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SCHLUSSANTRÄGE DER GENERALANWÄLTIN

ELEANOR SHARPSTON

vom 29. Juli 20101(1)

Rechtssache C-156/09

Finanzamt Leverkusen

gegen

Verigen Transplantation Service International AG

(Vorabentscheidungsersuchen des Bundesfinanzhofs [Deutschland])

„Mehrwertsteuer – Ort einer Dienstleistung – Befreiung – Herauslösung, Vermehrung und Reimplantation von Knorpelzellen“





1.        Das Ausgangsverfahren in dieser Sache betrifft die mehrwertsteuerliche Behandlung eines Verfahrens zur Züchtung von menschlichem Gewebe („Tissue-Engineering“), mit dem Zellen aus dem einem Patienten entnommenen Gelenkknorpelmaterial herausgelöst, in einem Labor vermehrt und (teilweise durch Einbringung in eine Kollagen-Membran) präpariert werden, um wieder in den Körper des Patienten implantiert zu werden.

2.        Der Bundesfinanzhof (Deutschland) möchte wissen, ob die Laborleistungen „Arbeiten an beweglichen körperlichen Gegenständen“ im Sinne der unionsrechtlichen Mehrwertsteuervorschriften sind (in diesem Fall hätte dies Bedeutung für die Frage, an welchem Ort sie als erbracht gelten, wenn Kunde und Anbieter in verschiedenen Mitgliedstaaten ansässig sind) oder ob sie als eine „Heilbehandlung im Bereich der Humanmedizin“ einzustufen sind (in diesem Fall wären sie von der Mehrwertsteuer befreit).

 Einschlägige Mehrwertsteuervorschriften der Union

3.        Da das Ausgangsverfahren im Jahre 2002 erbrachte Dienstleistungen betrifft, ist die auf diesen Fall anwendbare Regelung der Union die Sechste Richtlinie.(2)

4.        Nach Art. 9 Abs. 1 dieser Richtlinie gilt als Ort einer Dienstleistung im Wesentlichen der Ort, an dem der Dienstleistende den Sitz seiner wirtschaftlichen Tätigkeit, eine feste Niederlassung, seinen Wohnort oder seinen üblichen Aufenthaltsort hat.(3)

5.        Art. 9 Abs. 2 Buchst. c sieht jedoch vor, dass als Ort der Dienstleistung u. a. im Zusammenhang mit „Arbeiten an beweglichen körperlichen Gegenständen“ „der Ort“ gilt, „an dem diese Dienstleistungen tatsächlich bewirkt werden“.(4)

6.        Art. 28b Teil F der Richtlinie lautet wie folgt:

„Bei Begutachtungen von oder Arbeiten an beweglichen körperlichen Gegenständen, die an Empfänger erbracht werden, die eine Umsatzsteuer-Identifikationsnummer in einem anderen Mitgliedstaat als dem haben, in dem diese Dienstleistungen tatsächlich erbracht werden, gilt abweichend von Artikel 9 Absatz 2 Buchstabe c der Ort der Dienstleistungen als im Gebiet des Mitgliedstaats gelegen, der dem Empfänger der Dienstleistung die Umsatzsteuer-Identifikationsnummer erteilt hat, unter der ihm die Dienstleistung erbracht wurde.

Diese Abweichung ist nicht anzuwenden, wenn ein Versand oder eine Beförderung der Gegenstände aus dem Mitgliedstaat, in dem die Dienstleistungen tatsächlich erbracht wurden, nicht erfolgt.“(5)

7.        Art. 13 Teil A Abs. 1 der Sechsten Richtlinie enthält einen Katalog von Mehrwertsteuerbefreiungen „bestimmter dem Gemeinwohl dienender Tätigkeiten“. Er sieht insbesondere Folgendes vor:

„(1)  Unbeschadet sonstiger Gemeinschaftsvorschriften befreien die Mitgliedstaaten unter den Bedingungen, die sie zur Gewährleistung einer korrekten und einfachen Anwendung der nachstehenden Befreiungen sowie zur Verhütung von Steuerhinterziehungen, Steuerumgehungen und etwaigen Missbräuchen festsetzen, von der Steuer:

b)      die Krankenhausbehandlung und die ärztliche Heilbehandlung sowie die mit ihnen eng verbundenen Umsätze, die von Einrichtungen des öffentlichen Rechts oder unter Bedingungen, welche mit den Bedingungen für diese Einrichtungen in sozialer Hinsicht vergleichbar sind, von Krankenanstalten, Zentren für ärztliche Heilbehandlung und Diagnostik und anderen ordnungsgemäß anerkannten Einrichtungen gleicher Art durchgeführt beziehungsweise bewirkt werden;

c)      die Heilbehandlungen im Bereich der Humanmedizin, die im Rahmen der Ausübung der von dem betreffenden Mitgliedstaat definierten ärztlichen und arztähnlichen Berufe erbracht werden;

…“(6)

 Sachverhalt, Verfahren und Vorlagefragen

8.        Nach den Ausführungen des Bundesfinanzhofs ist die Verigen Transplantation Service International AG (im Folgenden: Verigen) ein in Deutschland ansässiges Biotechnologie-Unternehmen, das im Bereich der Gewebezüchtung („Tissue-Engineering“) tätig ist. Sie erforscht, entwickelt, produziert und vermarktet Technologien zur Diagnose und Behandlung von Erkrankungen menschlichen Gewebes, insbesondere Erkrankungen des Knorpels. Streitig sind die Umsätze von Verigen aus der Vermehrung autologer Chondrozyten (körpereigener Gelenkknorpelzellen des Patienten) in den Fällen, in denen die Leistungsempfänger (Ärzte oder Kliniken) in anderen Mitgliedstaaten ansässig sind und Verigen in den Rechnungen ihre Umsatzsteuer-Identifikationsnummer angegeben hat.

9.        Der behandelnde Arzt oder die behandelnde Klinik übersendet Verigen Knorpelmaterial („Biopsat“), das dem Patienten entnommen wurde. Verigen bearbeitet das Gewebe so, dass die Gelenkknorpelzellen (Chondrozyten) herauslösbar sind. Die Gelenkknorpelzellen werden nach Aufbereitung in ihrem eigenen Blutserum in einem Brutschrank – in der Regel innerhalb von drei bis vier Wochen – durch Züchtung vermehrt. Teilweise werden die gezüchteten Zellen im Labor in eine Kollagen-Membran eingebracht, so dass ein „Knorpelpflaster“ entsteht. Die gezüchteten Zellen werden jedenfalls dem behandelnden Arzt oder der Klinik übersandt, um wieder implantiert zu werden.

10.      Verigen behandelte diese Dienstleistungen, die Leistungsempfängern in anderen Mitgliedstaaten erbracht wurden, als nicht mehrwertsteuerpflichtig. Das Finanzamt hielt sie jedoch für steuerbar und steuerpflichtig und setzte die Steuer für das Streitjahr fest.

11.      Verigen vertrat im Rahmen des anschließenden Rechtsstreits die Auffassung, die Vermehrung der Knorpelzellen sei keine Heilbehandlung im Bereich der Humanmedizin. Vielmehr handele es sich um „routinemäßige Laborleistungen“, die von biotechnischen oder medizinisch-technischen Assistenten ausgeführt würden. Die notwendigen Qualitätskontrollen würden von einem Pharmazeuten und einem externen Apotheker vorgenommen.

12.      Das Finanzgericht gab der Klage von Verigen in erster Instanz statt. Die Zellvermehrungen seien eine sonstige Leistung, die als „Arbeiten an beweglichen körperlichen Gegenständen“ zu beurteilen sei. Auch zur Transplantation entnommene Organe seien mit der Trennung vom Körper bewegliche Sachen. Ob der abgetrennte Körperteil später für eine Eigen- oder Fremdtransplantation verwendet werde, könne für die Subsumtion unter den Begriff „bewegliche körperliche Gegenstände“ keinen Unterschied machen. Ausweislich der Rechnungen von Verigen hätten die in den anderen Mitgliedstaaten ansässigen Leistungsempfänger die ihnen in ihren Heimatstaaten erteilten Umsatzsteuer-Identifikationsnummern verwendet. Die Umsätze seien daher in Deutschland nicht steuerbar.

13.      Das Finanzamt macht mit seiner Revision geltend, durch die kurzzeitige Trennung vom Körper würden die Zellen nicht zu beweglichen Gegenständen und es handle sich bei den Zellvermehrungen nicht um „Arbeiten“. Es liege auch keine „Verwendung“ der in dem anderen Mitgliedstaat erteilten Umsatzsteuer-Identifikationsnummer vor – dafür wäre eine ausdrückliche Vereinbarung vor der Ausführung der Leistung erforderlich gewesen.

14.      Nach Ansicht des vorlegenden Gerichts handelt es sich bei der Übergabe der vermehrten Knorpelzellen an den behandelnden Arzt oder die Klinik nicht um eine Lieferung von Gegenständen, vielmehr sei die Zellvermehrung eine Dienstleistung, da Verigen nicht frei wie ein Eigentümer über das Knorpelmaterial verfügen könne, sondern verpflichtet sei, die Zellen nach der Vermehrung zurückzuschicken. Die Zellvermehrung sei in Deutschland nicht steuerbar, wenn diese Dienstleistung in einem anderen Mitgliedstaat erbracht werde. Das sei jedoch nur dann der Fall, wenn Art. 28b Teil F der Sechsten Richtlinie dahin auszulegen sei, dass er die Dienstleistungen von Verigen erfasse. Falls dies nicht die korrekte Auslegung von Art. 28b Teil F sei, müsse der Umsatz in Deutschland steuerbar sein, wenn er nicht als Heilbehandlung im Bereich der Humanmedizin im Sinne des Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. c angesehen werden könne.

15.      Der Bundesfinanzhof ersucht daher um Vorabentscheidung über folgende Fragen:

1.      Ist Art. 28b Teil F Unterabs. 1 der Sechsten Richtlinie dahin auszulegen, dass

a)      das einem Menschen entnommene Knorpelmaterial („Biopsat“), welches einem Unternehmer zum Zwecke der Zellvermehrung und anschließenden Rückgabe als Implantat für den betroffenen Patienten überlassen wird, ein „beweglicher körperlicher Gegenstand“ im Sinne dieser Bestimmung ist,

b)      das Herauslösen der Gelenkknorpelzellen aus dem Knorpelmaterial und die anschließende Zellvermehrung „Arbeiten“ an beweglichen körperlichen Gegenständen im Sinne dieser Bestimmung sind,

c)      die Dienstleistung dem Empfänger bereits dann „unter seiner Umsatzsteuer-Identifikationsnummer erbracht“ worden ist, wenn diese in der Rechnung des Erbringers der Dienstleistung angeführt ist, ohne dass eine ausdrückliche schriftliche Vereinbarung über ihre Verwendung getroffen wurde?

2.      Falls eine der vorstehenden Fragen verneint wird:

Ist Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. c der Sechsten Richtlinie dahin auszulegen, dass das Herauslösen der Gelenkknorpelzellen aus dem einem Menschen entnommenen Knorpelmaterial und die anschließende Zellvermehrung dann eine „Heilbehandlung im Bereich der Humanmedizin“ ist, wenn die durch die Zellvermehrung gewonnenen Zellen dem Spender wieder implantiert werden?

16.      Die deutsche und die spanische Regierung sowie die Kommission haben schriftliche Erklärungen eingereicht. Eine mündliche Verhandlung ist nicht beantragt und nicht durchgeführt worden. Der Gerichtshof hat den Termin für die Vorlage dieser Schlussanträge verschoben, damit die Urteile CopyGene(7) und Future Health Technologies(8) berücksichtigt werden könnten, die Bereiche betreffen, die einen Bezug zu der zweiten Frage aufweisen. Diese Urteile sind am 10. Juni 2010 erlassen worden.

 Würdigung

17.      Obwohl das vorlegende Gericht seine zweite Frage nur für den Fall einer Verneinung der ersten Frage stellt, könnte die Reihenfolge der Fragen ohne Weiteres umgekehrt werden. Wenn, wie die Kommission vorschlägt, die in Rede stehende Dienstleistung tatsächlich eine Heilbehandlung im Bereich der Humanmedizin im Sinne des Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. c der Sechsten Richtlinie ist, sind die Umsätze unabhängig davon, wo sie erbracht werden (bzw. als erbracht gelten), befreit. Ich werde mich daher zunächst mit der zweiten Frage befassen.

 Zur zweiten Frage

18.      Die Rechtsprechung zum Begriff der ärztlichen Heilbehandlung oder der Heilbehandlung im Bereich der Humanmedizin wurde zuletzt in den Urteilen CopyGene und Future Health Technologies(9) dargestellt und lässt sich wie folgt zusammenfassen.

19.      Die Steuerbefreiungen in Art. 13 der Sechsten Richtlinie sind autonome unionsrechtliche Begriffe, die eine unterschiedliche Anwendung des Mehrwertsteuersystems zwischen den Mitgliedstaaten verhindern sollen. Nicht alle dem Gemeinwohl dienenden Tätigkeiten sollen befreit werden, sondern nur diejenigen, die einzeln aufgeführt und genau beschrieben sind. Die verwendeten Begriffe sind eng auszulegen, als Ausnahmen von dem allgemeinen Grundsatz, dass jede Ware oder Dienstleistung, die ein Steuerpflichtiger gegen Entgelt erbringt, der Mehrwertsteuer unterliegt. Ihre Auslegung muss jedoch mit den Zielen in Einklang stehen, die mit den Befreiungen verfolgt werden, und muss dem Grundsatz der steuerlichen Neutralität entsprechen, auf dem das Mehrwertsteuersystem beruht. Daher darf das Gebot einer engen Auslegung nicht dazu führen, dass den Befreiungen ihre Wirkung genommen wird.

20.      Was Leistungen medizinischer Art betrifft, bezieht sich Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. b auf alle Leistungen, die in Krankenhäusern erbracht werden, während sich Buchst. c dieses Absatzes auf diejenigen Heilbehandlungen bezieht, die außerhalb von Krankenhäusern – in den Praxisräumen des Behandelnden, in der Wohnung des Patienten oder an einem anderen Ort – erbracht werden. Somit bezwecken die Buchst. b und c des Art. 13 Teil A Abs. 1, deren Anwendungsbereiche unterschiedlich sind, eine abschließende Regelung der Steuerbefreiungen für Leistungen der Heilbehandlung im engeren Sinne.

21.      Sowohl der Begriff „ärztliche Heilbehandlung“ in Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. b als auch der Begriff „Heilbehandlungen im Bereich der Humanmedizin“ in Buchst. c dieses Absatzes erfassen daher Leistungen, die zur Diagnose, Behandlung und, so weit wie möglich, Heilung von Krankheiten oder Gesundheitsstörungen dienen. Zwar müssen beide Dienstleistungen einem therapeutischen Zweck dienen, doch folgt daraus nicht zwangsläufig, dass die therapeutische Zweckbestimmtheit einer Leistung in einem besonders engen Sinne zu verstehen ist. Beide Ausnahmen verfolgen zudem den Zweck, die Kosten ärztlicher Heilbehandlungen zu senken.

22.      Im vorliegenden Fall sind sowohl die Kommission als auch die deutsche Regierung der Ansicht, dass die in Rede stehende Dienstleistung einem therapeutischen Zweck diene. Die spanische Regierung widerspricht dem mit der sehr kurzen Begründung, dass es sich lediglich um routinemäßige Laborleistungen im Bereich der Gewebezüchtung handle. Ich teile die Auffassung der Kommission und der deutschen Regierung.

23.      Es ist unbestritten und steht außer Zweifel, dass das beschriebene Verfahren – die Herauslösung, Vermehrung und Reimplantation körpereigener Knorpelzellen – insgesamt einem therapeutischen Zweck dient. Die spezifischen von Verigen erbrachten Dienstleistungen bilden zugegebenermaßen nur einen Teil dieses Gesamtverfahrens. Sie sind jedoch ein wesentlicher, fester und untrennbarer Bestandteil des Verfahrens, dessen einzelne Abschnitte sinnvollerweise nicht isoliert voneinander durchgeführt werden können.

24.      Die in Rede stehenden Dienstleistungen werden daher von dem Begriff „Heilbehandlung im Bereich der Humanmedizin“ in Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. c der Sechsten Richtlinie erfasst. Es gibt auch keinen Grund, sie aufgrund dessen, dass sie von Laborpersonal, das nicht aus qualifizierten Ärzten besteht, durchgeführt werden, von der Ausnahme auszuschließen. Nach Ansicht der Kommission ist es nicht notwendig, dass jeder Aspekt der therapeutischen Behandlung von medizinischem Personal erbracht wird.(10) Nach der Rechtsprechung können nämlich insbesondere medizinische Analysen, die von praktischen Ärzten angeordnet und von einem externen privaten Labor durchgeführt werden, unter den Begriff der ärztlichen Heilbehandlung oder der Heilbehandlung im Bereich der Humanmedizin fallen, obwohl sie dem festgestellten Bedarf an einer spezifischen Behandlung vorausgehen können.(11)

25.      Außerdem ist es nach Ansicht der deutschen Regierung nicht erforderlich, die Einstufung als ärztliche Heilbehandlung oder Heilbehandlung im Bereich der Humanmedizin von der Reimplantation der vermehrten Zellen in den Körper des Patienten abhängig zu machen, dem sie ursprünglich entnommen wurden (wie der Wortlaut der Frage des vorlegenden Gerichts vermuten lassen könnte). Bluttransfusionen und Organtransplantationen vom Körper einer Person in den einer anderen, stellten eindeutig eine ärztliche Heilbehandlung oder Heilbehandlung im Bereich der Humanmedizin dar.(12)

26.      Die deutsche Regierung vertritt jedoch auch die Ansicht – ohne freilich eine verbindliche Schlussfolgerung daraus zu ziehen –, dass die Einstufung der in Rede stehenden Dienstleistungen als Heilbehandlung im Bereich der Humanmedizin gegen den Grundsatz der Steuerneutralität verstoßen könnte (im Sinne der Vermeidung von Wettbewerbsverzerrungen(13)), da das erzeugte „Knorpelpflaster“ in funktioneller Hinsicht mit einem Arzneimittel vergleichbar sei, das nicht von der Mehrwertsteuer befreit wäre, sondern nur einem ermäßigten Satz unterliegen könnte.(14)

27.      Ich halte dies nicht für überzeugend.

28.      Die Einstufung einer Dienstleistung als ärztliche Heilbehandlung oder Heilbehandlung im Bereich der Humanmedizin kann nicht davon abhängen, ob eine pharmazeutische Alternative verfügbar ist. Für manche dieser Behandlungsarten gibt es bereits pharmazeutische Alternativen, während es sie für andere nicht gibt, jedoch in Zukunft geben könnte, so dass sich die beiden Kategorien ständig weiter entwickeln. Tatsächlich können viele Arten von Waren und Dienstleistungen in verschiedenen Mehrwertsteuerkategorien unter bestimmten Umständen durch andere ersetzt werden. Ob eine Dienstleistung jedoch eine ärztliche Heilbehandlung oder Heilbehandlung im Bereich der Humanmedizin darstellt, kann nur von ihrem eigenen Charakter und nicht von dem Charakter von Alternativen abhängen (unbeschadet des Rechts jedes Mitgliedstaats im Rahmen des ihm von der Sechsten Richtlinie eingeräumten Ermessens, bestimmte Ausnahmen Bedingungen zur Vermeidung von Wettbewerbsverzerrungen zu unterstellen, wofür es im vorliegenden Fall keine Anhaltspunkte gibt).

29.      Ferner weise ich darauf hin, dass es durchaus nicht offenkundig ist, ob eine steuerbefreite Dienstleistung (die keiner Mehrwertsteuer unterliegt, für deren Kostenelemente jedoch kein Vorsteuerabzug möglich ist) im Vergleich zu einem Erzeugnis, das einem verminderten Mehrwertsteuersatz mit der Berechtigung zum Vorsteuerabzug unterliegt, einen Wettbewerbsvorteil oder einen Wettbewerbsnachteil darstellt.

30.      Meiner Ansicht nach fallen die Dienstleistungen der beschriebenen Art daher unter den Begriff der ärztlichen Heilbehandlung oder Heilbehandlung im Bereich der Humanmedizin in Art. 13 Teil A Abs. 1 der Sechsten Richtlinie und sind somit je nachdem gemäß Buchst. b oder Buchst. c dieser Bestimmung von der Mehrwertsteuer zu befreien. Es ist nicht erforderlich, den Ort dieser Dienstleistungen festzustellen, da sie unabhängig davon, wo sie erbracht werden, unter die Ausnahme fallen.

 Zur ersten Frage

31.      Angesichts der von mir vorgeschlagenen Antwort auf die zweite Frage des vorlegenden Gerichts ist es nicht erforderlich, seine erste Frage zu beantworten. Gleichwohl werde ich im Folgenden kurz auf diese Frage eingehen, für den Fall, dass der Gerichtshof entscheiden sollte, sie zu beantworten.

32.      Der erste Teil der Frage zielt darauf ab, ob das in Rede stehende Knorpelmaterial („Biopsat“) ein „beweglicher körperlicher Gegenstand“ im Sinne des Art. 28b Teil F der Sechsten Richtlinie ist. In sämtlichen eingereichten Erklärungen wird davon ausgegangen, dass dem so ist, und ich stimme dem zu.

33.      Es ist unbestreitbar, dass die Knorpelzellen sowohl bewegliche (wie die deutsche Regierung feststellt, stellt sich die Frage nur deshalb, weil sie von einem Mitgliedstaat in einen anderen versandt werden) als auch körperliche Gegenstände sind. Und obwohl menschliche Zellen nicht die typischste Form von „property“ oder „goods“ sein mögen(15), steht dennoch fest, dass sie leicht unter diese Kategorie fallen können.(16)

34.      Der zweite Teil der Frage zielt darauf ab, ob die von Verigen angewandten Verfahren im Sinne derselben Bestimmung „Arbeiten“ an diesen Zellen darstellen. Wieder wird dies in allen eingereichten Erklärungen bejaht, und ich schließe mich auch dem an (falls die zweite Frage verneint wird).

35.      Im Urteil Linthorst, Pouwels en Scheren(17) hat der Gerichtshof festgestellt, dass die Wendung „Arbeiten an beweglichen körperlichen Gegenständen“ im Allgemeinen einen lediglich körperlichen Eingriff bezeichnet, der grundsätzlich nicht wissenschaftlicher oder intellektueller Natur ist, und die Hauptfunktionen eines Tierarztes nicht erfasst, die grundsätzlich in der Behandlung von Tieren nach wissenschaftlichen Regeln bestehen, was, selbst wenn ein körperlicher Eingriff bei dem Tier erforderlich sein mag, nicht genügt, um ihn als Arbeit zu bezeichnen.

36.      Das vorlegende Gericht wird zu prüfen haben, ob die von Verigen angewandten Verfahren, „wissenschaftlich“ oder „intellektuell“ im oben bezeichneten Sinne sind. Meines Erachtens verläuft die Trennlinie, die der Gerichtshof hier zu zeichnen versucht hat, zwischen der bloß routinemäßigen Anwendung von anerkannten wissenschaftlichen Kenntnissen oder Fähigkeiten und der Einbeziehung von Innovationen, die auf solche Kenntnisse oder Fähigkeiten aufbauen, beispielsweise in der Auswertung von Daten oder der Anpassung von Verfahren. Der Vorlagebeschluss legt nahe, dass die in Rede stehenden Dienstleistungen in die erste Kategorie fallen.

37.      Der dritte Teil der Frage zielt im Wesentlichen darauf ab, ob die Wendung „Empfänger …, die eine Umsatzsteuer-Identifikationsnummer … haben“ in Art. 28b Teil F der Sechsten Richtlinie alle Empfänger betrifft, deren Umsatzsteuer-Identifikationsnummer in der Rechnung angegeben ist, oder nur diejenigen, die der Verwendung dieser Nummer in der Rechnung schriftlich zugestimmt haben. In diesem Punkt weichen die Ansichten der deutschen Regierung und der Kommission voneinander ab (die spanische Regierung hat sich hierzu nicht geäußert).

38.      Die deutsche Regierung bringt im Wesentlichen vor, dass der Verweis auf die Umsatzsteuer-Identifikationsnummer, „unter der“ die Dienstleistung für den Empfänger erbracht worden sei, eine stillschweigende oder ausdrückliche beiderseitige Parteienvereinbarung erfordere, dass die Besteuerung der in Art. 28b Teil F vorgesehenen Regelung unterstellt werden solle. Dies würde ihrer Ansicht nach für Rechtssicherheit sorgen, im Unterschied zu einer Situation, in der der Erbringer einseitig die Umsatzsteuer-Identifikationsnummer des Empfängers angebe (oder nicht) und so den Empfänger bis zur Ausstellung der Rechnung im Zweifel darüber lasse, wer der Steuerschuldner sein werde.

39.      Die Kommission weist darauf hin, dass das durch Art. 28b Teil F geschaffene System die Dienstleistung in dem Mitgliedstaat, in dem sie erbracht werde, von der Mehrwertsteuer befreie, während sie den Leistungsempfänger zum Steuerschuldner der (abziehbaren) Vorsteuer in seinem eigenen Staat mache – eine Vereinfachung des Verfahrens, das andernfalls unter der Achten Richtlinie anzuwenden gewesen wäre.(18) Es sollte immer dann Anwendung finden, wenn der Leistungsempfänger den Leistungserbringer (beispielsweise in dem Dokument, mit dem der Auftrag erteilt wird) darüber informiert, dass er eine Umsatzsteuer-Identifikationsnummer in seinem eigenen Mitgliedstaat habe. Weitere Voraussetzungen seien nicht erforderlich. Würde die Anwendung des Systems von der Parteienübereinkunft abhängig gemacht werden, wäre der Ort der Dienstleistung nicht mehr einheitlich, wie von der Richtlinie 95/7 vorgesehen.(19)

40.      In dieser Hinsicht schließe ich mich der Auffassung der Kommission an.

 Ergebnis

41.      Aufgrund der vorstehenden Erwägungen schlage ich dem Gerichtshof die folgende Antwort an den Bundesfinanzhof vor:

Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. c der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage ist dahin auszulegen, dass das Herauslösen von Gelenkknorpelzellen aus dem einem Menschen entnommenen Knorpelmaterial („Biopsat“) und deren anschließende Vermehrung für eine Reimplantation zu therapeutischen Zwecken, eine „Heilbehandlung im Bereich der Humanmedizin“ darstellt, unabhängig davon, ob die durch die Zellvermehrung gewonnenen Zellen dazu bestimmt sind, dem Spender oder einer anderen Person wieder implantiert zu werden.


1 – Originalsprache: Englisch.


2 – Sechste Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage (ABl. L 145, S. 1), ersetzt mit Wirkung vom 1. Januar 2007 durch die Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. L 347, S. 1), die dieselben Vorschriften in einer Neufassung ihrer Struktur und ihres Wortlauts enthält.


3 – Vgl. Art. 45 der Richtlinie 2006/112.


4 – Vgl. Art. 52 Buchst. c der Richtlinie 2006/112.


5 –      Vgl. Art. 55 der Richtlinie 2006/112. Art. 28b Teil F wurde durch die Richtlinie 95/7/EG des Rates vom 10. April 1995 zur Änderung der Richtlinie 77/388/EWG und zur Einführung weiterer Vereinfachungsmaßnahmen im Bereich der Mehrwertsteuer – Geltungsbereich bestimmter Steuerbefreiungen und praktische Einzelheiten ihrer Durchführung (ABl. L 102, S. 18) eingeführt; der zehnte Erwägungsgrund der Richtlinie 95/7 unterstreicht, dass sie die Erleichterung des innergemeinschaftlichen Handels im Bereich der Bearbeitung beweglicher körperlicher Gegenstände bezweckt.


6 –      Vgl. Art. 131 und 132 Abs. 1 Buchst. b und c der Richtlinie 2006/112.


7 – Urteil vom 10. Juni 2010 (C-262/08, noch nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht).


8 – Urteil vom 10. Juni 2010 (C-86/09, noch nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht).


9 – Oben in Fn. 7 bzw. 8 angeführt. Vgl. insbesondere die Randnrn. 24 bis 30 des Urteils CopyGene und die Randnrn. 28 bis 30, 36, 37 und 40 des Urteils Future Health Technologies sowie die dort zitierte Rechtsprechung. Vgl. auch meine Schlussanträge in der Rechtssache CopyGene, Randnrn. 30 ff.


10 – Vgl. Urteil vom 10. September 2002, Kügler (C-141/00, Slg. 2002, I-6833, insbesondere Randnr. 41).


11 – Vgl. Urteil vom 8. Juni 2006, L. u. P. (C-106/05, Slg. 2006, I-5123, insbesondere Randnr. 39).


12 – Vgl. entsprechend Randnr. 51 des Urteils CopyGene und Nrn. 46 ff. meiner Schlussanträge.


13 – Es ist anzumerken, dass (obwohl für die hier vorgenommene Analyse nicht unmittelbar relevant) Art. 13 Teil A Abs. 2 Buchst. a der Sechsten Richtlinie den Mitgliedstaaten ermöglicht, die Gewährung der u. a. in Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. c vorgesehenen Befreiungen für Einrichtungen, die keine Einrichtungen des öffentlichen Rechts sind, von Fall zu Fall von der Erfüllung bestimmter Bedingungen abhängig zu machen; insbesondere dürfen die Befreiungen nicht zu Wettbewerbsverzerrungen zuungunsten von der Mehrwertsteuer unterliegenden gewerblichen Unternehmen führen (vierter Gedankenstrich).


14 – Art. 12 Abs. 3 Buchst. a Unterabs. 3 in Verbindung mit Anhang H Nr. 3 der Sechsten Richtlinie (Art. 98 Abs. 1 und 2 sowie Anhang III Nr. 3 der Richtlinie 2006/112).


15 – Die Begriffe „goods“ und „property“ werden in verschiedenen Bestimmungen der englischen Sprachfassung der Sechsten Richtlinie anscheinend austauschbar benutzt, während andere Sprachfassungen nur einen einzigen Begriff verwenden (so entspricht diesem Begriff in der deutschen Sprachfassung der Sechsten Richtlinie der Begriff „Gegenstand“ bzw. „Gegenstände“).


16 – Ein makabres, tragisches und umstrittenes Beispiel ist der Fall der HeLa-Zellen, die ursprünglich dem Körper einer im Jahre 1951 in den Vereinigten Staaten verstorbenen Frau entnommen und seither in einer „permanenten Zelllinie“ vermehrt wurden, deren Gesamtgewicht das ursprüngliche Körpergewicht der Frau um ein Vielfaches übersteigt und die weltweit in der medizinischen Forschung eingesetzt wird (vgl. Rebecca Skloot, The Immortal Life of Henrietta Lacks, Crown, New York, 2010).


17 – Urteil vom 6. März 1997 (C-167/95, Slg. 1997, I-1195, Randnrn. 15 ff.)


18 – Achte Richtlinie 79/1072/EWG des Rates vom 6. Dezember 1979 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern – Verfahren zur Erstattung der Mehrwertsteuer an nicht im Inland ansässige Steuerpflichtige (ABl. L 331, S. 11).


19 – Siehe oben, Fn. 5.