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SCHLUSSANTRÄGE DER GENERALANWÄLTIN

Juliane Kokott

vom 4. September 2014(1)

Verbundene Rechtssachen C-144/13, C-154/13 und C-160/13

VDP Dental Laboratory NV

gegen

Staatssecretaris van Financiën,


Staatssecretaris van Financiën

gegen

X BV


und


Staatssecretaris van Financiën

gegen

Nobel Biocare Nederland BV

(Vorabentscheidungsersuchen des Hoge Raad der Nederlanden [Königreich der Niederlande])

„Steuerrecht – Mehrwertsteuer – Steuerbefreiung beim innergemeinschaftlichen Erwerb von Gegenständen – Art. 140 Buchst. a und b der Richtlinie 2006/112/EG – Steuerbefreiung bei der Einfuhr von Gegenständen – Art. 143 Buchst. a der Richtlinie 2006/112/EG – Anwendbarkeit der Steuerbefreiungen bei gemäß Art. 132 Abs. 1 Buchst. e der Richtlinie 2006/112/EG steuerfreien Lieferungen von Zahnersatz – Vorsteuerabzug – Art. 17 Abs. 2 Buchst. a in der Fassung des Art. 28f Nr. 1 der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG – Unmittelbare Wirkung – Recht auf Vorsteuerabzug bei unionsrechtswidrig national steuerbefreiten Umsätzen“





I –    Einleitung

1.        Der Gerichtshof muss sich zum wiederholten Mal(2) mit der Mehrwertbesteuerung von Zahnersatz auseinandersetzen. Diese ist insofern besonders, als die Lieferung von Zahnersatz in bestimmten Fällen steuerfrei ist, es aber immer noch Mitgliedstaaten gibt, die aufgrund einer Übergangsregelung alle Lieferungen von Zahnersatz besteuern.

2.        Mit den Auswirkungen dieser Besonderheiten auf den Vorsteuerabzug und die Wettbewerbsbedingungen der Anbieter von Zahnersatz in verschiedenen Mitgliedstaaten hat sich der Gerichtshof bereits im Urteil Eurodental(3) befasst. Auch in den vorliegenden Vorabentscheidungsersuchen geht es wieder um diese Wettbewerbsbedingungen, dieses Mal aber vor dem Hintergrund der Steuerbefreiungen für den innergemeinschaftlichen Erwerb und die Einfuhr aus Drittstaaten. Deren Anwendbarkeit auf Zahnersatz ist nämlich noch ungeklärt.

3.        Darüber hinaus wird sich der Gerichtshof im Anschluss an sein erstes Urteil VDP Dental Laboratory(4) erneut mit den Konsequenzen einer unionsrechtswidrig gewährten Steuerbefreiung für das Recht auf Vorsteuerabzug beschäftigen müssen. Insoweit dürfte jedoch das kürzlich ergangene Urteil MDDP(5) keine Fragen mehr offen gelassen haben.

II – Rechtlicher Rahmen

A –    Unionsrecht

4.        Die Ausgangsverfahren betreffen die Erhebung von Mehrwertsteuer für die Jahre 2006 und 2008. Deshalb sind vorliegend sowohl die Sechste Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage(6) in ihrer für das Jahr 2006 geltenden Fassung (im Folgenden: Sechste Richtlinie) als auch die am 1. Januar 2007 in Kraft getretene Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem(7) in ihrer für das Jahr 2008 geltenden Fassung (im Folgenden: Mehrwertsteuerrichtlinie) zu beachten. Im Folgenden werden daher die Normen entweder in der Fassung der Mehrwertsteuerrichtlinie oder der Sechsten Richtlinie wiedergegeben, je nachdem für welchen Steuerzeitraum es ihrer Auslegung bedarf.

 Steuertatbestände

5.        Gemäß Art. 2 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie unterliegen der Mehrwertsteuer die folgenden Umsätze:

„a)      Lieferungen von Gegenständen, die ein Steuerpflichtiger als solcher im Gebiet eines Mitgliedstaats gegen Entgelt tätigt;

b)      der innergemeinschaftliche Erwerb von Gegenständen im Gebiet eines Mitgliedstaats gegen Entgelt

i)      durch einen Steuerpflichtigen, der als solcher handelt …, wenn der Verkäufer ein Steuerpflichtiger ist, der als solcher handelt …;

c)      …

d)      die Einfuhr von Gegenständen.“

6.        Die „Lieferung von Gegenständen“ beschreibt Art. 14 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie als „die Übertragung der Befähigung, wie ein Eigentümer über einen körperlichen Gegenstand zu verfügen“.

7.        Den „innergemeinschaftlichen Erwerb von Gegenständen“ definiert Art. 20 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie als „Erlangung der Befähigung, wie ein Eigentümer über einen beweglichen körperlichen Gegenstand zu verfügen, der durch den Verkäufer oder durch den Erwerber oder für ihre Rechnung nach einem anderen Mitgliedstaat als dem, in dem sich der Gegenstand zum Zeitpunkt des Beginns der Versendung oder Beförderung befand, an den Erwerber versandt oder befördert wird“.

8.        Als „Einfuhr eines Gegenstands“ gilt nach Art. 30 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie „die Verbringung eines Gegenstands, der sich nicht im freien Verkehr im Sinne des Artikels 24 des Vertrags befindet, in die Gemeinschaft“.

 Steuerbefreiung für Zahnersatz

9.        Nach Art. 132 Abs. 1 Buchst. e der Mehrwertsteuerrichtlinie befreien die Mitgliedstaaten die folgenden Umsätze von der Steuer:

„Dienstleistungen, die Zahntechniker im Rahmen ihrer Berufsausübung erbringen, sowie Lieferungen von Zahnersatz durch Zahnärzte und Zahntechniker“.

10.      Eine Ausnahme von dieser Steuerbefreiung enthält jedoch unter der Überschrift „Bis zur Annahme einer endgültigen Regelung geltende Ausnahmen“ das Kapitel 1 des Titels XIII der Mehrwertsteuerrichtlinie in seinem Abschnitt 1 („Ausnahmen für Staaten, die am 1. Januar 1978 Mitglied der Gemeinschaft waren“). Dort bestimmt Art. 370:

„Mitgliedstaaten, die am 1. Januar 1978 die in Anhang X Teil A genannten Umsätze besteuert haben, dürfen diese weiterhin besteuern.“

11.      Der Anhang X Teil A nennt unter Nr. 1 „Dienstleistungen, die von Zahntechnikern im Rahmen ihrer beruflichen Tätigkeit erbracht werden, sowie Lieferungen von Zahnersatz durch Zahnärzte und Zahntechniker“.

 Steuerbefreiungen beim innergemeinschaftlichen Erwerb und bei der Einfuhr von Gegenständen

12.      Gemäß Art. 140 der Mehrwertsteuerrichtlinie befreien die Mitgliedstaaten außerdem von der Steuer:

„a)      den innergemeinschaftlichen Erwerb von Gegenständen, deren Lieferung durch Steuerpflichtige in ihrem jeweiligen Gebiet in jedem Fall mehrwertsteuerfrei ist;

b)      den innergemeinschaftlichen Erwerb von Gegenständen, deren Einfuhr gemäß Artikel 143 Buchstaben a, b und c sowie Buchstaben e bis l in jedem Fall mehrwertsteuerfrei ist;

…“

13.      Bei der Einfuhr aus Drittstaaten befreien die Mitgliedstaaten nach Art. 143 Buchst. a der Mehrwertsteuerrichtlinie von der Steuer:

„die endgültige Einfuhr von Gegenständen, deren Lieferung durch Steuerpflichtige in ihrem jeweiligen Gebiet in jedem Fall mehrwertsteuerfrei ist“.

 Steuerbefreiungen bei innergemeinschaftlichen Lieferungen von Gegenständen und bei der Ausfuhr

14.      Für eine grenzüberschreitende Lieferung innerhalb der Union, die mit einem innergemeinschaftlichen Erwerb korrespondiert, regelt Art. 138 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie die folgende Steuerbefreiung:

„Die Mitgliedstaaten befreien die Lieferungen von Gegenständen, die durch den Verkäufer, den Erwerber oder für ihre Rechnung nach Orten außerhalb ihres jeweiligen Gebiets, aber innerhalb der Gemeinschaft versandt oder befördert werden[,] von der Steuer, wenn diese Lieferung an einen anderen Steuerpflichtigen oder an eine nichtsteuerpflichtige juristische Person bewirkt wird, der/die als solche/r in einem anderen Mitgliedstaat als dem des Beginns der Versendung oder Beförderung der Gegenstände handelt.“

15.      In ähnlicher Weise sieht Art. 146 der Mehrwertsteuerrichtlinie für die Ausfuhr vor:

„(1)      Die Mitgliedstaaten befreien folgende Umsätze von der Steuer:

a)      die Lieferungen von Gegenständen, die durch den Verkäufer oder für dessen Rechnung nach Orten außerhalb der Gemeinschaft versandt oder befördert werden;

b)      die Lieferungen von Gegenständen, die durch den nicht in ihrem jeweiligen Gebiet ansässigen Erwerber oder für dessen Rechnung nach Orten außerhalb der Gemeinschaft versandt oder befördert werden …

…“

 Recht auf Vorsteuerabzug

16.      Das Recht auf Vorsteuerabzug eines Steuerpflichtigen hinsichtlich der von ihm bezogenen Gegenstände oder Dienstleistungen (im Folgenden: Eingangsumsätze) regelt für den Steuerzeitraum 2006 der Art. 17 Abs. 1 und 2 in der Fassung des Art. 28f Nr. 1 der Sechsten Richtlinie wie folgt:

„(1)      Das Recht auf Vorsteuerabzug entsteht, wenn der Anspruch auf die abziehbare Steuer entsteht.

(2)      Soweit die Gegenstände und Dienstleistungen für Zwecke seiner besteuerten Umsätze verwendet werden, ist der Steuerpflichtige befugt, von der von ihm geschuldeten Steuer folgende Beträge abzuziehen:

a)      die im Inland geschuldete oder entrichtete Mehrwertsteuer für Gegenstände und Dienstleistungen, die ihm von einem anderen Steuerpflichtigen geliefert wurden oder geliefert werden bzw. erbracht wurden oder erbracht werden;

b)      die Mehrwertsteuer, die für eingeführte Gegenstände im Inland geschuldet wird oder entrichtet worden ist;

c)      …

d)      die Mehrwertsteuer, die nach Artikel 28a Absatz 1 Buchstabe a) geschuldet wird.

(3)      Die Mitgliedstaaten gewähren jedem Steuerpflichtigen darüber hinaus den Abzug oder die Erstattung der in Absatz 2 genannten Mehrwertsteuer, soweit die Gegenstände und Dienstleistungen verwendet werden für Zwecke:

b)      seiner nach … Artikel 15 … sowie Artikel 28c Teile A und C befreiten Umsätze;

…“

17.      Art. 28a Abs. 1 Buchst. a der Sechsten Richtlinie enthält den Steuertatbestand des innergemeinschaftlichen Erwerbs entsprechend Art. 2 Abs. 1 Buchst. b Nr. i der Mehrwertsteuerrichtlinie(8). Art. 15 der Sechsten Richtlinie regelte die nunmehr in Art. 146 der Mehrwertsteuerrichtlinie(9) vorgesehenen Steuerbefreiungen bei der Ausfuhr. In Art. 28c Teil A befand sich in der Sechsten Richtlinie die Steuerbefreiung für innergemeinschaftliche Lieferungen, die mittlerweile in Art. 138 der Mehrwertsteuerrichtlinie(10) zu finden ist.

18.      Die Bestimmungen zum Vorsteuerabzug des Art. 17 Abs. 1 bis 3 in der Fassung des Art. 28f Nr. 1 der Sechsten Richtlinie finden ihre Entsprechung in den Art. 167 und 168 der Mehrwertsteuerrichtlinie.

B –    Nationales Recht

19.      Das niederländische Recht enthielt grundsätzlich den genannten Bestimmungen des Unionsrechts entsprechende Vorschriften.

20.      Allerdings war die Steuerbefreiung für Zahnersatz gemäß Art. 132 Abs. 1 Buchst. e der Mehrwertsteuerrichtlinie noch im Jahr 2006 unionsrechtswidrig(11) in Art. 11 Abs. 1 Buchst. g Nr. 1 des niederländischen Umsatzsteuergesetzes (Wet op de omzetbelasting 1968) in der Weise umgesetzt, dass der Lieferer von Zahnersatz weder Zahnarzt noch Zahntechniker sein musste.

III – Ausgangsverfahren

21.      Sämtliche Ausgangsverfahren betreffen niederländische Steuerpflichtige, die Zahnersatz im Ausland herstellen lassen, um diesen entweder als Zwischenhändler weiterzuverkaufen oder ihn im Rahmen ihrer Tätigkeit als Zahnarzt selbst zu verwenden. Umstritten ist in allen Verfahren, ob der Bezug von Zahnersatz aus dem Ausland von der Mehrwertsteuer befreit ist.

A –    Rechtssache C-144/13 (VDP Dental Laboratory)

22.      Die Rechtssache C-144/13 betrifft die niederländische Gesellschaft VDP Dental Laboratory NV (im Folgenden: VDP). Auf Bestellung von Zahnärzten ließ sie Zahnersatz durch ausländische zahntechnische Labors herstellen, sowohl innerhalb als auch außerhalb der Union. Der Ausgangsrechtsstreit betrifft die niederländische Mehrwertsteuerschuld von VDP im ersten Quartal 2006 sowie im dritten Quartal 2008.

23.      Nach Angabe des vorlegenden Gerichts war VDP im Jahr 2006 noch nicht als Zahntechniker im Sinne der Steuerbefreiung des Art. 132 Abs. 1 Buchst. e der Mehrwertsteuerrichtlinie anzusehen. Unter Berufung auf Art. 11 Abs. 1 Buchst. g Nr. 1 des niederländischen Umsatzsteuergesetzes behandelte sie gleichwohl ihre Lieferungen von Zahnersatz als steuerfrei. Gleichzeitig machte sie trotz dieser Steuerbefreiung ein Recht auf Vorsteuerabzug hinsichtlich ihrer Eingangsumsätze geltend, nunmehr unter Berufung auf das Unionsrecht. Die niederländische Steuerverwaltung verweigerte VDP jedoch den Vorsteuerabzug.

24.      Ab dem Jahr 2008 ist VDP laut Darstellung des vorlegenden Gerichts nunmehr Zahntechniker im Sinne der Steuerbefreiung des Art. 132 Abs. 1 Buchst. e der Mehrwertsteuerrichtlinie. VDP behandelte ihre Lieferungen von Zahnersatz als steuerfrei und machte auch keinen Vorsteuerabzug geltend. Sie will aber den aus dem Ausland bezogenen Zahnersatz auch nicht als innergemeinschaftlichen Erwerb bzw. als Einfuhr aus Drittstaaten versteuern. Nach Auffassung von VDP kommt ihr insoweit nämlich die Steuerbefreiung des Art. 140 Buchst. a bzw. des Art. 143 Buchst. a der Mehrwertsteuerrichtlinie zugute.

B –    Rechtssache C-154/13 (X)

25.      Der Ausgangsrechtsstreit der Rechtssache C-154/13 betrifft die niederländische Mehrwertsteuerschuld von X für die ersten drei Quartale 2008. In diesem Zeitraum betrieb X eine Zahnarztpraxis. Dort erbrachte sie Umsätze, die entsprechend Art. 132 Abs. 1 Buchst. e der Mehrwertsteuerrichtlinie von der Mehrwertsteuer befreit waren, so dass ihr insoweit kein Recht auf Vorsteuerabzug zustand.

26.      Für ihre Tätigkeit erwarb X Zahnersatz von einem in Deutschland ansässigen Zahntechniker. X ist der Auffassung, dass sie für diesen innergemeinschaftlichen Erwerb aufgrund der Steuerbefreiung gemäß Art. 140 der Mehrwertsteuerrichtlinie keine Mehrwertsteuer zu zahlen hat. Die niederländische Steuerverwaltung hält diese Steuerbefreiung jedoch u. a. deshalb nicht für anwendbar, weil in Deutschland anders als in den Niederlanden die Lieferung von Zahnersatz gemäß Art. 370 in Verbindung mit Anhang X Teil A Nr. 1 nicht von der Mehrwertsteuer befreit sei.

C –    Rechtssache C-160/13 (Nobel Biocare Nederland)

27.      Die dritte Rechtssache hat als Ausgangspunkt einen Rechtsstreit über die Mehrwertsteuerschuld der niederländischen Gesellschaft Nobel Biocare Nederland BV (im Folgenden: Nobel) für den Dezember 2008. Nobel belieferte in diesem Zeitraum zahntechnische Labors in den Niederlanden mit Zahnersatz. Diesen Zahnersatz ließ Nobel von ihrer Muttergesellschaft in Schweden herstellen.

28.      Die niederländische Steuerverwaltung unterwarf den Zahnersatz, den Nobel aus Schweden bezog, als innergemeinschaftlichen Erwerb der Mehrwertsteuer. Nobel ist allerdings der Ansicht, dass insoweit die Steuerbefreiung des Art. 140 Buchst. a der Mehrwertsteuerrichtlinie zur Anwendung kommt.

IV – Verfahren vor dem Gerichtshof

29.      Der mit den Ausgangsverfahren befasste Hoge Raad der Nederlanden hat dem Gerichtshof am 21., 27. und 28. März 2013 gemäß Art. 267 AEUV drei Vorabentscheidungsersuchen mit insgesamt fünf Fragen vorgelegt. Die Vorlagefragen betreffen zwei unterschiedliche Bereiche.

30.      Erstens stellt das vorlegende Gericht in der Rechtssache C-144/13 (VDP Dental Laboratory) eine Frage, die das Recht auf Vorsteuerabzug für den Steuerzeitraum 2006 betrifft:

Ist Art. 17 Abs. 1 und 2 der Sechsten Richtlinie so auszulegen, dass der Steuerpflichtige, wenn eine nationale Rechtsvorschrift entgegen der Richtlinie eine Befreiung vorsieht (weshalb das Vorsteuerabzugsrecht ausgeschlossen ist), unter Berufung auf Art. 17 Abs. 1 und 2 der Sechsten Richtlinie Recht auf Vorsteuerabzug hat?

31.      Zweitens ergibt sich aus allen drei Rechtssachen die folgende Frage betreffend die Steuerbefreiung des innergemeinschaftlichen Erwerbs:

Ist Art. 140 Buchst. a und b der Mehrwertsteuerrichtlinie dahin auszulegen, dass die in diese Bestimmung aufgenommene Mehrwertsteuerbefreiung nicht für den innergemeinschaftlichen Erwerb von Zahnersatz gilt? Wenn nicht, ist dann an die Befreiung die Bedingung geknüpft, dass der Zahnersatz aus dem Ausland von einem Zahnarzt oder Zahntechniker und/oder an einen Zahnarzt oder Zahntechniker geliefert wurde?

32.      Diese Vorlagefrage wird in der Rechtssache C-144/13 (VDP Dental Laboratory) auf die Auslegung von Art. 143 Buchst. a der Mehrwertsteuerrichtlinie erweitert, der die Steuerbefreiung bei der Einfuhr aus Drittstaaten betrifft.

33.      Außerdem wird diese Vorlagefrage in der Rechtssache C-154/13 (X) wie folgt ergänzt:

Sofern die in Art. 140 Buchst. a und b der Mehrwertsteuerrichtlinie aufgenommene Mehrwertsteuerbefreiung (unter den in der vorgenannten Frage genannten Bedingungen oder ohne diese Bedingungen) für den innergemeinschaftlichen Erwerb von Zahnersatz gilt, gilt dann die Befreiung in Mitgliedstaaten wie den Niederlanden, die der Befreiung nach Art. 132 der Mehrwertsteuerrichtlinie entsprochen haben, auch für den innergemeinschaftlichen Erwerb von Zahnersatz, der aus einem Mitgliedstaat stammt, der von der Ausnahme- und Übergangsregelung des Art. 370 der Mehrwertsteuerrichtlinie Gebrauch gemacht hat?

34.      Nachdem die Rechtssachen zu gemeinsamem Verfahren und zu gemeinsamer Entscheidung verbunden worden sind, haben VDP, Nobel, die Republik Estland, das Königreich der Niederlande sowie die Europäische Kommission schriftlich Stellung genommen. An der mündlichen Verhandlung vom 19. Mai 2014 haben sich Nobel, das Königreich der Niederlande und die Kommission beteiligt.

V –    Rechtliche Würdigung

A –    Zum Recht auf Vorsteuerabzug

35.      Wie sich aus der Begründung des Vorabentscheidungsersuchens der Rechtssache C-144/13 ergibt, möchte das vorlegende Gericht mit seiner Vorlagefrage zum Recht auf Vorsteuerabzug im Wesentlichen wissen, ob ein Steuerpflichtiger unter Berufung auf Art. 17 in der Fassung des Art. 28f Nr. 1 der Sechsten Richtlinie ein Recht auf Vorsteuerabzug selbst dann geltend machen kann, wenn er seine Umsätze nicht versteuert hat, weil das nationale Recht entgegen den Bestimmungen des Unionsrechts eine Steuerbefreiung vorgesehen hat.

36.      Diese Frage war im Hinblick auf die Auslegung der Mehrwertsteuerrichtlinie bereits Gegenstand der Rechtssache C-319/12 (MDDP), die erst nach Eingang der vorliegenden Vorabentscheidungsersuchen entschieden wurde.

37.      Im Urteil MDDP hat der Gerichtshof festgestellt, dass Art. 168 der Mehrwertsteuerrichtlinie einem Steuerpflichtigen nicht erlaubt, sowohl von einer Steuerbefreiung Gebrauch zu machen, die im nationalen Recht vorgesehen, aber mit der Mehrwertsteuerrichtlinie unvereinbar ist, als auch insoweit das Recht auf Vorsteuerabzug in Anspruch zu nehmen(12). In einer solchen Konstellation hat ein Steuerpflichtiger also nur die Wahl, entweder der nationalen Steuerbefreiung zu folgen, was zum Ausschluss des Rechts auf Vorsteuerabzug führt, oder seine Umsätze unter Berufung auf das Unionsrecht der Mehrwertsteuer zu unterwerfen und dadurch in den Genuss des Vorsteuerabzugs zu kommen.

38.      Da keiner der Beteiligten des vorliegenden Verfahrens Argumente vorgetragen hat, die nicht bereits im Rahmen der Rechtssache MDDP erörtert worden sind(13), besteht kein Grund, die Erkenntnis des Urteils MDDP in Frage zu stellen.

39.      Dem steht auch nicht entgegen, dass die Kommission im Rahmen der mündlichen Verhandlung vorgetragen hat, die vorliegende Rechtssache unterscheide sich im Sachverhalt von der Rechtssache MDDP, weil VDP ihr Recht auf Vorsteuerabzug nachträglich geltend machen müsse. Der Kommission ist zwar zuzustimmen, dass VDP vor dem Problem stünde, hierfür nachträglich von ihren Abnehmern einen um die Mehrwertsteuer erhöhten Preis zu erhalten, da VDP zur Geltendmachung des Vorsteuerabzugs ihre zunächst steuerfrei behandelten Umsätze versteuern müsste. Bereits im Rahmen der Rechtssache MDDP habe ich jedoch darauf hingewiesen, dass ein Steuerpflichtiger unter Umständen gegenüber dem betroffenen Mitgliedstaat Schadensersatz verlangen kann, soweit er die nachträglich erhobene Mehrwertsteuer nicht mehr auf seine Abnehmer abwälzen kann(14).

40.      Die erste Vorlagefrage ist somit in der Weise zu beantworten, dass aus Art. 17 in der Fassung des Art. 28f Nr. 1 der Sechsten Richtlinie kein Recht auf Vorsteuerabzug für einen Steuerpflichtigen folgt, der seine Umsätze deshalb nicht versteuert hat, weil das nationale Recht entgegen den Bestimmungen des Unionsrechts eine Steuerbefreiung vorgesehen hat.

B –    Zu den Steuerbefreiungen des Art. 140 Buchst. a und b sowie des Art. 143 Buchst. a der Mehrwertsteuerrichtlinie

41.      Hinsichtlich der Steuerbefreiungen für den innergemeinschaftlichen Erwerb von Gegenständen gemäß Art. 140 Buchst. a und b sowie für die Einfuhr von Gegenständen aus Drittstaaten nach Art. 143 Buchst. a der Mehrwertsteuerrichtlinie möchte das vorlegende Gericht wissen, ob und, wenn ja, unter welchen Bedingungen diese Steuerbefreiungen für Zahnersatz gelten. Denn beide Vorschriften machen die Steuerbefreiung davon abhängig, ob eine Steuerbefreiung auch dann existierte, wenn es sich um eine Lieferung des Gegenstands im Inland handeln würde.

42.      Die Lieferung von Zahnersatz im Inland befreit Art. 132 Abs. 1 Buchst. e der Mehrwertsteuerrichtlinie. Diese Steuerbefreiung gilt allerdings nur unter der Bedingung, dass die Lieferung durch einen Zahnarzt oder Zahntechniker erfolgt. Die Art. 140 Buchst. a und b sowie 143 Buchst. a der Mehrwertsteuerrichtlinie verlangen aber für die Steuerbefreiung des innergemeinschaftlichen Erwerbs bzw. der Einfuhr von Gegenständen aus Drittstaaten, dass die Lieferung im Inland „in jedem Fall“ steuerfrei ist. Das Königreich der Niederlande vertritt deshalb – im Gegensatz zu den übrigen Verfahrensbeteiligten – die Auffassung, dass die Art. 140 Buchst. a und b sowie 143 Buchst. a der Mehrwertsteuerrichtlinie auf Zahnersatz keine Anwendung finden.

43.      Ich bin der Ansicht, dass diese Frage differenziert beantwortet werden muss. Wie ich zeigen werde, findet zwar die Steuerbefreiung des Art. 143 Buchst. a der Mehrwertsteuerrichtlinie auf die Einfuhr von Zahnersatz aus Drittstaaten keine Anwendung (dazu unter 1). Gleiches gilt für Art. 140 Buchst. b der Mehrwertsteuerrichtlinie (dazu unter 2). Anders ist aber die Steuerbefreiung des Art. 140 Buchst. a zu beurteilen, die unter den Voraussetzungen des Art. 132 Abs. 1 Buchst. e der Mehrwertsteuerrichtlinie auch für den innergemeinschaftlichen Erwerb von Zahnersatz gilt (dazu unter 3). Daran ändert sich auch nichts, wenn der Ursprungsmitgliedstaat der Ware gemäß der Übergangsregelung des Art. 370 in Verbindung mit Anhang X Teil A Nr. 1 die Steuerbefreiung des Art. 132 Abs. 1 Buchst. e der Mehrwertsteuerrichtlinie nicht anwendet (dazu unter 4).

1.      Steuerbefreiung für die Einfuhr von Gegenständen gemäß Art. 143 Buchst. a der Mehrwertsteuerrichtlinie

44.      Nach Art. 143 Buchst. a der Mehrwertsteuerrichtlinie befreien die Mitgliedstaaten die endgültige Einfuhr von Gegenständen von der Mehrwertsteuer, „deren Lieferung durch Steuerpflichtige in ihrem jeweiligen Gebiet in jedem Fall“ steuerfrei ist.

45.      Die Formulierung „in ihrem jeweiligen Gebiet“ bezieht sich auf den jeweiligen Mitgliedstaat der Einfuhr. Das ergibt sich aus einem Vergleich mit Bestimmungen wie dem Art. 88, dem Art. 207 oder dem Art. 214 Abs. 1 Buchst. a der Mehrwertsteuerrichtlinie, welche die gleiche Formulierung enthalten. Wie VDP deshalb zutreffend hervorgehoben hat, muss die Lieferung des Gegenstands im Bestimmungsmitgliedstaat, also dem Mitgliedstaat, in den der Gegenstand eingeführt wird, von der Steuer befreit sein.

46.      Der Wortlaut des Art. 143 Buchst. a der Mehrwertsteuerrichtlinie indiziert durch die Formulierung „in jedem Fall“, dass die Lieferung des eingeführten Gegenstands immer, also unabhängig von weiteren Voraussetzungen, von der Steuer befreit sein muss. Enthält eine Steuerbefreiung für die Lieferung eines Gegenstands hingegen zusätzliche Bedingungen, wie im vorliegenden Fall Art. 132 Abs. 1 Buchst. e der Mehrwertsteuerrichtlinie im Hinblick auf die Eigenschaften des Lieferers, so wäre danach die Lieferung eines bestimmten Gegenstands eben nicht „in jedem Fall“ von der Steuer befreit.

47.      Die Entstehungsgeschichte des Art. 143 Buchst. a der Mehrwertsteuerrichtlinie bestätigt die Interpretation des Wortlauts. Dem Art. 143 Buchst. a der Mehrwertsteuerrichtlinie entsprach in der Sechsten Richtlinie der Art. 14 Abs. 1 Buchst. a. Danach war die Einfuhr von Gegenständen steuerfrei, „deren Lieferung durch Steuerpflichtige im Inland auf jeden Fall steuerfrei ist“. Art. 14 Abs. 1 Buchst. a der Sechsten Richtlinie basiert seinerseits auf Art. 15 Nr. 1 des Vorschlags der Kommission(15). Anders als der später vom Rat angenommene Art. 14 Abs. 1 Buchst. a der Sechsten Richtlinie verwies Art. 15 Nr. 1 des Vorschlags der Kommission noch explizit auf einzelne inländische Steuerbefreiungen. Dieser Verweis umfasste – bis auf eine Ausnahme(16) – ausschließlich Steuerbefreiungen, die allein vom Gegenstand der Lieferung abhängig waren und unabhängig von weiteren Voraussetzungen gelten sollten. Auf die Steuerbefreiung für die Lieferung von Zahnersatz durch Zahnärzte und Zahntechniker(17) wurde nicht verwiesen.

48.      Dass die Steuerbefreiung des Art. 14 Abs. 1 Buchst. a der Sechsten Richtlinie letztlich anders formuliert wurde, lässt sich vor diesem Hintergrund am besten damit erklären, dass die einzige Steuerbefreiung, auf die Art. 15 Nr. 1 des Vorschlags der Kommission verwiesen hatte, die von weiteren Voraussetzungen als dem bloßen Gegenstand der Lieferung abhängig war, nicht in die angenommene Richtlinie übernommen wurde. Es lag deshalb nahe, den Verweis auf nunmehr ausschließlich Steuerbefreiungen, die unabhängig von weiteren Voraussetzungen gelten sollten, durch den Textteil „auf jeden Fall“ zusammenzufassen.

49.      Die systematische Auslegung führt zum gleichen Ergebnis. Art. 143 enthält nämlich in Buchst. k die Steuerbefreiung für „die Einfuhr von Gold durch Zentralbanken“. Die „Lieferungen von Gold an Zentralbanken“ sind gemäß Art. 152 der Mehrwertsteuerrichtlinie von der Steuer befreit. Es handelt sich also um eine Steuerbefreiung, welche die Lieferung von Gold nicht in jedem Fall, sondern nur dann von der Steuer befreit, wenn sie an einen bestimmten Empfänger, nämlich eine Zentralbank, geliefert wird. Verstünde man die Steuerbefreiung des Art. 143 Buchst. a der Mehrwertsteuerrichtlinie aber nun in der Weise, dass sie bei sämtlichen Steuerbefreiungen für die Lieferung von Gegenständen zur Anwendung käme, wenn deren Voraussetzungen erfüllt sind, dann müsste bereits nach dieser Vorschrift in Verbindung mit Art. 152 der Mehrwertsteuerrichtlinie die Einfuhr von Gold durch Zentralbanken von der Steuer befreit sein. Art. 143 Buchst. k der Mehrwertsteuerrichtlinie, der eben dies vorsieht, wäre damit überflüssig.

50.      Schließlich ergeben sich auch aus dem Zweck der Steuerbefreiung des Art. 143 Buchst. a der Mehrwertsteuerrichtlinie keine Argumente, die für ein extensives Verständnis ihres Anwendungsbereichs sprächen.

51.      Nachdem die Kommission noch im Vorschlag zur Sechsten Richtlinie festgestellt hatte, diese Steuerbefreiung bedürfe „keine[r] besonderen Erläuterungen“(18), hat sie im vorliegenden Verfahren ausgeführt, ihr Zweck liege in der Gleichbehandlung von grenzüberschreitenden und innerstaatlichen Umsätzen. Das klingt zunächst einleuchtend. Betrachtet man jedoch auch die Auswirkungen des Vorsteuerabzugs in der Lieferkette, kann von Gleichbehandlung im Endergebnis keine Rede mehr sein.

52.      Ohne Berücksichtigung des Vorsteuerabzugs in der Lieferkette führt eine extensive Anwendung der Steuerbefreiung des Art. 143 Buchst. a der Mehrwertsteuerrichtlinie dazu, dass beim Bezug eines Gegenstands keine Mehrwertsteuerbelastung entsteht, unabhängig davon, ob er aus dem Inland oder aus einem Drittstaat bezogen wird. Dies wird bewirkt, indem die für die inländische Lieferung geltende Steuerbefreiung auf die Einfuhr aus Drittstaaten erstreckt wird.

53.      Bei Berücksichtigung des Vorsteuerabzugs des Lieferers ergibt sich ein anderes Bild. Die Steuerbefreiung für die innerstaatliche Lieferung eines Gegenstands hat nämlich zur Folge, dass der Lieferer gemäß Art. 168 der Mehrwertsteuerrichtlinie(19) auch kein Recht auf Vorsteuerabzug hat für die Leistungen, die er zur Herstellung des Gegenstands bezogen hat. Die nicht abziehbare Mehrwertsteuer auf diese Vorleistungen belastet somit endgültig die steuerfreie Lieferung des Gegenstands, indem sie die Kosten seiner Herstellung erhöht.

54.      Anders ist dies jedoch regelmäßig bei der Einfuhr eines Gegenstands aus Drittstaaten. In diesem Fall hat der im Drittstaat ansässige Lieferer grundsätzlich ein Recht auf Vorsteuerabzug. Es entspricht nämlich der internationalen Steuerpraxis, Gegenstände, die ausgeführt werden, von jeglicher Mehrwertsteuer zu entlasten. Bei Exporten aus der Union wird dies durch die Steuerbefreiung der Ausfuhr gemäß Art. 146 und die gleichzeitige Gewährung des Vorsteuerabzugs gemäß Art. 169 Buchst. b der Mehrwertsteuerrichtlinie(20) bewirkt.

55.      Wenn somit regelmäßig bei grenzüberschreitenden Umsätzen ein Recht auf Vorsteuerabzug des Lieferers besteht, bei innerstaatlichen Umsätzen hingegen nicht, dann führt die Steuerbefreiung des Art. 143 Buchst. a der Mehrwertsteuerrichtlinie auch regelmäßig zu einem Wettbewerbsvorteil für Waren aus Drittstaaten. Das Königreich der Niederlande hat deshalb zu Recht darauf hingewiesen, dass im vorliegenden Fall Anbieter aus Drittstaaten im Gegensatz zu inländischen Anbietern Zahnersatz gänzlich unbelastet von Mehrwertsteuer liefern könnten, wenn Art. 143 Buchst. a der Mehrwertsteuerrichtlinie auch auf die Einfuhr von Zahnersatz aus Drittstaaten anzuwenden wäre.

56.      Derartige Wettbewerbsverzerrungen können nur dadurch verhindert werden, dass auch im Drittstaat für die Ausfuhrlieferung kein Recht auf Vorsteuerabzug gewährt wird. Da dies jedoch regelmäßig nicht der Fall sein wird, kann nur durch die Besteuerung der Einfuhr eines Gegenstands dieser Wettbewerbsvorteil für Anbieter aus Drittstaaten, wenn auch unvollkommen, korrigiert werden. Denn durch die Besteuerung der Einfuhr wird auch der aus einem Drittstaat stammende Gegenstand mit Mehrwertsteuer belastet. Diese Belastung ist auch endgültig, sofern der Erwerber insoweit nicht zum Vorsteuerabzug gemäß Art. 168 Buchst. e der Mehrwertsteuerrichtlinie(21) berechtigt ist. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn der Erwerber Verbraucher ist oder er den Gegenstand steuerfrei im Inland weiterveräußert. Letzteres ist die Situation in den drei Ausgangsverfahren. Den Steuerpflichtigen steht jeweils kein Recht auf Vorsteuerabzug für den Bezug von Zahnersatz zu, weil sie den Zahnersatz nach Art. 132 Abs. 1 Buchst. e der Mehrwertsteuerrichtlinie steuerfrei weiterveräußern.

57.      Allerdings wird diese Mehrwertsteuerbelastung für Gegenstände aus Drittstaaten regelmäßig höher sein als die Belastung, die ein innerstaatlich gelieferter Gegenstand zu tragen hat. Während bei Letzteren die Belastung vom Wert der Vorleistungen abhängt(22), orientiert sich die Belastung von Gegenständen, die bei Besteuerung der Einfuhr entsteht, am Wert des fertigen Gegenstands(23). Somit entsteht durch die Versagung der Steuerbefreiung der Einfuhr gemäß Art. 143 Buchst. a der Mehrwertsteuerrichtlinie im Ergebnis regelmäßig ein Wettbewerbsnachteil für Zahnersatz aus Drittstaaten.

58.      Weder die Steuerbefreiung noch die Besteuerung der Einfuhr von Gegenständen aus Drittstaaten, deren Lieferung im Bestimmungsmitgliedstaat steuerfrei ist, bietet somit eine wettbewerbsneutrale Lösung. Weder auf die eine noch auf die andere Weise können gleiche Wettbewerbsbedingungen für Waren aus dem Inland und aus Drittstaaten hergestellt werden. Eine wettbewerbsneutrale Lösung liegt außerhalb der Regelungsmöglichkeiten der Mehrwertsteuerrichtlinie, weil diese Einfluss auf das Recht auf Vorsteuerabzug eines Lieferers in einem Drittstaat voraussetzen würde(24).

59.      Vor diesem Hintergrund ist an die ständige Rechtsprechung zu erinnern, wonach die Steuerbefreiungen der Sechsten Richtlinie eng auszulegen sind, da sie Ausnahmen von dem allgemeinen Grundsatz darstellen, dass jede Lieferung von Gegenständen und jede Dienstleistung, die ein Steuerpflichtiger gegen Entgelt erbringt, der Mehrwertsteuer unterliegt(25). Dieser Grundsatz gilt auch für die Steuerbefreiungen bei der Einfuhr. Eine enge Auslegung würde im vorliegenden Fall auch der Steuerbefreiung des Art. 143 Buchst. a der Mehrwertsteuerrichtlinie nicht ihre Wirkung nehmen(26), da wie gesehen das Ziel der Gleichbehandlung unter Berücksichtigung der Wirkungen des Vorsteuerabzugs beim Lieferer nicht besser durch eine weite Auslegung der Bestimmung verwirklicht werden kann.

60.      Schließlich sprechen auch die erheblichen praktischen Schwierigkeiten gegen eine weite Auslegung. Auf diese Schwierigkeiten haben sowohl das Königreich der Niederlande als auch die Kommission zu Recht hingewiesen. Denn bei einer extensiven Auslegung der Steuerbefreiung des Art. 143 Buchst. a der Mehrwertsteuerrichtlinie müsste zum Beispiel im vorliegenden Fall regelmäßig bei Grenzübertritt nachgewiesen werden, dass der Verkäufer im Drittstaat Zahnarzt oder Zahntechniker ist. Solche Schwierigkeiten werden vermieden, wenn die Steuerbefreiung des Art. 143 Buchst. a der Mehrwertsteuerrichtlinie allein dann Anwendung findet, wenn für die Lieferung eines eingeführten Gegenstands immer, also nur aufgrund der Eigenschaften des Gegenstands selbst, eine Steuerbefreiung gilt. Dessen Eigenschaften sind nämlich bei seinem Grenzübertritt normalerweise einfach festzustellen.

61.      Im Ergebnis ist gemäß Art. 143 Buchst. a der Mehrwertsteuerrichtlinie nur die Einfuhr von Gegenständen aus Drittstaaten von der Steuer befreit, deren Lieferung im Bestimmungsmitgliedstaat immer, also unabhängig von weiteren Voraussetzungen, von der Steuer befreit ist. Daher ist die Vorlagefrage zu Art. 143 Buchst. a der Mehrwertsteuerrichtlinie so zu beantworten, dass diese Steuerbefreiung auf die Einfuhr von Zahnersatz keine Anwendung findet.

2.      Steuerbefreiung des innergemeinschaftlichen Erwerbs gemäß Art. 140 Buchst. b der Mehrwertsteuerrichtlinie

62.      Als Nächstes ist die Steuerbefreiung für den innergemeinschaftlichen Erwerb von Gegenständen gemäß Art. 140 Buchst. b der Mehrwertsteuerrichtlinie zu untersuchen. Diese Vorschrift knüpft an die soeben behandelte Steuerbefreiung für die Einfuhr von Gegenständen gemäß Art. 143 Buchst. a der Mehrwertsteuerrichtlinie an. Art. 140 Buchst. b der Mehrwertsteuerrichtlinie befreit nämlich u. a. „den innergemeinschaftlichen Erwerb von Gegenständen, deren Einfuhr gemäß Artikel 143 Buchstabe a … in jedem Fall mehrwertsteuerfrei ist“.

63.      Da die in Bezug genommene Steuerbefreiung keine Anwendung auf die Einfuhr von Zahnersatz findet(27), ist auch der innergemeinschaftliche Erwerb von Zahnersatz nicht gemäß Art. 140 Buchst. b der Mehrwertsteuerrichtlinie von der Steuer befreit.

3.      Steuerbefreiung des innergemeinschaftlichen Erwerbs gemäß Art. 140 Buchst. a der Mehrwertsteuerrichtlinie

64.      Der innergemeinschaftliche Erwerb von Zahnersatz könnte jedoch unter den Bedingungen des Art. 140 Buchst. a der Mehrwertsteuerrichtlinie von der Steuer befreit sein. Diese Steuerbefreiung betrifft den innergemeinschaftlichen Erwerb von Gegenständen, deren Lieferung durch Steuerpflichtige im Bestimmungsmitgliedstaat „in jedem Fall“ steuerfrei ist.

65.      Obwohl Art. 140 Buchst. a der Mehrwertsteuerrichtlinie im Wortlaut erkennbar der Steuerbefreiung für die Einfuhr von Gegenständen aus Drittstaaten gemäß Art. 143 Buchst. a der Mehrwertsteuerrichtlinie nachgebildet ist, können beide Bestimmungen nicht in gleicher Weise ausgelegt werden. Vielmehr ist der innergemeinschaftliche Erwerb von Zahnersatz steuerfrei, wenn die Lieferung durch einen Zahnarzt oder Zahntechniker erfolgt(28). Meine von der Auslegung des Art. 143 Buchst. a der Mehrwertsteuerrichtlinie abweichende und von VDP, Nobel, der Republik Estland und der Kommission geteilte Auffassung beruht auf zwei Gründen.

66.      Erstens würde eine identische Auslegung beider Bestimmungen die Steuerbefreiung für den innergemeinschaftlichen Erwerb gemäß Art. 140 Buchst. a der Mehrwertsteuerrichtlinie jedes eigenständigen Inhalts berauben. Denn dann würde sie nicht über den Regelungsgehalt der Steuerbefreiung gemäß dem Buchst. b des Art. 140 der Mehrwertsteuerrichtlinie hinausgehen, soweit diese ihrerseits auf die Steuerbefreiung des Art. 143 Buchst. a der Mehrwertsteuerrichtlinie verweist.

67.      Zweitens ist eine von Art. 143 Buchst. a der Mehrwertsteuerrichtlinie abweichende Auslegung aufgrund der Art. 90 und 93 EG (jetzt: Art. 110 und 113 AEUV) geboten. Denn ein Unionsrechtsakt wie die Mehrwertsteuerrichtlinie ist im Einklang mit dem gesamten Primärrecht auszulegen(29).

68.      Nach Art. 90 EG (jetzt: Art. 110 AEUV) erheben die Mitgliedstaaten auf Waren aus anderen Mitgliedstaaten keine höheren inländischen Abgaben, als gleichartige inländische Waren zu tragen haben. Die Bestimmung soll den freien Warenverkehr zwischen den Mitgliedstaaten unter normalen Wettbewerbsbedingungen dadurch gewährleisten, dass sie jegliche Form von Schutz beseitigt, die sich aus einer Waren aus anderen Mitgliedstaaten diskriminierenden inländischen Abgabe ergeben kann(30).

69.      Diese Gewährleistung gleicher Wettbewerbsbedingungen ist auch die ratio legis von Art. 93 EG (jetzt: Art. 113 AEUV), auf dessen Grundlage die Mehrwertsteuerrichtlinie erlassen wurde. Die Harmonisierung der mitgliedstaatlichen Umsatzsteuern dient danach der Errichtung und dem Funktionieren des Binnenmarkts und insbesondere der Vermeidung von Wettbewerbsverzerrungen.

70.      Aus beiden Vertragsbestimmungen folgt, dass Art. 140 Buchst. a der Mehrwertsteuerrichtlinie möglichst in einer Weise auszulegen ist, die Wettbewerbsverzerrungen zwischen den Mitgliedstaaten verhindert. Insoweit stellt sich die innergemeinschaftliche Wettbewerbssituation in zweierlei Hinsicht anders dar als im Verhältnis zu Drittstaaten.

71.      Zum einen sind die Steuerbefreiungen in der Union prinzipiell einheitlich durch die Mehrwertsteuerrichtlinie geregelt. Eine Steuerbefreiung ist damit grundsätzlich in gleicher Weise sowohl im Ursprungs- als auch im Bestimmungsmitgliedstaat anzuwenden.

72.      Zum anderen berechtigt auch die grenzüberschreitende Lieferung eines Gegenstands, die im innerstaatlichen Fall von der Steuer befreit ist, nicht zum Vorsteuerabzug. Denn der Gerichtshof hat im Urteil Eurodental entschieden, dass gemäß Art. 13 der Sechsten Richtlinie befreite Umsätze kein Recht auf Vorsteuerabzug begründen, selbst wenn diese Umsätze innergemeinschaftlichen Charakter haben(31). Eine nach Art. 138 der Mehrwertsteuerrichtlinie steuerfreie innergemeinschaftliche Lieferung berechtigt somit dann nicht – wie sonst gemäß Art. 169 Buchst. b der Mehrwertsteuerrichtlinie(32) – zum Vorsteuerabzug, wenn eine derartige Lieferung einer speziellen Steuerbefreiung, u. a. des jetzigen Art. 132 der Mehrwertsteuerrichtlinie, unterliegt.

73.      Auf diese Weise ist in der Union im Ergebnis grundsätzlich die Wettbewerbsneutralität der Mehrwertsteuer im Handel mit Zahnersatz gewährleistet. Denn die Bedingungen für den Vorsteuerabzug des Lieferers im innerstaatlichen und im innergemeinschaftlichen Fall sind gleich. In beiden Fällen besteht bei einheitlich in der Union geltenden Steuerbefreiungen kein Recht auf Vorsteuerabzug für den Lieferer. Deshalb ist sowohl im Inland als auch aus einem anderen Mitgliedstaat bezogener Zahnersatz in den gleichen Fällen mit nicht abziehbarer Vorsteuer aus der Herstellung belastet(33). Vor diesem Hintergrund dient – anders als im Fall der Einfuhr aus Drittstaaten(34) – eine Befreiung des innergemeinschaftlichen Erwerbs eines Gegenstands für den Fall, dass eine inländische Lieferung des Gegenstands ebenfalls von der Steuer befreit wäre, tatsächlich der Gleichbehandlung von innerstaatlichem und grenzüberschreitendem Umsatz.

74.      Vor diesem Hintergrund ist es nicht überraschend, wenn der Gerichtshof im Urteil Eurodental bereits en passant hat erkennen lassen, dass die Steuerbefreiung des Art. 140 Buchst. a der Mehrwertsteuerrichtlinie auch auf Zahnersatz Anwendung finden kann(35), und sich der Beratende Ausschuss für die Mehrwertsteuer bereits zuvor in gleicher Weise geäußert hatte(36).

75.      Diese Steuerbefreiung setzt voraus, dass der Lieferer im Ursprungsmitgliedstaat Zahnarzt oder Zahntechniker ist, weil nur dann eine Gleichbehandlung von innerstaatlichen und innergemeinschaftlichen Lieferungen gegeben ist. Dies führt zwar auch zu gewissen praktischen Schwierigkeiten bei der tatsächlichen Feststellung der Voraussetzungen der Steuerbefreiung. Innerhalb der Union ist eine Prüfung aber leichter durchzuführen als bei der Einfuhr aus einem Drittstaat(37). Denn erstens existiert in der Union steuerrechtliche Amtshilfe(38), zweitens muss die Überprüfung nicht an der Grenze, sondern kann im Rahmen des normalen Besteuerungsverfahrens erfolgen.

76.      Anders als Art. 143 Buchst. a ist damit Art. 140 Buchst. a der Mehrwertsteuerrichtlinie in der Weise auszulegen, dass er auf den innergemeinschaftlichen Erwerb von Zahnersatz anzuwenden ist, wenn der Lieferer ein Zahnarzt oder Zahntechniker im Sinne des Art. 132 Abs. 1 Buchst. e der Mehrwertsteuerrichtlinie ist.

4.      Einfluss der Ausnahmebestimmung des Art. 370 der Mehrwertsteuerrichtlinie

77.      Zuletzt ist noch die Frage zu klären, ob Art. 140 Buchst. a der Mehrwertsteuerrichtlinie auch dann anzuwenden ist, wenn der Zahnersatz aus einem Mitgliedstaat geliefert wird, der aufgrund von Art. 370 in Verbindung mit Anhang X Teil A Nr. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie die Steuerbefreiung des Art. 132 Abs. 1 Buchst. e der Mehrwertsteuerrichtlinie nicht anwendet, sondern die Lieferungen von Zahnersatz immer besteuert.

78.      Das Königreich der Niederlande vertritt insoweit die Auffassung, dass die Steuerbefreiung jedenfalls in einem solchen Fall zur Verhinderung von Wettbewerbsverzerrungen nicht anwendbar sein kann.

79.      Eine solche Ausnahme kann nicht auf den Wortlaut der Steuerbefreiung des Art. 140 Buchst. a der Mehrwertsteuerrichtlinie gestützt werden. Denn dieser bezieht sich wie gesehen nur auf das Bestehen einer Steuerbefreiung im Bestimmungs-, nicht aber im Ursprungsmitgliedstaat(39).

80.      Allerdings ist ein Mitgliedstaat, der gemäß Art. 370 in Verbindung mit Anhang X Teil A Nr. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie die Lieferung von Zahnersatz in allen Fällen besteuert, im Ergebnis in der gleichen Wettbewerbssituation wie ein Drittstaat. Da der Lieferer in einem solchen Mitgliedstaat nicht der Steuerbefreiung des Art. 132 Abs. 1 Buchst. e der Mehrwertsteuerrichtlinie, sondern nur der Steuerbefreiung für innergemeinschaftliche Lieferungen des Art. 138 der Mehrwertsteuerrichtlinie unterliegt, kann er bei Lieferung in einen anderen Mitgliedstaat gemäß Art. 169 Buchst. b der Mehrwertsteuerrichtlinie(40) den vollen Vorsteuerabzug für seine Eingangsumsätze geltend machen. Daher kann Zahnersatz aus einem solchen Mitgliedstaat mehrwertsteuerlich gänzlich unbelastet geliefert werden. Daraus resultiert – ebenso wie im Fall einer Lieferung aus einem Drittstaat(41) – ein Wettbewerbsvorteil für Steuerpflichtige, die in einem solchen Mitgliedstaat ansässig sind.

81.      Insbesondere um diesen Wettbewerbsvorteil zu kompensieren, schlage ich im Rahmen der Untersuchung des Art. 143 Buchst. a der Mehrwertsteuerrichtlinie eine enge Auslegung der Steuerbefreiung für die Einfuhr aus Drittstaaten vor(42). Dennoch halte ich es nicht für angebracht, diese enge Auslegung auf die Steuerbefreiung für den innergemeinschaftlichen Erwerb gemäß Art. 140 Buchst. a der Mehrwertsteuerrichtlinie für den Fall zu übertragen, dass im Ursprungsmitgliedstaat aufgrund der Ausnahmeregelung des Art. 370 der Mehrwertsteuerrichtlinie keine Steuerbefreiung für die Lieferung von Zahnersatz existiert.

82.      Erstens hätte dies im Ergebnis eine Benachteiligung der Wettbewerbssituation eines solchen Ursprungsmitgliedstaats zur Folge. Denn wie ich im Hinblick auf Drittstaaten bereits dargelegt habe(43), würde der aus einem solchen Mitgliedstaat stammende Zahnersatz durch die Besteuerung des innergemeinschaftlichen Erwerbs regelmäßig mit einer höheren Mehrwertsteuerbelastung versehen als der aus einem anderen Mitgliedstaat stammende Zahnersatz, der nur mit nicht abziehbarer Vorsteuer belastet ist. Eine solche Benachteiligung importierter Waren ist jedoch bei Mitgliedstaaten – anders als bei Drittstaaten – im Hinblick auf das diesbezügliche Verbot des Art. 90 EG (jetzt: Art. 110 AEUV)(44) problematisch.

83.      Zweitens hat der Gerichtshof im Urteil Eurodental bereits im Hinblick auf die Wettbewerbsverzerrungen, die sich aus dem unterschiedlichen Recht auf Vorsteuerabzug ergeben(45), entschieden, dass diese Situation die Konsequenz einer noch nicht vollständigen Harmonisierung der Mehrwertbesteuerung ist(46). Die vom Königreich der Niederlande zu Recht beklagten Wettbewerbsverzerrungen sind somit die Folge der Ausnahmeregelung des Art. 370 der Mehrwertsteuerrichtlinie und nicht einer zu weiten Auslegung der Steuerbefreiung des Art. 140 Buchst. a der Mehrwertsteuerrichtlinie.

84.      Wenn die Ursache des Problems somit die Ausnahmeregelung des Art. 370 der Mehrwertsteuerrichtlinie ist, kann auch nur dort eine Lösung gefunden werden. Insoweit stelle ich mir die Frage, ob diese Bestimmung den primärrechtlichen Anforderungen, insbesondere dem Grundsatz der Gleichbehandlung, gerecht wird. Dies gilt sowohl im Hinblick auf den für die Steuerpflichtigen geltenden allgemeinen Gleichbehandlungsgrundsatz des Art. 20 der Charta der Grundrechte als auch im Hinblick auf den besonderen Gleichbehandlungsgrundsatz des Art. 4 Abs. 2 EUV, der zwischen den Mitgliedstaaten Anwendung findet. Denn bei Art. 370 der Mehrwertsteuerrichtlinie handelt es sich nicht um den klassischen Fall einer nur schrittweisen Harmonisierung, die allen Mitgliedstaaten Raum für unterschiedliche nationale Regelungen lässt. Vielmehr erlaubt diese Bestimmung nur ganz bestimmten Mitgliedstaaten(47) eine Abweichung von den Vorschriften der Mehrwertsteuerrichtlinie für Steuerbefreiungen, die jedoch für die anderen Mitgliedstaaten verpflichtend sind(48). Derartige Ungleichbehandlungen der Mitgliedstaaten sowie daraus resultierende Ungleichbehandlungen der bei ihnen ansässigen Steuerpflichtigen mögen für eine Übergangszeit im Hinblick auf die Erreichung eines Harmonisierungsziels gerechtfertigt sein(49). Im vorliegenden Fall ist für die Ausnahmebestimmung des Art. 370 der Mehrwertsteuerrichtlinie aber keine zeitliche Befristung vorgesehen. Deshalb bestehen die unterschiedlichen Befugnisse der Mitgliedstaaten im Hinblick auf die Anwendung der Steuerbefreiung des Art. 132 Abs. 1 Buchst. e der Mehrwertsteuerrichtlinie bereits seit Inkrafttreten der Sechsten Richtlinie, mithin seit über 36 Jahren(50).

85.      Die Frage der Vereinbarkeit des Art. 370 der Mehrwertsteuerrichtlinie mit Art. 20 der Charta der Grundrechte sowie Art. 4 Abs. 2 EUV geht jedoch über den Gegenstand des vorliegenden Vorabentscheidungsersuchens hinaus. Sie ließe sich vor dem Gerichtshof nur im Rahmen eines anders gelagerten Verfahrens überprüfen. Unabhängig davon ist angesichts der vom Königreich der Niederlande aufgezeigten Wettbewerbsverzerrungen der Unionsgesetzgeber aufgerufen, den Anforderungen des Art. 113 AEUV durch eine entsprechende Gestaltung der Mehrwertsteuerrichtlinie gerecht zu werden.

86.      Im Hinblick auf die vorliegende Frage bleibt festzustellen, dass Art. 140 Buchst. a der Mehrwertsteuerrichtlinie auch dann Anwendung findet, wenn der Zahnersatz aus einem Mitgliedstaat geliefert wird, der aufgrund von Art. 370 in Verbindung mit Anhang X Teil A Nr. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie die Steuerbefreiung des Art. 132 Abs. 1 Buchst. e der Mehrwertsteuerrichtlinie nicht anwendet.

VI – Ergebnis

87.      Nach alledem schlage ich die folgende Beantwortung der Vorlagefragen des Hoge Raad der Nederlanden vor:

1.      Aus Art. 17 in der Fassung des Art. 28f Nr. 1 der Sechsten Richtlinie ergibt sich kein Recht auf Vorsteuerabzug für einen Steuerpflichtigen, der seine Umsätze deshalb nicht versteuert hat, weil das nationale Recht entgegen den Bestimmungen des Unionsrechts eine Steuerbefreiung vorgesehen hat.

2.      Die Steuerbefreiung des Art. 140 Buchst. a der Mehrwertsteuerrichtlinie findet auf den innergemeinschaftlichen Erwerb von Zahnersatz Anwendung, wenn der Lieferer gemäß Art. 132 Abs. 1 Buchst. e der Mehrwertsteuerrichtlinie ein Zahnarzt oder Zahntechniker ist. Dies gilt ungeachtet der Frage, ob der Ursprungsmitgliedstaat von der Ausnahmeregelung des Art. 370 in Verbindung mit Anhang X Teil A Nr. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie Gebrauch macht.

3.      Nach Art. 143 Buchst. a der Mehrwertsteuerrichtlinie ist die Einfuhr von Zahnersatz in keinem Fall von der Steuer befreit.

4.      Nach Art. 140 Buchst. b in Verbindung mit Art. 143 Buchst. a der Mehrwertsteuerrichtlinie ist der innergemeinschaftliche Erwerb von Zahnersatz in keinem Fall von der Steuer befreit.


1 – Originalsprache: Deutsch.


2 – Vgl. zuvor Urteile Eurodental (C-240/05, EU:C:2006:763) und VDP Dental Laboratory (C-401/05, EU:C:2006:792).


3 – Urteil Eurodental (C-240/05, EU:C:2006:763).


4 – Urteil VDP Dental Laboratory (C-401/05, EU:C:2006:792).


5 – Urteil MDDP (C-319/12, EU:C:2013:778).


6 – ABl. L 145, S. 1.


7 – ABl. L 347, S. 1.


8 – Siehe oben, Nr. 5.


9 – Siehe oben, Nr. 15.


10 – Siehe oben, Nr. 14.


11 – Vgl. Urteil VDP Dental Laboratory (C-401/05, EU:C:2006:792).


12 – Urteil MDDP (C-319/12, EU:C:2013:778, Rn. 45).


13 – Siehe hierzu meine Schlussanträge MDDP (C-319/12, EU:C:2013:421, Nrn. 37 bis 51).


14 – Siehe meine Schlussanträge MDDP (C-319/12, EU:C:2013:421, Nr. 72).


15 – Vorschlag der sechsten Richtlinie des Rates zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage vom 20. Juni 1973, KOM(73) 950 endg.


16 – Siehe Art. 14 Abs. B Buchst. c des Vorschlags der sechsten Richtlinie (zitiert in Fn. 15), der die Lieferungen an „Einrichtungen, die mit der Anlage, der Ausstattung und der Instandhaltung von Friedhöfen, Grabstätten und Denkmälern für Kriegsgefallene beauftragt sind“, von der Steuer befreite; vgl. insoweit nunmehr Anhang X Teil B Nr. 6 der Mehrwertsteuerrichtlinie.


17 – Art. 14 Abs. A 1 Buchst. e des Vorschlags der sechsten Richtlinie (zitiert in Fn. 15).


18 – Vorschlag der sechsten Richtlinie (zitiert in Fn. 15), S. 17.


19 – Bzw. Art. 17 Abs. 2 in der Fassung des Art. 28f Nr. 1 der Sechsten Richtlinie.


20 – Bzw. Art. 17 Abs. 3 Buchst. b in der Fassung des Art. 28f Nr. 1 der Sechsten Richtlinie.


21 – Bzw. Art. 17 Abs. 2 Buchst. b in der Fassung des Art. 28f Nr. 1 der Sechsten Richtlinie.


22 – Vgl. Art. 73 der Mehrwertsteuerrichtlinie.


23 – Vgl. Art. 85 der Mehrwertsteuerrichtlinie in Verbindung mit Art. 29 der Verordnung (EWG) Nr. 2913/92 des Rates vom 12. Oktober 1992 zur Festlegung des Zollkodex der Gemeinschaften (ABl. L 302, S. 1).


24 – Siehe oben, Nrn. 55 und 56.


25 – Vgl. nur Urteile Velker International Oil Company (C-185/89, EU:C:1990:262, Rn. 19) und Granton Advertising (C-461/12, EU:C:2014:1745, Rn. 25).


26 – Vgl. zu dieser Anforderung nur Urteile Dornier (C-45/01, EU:C:2003:595, Rn. 42) und Klinikum Dortmund (C-366/12, EU:C:2014:143, Rn. 27).


27 – Siehe oben, Nrn. 44 bis 61.


28 – Vgl. bereits meine Schlussanträge VDP Dental Laboratory (C-401/05, EU:C:2006:537, Nr. 44).


29 – Vgl. Urteile Sturgeon u. a. (C-402/07, EU:C:2009:716, Rn. 48), Chatzi (C-149/10, EU:C:2010:534, Rn. 43) und Kommission/Strack (C-579/12 RX-II, EU:C:2013:570, Rn. 40).


30 – Urteil Stadtgemeinde Frohnleiten und Gemeindebetriebe Frohnleiten (C-221/06, EU:C:2007:657, Rn. 30) zu Art. 90 EG.


31 – Urteil Eurodental (C-240/05, EU:C:2006:763, Rn. 37).


32 – Bzw. Art. 17 Abs. 3 Buchst. b in der Fassung des Art. 28f Nr. 1 der Sechsten Richtlinie.


33 – Unterschiede ergeben sich nur noch insoweit, als die Vorsteuerbelastung aufgrund unterschiedlicher Steuersätze der Mitgliedstaaten je nach Herkunft der Vorleistungen variieren kann. Denn die Steuersätze sind gemäß Art. 96 bis 105 der Mehrwertsteuerrichtlinie nur teilweise harmonisiert.


34 – Vgl. oben, Nrn. 53 bis 55.


35 – Vgl. Urteil Eurodental (C-240/05, EU:C:2006:763, Rn. 40) zur Vorgängervorschrift des Art. 28c Teil B Buchst. a der Sechsten Richtlinie.


36 – Vgl. die Leitlinien aus der 56. Sitzung des gemäß Art. 29 der Sechsten Richtlinie Beratenden Ausschusses für die Mehrwertsteuer vom 13.-14. Oktober 1998 zur Vorgängervorschrift des Art. 28c Teil B Buchst. a der Sechsten Richtlinie.


37 – Vgl. oben, Nr. 60.


38 – Siehe die Verordnung (EU) Nr. 904/2010 des Rates vom 7. Oktober 2010 über die Zusammenarbeit der Verwaltungsbehörden und die Betrugsbekämpfung auf dem Gebiet der Mehrwertsteuer (Neufassung) (ABl. L 268, S. 1).


39 – Siehe oben, Nr. 45.


40 – Bzw. Art. 17 Abs. 3 Buchst. b in der Fassung des Art. 28f Nr. 1 der Sechsten Richtlinie.


41 – Siehe oben, Nr. 55.


42 – Siehe oben, Nr. 56.


43 – Siehe oben, Nr. 57.


44 – Vgl. oben, Nr. 68.


45 – Vgl. oben, Nr. 72.


46 – Urteil Eurodental (C-240/05, EU:C:2006:763, Rn. 48 bis 53).


47 – Vgl. zu den engen Voraussetzungen einer Berufung auf die Ausnahmeregelungen der Mehrwertsteuerrichtlinie für später der Union beigetretene Mitgliedstaaten das Urteil Kommission/Polen (C-49/09, EU:C:2010:644, Rn. 42) im Hinblick auf Art. 115 der Mehrwertsteuerrichtlinie.


48 – Diesen Umstand verkennt das Urteil Jetair und BTW-eenheid BTWE Travel4you (C-599/12, EU:C:2014:144, Rn. 44 bis 51), das sich in anderem Zusammenhang mit Art. 370 der Mehrwertsteuerrichtlinie auseinandergesetzt hat.


49 – Vgl. zur Ungleichbehandlung von Wirtschaftsteilnehmern Urteil Arcelor Atlantique und Lorraine u. a. (C-127/07, EU:C:2008:728, Rn. 69); vgl. in diesem Sinne auch Urteil Eurodental (C-240/05, EU:C:2006:763, Rn. 52).


50 – Siehe Art.  28 Abs. 3 Buchst. a und Abs. 4 in Verbindung mit Anhang E Nr. 2 der Sechsten Richtlinie.