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SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

MELCHIOR WATHELET

vom 13. Dezember 2012(1)

Rechtssache C-565/11

Mariana Irimie

gegen

Administraţia Finanţelor Publice Sibiu,

Administraţia Fondului pentru Mediu

(Vorabentscheidungsersuchen des Tribunalul Sibiu [Rumänien])

„Erstattung der von einem Mitgliedstaat unionsrechtswidrig erhobenen Abgaben – Nationale Regelung, mit der die von diesem Staat auf die erstatteten Abgaben zu zahlenden Zinsen beschränkt werden – Grundsätze der Äquivalenz, der Effektivität und der Verhältnismäßigkeit“








I –    Einleitung

1.        Das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen Frau Irimie und der Administraţia Finanţelor Publice Sibiu (Amt für öffentliche Finanzen Sibiu) sowie der Administraţia Fondului pentru Mediu (Umweltfonds-Amt), in dem Frau Irimie die Erstattung einer unter Verstoß gegen das Unionsrecht, nämlich gegen Art. 110 AEUV, erhobenen Steuer sowie die Zahlung der gesetzlichen Zinsen ab dem Tag der Entrichtung dieser Steuer bis zum Tag ihrer effektiven Erstattung beantragte.

2.        Bei der Zulassung eines Kraftfahrzeugs aus einem anderen Mitgliedstaat musste Frau Irimie eine Umweltsteuer entrichten(2).

3.        In seinem Urteil in der Rechtssache Tatu(3) betreffend diese Steuer hat der Gerichtshof entschieden, dass Art. 110 AEUV dahin auszulegen ist, dass er es einem Mitgliedstaat verbietet, eine Umweltsteuer einzuführen, die auf Kraftfahrzeuge bei deren erstmaliger Zulassung in diesem Mitgliedstaat erhoben wird, wenn diese steuerliche Maßnahme in der Weise ausgestaltet ist, dass sie die Inbetriebnahme von in anderen Mitgliedstaaten erworbenen Gebrauchtfahrzeugen in diesem Mitgliedstaat erschwert, ohne zugleich den Erwerb von Gebrauchtfahrzeugen desselben Alters und mit derselben Abnutzung auf dem inländischen Markt zu erschweren.

4.        Mit seinem am 10. November 2011 bei der Kanzlei des Gerichtshofs eingegangenen Vorabentscheidungsersuchen möchte das vorlegende Gericht wissen, ob eine nationale Regelung, die die Zahlung der Zinsen auf die zu erstattende Steuer ab dem auf das Datum des Erstattungsantrags folgenden Tag und nicht ab dem Zeitpunkt der Entrichtung der Steuer vorsieht, mit dem Unionsrecht vereinbar ist. Damit stellt das vorlegende Gericht insbesondere die Frage nach der Vereinbarkeit der nationalen Regelung mit den Grundsätzen der Äquivalenz, der Effektivität und der Verhältnismäßigkeit sowie mit dem in Art. 17 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) in Verbindung mit Art. 6 EUV verbürgten Eigentumsrecht.

II – Rumänisches Recht

5.        In der rumänischen Rechtsordnung ist das Abgabenverfahren durch die Verordnung Nr. 92 der Regierung über die Abgabenordnung (Ordonanţa Guvernului nr. 92 privind Codul de procedură fiscală) vom 24. Dezember 2003 (Monitorul Oficial al României, Teil I, Nr. 513 vom 31. Juli 2007) in der später geänderten und ergänzten Fassung (im Folgenden: OG Nr. 92/2003) geregelt.

6.        Auf ein Klarstellungsersuchen des Gerichtshofs vom 3. Juli 2012 hin hat das vorlegende Gericht ausgeführt, dass nach Art. 124 der OG Nr. 92/2003 in Verbindung mit Art. 70 der OG Nr. 92/2003 die Zinsen auf die aus öffentlichen Geldern zu erstattenden Beträge ab dem auf das Datum des Erstattungsantrags folgenden Tag zuerkannt würden. Es erläuterte, dass es dazu eine ständige und eindeutige innerstaatliche Rechtsprechung gebe.

7.        Das vorlegende Gericht hat auf dieses Klarstellungsersuchen hin weiter erklärt, dass nach dem vor ihm laufenden Gerichtsverfahren, selbst dann, wenn ihm ein Verwaltungsverfahren vorausgegangen wäre, kein anderes Gerichtsverfahren vom Steuerpflichtigen eingeleitet werden könne, um die zusätzlichen Zinsen, d. h. jene, die sich auf den Zeitraum zwischen der Entrichtung der rechtswidrigen Steuer und dem Erstattungsantrag beziehen, geltend zu machen.

III – Rechtsstreit des Ausgangsverfahrens und Vorlagefrage

8.        Im Dezember 2007 kaufte Frau Irimie ein in Deutschland zugelassenes Kraftfahrzeug(4). Sie wandte sich an die rumänischen Behörden, um das Fahrzeug erstmals im September 2008 in Rumänien zuzulassen, und entrichtete Umweltsteuer in Höhe von 6 707 rumänischen LEU (RON).

9.        Mit Klage vom 31. August 2009, die am 10. Dezember 2009 und am 7. Juli 2011 ergänzt wurde, leitete Frau Irimie beim Tribunalul Sibiu (Rumänien) ein Verfahren gegen die Administraţia Finanţelor Publice Sibiu und die Administraţia Fondului pentru Mediu ein mit dem Antrag, diese zu verurteilen, ihr zum einen den als Umweltsteuer entrichteten Betrag zu erstatten und zum anderen die gesetzlichen Zinsen zu zahlen, die auf diese Steuer ab dem Zeitpunkt ihrer Entrichtung entfielen.

10.      Das vorlegende Gericht stellt fest, dass die Entscheidung über den Antrag auf Erstattung des als Umweltsteuer entrichteten Betrags angesichts des Urteils Tatu(5) keine größeren Probleme aufwerfen dürfte. Was jedoch den Antrag auf Erstattung sämtlicher auf diese Steuer entfallender gesetzlicher Zinsen, berechnet ab dem Zeitpunkt ihrer Entrichtung, anbelangt, weist das vorlegende Gericht darauf hin, dass diesem Antrag aufgrund von Art. 124 in Verbindung mit Art. 70 der OG Nr. 92/2003, wonach die Zinsen auf die aus öffentlichen Geldern zu erstattenden Beträge erst ab dem auf das Datum des Erstattungsantrags folgenden Tag zuerkannt würden, nicht stattgegeben werden könne.

11.      Das vorlegende Gericht hegt Zweifel an der Vereinbarkeit einer solchen Regelung mit dem Unionsrecht, insbesondere mit den Grundsätzen der Äquivalenz, der Effektivität und der Verhältnismäßigkeit der Rechtsbehelfe, die Einzelnen infolge eines Verstoßes gegen das Unionsrecht zustehen, sowie mit dem in Art. 17 der Charta in Verbindung mit Art. 6 EUV verbürgten Eigentumsrecht.

12.      Unter diesen Umständen hat das Tribunalul Sibiu beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:

Können die sich aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union ergebenden Grundsätze der Äquivalenz, der Effektivität und der Verhältnismäßigkeit von Rechtsbehelfen gegen Verstöße gegen das Unionsrecht, die Einzelnen gegenüber durch Anwendung von nicht mit dem Unionsrecht zu vereinbarenden Rechtsvorschriften begangen werden, in Verbindung mit dem Eigentumsrecht aus Art. 6 EUV und aus Art. 17 der Charta dahin ausgelegt werden, dass sie einer nationalen Rechtsvorschrift entgegenstehen, die die Höhe des dem Einzelnen, dessen Recht verletzt wurde, zu erstattenden Schadens beschränkt?

IV – Das Verfahren vor dem Gerichtshof

13.      Schriftliche Erklärungen sind von Frau Irimie, von Rumänien, dem Königreich Spanien, der Portugiesischen Republik und der Europäischen Kommission abgegeben worden. Frau Irimie, Rumänien, das Königreich Spanien und die Kommission haben bei der mündlichen Verhandlung vom 17. Oktober 2012 mündliche Ausführungen gemacht.

14.      Frau Irimie trägt vor, das Unionsrecht stehe einer nationalen Regelung entgegen, die die Höhe des Schadens (des entgangenen Gewinns) beschränke, dessen vollständiger Ersatz einem Einzelnen zustehe, der eine unionsrechtswidrige Steuer entrichtet habe, indem sie Zinsen erst ab dem Erstattungsantrag und nicht ab der Entrichtung der rechtswidrigen Steuer zuerkenne.

15.      Rumänien weist darauf hin, dass nach der rumänischen Rechtsordnung der erlittene Schaden von Steuerzahlern, die verpflichtet worden seien, eine später für rechtswidrig erklärte Steuer zu zahlen, vollständig ersetzt werden könne. Außerdem liegt es nach Ansicht von Rumänien in der Zuständigkeit der Mitgliedstaaten, die Modalitäten für die Zuerkennung von Zinsen für den Ersatz von Schäden, die Einzelnen durch die Entrichtung von unionsrechtswidrig erhobenen Steuern entstanden seien, unter Wahrung der Grundsätze der Äquivalenz, der Effektivität und der Verhältnismäßigkeit der Rechtsbehelfe festzulegen.

16.      Das Königreich Spanien ist der Auffassung, dass das Unionsrecht grundsätzlich nicht Vorschriften des innerstaatlichen Rechts entgegenstehe, die entweder die Höhe des Schadensersatzes, den ein Einzelner, dessen Recht verletzt worden sei, erlangen könne, oder den Betrag beschränkten, der ihm aufgrund einer rechtsgrundlos getätigten Zahlung zu erstatten sei. Nach Ansicht des Königreichs Spanien liegt nur dann eine Verletzung des Grundsatzes der Effektivität vor, wenn die Zahlung von Zinsen so geringfügig sei, dass sie den Zinsanspruch spürbar einschränke, „übermäßig aushöhle“ oder zunichtemache. Die Zahlung von Zinsen ab dem Antrag auf Erstattung der rechtswidrigen Steuer höhle diesen Anspruch nicht aus.

17.      Nach Ansicht der Portugiesischen Republik ist es Sache des Mitgliedstaats, die Modalitäten des Betrags festzulegen, auf den der Einzelne aus dem Unionsrechtsverstoß Anspruch hat, wenn diese Modalitäten keine wesentliche Verringerung des Betrags, auf den der Einzelne Anspruch hat, zur Folge haben und nicht als Hindernisse für die Geltendmachung dieses Anspruchs angesehen werden können.

18.      Nach Auffassung der Kommission verletzt eine Vorschrift des innerstaatlichen Rechts, die wie im vorliegenden Fall spürbar den Anspruch des Steuerpflichtigen einschränkt, die Einbußen ersetzt zu bekommen, die sich aus der Unverfügbarkeit des rechtswidrig erhobenen Betrags ergeben, den Grundsatz der Effektivität.

V –    Würdigung

19.      Einleitend sei darauf hingewiesen, dass es nicht Sache des Gerichtshofs ist, die von Frau Irimie vor dem vorlegenden Gericht erhobene Klage rechtlich einzuordnen. Es obliegt der Klägerin des Ausgangsverfahrens, Wesen und Grundlage ihrer Klage (Bereicherungsklage oder Schadensersatzklage) unter Aufsicht des vorlegenden Gerichts näher darzulegen(6).

20.      Der Wortlaut der Vorabentscheidungsfrage des vorlegenden Gerichts könnte darauf hindeuten, dass die von Frau Irimie vor diesem Gericht erhobene Klage eine Klage auf Ersatz eines durch Verstoß gegen Unionsrecht entstandenen Schadens darstellt. Doch vorbehaltlich der Nachprüfung durch das Gericht und nach der dem Gerichtshof vorgelegten Akte zielt die von Frau Irimie beim vorlegenden Gericht eingereichte Klage offensichtlich auf Erstattung einer zu Unrecht unter Verstoß gegen das Unionsrecht und insbesondere gegen Art. 110 AEUV(7) erhobenen Steuer sowie auf die Zahlung der gesetzlichen Zinsen für den Zeitraum zwischen dem Datum der Entrichtung dieser Steuer und jenem ihrer tatsächlichen Erstattung ab.

21.      Es ist seit Langem ständige Rechtsprechung, dass der Anspruch auf Erstattung dieser Steuern trotz fehlender Unionsvorschriften über die Erstattung der nicht mit dem Unionsrecht vereinbaren nationalen Steuern eine Folge und eine Ergänzung der Rechte darstellt, die den Einzelnen aus dem Unionsrecht in seiner Auslegung durch den Gerichtshof erwachsen. Der Mitgliedstaat ist somit verpflichtet(8), die unter Verstoß gegen das Unionsrecht erhobenen Steuern zu erstatten, da diese Erstattung ein aus der Unionsrechtsordnung abgeleitetes subjektives Recht ist(9).

22.      Mangels einschlägiger Unionsregelung ist es Sache der innerstaatlichen Rechtsordnung der einzelnen Mitgliedstaaten, nach dem Grundsatz der Verfahrensautonomie die zuständigen Gerichte zu bestimmen und die Verfahrensmodalitäten der Klagen zu regeln, die den Schutz der dem Bürger aus dem Unionsrecht erwachsenden Rechte gewährleisten sollen, sofern diese Modalitäten nicht weniger günstig ausgestaltet sind als die entsprechender innerstaatlicher Klagen (Äquivalenzgrundsatz) und die Ausübung der durch die Unionsrechtsordnung verliehenen Rechte nicht praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren (Effektivitätsgrundsatz)(10). Außerdem, entgegen dem Vorbringen des Königreichs Spanien und der Portugiesischen Republik in den Nrn. 16 f. der vorliegenden Schlussanträge, überlässt zwar der Grundsatz der Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten die Zuständigkeit für die Bestimmung der Verfahrenswege, die den Schutz der dem Bürger aus dem Unionsrecht erwachsenden Rechte gewährleisten sollen, der innerstaatlichen Rechtsordnung der einzelnen Mitgliedstaaten, er kann jedoch nicht zur Folge haben, diese Rechte einzuschränken oder im Kern zu beeinträchtigen.

23.      Während der Grundsatz der Erstattung der nicht mit dem Unionsrecht vereinbaren Abgaben gefestigt war, warf die Verpflichtung eines Mitgliedstaats, der eine Abgabe unionsrechtswidrig erhoben hat, Zinsen auf den zu erstattenden Hauptbetrag zu zahlen, Fragen auf.

24.      So geschah es, dass im Urteil Ansaldo Energia u. a.(11) die Zahlung von Zinsen als Nebenfrage zur Erstattung der mit dem Unionsrecht unvereinbaren Abgaben angesehen wurde, die von den nationalen Behörden durch Anwendung ihrer internen Regeln über den Zinssatz und den Zeitpunkt, ab dem die Zinsen zu berechnen sind, zu lösen war.

25.      Diese Auffassung konnte so verstanden werden, dass im Wesentlichen dem innerstaatlichen Recht nicht nur die Frage der Berechnungsmodalitäten für die Zinsen auf die zu erstattenden Abgaben, sondern auch die Frage, welchen Anspruch der Steuerpflichtige überhaupt auf Erhalt dieser Zinsen hat, überlassen bleibt.

26.      Obwohl der Gerichtshof in seinem Urteil Metallgesellschaft u. a. in Randnr. 86 bestätigt hat, dass die etwaige Zahlung von Zinsen (le versement éventuel“(12) d’intérêts) auf zu Unrecht erhobene Abgaben eine Nebenfrage ist, stellte er dennoch fallbezogen fest, dass der Antrag auf Zahlung von Zinsen in Höhe der Kosten der fehlenden Verfügbarkeit der gemeinschaftsrechtswidrig entrichteten Beträge keine Nebenfrage, sondern der Streitgegenstand der Ausgangsverfahren war. Nach Ansicht des Gerichtshofs folgte der Verstoß gegen das Gemeinschaftsrecht nicht aus der Zahlung der Steuer selbst, sondern aus deren vorzeitiger Fälligkeit(13). Unter diesen Umständen stellte die Zuerkennung von Zinsen die „Erstattung“ des ohne Rechtsgrund Geleisteten dar und erschien zur Wahrung der Vertragsregeln unerlässlich. Daher hatten die Klägerinnen des Ausgangsverfahrens u. a. Anspruch auf Erstattung der Zinsen auf die Beträge, die im Zeitraum zwischen der Vorauszahlung auf die Steuer und ihrem Fälligkeitsdatum gezahlt wurden.

27.      Es wäre zwar denkbar, das Urteil Metallgesellschaft u. a. auf den jeweiligen spezifischen Sachverhalt dieser Rechtssachen und somit auf die Vorauszahlung auf eine Steuer zu beschränken. Doch der Gerichtshof hat in seinem Urteil Test Claimants in the FII Group Litigation(14) allgemeiner zum Thema Zahlung von diskriminierenden Steuern(15) entschieden, dass der Einzelne bei gemeinschaftsrechtswidriger Erhebung von Abgaben durch einen Mitgliedstaat Anspruch auf Erstattung nicht nur der zu Unrecht erhobenen Steuer, sondern auch der Beträge hat, die im unmittelbaren Zusammenhang mit dieser Steuer an diesen Staat gezahlt oder von diesem einbehalten worden sind.

28.      Überdies hat der Gerichtshof in seinem jüngst ergangenen Urteil in der Rechtssache Littlewoods Retail u. a. unter Berufung auf seine Rechtsprechung Metallgesellschaft u. a. sowie Test Claimants in the FII Group Litigation entschieden, dass die Mitgliedstaaten verpflichtet sind, die unter Verstoß gegen das Unionsrecht erhobenen Steuerbeträge zuzüglich Zinsen zu erstatten(16). Der Gerichtshof hat festgestellt, dass es zwar der innerstaatlichen Rechtsordnung der einzelnen Mitgliedstaaten zukommt, die Bedingungen für die Zahlung solcher Zinsen, darunter Zinssatz und Zinsberechnungsmethode, festzulegen, dass die innerstaatlichen Regelungen dem Steuerpflichtigen aber eine angemessene Entschädigung für die Einbußen, die er durch die zu Unrecht gezahlte Steuer erlitten hat, nicht vorenthalten dürfen(17).

29.      Das Recht auf Zinsen, die eine angemessene Entschädigung für die durch die rechtsgrundlos gezahlte unionsrechtswidrige Steuer erlittenen Einbußen darstellen, ist meines Erachtens nach dem Urteil Littlewoods Retail u. a. gleichrangig(18) mit dem Recht auf Erstattung dieser Steuer und daher ein aus der Unionsrechtsordnung abgeleitetes subjektives Recht(19). Dieses subjektive Recht impliziert meines Erachtens zwangsläufig die Zahlung von Zinsen ab dem Zeitpunkt der Entrichtung dieser Steuer. Es ist offensichtlich, dass der Steuerpflichtige ab diesem Zeitpunkt und nicht ab irgendeinem späteren Zeitpunkt die Einbußen durch die Nichtverfügbarkeit der betreffenden Geldbeträge erleidet.

30.      Im Übrigen ist bekannt, dass die im Zahlungsrückstand befindlichen Steuerpflichtigen grundsätzlich und abgesehen von außergewöhnlichen Umständen verpflichtet sind, an den Fiskus der Mitgliedstaaten die nicht entrichteten Steuern, Zinsen auf diese Steuern ab ihrem Fälligkeitsdatum sowie Säumniszuschläge und/oder Geldstrafen zu zahlen(20).

31.      Rein hilfsweise, falls die Klage von Frau Irimie im Ausgangsverfahren als Klage auf Ersatz eines durch Verstoß eines Mitgliedstaats gegen Unionsrecht verursachten Schadens zu werten ist, stellt sich die Frage, ob unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens der Verstoß eines Mitgliedstaats gegen Art. 110 AEUV den Steuerpflichtigen ein Recht auf Zahlung von Schadensersatz nicht nur in Höhe der unionsrechtswidrig erhobenen Steuer, sondern auch der auf diese Steuer ab dem Zeitpunkt ihrer Entrichtung entfallenden gesetzlichen Zinsen verleiht.

32.      Der Gerichtshof hat festgestellt, dass der Grundsatz einer Haftung des Staates für Schäden, die dem Einzelnen durch die dem Staat zurechenbaren Verstöße gegen das Unionsrecht entstehen, aus dem Wesen der mit dem Vertrag geschaffenen Rechtsordnung folgt(21). Es ergibt sich aus dem Urteil des Gerichtshofs vom 5. März 1996, Brasserie du pêcheur und Factortame(22), dass der Ersatz der Schäden, die dem Einzelnen durch Verstöße gegen das Gemeinschaftsrecht entstehen, dem erlittenen Schaden angemessen und geeignet sein muss, einen effektiven Schutz der Rechte des Einzelnen zu gewährleisten. Was insbesondere den erlittenen Schaden betrifft, hat der Gerichtshof in seinem Urteil in der Rechtssache Metallgesellschaft u. a. entschieden, dass für die völlige Wiedergutmachung des Schadens nicht von Umständen abgesehen werden könne, die, wie der Zeitablauf, den Wert der Wiedergutmachung verringern könnten, und dass die Zuerkennung von Zinsen ein unerlässlicher Bestandteil einer Entschädigung sei(23). Außerdem hat der Gerichtshof in seinem Urteil vom 13. Juli 2006 Manfredi u. a.(24), entschieden, dass aus dem Effektivitätsgrundsatz und dem Recht des Einzelnen auf Ersatz des Schadens, der ihm durch einen Vertrag, der den Wettbewerb beschränken oder verfälschen kann, oder ein entsprechendes Verhalten entstanden ist, folgt, dass ein Geschädigter nicht nur Ersatz des Vermögensschadens (damnum emergens), sondern auch des entgangenen Gewinns (lucrum cessans) sowie die Zahlung von Zinsen verlangen können muss.

33.      Unter Umständen wie den im Ausgangsverfahren dargelegten erscheint mir die Zuerkennung von Zinsen ab dem Zeitpunkt der Entrichtung der fraglichen Steuer unerlässlich für den angemessenen Ersatz des durch den Verstoß gegen Art. 110 AEUV entstandenen Schadens, da der Steuerpflichtige genau ab diesem Zeitpunkt Einbußen durch die Nichtverfügbarkeit der betreffenden Geldbeträge erlitten hat.

34.      Im Licht der Würdigung unter den Nrn. 22 bis 33 der vorliegenden Schlussanträge halte ich es für entbehrlich, die Vereinbarkeit der nach rumänischem Recht geltenden Beschränkung des Schadensbetrags, der Frau Irimie zugesprochen werden kann, mit den Grundsätzen der Effektivität und der Verhältnismäßigkeit sowie mit dem nach Art. 6 EUV in Verbindung mit Art. 17 der Charta verbürgten Eigentumsrecht zu prüfen.

VI – Ergebnis

35.      Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor, in Beantwortung der vom Tribunalul Sibiu (Rumänien) vorgelegten Frage wie folgt zu entscheiden:

Das Unionsrecht ist dahin auszulegen, dass ein Mitgliedstaat, der eine mit dem Unionsrecht, hier mit Art. 110 AEUV, unvereinbare Steuer erhebt, verpflichtet ist, den Betrag dieser Steuer zu erstatten und auf diesen Betrag ab dem Zeitpunkt der Entrichtung dieser Steuer durch den Steuerpflichtigen Zinsen zu zahlen.


1 – Originalsprache: Französisch.


2 –      Zum Zeitpunkt des Sachverhalts des Ausgangsverfahrens sah die Dringlichkeitsverordnung Nr. 50/2008 der Regierung über die Einführung einer Kraftfahrzeugumweltsteuer (Ordonanţă de Urgenţă a Guvernului nr. 50/2008 pentru instituirea taxei pe poluare pentru autovehicule) vom 21. April 2008 (Monitorul Oficial al României, Teil I, Nr. 327 vom 25. April 2008), die am 1. Juli 2008 in Kraft trat, in ihrem Art. 3 eine Umweltsteuer für Fahrzeuge der Kategorien Ml bis M3 und N1 bis N3 vor.


3–      Urteil vom 7. April 2011 (C-402/09, Slg. 2011, I-2711).


4 – Das Fahrzeug wurde erstmals am 23. März 1999 in Deutschland zugelassen.


5 – Das vorlegende Gericht führt auch die Rechtsprechung an, die dieses Urteil bestätigt, u. a. die Beschlüsse vom 8. April 2011, Obreja und Darmi (C-136/10 und C-178/10), Ijac (C-336/10), Sfichi ind Ilaş (C-29/11 und C-30/11); Urteil vom 7. Juli 2011, Nisipeanu, (C–263/10); sowie die Beschlüsse vom 13. Juli 2011, Vijulan (C-335/10), Druţu (C-438/10) und Micşa (C-573/10). Dieses Gericht hat auf das Klarstellungsersuchen vom 3. Juli 2012 hin auch erläutert, dass die nationalen Gerichte seit dem oben angeführten Urteil Tatu Klagen von Steuerpflichtigen stattgeben und die Erstattung der Steuer und die Zuerkennung von Zinsen ab dem auf das Datum des Erstattungsantrags folgenden Tag anordnen.


6 – Vgl. Urteile vom 8. März 2001, Metallgesellschaft u. a. (C-397/98 und C-410/98, Slg. 2001, I-1727, Randnr. 81), vom 12. Dezember 2006, Test Claimants in the FII Group Litigation (C-446/04, Slg. 2006, I-11753, Randnr. 201), sowie vom 13. März 2007, Test Claimants in the Thin Cap Group Litigation (C-524/04, Slg. 2007, I-2107, Randnr. 109).


7 – Hier sei auf die unmittelbare Anwendbarkeit von Art. 110 AEUV hingewiesen. Vgl. Urteil vom 29. April 1982, Pabst & Richarz (17/81, Slg. 1982, 1331). Daher obliegt es allen Behörden der Mitgliedstaaten, seine Einhaltung im Rahmen ihrer Befugnisse zu gewährleisten.


8–      Da die Nichterstattung einer zu Unrecht erhobenen Steuer eine Beschränkung eines aus der Unionsrechtsordnung abgeleiteten subjektiven Rechts ist, vertritt der Gerichtshof die Auffassung, dass sie eng auszulegen ist. Die unmittelbare Abwälzung der ohne Rechtsgrund gezahlten Abgabe auf den Abnehmer ist, sofern sie für den Steuerpflichtigen eine ungerechtfertigte Bereicherung darstellt, die einzige Ausnahme vom Recht auf Erstattung von unter Verstoß gegen das Unionsrecht erhobenen Abgaben (vgl. Urteil vom 6. September 2011, Lady & Kid u. a., C-398/09, Slg. 2011, I-7375, Randnr. 20). In Randnr. 21 dieses Urteils hat der Gerichtshof seine Rechtsprechung bestätigt, wonach die Erstattung der ohne Rechtsgrund gezahlten Abgabe selbst dann, wenn sie nachweislich auf Dritte abgewälzt wurde, nicht zwangsläufig zu einer ungerechtfertigten Bereicherung des Abgabepflichtigen führen muss, da ihm ein Schaden aus einem Absatzrückgang entstehen kann, wenn er diese Abgabe in die Preise einfließen lässt.


9–      Urteil vom 19. Juli 2012, Littlewoods Retail u. a. (C-591/10, , Randnr. 24 und die dort angeführte Rechtsprechung).


10 – Vgl. in diesem Sinne Urteile Metallgesellschaft u. a. (Randnr. 85) sowie Test Claimants in the FII Group Litigation (Randnr. 203).


11 – Urteil vom 15. September 1998 (C-279/96 bis C-281/96, Slg. 1998, I-5025, Randnr. 20). Vgl. auch Urteil vom 7. September 2006, N (C-470/04, Slg. 2006, I-7409, Randnr. 61).


12 – Es ist anzumerken, dass das Wort „éventuel“ in der englischen Fassung des Urteils in dieser Rechtssache, deren Verfahrenssprache Englisch war, nicht vorkommt. [Anm. d. Übers.: Ebenso wenig in der deutschen Fassung.]


13–      Der Gerichtshof hat nämlich erklärt, dass der Verstoß gegen das Gemeinschaftsrecht nicht darin bestand, dass im Vereinigten Königreich bei Dividendenzahlungen einer Tochtergesellschaft an ihre Muttergesellschaft eine Steuer erhoben wurde, sondern darin, dass die im Vereinigten Königreich ansässigen Tochtergesellschaften von in einem anderen Mitgliedstaat ansässigen Muttergesellschaften verpflichtet waren, Vorauszahlungen auf diese Steuer zu entrichten, während die gebietsansässigen Tochtergesellschaften gebietsansässiger Muttergesellschaften dieser Verpflichtung entgehen konnten (vgl. Randnr. 83 dieses Urteils).


14–      Vgl. auch Urteil Test Claimants in the Thin Cap Group Litigation (Randnr. 112).


15 – In diesem Fall ging es nicht um die Vorauszahlung auf eine Steuer, sondern um die Unvereinbarkeit der Steuer mit dem Vertrag.


16–      Vgl. Urteil Littlewoods Retail u. a. (Randnrn. 25 f.).


17 – Aus Art. 8 des Urteils Littlewoods Retail u. a. ergibt sich, dass der Zeitpunkt, ab dem die Zinsen nach dem auf den Fall anwendbaren englischen Recht berechnet werden mussten, der Tag war, an dem die britischen Steuerbehörden die Überzahlung der Mehrwertsteuer erhalten haben, und die Zinsberechnung an dem Tag endete, an dem diese Behörden die Auszahlung des zu verzinsenden Betrags angewiesen haben. Ich halte es für besonders aussagekräftig, dass in Randnr. 27 dieses Urteils unter den Bedingungen, die von der innerstaatlichen Rechtsordnung der einzelnen Mitgliedstaaten vorzusehen sind, nicht der Zeitpunkt erwähnt wurde, ab dem die Zinsen zu berechnen sind. Meines Erachtens handelt es sich dabei um eine stillschweigende Zustimmung des Gerichtshofs zum Zeitraum, für den die Zinsen nach englischem Recht geschuldet waren, und um die Anerkennung des subjektiven Rechts auf eine Zinshöhe, die eine angemessene Entschädigung für die durch die rechtsgrundlos gezahlte Steuer erlittenen Einbußen darstellt.


18 – In Nr. 30 ihrer Schlussanträge in der Rechtssache, in der das Urteil Littlewoods Retail u. a. ergangen ist, hat Generalanwältin Trstenjak ausgeführt, dass „[d]em Abgabenpflichtigen … ein Recht auf Erstattung der Abgabe sowie ein Recht auf Zahlung von Zinsen zu[steht]. Ihre Grundlage finden diese Rechte des Abgabenpflichtigen in den Bestimmungen des Unionsrechts, nach denen die erhobenen Abgaben verboten sind.“


19–      Siehe Nr. 21 der vorliegenden Schlussanträge. Hierzu ist anzumerken, dass der Gerichtshof in dem Urteil Littlewoods Retail u. a. in keiner Weise darauf hingewiesen hat, dass es sich bei der Frage der Zinsen um eine Nebenfrage handle.


20 – Die Säumniszuschläge und die Geldstrafen sind im Steuerwesen Zwangsmittel, die von den Mitgliedstaaten im öffentlichen Interesse verwendet werden, um die (rechtzeitige) Entrichtung der geschuldeten Steuern durch die Steuerpflichtigen sicherzustellen.


21 – Vgl. Urteile vom 19. November 1991, Francovich u. a. (C-6/90 und C-9/90, Slg. 1991, I-5357, Randnr. 35), sowie vom 8. Oktober 1996, Dillenkofer u. a. (C-178/94, C-179/94 und C-188/94 bis C-190/94, Slg. 1996, I-4845, Randnr. 20).


22–      C-46/93 und C-48/93, Slg. 1996, I-1029, Randnr. 82.


23–      Vgl. Randnr. 94.


24–      C-295/04 bis C-298/04, Slg. 2006, I-6619, Randnr. 100.