für ihre steuerbefreite Versicherungstätigkeit ausgewählt und erworben habe. Weald Leasing habe sich letztlich die Mehrwertsteuervorteile des Leasings verschaffen wollen, ohne die damit verbundenen wirtschaftlichen und kommerziellen Belastungen tragen zu müssen. Nach Ansicht der griechischen Regierung war Zweck und Wirkung der fraglichen Leasingregelung, den Erwerb von Wirtschaftsgütern durch CARC und CML anders besteuern zu lassen als einen entsprechenden Erwerb durch Mitbewerber, die vergleichbare Dienstleistungen erbrächten. Die Durchführung dieser Regelung verstoße gegen den Grundsatz der steuerlichen Gleichbehandlung und infolgedessen auch gegen den Grundsatz der steuerlichen Neutralität. Irland trägt vor, dass die Churchill-Gruppe zu 99 % steuerbefreite Dienstleistungen erbringe und dass – soweit die von ihr entrichtete Vorsteuer nicht abziehbar sei – die in der Sechsten Richtlinie vorgesehene Regelung dahin verstanden werden müsse, dass die Verpflichtung zur Entrichtung dieser Steuer unmittelbar bei Entstehung des Steueranspruchs eintrete, damit sie auf den Endverbraucher abgewälzt werden könne. Weald Leasing und Suas seien in erster Linie, wenn nicht gar ausschließlich, Instrumente zur Vermeidung dieser Folge und stellten als offensichtlich künstliche Gestaltungen einen Missbrauch dar. Nach Meinung Irlands sind sämtliche oder die meisten Leasingabsprachen bereits als solche willkürlich und daher missbräuchlich und nicht einfach nur die Höhe der Leasingraten. Die italienische Regierung macht geltend, dass eine Leasingvertragsgestaltung, die darauf abziele, einem Steuerpflichtigen, der überwiegend steuerbefreite Leistungen erbringe, den Abzug der gesamten Vorsteuer für die für seine Tätigkeit verwendeten Gegenstände oder Dienstleistungen zu ermöglichen, gegen den in der Sechsten Richtlinie verankerten Grundsatz der mehrwertsteuerlichen Neutralität verstoße.

19.      Nach Auffassung der Kommission führt das Leasen von Wirtschaftsgütern nicht zu einem dem Ziel der Mehrwertsteuervorschriften zuwiderlaufenden Steuervorteil. Für den Staat mache es wirtschaftlich keinen Unterschied, ob die Wirtschaftsgüter gekauft oder geleast würden. Der Steuerpflichtige möge zwar den Aufschub der auf ihn zukommenden steuerlichen Belastung als Cashflowvorteil empfinden, er zahle langfristig jedoch einen Preis für diesen Vorteil. Im Übrigen stelle die Einschaltung einer Auffangleasinggesellschaft an sich noch keinen Rechtsmissbrauch dar. Die eigentliche Missbrauchsgefahr liege in solchen Fällen darin, dass der Steuerpflichtige die Möglichkeit erhalte, die Höhe der Leasingraten zu manipulieren, um den zu entrichtenden Mehrwertsteuerbetrag zu senken. Die Zwischenschaltung von Suas habe offenbar einzig und allein bezweckt, die Steuerbehörden an der Nachprüfung und Kontrolle der Besteuerungsgrundlage zu hindern. Bei diesem Umsatz sei daher offenbar das erste der im Urteil Halifax genannten beiden Kriterien erfüllt. Ein Umsatz, mit dem die Verhinderung der wirksamen Durchsetzung der Mehrwertsteuerbestimmungen angestrebt werde, müsse einem Umsatz gleichgestellt werden, der einen den Zielen dieser Bestimmungen zuwiderlaufenden Vorteil bezwecke.

20.      Meines Erachtens kann – wie auch die Kommission in ihren Erklärungen ausführt – ein Unternehmen grundsätzlich frei wählen, ob es Wirtschaftsgüter bzw. Ausrüstungsgegenstände, die zur Verwendung im Rahmen seiner geschäftlichen Tätigkeit bestimmt sind, kaufen oder leasen(18) will. Auch die Entscheidung eines steuerbefreiten Unternehmens, die Wirtschaftsgüter bzw. Ausrüstungsgegenstände zu leasen anstatt unmittelbar zu kaufen, um eine günstigere Behandlung im Rahmen der Mehrwertsteuervorschriften durch Aufschub(19) seiner mehrwertsteuerlichen Belastung zu erreichen, begründet allein noch nicht die Feststellung, dass ein Missbrauch dieser Vorschriften vorliegt. Wenn ein Unternehmen sich für das Leasen von Ausrüstung entscheidet, entrichtet es Mehrwertsteuer auf die periodischen Leasingraten während der Laufzeit des Leasingvertrags anstelle einer einmaligen Zahlung der Mehrwertsteuer beim Kauf der Ausrüstung. Meines Erachtens läuft ein solcher Umsatz als solcher nicht dem Ziel zuwider, das mit der Sechsten Richtlinie und mit dem zu ihrer Umsetzung erlassenen nationalen Recht verfolgt wird. Meiner Meinung nach verstößt der Umsatz nicht unbedingt gegen den Grundsatz der steuerlichen Neutralität. Wie Weald Leasing und die Kommission ausgeführt haben, führt das Leasing anstelle des Kaufs von Ausrüstungsgegenständen allein noch nicht dazu, dass das Unternehmen einen geringeren Mehrwertsteuerbetrag entrichtet oder einen höheren Vorsteuerbetrag abzieht, als ihm zusteht. Wenn Ausrüstung geleast anstatt gekauft wird, mag sich dies zwar günstig auf den Cashflow des Unternehmens auswirken, eine Mehrwertsteuerersparnis ist damit jedoch nicht verbunden.

21.      Ich halte die Gründung und Einschaltung einer 100%igen „Auffangtochtergesellschaft“ – hier Weald Leasing –, die für die Zwecke der Mehrwertsteuer ein selbständiger bzw. unabhängiger Steuerpflichtiger ist(20) und mit der ausschließlich ein Mehrwertsteuervorteil in Form des Aufschubs der Mehrwertsteuerentrichtung bezweckt wird, nicht per se für missbräuchlich, da ein solcher Vorteil auch durch eine Leasingabsprache zu Marktbedingungen mit einem nicht verbundenen Dritten erlangt werden könnte.(21) Wenn daher ein von der Mehrwertsteuer größtenteils befreites Unternehmen, anstatt Wirtschaftsgüter unmittelbar zu erwerben, eine Leasingvertragsgestaltung für die Wirtschaftsgüter unter Einschaltung eines nichtverbundenen Dritten oder einer 100%igen Tochtergesellschaft wählt, der oder die eigenständig zur Mehrwertsteuer registriert ist, um die Entrichtung der nicht abziehbaren Steuer aufzuschieben, so führt dies allein noch nicht zu einem Steuervorteil, der dem mit der Sechsten Richtlinie verfolgten Ziel zuwiderläuft. Wenn die nach Maßgabe der Leasingabsprachen zu zahlenden Mieten jedoch künstlich niedrig festgesetzt werden und diese nicht den auf dem offenen Markt herrschenden Bedingungen entsprechen, so dass sich wiederum der zu entrichtende Mehrwertsteuerbetrag künstlich verringert, so läuft meines Erachtens dieser die Miethöhe betreffende Teil des Umsatzes und nicht der Leasingvertrag als solcher dem Ziel zuwider, das mit der Sechsten Richtlinie und mit dem zu ihrer Umsetzung erlassenen nationalen Recht verfolgt wird.

22.      Bezüglich der Suas betreffenden Absprachen heißt es im Vorlagebeschluss, die Zwischenschaltung dieser Gesellschaft in das Verhältnis zwischen Weald Leasing auf der einen und CARC und CML auf der anderen Seite habe zur Folge gehabt, dass die Commissioners keine Schedule-6-Verfügung (VAT Act 1994) erlassen konnten. Anscheinend – und vorbehaltlich einer entsprechenden Bestätigung durch das vorlegende Gericht – müssen die Commissioners, wenn sie eine Schedule-6-Verfügung erlassen wollen, der zufolge als Wert einer Lieferung oder Dienstleistung ihr Normalwert anzusetzen ist, u. a. nachweisen, dass der Lieferer oder Dienstleistende und der Abnehmer oder Dienstleistungsempfänger miteinander verbundene Personen sind(22) und dass die Lieferung oder Dienstleistung unter ihrem Normalwert erfolgt ist.

23.      Aus dem Vorlagebeschluss ergibt sich, dass Weald Leasing in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahren selbst vorgetragen hat, „[d]er eigentliche Steuervorteil der Beteiligten ergebe sich aus der Zwischenschaltung von Suas, da dadurch Schedule-6-Verfügungen verhindert würden“. In ihren Erklärungen vor dem Gerichtshof macht Weald Leasing geltend, dass das Missbrauchsverbot nur für gegen gemeinschaftsrechtliche Bestimmungen verstoßende Steuervorteile gelte, nicht jedoch für das Bestreben, innerstaatliches Recht zu umgehen.

24.      Meines Erachtens kann dem Vorbringen von Weald Leasing nicht gefolgt werden. Aus den dem Gerichtshof vorliegenden Unterlagen ergibt sich – vorbehaltlich einer Bestätigung durch das vorlegende Gericht –, dass Ziff. 1 des Schedule 6 des VAT Act 1994 als abweichende Maßnahme gemäß Art. 27 der Sechsten Richtlinie erlassen worden ist.(23) Nationale Rechtsvorschriften, die im Einklang mit den in Art. 27 der Sechsten Richtlinie vorgesehenen Abweichungsmöglichkeiten erlassen wurden, sind meiner Meinung nach Bestandteil des innerstaatlichen Mehrwertsteuersystems, binden einen Steuerpflichtigen nach Maßgabe des nationalen Rechts(24) und können ihm von den Steuerbehörden eines Mitgliedstaats vor den nationalen Gerichten entgegengehalten werden.(25) Bei der Anwendung des im Urteil Halifax formulierten Missbrauchsverbots durch die nationalen Gerichte ist eine Differenzierung nach nationalen Bestimmungen, mit denen die Bestimmungen der Sechsten Richtlinie umgesetzt werden, und nationalen Bestimmungen, die aufgrund einer nach dieser Richtlinie zugelassenen Abweichungsmöglichkeit erlassen werden, meiner Meinung nach gekünstelt und geeignet, das nationale Mehrwertsteuersystem und mittelbar auch das Mehrwertsteuersystem der Union auszuhöhlen.

25.      Ich bin daher der Meinung, dass das im Urteil Halifax(26) formulierte Missbrauchsverbot auch für den Missbrauch nationaler Bestimmungen gilt, die im Einklang mit Art. 27 der Sechsten Richtlinie erlassen wurden. Im Hinblick auf die – dem nationalen Gericht obliegende – Anwendung dieses Verbots im Ausgangsverfahren halte ich es für eine missbräuchliche Praxis, eine rein künstliche Vertragsgestaltung zu verwenden, mit der im Wesentlichen dadurch ein Steuervorteil bezweckt wird, dass die Steuerbehörden daran gehindert werden, nach Maßgabe von im Einklang mit der Sechsten Richtlinie erlassenen Bestimmungen des nationalen Rechts zu verfügen, dass als Wert der zwischen verbundenen Personen getroffenen Leasingabsprachen deren Normalwert anzusetzen ist.

26.      Mit seiner vierten Frage ersucht das vorlegende Gericht um Hinweise, wie die Absprachen neu zu definieren sind, falls festgestellt wird, dass die Leasingvertragsgestaltung für Wirtschaftsgüter ganz oder teilweise eine missbräuchliche Praxis darstellt.

27.      In Randnr. 94 des Urteils Halifax hat der Gerichtshof ausgeführt, dass Umsätze im Rahmen einer missbräuchlichen Praxis in der Weise neu zu definieren sind, dass auf die Lage abgestellt wird, die ohne die diese missbräuchliche Praxis darstellenden Umsätze bestanden hätte. Aus meinem Ergebnis zur ersten Frage bezüglich Existenz und Umfang eines Missbrauchs im dem Ausgangsverfahren zugrunde liegenden Sachverhalt folgt, dass – sofern das nationale Gericht feststellen sollte, dass die Einschaltung von Suas in die betreffenden Absprachen willkürlich herbeigeführt wurde, um im Wesentlichen eine Verfügung nach Ziff. 1 des Schedule 6 (VAT Act 1994) zu verhindern und dadurch einen Steuervorteil zu erlangen – den Steuerbehörden des Vereinigten Königreichs das Recht zuzubilligen ist – wie dies die Kommission in ihren Erklärungen ausgeführt hat –, die im Ausgangsverfahren fragliche Serie von Umsätzen als von Weald Leasing an CML und CARC bewirkte Leasingumsätze zu behandeln und dadurch sicherzustellen, dass Mehrwertsteuer auf den Normalwert(27) dieser Leasingleistungen entrichtet wird.

28.      Erfolgt daher eine rein künstliche Vertragsgestaltung bei Leasingabsprachen zu dem Zweck, die Steuerbehörden daran zu hindern, nach Maßgabe von Bestimmungen des nationalen Rechts, die im Einklang mit einer nach der Sechsten Richtlinie zugelassenen Abweichungsmöglichkeit erlassen wurden, zu verfügen, dass als Wert der zwischen verbundenen Personen getroffenen Leasingabsprachen deren Normalwert anzusetzen ist, sind diese Absprachen in der Weise neu zu definieren, dass die Vertragsgestaltung ignoriert wird.

VI – Zur zweiten und zur dritten Frage

29.      Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob es eine missbräuchliche Praxis darstellt, wenn ein ganz oder teilweise steuerbefreites Unternehmen sich an Leasinggeschäften über Wirtschaftsgüter beteiligt, obwohl es im Rahmen seiner „normalen Handelsgeschäfte“ keine Leasingumsätze tätigt. Mit seiner dritten Frage spricht das vorlegende Gericht verschiedene Möglichkeiten zur Auslegung und Anwendung des Begriffs „normale Handelsgeschäfte“ an.

30.      Der Begriff „normale Handelsgeschäfte“ bzw. „normale Geschäftstätigkeit“ wird im Urteil Halifax in zwei Randnummern verwendet. In Randnr. 69 des Urteils Halifax stellt der Gerichtshof den allgemeinen Grundsatz auf, dass Umsätze, die nicht im Rahmen normaler Handelsgeschäfte getätigt werden, als missbräuchlich gelten, wenn sie bezwecken, missbräuchlich in den Genuss von im Unionsrecht vorgesehenen Vorteilen zu kommen. In Randnr. 80 des genannten Urteils heißt es dann: „Würde aber Steuerpflichtigen der Abzug der gesamten Vorsteuer gestattet, während ihnen im Rahmen ihrer normalen Geschäftstätigkeit kein der Vorsteuerabzugsregelung der Sechsten Richtlinie oder dem zu ihrer Umsetzung erlassenen nationalen Recht entsprechender Umsatz den Vorsteuerabzug erlaubt hätte oder ihnen nur ein teilweiser Abzug möglich gewesen wäre, so liefe dies dem Grundsatz der steuerlichen Neutralität und damit dem Ziel der genannten Regelung zuwider.“ Sodann führt der Gerichtshof in Randnr. 81 des Urteils Halifax aus: „Zum zweiten Kriterium, nach dem mit den fraglichen Umsätzen im Wesentlichen ein Steuervorteil bezweckt werden muss, ist darauf hinzuweisen, dass es Sache des nationalen Gerichts ist, den tatsächlichen Inhalt und die wirkliche Bedeutung der fraglichen Umsätze festzustellen. Dabei kann es den rein willkürlichen Charakter dieser Umsätze sowie die rechtlichen, wirtschaftlichen und/oder personellen Verbindungen zwischen den Wirtschaftsteilnehmern berücksichtigen, die in den Steuersparplan einbezogen sind.“

31.      Im Urteil Part Service(28) fehlt jedoch ein Hinweis auf „normale Handelsgeschäfte“ bzw. „normale Geschäftstätigkeit“, obwohl der Gerichtshof die in den Randnrn. 74 und 75 des Urteils Halifax(29) formulierten beiden Kriterien anwendet. Im Urteil Ampliscientifica und Amplifin(30) erklärt der Gerichtshof in den Randnrn. 27 und 28, dass „das Rechtsmissbrauchsverbot … insbesondere im Bereich der Mehrwertsteuer darauf abzielt, dass die Anwendung des [Unions]rechts nicht so weit gehen kann, dass missbräuchliche Praktiken von Wirtschaftsteilnehmern gedeckt werden, d. h. diejenigen Umsätze, die nicht im Rahmen normaler Handelsgeschäfte, sondern nur zu dem Zweck getätigt werden, missbräuchlich in den Genuss von im [Unions]recht vorgesehenen Vorteilen zu gelangen … Nach diesem Grundsatz sind somit rein künstliche, jeder wirtschaftlichen Realität bare Gestaltungen verboten, die allein zu dem Zweck erfolgen, einen Steuervorteil zu erhalten.“

32.      Meines Erachtens erfordert der Begriff „normale Handelsgeschäfte“ bzw. „normale Geschäftstätigkeit“ keine Untersuchung der „typischen“ geschäftlichen Tätigkeit eines bestimmten Unternehmens.(31) Der Begriff „normale Handelsgeschäfte“ bzw. „normale Geschäftstätigkeit“ im Zusammenhang mit einem Missbrauch im Bereich der Mehrwertsteuer bezieht sich daher nicht auf die Geschäfte, die ein Steuerpflichtiger für gewöhnlich tätigt. Der Versuch, die typische oder gewöhnliche Geschäftstätigkeit eines bestimmten Unternehmens herauszukristallisieren, ist meiner Meinung nach ein naturgemäß ungewisses Unterfangen(32) und daher im Kontext des Steuerrechts, bei dem es auf Rechtssicherheit ankommt, untauglich.

33.      Die Beurteilung, ob ein Umsatz im Rahmen „normaler Handelsgeschäfte“ bzw. „normaler Geschäftstätigkeit“ bewirkt worden ist, betrifft meines Erachtens das zweite(33) der beiden im Urteil Halifax genannten Kriterien und damit den Charakter der fraglichen Umsätze oder Pläne sowie die Frage, ob es sich um eine rein künstliche Gestaltung handelt, die im Wesentlichen zur Erlangung eines Steuervorteils und nicht aus anderen wirtschaftlichen Gründen geschaffen wurde.(34) Insoweit sind die rechtlichen, wirtschaftlichen und/oder personellen Verbindungen zwischen den Wirtschaftsteilnehmern relevant, die in den Steuersparplan einbezogen sind(35), und somit die Frage, ob die an dem Umsatz Beteiligten zu Marktbedingungen tätig werden.(36) Zudem ist die Frage, ob ein Umsatz zu den typischerweise damit verbundenen wirtschaftlichen Belastungen und Risiken führt, für die Beurteilung des willkürlichen Charakters des Umsatzes und also für die Beurteilung relevant, ob mit dem Umsatz im Wesentlichen ein Steuervorteil bezweckt wird. Ich möchte außerdem darauf hinweisen, dass bei dieser Beurteilung nicht auf die subjektiven Beweggründe des Steuerpflichtigen, sondern auf den objektiven Charakter des Umsatzes(37) abzustellen ist.

VII – Ergebnis

34.      Vor dem Hintergrund der vorstehenden Ausführungen schlage ich dem Gerichtshof vor, wie folgt auf die Fragen des Court of Appeal (England and Wales) zu antworten:

1.      Wenn ein von der Mehrwertsteuer größtenteils befreites Unternehmen, anstatt Wirtschaftsgüter unmittelbar zu erwerben, eine Leasingvertragsgestaltung für die Wirtschaftsgüter unter Einschaltung eines nichtverbundenen Dritten oder einer 100%igen Tochtergesellschaft wählt, der oder die eigenständig für die Mehrwertsteuer registriert ist, um die Entrichtung der nicht abziehbaren Steuer aufzuschieben, so führt dies allein noch nicht zu einem Steuervorteil, der dem mit der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage verfolgten Ziel zuwiderläuft.

2.      Die Verwendung einer rein künstlichen Vertragsgestaltung, mit der im Wesentlichen dadurch ein Steuervorteil bezweckt wird, dass die Steuerbehörden daran gehindert werden, nach Maßgabe von im Einklang mit der Sechsten Richtlinie 77/388 erlassenen Bestimmungen des nationalen Rechts zu verfügen, dass als Wert der zwischen verbundenen Personen getroffenen Leasingabsprachen deren Normalwert anzusetzen ist, stellt eine missbräuchliche Praxis dar.

3.      Wird eine missbräuchliche Praxis festgestellt, sind die in deren Rahmen getätigten Umsätze in der Weise neu zu definieren, dass auf die Lage abgestellt wird, die ohne die diese missbräuchliche Praxis darstellenden Umsätze bestanden hätte. Erfolgt eine rein künstliche Vertragsgestaltung bei Leasingabsprachen im Wesentlichen zu dem Zweck, die Steuerbehörden an einer Verfügung zu hindern, wonach als Wert der zwischen verbundenen Personen getroffenen Absprachen deren Normalwert anzusetzen ist, sind diese Absprachen in der Weise neu zu definieren, dass diese Vertragsgestaltung ignoriert wird.

4.      Der Begriff „normale Handelsgeschäfte“ bzw. „normale Geschäftstätigkeit“ bezieht sich im Zusammenhang mit einem Missbrauch im Bereich der Mehrwertsteuer nicht auf die Geschäfte, die ein Steuerpflichtiger typischerweise oder für gewöhnlich tätigt. Die Beurteilung, ob ein Umsatz im Rahmen „normaler Handelsgeschäfte“ bzw. „normaler Geschäftstätigkeit“ bewirkt worden ist, betrifft die Frage nach dem Charakter der fraglichen Umsätze oder Pläne sowie die Frage, ob es sich um eine rein künstliche Gestaltung handelt, die im Wesentlichen zur Erlangung eines Steuervorteils und nicht aus anderen wirtschaftlichen Gründen geschaffen wurde. Für die Beurteilung des Charakters des Umsatzes relevant sind die rechtlichen, wirtschaftlichen und/oder personellen Verbindungen zwischen den Wirtschaftsteilnehmern, die in den Steuersparplan einbezogen sind, und somit die Frage, ob die an dem Umsatz Beteiligten zu Marktbedingungen tätig werden, sowie die Frage, ob ein Umsatz zu den typischerweise damit verbundenen wirtschaftlichen Belastungen und Risiken führt.


1 – Originalsprache: Englisch.


2 – Urteil vom 21. Februar 2006 (C-255/02, Slg. 2006, I-1609, im Folgenden: Urteil Halifax).


3 – Urteil vom 21. Februar 2008 (C-425/06, Slg. 2008, I-897).


4 – Urteil vom 22. Mai 2008 (C-162/07, Slg. 2008, I-4019).


5 – Vgl. Art. 13 Teil B der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage (ABl. L 145, S. 1, im Folgenden: Sechste Richtlinie), der u. a. vorsieht, dass die Mitgliedstaaten Versicherungsumsätze befreien. Vgl. jetzt Art. 135 Abs. 1 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. L 347, S. 1, im Folgenden: Mehrwertsteuerrichtlinie).


6 – Weald Leasing ist eine 100%ige Tochtergesellschaft von CML und eigenständig zur Mehrwertsteuer registriert.


7 – Vgl. Art. 17 Abs. 2 und 5 der Sechsten Richtlinie, jetzt die Art. 168 und 173 der Mehrwertsteuerrichtlinie.


8 – Oben in Fn. 2 angeführt.


9 – Ziff. 1(1) Schedule 6 des VAT Act 1994 bestimmt:


„1(1) Wenn


a) der Wert einer Lieferung oder Dienstleistung, die ein Steuerpflichtiger gegen Entgelt bewirkt, (ohne das Eingreifen der vorliegenden Bestimmung) niedriger als der Normalwert der Lieferung oder Leistung ist und


b) der Lieferer oder Dienstleistende und der Abnehmer oder Dienstleistungsempfänger miteinander verbundene Personen sind und


c) – soweit es sich bei dem Umsatz um einen steuerbaren Umsatz handelt – der Abnehmer oder Dienstleistungsempfänger nicht gemäß den Sections 25 und 26 zur Anrechnung der gesamten Mehrwertsteuer auf die Lieferung oder Dienstleistung berechtigt ist,


können die Commissioners verfügen, dass als Wert der Lieferung oder Dienstleistung ihr Normalwert anzusetzen ist.“


10 – Der High Court folgte dem Vorbringen der Commissioners, dass CML, CARC, Weald Leasing und Suas nicht die normalerweise mit einem Leasing von Wirtschaftsgütern verbundenen typischen wirtschaftlichen und unternehmerischen Risiken trügen. Die Leasingabsprachen seien „kommerziell hohl“, da sie vollkommen anders ausgestaltet seien, als dies von Beteiligten zu erwarten wäre, die zu Marktbedingungen miteinander verkehrten und die sich so verhalten wollten, als erfolgten die Umsätze im Rahmen normaler Handelsgeschäfte. Der High Court ging ferner davon aus, dass es sich bei den Leasingabsprachen zwar nicht um Scheingeschäfte handele, dass die Umsätze aber – obwohl mit ihnen der Eindruck üblicher Geschäftsabsprachen erweckt werden sollte – insofern künstlich seien, als sie ohne ihren wesentlichen Zweck, einen Steuervorteil zu erlangen, in einem geschäftlichen Rahmen niemals bewirkt worden wären. Die Umsätze seien daher nicht im Rahmen normaler Handelsgeschäfte getätigt worden. Nach Hinweis auf die Randnrn. 69 bis 80 des Urteils Halifax (oben in Fn. 2 angeführt) kam der Richter jedoch zu dem Ergebnis, dass allein aus der Tatsache, dass die Umsätze nicht im Rahmen normaler Handelsgeschäfte getätigt worden seien, noch nicht folge, dass es sich um eine missbräuchliche Praxis handele. Der Gerichtshof habe nämlich bei der Darstellung der ersten Voraussetzung für das Missbrauchsverbot weder in Randnr. 74 noch in Randnr. 86 seines Urteils den Begriff „normale Handelsgeschäfte“ bzw. „normale Geschäftstätigkeit“ verwendet. Nach Ansicht des Richters hätte der Gerichtshof, wenn er der Wendung „normale Handelsgeschäfte“ in Randnr. 69 bzw. „normale Geschäftstätigkeit“ in Randnr. 80 seines Urteils Bedeutung hätte beimessen wollen, diese Begriffe näher erläutert. [AdÜ: In der Fassung des Urteils Halifax in der Verfahrenssprache (Englisch) wird in den Randnrn. 69 und 80 jeweils derselbe Begriff – „normal commercial operations“ – verwendet.)


11 – Ebd., Randnrn. 69 bis 73.


12 – Ebd., Randnr. 93.


13 – Ebd., Randnr. 94.


14 – Ebd., Randnrn. 74 f.


15 – Ebd., Randnr. 73.


16 – Urteil vom 21. Februar 2006 (C-223/03, Slg. 2006, I-1751).


17 – Urteil vom 10. April 2008, Marks & Spencer (C-309/06, Slg. 2008, I-2283, Randnr. 28).


18 – Das Verleasen von Ausrüstung ist nach Art. 6 Abs. 1 der Sechsten Richtlinie und Art. 24 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie grundsätzlich eine Dienstleistung.


19 – Ich möchte darauf hinweisen, dass Irland im Gegensatz hierzu in seinen schriftlichen Erklärungen die Auffassung vertritt, der Grundsatz der steuerlichen Neutralität verlange, einer Person, die im Zeitpunkt der Entstehung des Steueranspruchs nicht zum Abzug der Steuer berechtigt sei, die Last der Nichtabziehbarkeit aufzubürden, indem sie zur Entrichtung der Steuer zu diesem Zeitpunkt verpflichtet werde.


20 – Nach Art. 4 der Sechsten Richtlinie gilt als Steuerpflichtiger, wer eine wirtschaftliche Tätigkeit selbständig und unabhängig von ihrem Ort ausübt, gleichgültig zu welchem Zweck und mit welchem Ergebnis.


21 – Vgl. entsprechend Urteil vom 27. Januar 2000, Heerma (C-23/98, Slg. 2000, I-419). In jener Rechtssache hat der Gerichtshof entschieden, dass ein Gesellschafter, der einen unbeweglichen Gegenstand an eine Gesellschaft vermiete, die die Eigenschaft eines Steuerpflichtigen besitze und an der er beteiligt sei, diese Tätigkeit selbständig im Sinne von Art. 4 Abs. 1 der Sechsten Richtlinie ausübe. Nach den Ausführungen des Gerichtshofs besteht nämlich zwischen der Gesellschaft und dem Gesellschafter kein Verhältnis der Unterordnung, das dem in Art. 4 Abs. 4 Unterabs. 1 der Sechsten Richtlinie genannten entspräche und das die Selbständigkeit aufseiten des Gesellschafters entfallen ließe. Dieser handele bei der Vermietung eines körperlichen Gegenstands an die Gesellschaft selbst dann im eigenen Namen, auf eigene Rechnung und auf eigenes Risiko, wenn er zugleich Geschäftsführer der mietenden Gesellschaft sei. Meines Erachtens folgt daraus, dass das bloße Bestehen einer engen Beziehung zwischen zwei eigenständigen Steuerpflichtigen den Steuerbehörden nicht gestattet, diese Steuerpflichtigen als ein und denselben Steuerpflichtigen zu behandeln. Vgl. demgegenüber Urteil vom 18. Oktober 2007, van der Steen (C-355/06, Slg. 2007, I-8863). In jener Rechtssache hat der Gerichtshof das Bestehen eines Verhältnisses der Unterordnung zwischen einer Gesellschaft und einem Geschäftsführer dieser Gesellschaft angenommen. Erstens habe die Gesellschaft dem Geschäftsführer ein festes Monatsgehalt und einmal jährlich ein Urlaubsgeld gezahlt. Von seinem Gehalt habe die Gesellschaft Lohnsteuer und Sozialversicherungsbeiträge einbehalten. Zweitens habe der Geschäftsführer nicht im eigenen Namen, für eigene Rechnung und auf eigene Verantwortung gehandelt, wenn er Dienstleistungen als Arbeitnehmer erbracht habe, sondern für Rechnung und Verantwortung der Gesellschaft. Drittens habe er für sein Auftreten als Geschäftsführer der Gesellschaft und für seine Tätigkeit im Rahmen der Geschäfte der Gesellschaft gegenüber Dritten kein wirtschaftliches Risiko getragen.


22 – Ausweislich der Gerichtsakten hätten, wenn im Rahmen der Leasingabsprachen Suas – die nicht zur Churchill-Gruppe gehört und formal weder mit Weald Leasing noch mit CARC oder mit CML verbunden ist – nicht eingeschaltet worden wäre, die nationalen Steuerbehörden verfügen können, dass als Wert der fraglichen Leistungen ihr Normalwert anzusetzen ist.


23 – Nach Art. 27 Abs. 1 der Sechsten Richtlinie „[kann d]er Rat … auf Vorschlag der Kommission einstimmig jeden Mitgliedstaat ermächtigen, von dieser Richtlinie abweichende Sondermaßnahmen einzuführen, um die Steuererhebung zu vereinfachen oder Steuerhinterziehungen oder -umgehungen zu verhindern“. Das Verfahren für eine solche Ermächtigung ist in Art. 27 Abs. 2 bis 4 der Sechsten Richtlinie geregelt. Art. 27 Abs. 5 sieht vor, dass „[d]ie Mitgliedstaaten, die am 1. Januar 1977 Sondermaßnahmen von der Art der in Absatz 1 genannten angewandt haben, … sie aufrechterhalten [können], sofern sie diese der Kommission vor dem 1. Januar 1978 mitteilen und unter der Bedingung, dass diese Sondermaßnahmen – sofern es sich um Maßnahmen zur Erleichterung der Steuererhebung handelt – dem in Absatz 1 festgelegten Kriterium entsprechen“.


24 – Vgl. entsprechend Urteil Marks & Spencer, oben in Fn. 17 angeführt, Randnrn. 20 bis 28. Meiner Meinung nach besagt dieses Urteil, dass ein Steuerpflichtiger keinen unmittelbar durchsetzbaren unionsrechtlichen Anspruch bezüglich Ausnahmen oder abweichenden Regelungen herleiten kann, die ein Mitgliedstaat im Einklang mit der Sechsten Richtlinie geschaffen hat. Vgl. jedoch die Schlussanträge von Generalanwältin Kokott in jener Rechtssache, Nr. 43, in der sie praktisch erklärt, dass der Steuerpflichtige einen Anspruch sowohl aus dem nationalen Recht als auch aus dem Unionsrecht herleiten könne.


25 – Vgl. entsprechend Urteil vom 13. Februar 1985, Direct Cosmetics (5/84, Slg. 1985, 617, Randnr. 37).


26 – Oben in Fn. 2 angeführt.


27 – Urteil Halifax, oben in Fn. 2 angeführt. Bei der Beurteilung des Normalwerts von Leasingabsprachen muss zwangsläufig die Dauer der Absprachen bezogen auf das Wesen der fraglichen Wirtschaftsgüter bzw. Ausrüstungsgegenstände berücksichtigt werden.


28 – Oben in Fn. 3 angeführt.


29 – Oben in Fn. 2 angeführt.


30 – Oben in Fn. 4 angeführt.


31 – Auch wenn sich in Randnr. 80 des in Fn. 2 angeführten Urteils Halifax der Zusatz „ihrer normalen Geschäftstätigkeit“ (Hervorhebung nur hier) findet.


32 – Nicht zuletzt deshalb, weil sich die Tätigkeit des Unternehmens im Laufe der Zeit ändern oder weiterentwickeln kann.


33 – Vgl. daher Randnr. 75 des in Fn. 2 angeführten Urteils Halifax.


34 – Das vorlegende Gericht verwendet in Frage 3 Buchst. b Nr. 3 den Begriff „wirtschaftlich vertretbar“. Da diese Wendung dahin ausgelegt werden könnte, dass damit rentable Umsätze gemeint sind, möchte ich sie hier nicht gebrauchen.


35 – Vgl. Urteil Halifax, oben in Fn. 2 angeführt, Randnr. 81.


36 – Meines Erachtens hat das vorlegende Gericht alle geltenden Vertragsbedingungen und die relevanten Umstände zu prüfen und abzuwägen.


37 – Vgl. Randnr. 75 des in Fn. 2 angeführten Urteils Halifax.