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Vorläufige Fassung

SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

MICHAL BOBEK

vom 10. April 2018(1)

Rechtssache C-154/17

SIA ‚E LATS‘,

Beteiligte:

Valsts ieņēmumu dienests


(Vorabentscheidungsersuchen des Augstākā tiesa [Oberster Gerichtshof, Lettland])

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Mehrwertsteuer – Begriff ‚Gebrauchtgegenstände‘ – Begriff ‚Edelmetalle oder Edelsteine‘“






I.      Einleitung

1.        SIA ‚E LATS‘ ist ein Händler und mehrwertsteuerpflichtig. Sie gewährt Privatpersonen Darlehen gegen Besicherung durch Pfandrechte an Gegenständen, die Edelmetalle oder Edelsteine enthalten. Nichtausgelöste Pfandgegenstände werden von SIA ‚E LATS‘ an andere Händler wiederverkauft, hauptsächlich zu dem Zweck, die Edelmetalle oder Edelsteine herauszulösen. Diese Händler haben die Mehrwertsteuer zu zahlen.

2.        SIA ‚E LATS‘ wandte eine Mehrwertsteuersonderregelung für Gebrauchtgegenstände auf diese Wiederverkäufe an. Die zuständige Steuerbehörde war jedoch nicht der Ansicht, dass diese Sonderregelung anzuwenden sei. Sie stellte fest, dass die von SIA ‚E LATS‘ wiederverkauften Gegenstände keine Gebrauchtgegenstände im Sinne der anwendbaren Steuerrechtsvorschriften seien. Im Ergebnis verlangte sie von SIA ‚E LATS‘ die Zahlung eines zusätzliches Mehrwertsteuerbetrags.

3.        In diesem Kontext ersucht das Augstākā tiesa (Oberster Gerichtshof, Lettland) den Gerichtshof um Auslegung der spezifischen Bestimmung der Richtlinie 2006/112/EG (im Folgenden: Mehrwertsteuerrichtlinie)(2), die die auf Gebrauchtgegenstände anwendbare Mehrwertsteuer regelt. Insbesondere wirft das vorlegende Gericht die Frage nach dem Anwendungsbereich der in der Definition von „Gebrauchtgegenständen“ enthaltenen Ausnahme für „Edelmetalle oder Edelsteine“ auf. Ferner möchte es wissen, ob bestimmte Merkmale des Wiederveräußerungsgeschäfts sich auf den Umfang dieser Ausnahme auswirken.

II.    Rechtlicher Rahmen

A.      Mehrwertsteuerrichtlinie

4.        Der 51. Erwägungsgrund der Mehrwertsteuerrichtlinie sieht vor, dass „[es] … eine gemeinschaftliche Regelung für die Besteuerung auf dem Gebiet der Gebrauchtgegenstände, Kunstgegenstände, Antiquitäten und Sammlungsstücke erlassen werden [sollte], um Doppelbesteuerungen und Wettbewerbsverzerrungen zwischen Steuerpflichtigen zu vermeiden“.

5.        Titel XII Kapitel 4 der Mehrwertsteuerrichtlinie enthält Sonderregelungen für Gebrauchtgegenstände, Kunstgegenstände, Sammlungsstücke und Antiquitäten. Insbesondere bestimmt Art. 311 der Richtlinie:

„(1)      Für die Zwecke dieses Kapitels gelten unbeschadet sonstiger Bestimmungen des Gemeinschaftsrechts folgende Begriffsbestimmungen:

1.      ‚Gebrauchtgegenstände‘ sind bewegliche körperliche Gegenstände, die keine Kunstgegenstände, Sammlungsstücke oder Antiquitäten und keine Edelmetalle oder Edelsteine im Sinne der Definition der Mitgliedstaaten sind und die in ihrem derzeitigen Zustand oder nach Instandsetzung erneut verwendbar sind;

…“

B.      Lettisches Recht

6.        Nach Art. 138 des Pievienotās vērtības nodokļa likums (Gesetz über die Mehrwertsteuer) ist in Lettland auf Geschäfte mit Gebrauchtgegenständen, Kunstgegenständen, Sammlungsstücken oder Antiquitäten eine Mehrwertsteuer-Sonderregelung anzuwenden. Dem Vorlagebeschluss zufolge wird mit dieser Bestimmung u. a. Art. 311 der Mehrwertsteuerrichtlinie umgesetzt.

7.        Nach den Angaben im Vorlagebeschluss finden sich weitere nationale Regelungen in den Art. 183 und 184 des Ministru kabineta 2013. gada 3. Janvāra noteikumi Nr. 17 „Pievienotās vērtības nodokļa likuma normu piemērošanas kārtība un atsevišķas prasības pievienotās vērtības nodokļa maksāšanai un administrēšanai“ (Verordnung Nr. 17 des Ministerrats vom 3. Januar 2013 über das Verfahren zur Anwendung der Vorschriften des Gesetzes über die Mehrwertsteuer und über verschiedene Erfordernisse bei deren Begleichung und Verwaltung, im Folgenden: Verordnung Nr. 17). Art. 183 der Verordnung Nr. 17 definiert Gebrauchtgegenstände als körperliche Gegenstände, die gebraucht wurden und auf dieselbe Art und Weise ohne Umwandlung oder nach Instandsetzung erneut verwendbar sind und weder Kunstgegenstände, Sammlungsstücke oder Antiquitäten sind. Art. 184 dieser Verordnung nimmt einerseits Edelmetalle oder Edelsteine vom Begriff der Gebrauchtgegenstände aus, stellt aber andererseits fest, dass Edelmetall- oder Edelsteinartikel vom Begriff „Gebrauchtgegenstände“ erfasst werden, wenn sie, wie in Art. 138 des Mehrwertsteuergesetzes angeführt, vom Verkäufer geliefert oder zum Zweck des Verkaufs übertragen wurden. Außerdem gelten Artikel, die unter die Kapitel 71, 82, 83, 90 oder 96 der Kombinierten Nomenklatur fallen, gemäß Art. 184 Satz 2 als Edelmetall- oder Edelsteinartikel.

III. Sachverhalt, nationales Verfahren und Vorlagefragen

8.        SIA ‚E LATS‘ (im Folgenden: Rechtsmittelführerin) ist Händler und mehrwertsteuerpflichtig. Sie gewährt Privatpersonen Darlehen, die nach dem Vorlagebeschluss nicht mehrwertsteuerpflichtig sind. Zur Gewährung der Darlehen lässt sie sich Pfandrechte an Gegenständen einräumen, die Edelmetalle oder Edelsteine enthalten, wie z. B. Ketten, Anhänger, Ringe, Eheringe, Löffel und zahnärztliches Material.

9.        Die Rechtsmittelführerin verkaufte nicht ausgelöste Pfandgegenstände an andere, ebenfalls mehrwertsteuerpflichtige Händler weiter. Die Gegenstände wurden nach der Art des enthaltenen Metalls und dessen Reinheitsgrad sortiert. Sie wurden nach Gewicht wiederverkauft, so dass die betreffenden Edelmetalle oder Edelsteine herausgelöst werden konnten (im Folgenden: streitige Geschäfte).

10.      Die Rechtsmittelführerin wandte die in Art. 138 des Mehrwertsteuergesetzes vorgesehene Mehrwertsteuer-Sonderregelung für Gebrauchtgegenstände auf die streitigen Geschäfte an.

11.      Die Valsts ieņēmumu dienests (im Folgenden: Finanzverwaltung, Lettland) kam zu dem Ergebnis, dass die von der Rechtsmittelführerin wiederverkauften Gegenstände Schrott darstellten: Sie seien keine Gebrauchtgegenstände, so dass die Mehrwertsteuer-Sonderregelung für Gebrauchtgegenstände nicht anwendbar sein könne. Sie erließ daher eine Entscheidung, mit der von der Rechtsmittelführerin die Zahlung eines zusätzlichen Mehrwertsteuerbetrags verlangt wurde.

12.      Die Rechtsmittelführerin erhob gegen diese Entscheidung Anfechtungsklage. Das Administratīvā apgabaltiesa (Regionale Verwaltungsgericht, Lettland) wies den Rechtsbehelf mit der Begründung zurück, die Rechtsmittelführerin habe Art. 138 des Mehrwertsteuergesetzes auf die streitigen Geschäfte unrichtig angewandt. Die Gegenstände aus Gold, Silber und anderen Edelmetallen seien von der Rechtsmittelführerin als Schrott und nicht als Gebrauchtgegenstände verkauft worden.

13.      Die Rechtssache ist nunmehr beim Augstākā tiesa (Oberster Gerichtshof), dem vorlegenden Gericht, anhängig. Dieser weist darauf hin, dass man auch vertreten könne, dass die Sonderregelung nach Art. 311 Abs. 1 Nr. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie nicht auf Gegenstände anwendbar sei, die Edelmetalle oder Edelsteine enthielten und die nicht als Gebrauchtgegenstände, sondern nur zu dem Zweck verkauft würden, die in ihnen enthaltenen Edelmetalle oder Edelsteine herauszulösen. Solche Gegenstände seien keine „Gebrauchtgegenstände“, sondern „Edelmetalle oder Edelsteine“. Art. 311 Abs. 1 Nr. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie räume den Mitgliedstaaten insoweit auch kein Ermessen ein.

14.      Unter diesen Umständen hat der Augstākā tiesa (Oberste Gerichtshof) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.      Ist Art. 311 Abs. 1 Nr. 1 der Richtlinie Nr. 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem dahin auszulegen, dass unter den Begriff „Gebrauchtgegenstände“ auch durch den Händler erworbene gebrauchte Artikel fallen, die (wie im vorliegenden Fall) Edelmetalle oder Edelsteine enthalten und hauptsächlich zu dem Zweck wiederverkauft werden, die in ihnen enthaltenen Edelmetalle und -steine herauszulösen?

2.      Wird die erste Frage bejaht, ist es dann bei Bestimmung des Anwendungsbereichs der Sonderregelung von Bedeutung, dass der Händler die Absicht des späteren Käufers, die in den Waren enthaltenen Edelmetalle und Edelsteine herauszulösen, kennt, oder sind dafür objektive Merkmale des Geschäfts (die Warenmenge, die Rechtsform des Geschäftspartners etc.) maßgeblich?

15.      Die lettische Regierung und die Europäische Kommission haben schriftliche Erklärungen eingereicht. Die lettische Regierung, die Kommission und die Rechtsmittelführerin haben außerdem in der Sitzung vom 25. Januar 2018 mündliche Erklärungen abgegeben.

IV.    Würdigung

16.      Die vorliegenden Schlussanträge sind wie folgt aufgebaut: Erstens werde ich den Anwendungsbereich und die Logik hinter dem Begriff „Gebrauchtgegenstände“ in Art. 311 Abs. 1 Nr. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie darlegen (A). Zweitens werde ich mich mit der Ausnahme befassen, die diese Bestimmung für Edelmetalle oder Edelsteine vorsieht, um ihren Zweck und ihre Logik zu ergründen (B). Auf der Grundlage dieser beiden allgemeinen Überlegungen werde ich dann einige Hinweise zu den maßgeblichen Umständen geben, die bei der Beurteilung, ob die streitigen Gegenstände als Gebrauchtgegenstände eingestuft werden können, zu berücksichtigen sind (C).

A.      Begriff „Gebrauchtgegenstände“

17.      Art. 311 Abs. 1 Nr. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie definiert Gebrauchtgegenstände als „bewegliche körperliche Gegenstände, die keine Kunstgegenstände, Sammlungsstücke oder Antiquitäten und keine Edelmetalle oder Edelsteine im Sinne der Definition der Mitgliedstaaten sind und die in ihrem derzeitigen Zustand oder nach Instandsetzung erneut verwendbar sind“.

18.      Um der Definition in Art. 311 Abs. 1 Nr. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie zu entsprechen, müssen die in Rede stehenden Gegenstände daher zwei positive Voraussetzungen und eine negative Voraussetzungen erfüllen: Sie müssen a) „bewegliche körperliche Gegenstände“ sein, die b) „in ihrem derzeitigen Zustand oder nach Instandsetzung erneut verwendbar sind“, und sie dürfen c) „keine Kunstgegenstände, Sammlungsstücke oder Antiquitäten und keine Edelmetalle oder Edelsteine im Sinne der Definition der Mitgliedstaaten“ sein.

19.      Zweifelsohne sind die streitigen Gegenstände „bewegliche körperliche Gegenstände“. Die erste Voraussetzung ist damit eindeutig erfüllt. Der Streitpunkt im vorliegenden Fall betrifft die zweite (positive) Voraussetzung in Verbindung mit ihrem genauen Verhältnis zur dritten (negativen) Voraussetzung.

20.      Zur Beurteilung dieser Wechselwirkung werde ich zunächst auf die von der Mehrwertsteuer-Sonderregelung für Gebrauchtgegenstände verfolgten Ziele eingehen (1), bevor ich mich dem ersten Streitpunkt der Definition, nämlich der „erneuten Verwendbarkeit“, zuwende (2).

1.      Ziele der auf Gebrauchtgegenstände anwendbaren Mehrwertsteuer-Sonderregelung

21.      Gebrauchtgegenstände unterliegen der Differenzbesteuerung, die von der allgemeinen Mehrwertsteuerregelung abweicht: Anstatt auf der Grundlage des Verkaufspreises wird die geschuldete Mehrwertsteuer auf der Grundlage des Unterschieds zwischen dem Einkaufs- und dem Verkaufspreis der Gegenstände berechnet(3).

22.      Die Differenzbesteuerung ist eine Ausnahme von der allgemeinen Mehrwertsteuerregelung. Der Umfang der Gegenstände, die unter diese Regelung fallen, muss daher eng ausgelegt werden(4) und darf nicht über das hinausgehen, was zur Erreichung des verfolgten Ziels erforderlich ist(5).

23.      Edelmetalle oder Edelsteine sind jedoch vom Begriff der Gebrauchtgegenstände (und ebenso von der Ausnahmeregelung der Differenzbesteuerung) ausgenommen. Dieser Begriff ist daher in Wirklichkeit eine Ausnahme von der Ausnahme (Gegenausnahme), was bedeutet, dass Gegenstände, die unter die Ausnahme für Edelmetalle oder Edelsteine fallen, wieder unter die allgemeine Mehrwertsteuerregelung fallen(6).

24.      Aus dem 51. Erwägungsgrund der Mehrwertsteuerrichtlinie ergibt sich, dass die Mehrwertsteuer-Sonderregelung für Gebrauchtgegenstände eingeführt wurde, um Doppelbesteuerungen und Wettbewerbsverzerrungen zu vermeiden(7). Während „das gemeinsame Mehrwertsteuersystem grundsätzlich darauf ab[zielt], den wirtschaftlichen Mehrwert [in den verschiedenen Stadien des Herstellungs- und Vertriebsprozesses] zu besteuern“(8), wirft die für Gebrauchtgegenstände erhobene Mehrwertsteuer das Spezialproblem der doppelten Mehrwertsteuerbelastung auf.

25.      Dazu kommt es, wenn ein steuerpflichtiger Wiederverkäufer Gegenstände von einem Nichtsteuerpflichtigen erwirbt und die im Einkaufspreis enthaltene Mehrwertsteuer zahlt, obwohl er sie anschließend nicht als Vorsteuer abziehen kann. Mit anderen Worten, wenn eine nichtsteuerpflichtige Person Gegenstände kauft, hat sie die anwendbare Mehrwertsteuer als Teil des Einkaufspreises zu zahlen. Wenn diese Person diese Gegenstände an einen steuerpflichtigen Wiederverkäufer verkauft, wird dieser grundsätzlich nicht die Möglichkeit haben, die ursprünglich gezahlte und im Einkaufspreis enthaltene Mehrwertsteuer als Vorsteuer abzuziehen. Auf diese Weise hat der steuerpflichtige Wiederverkäufer die Mehrwertsteuer nochmals zu zahlen und es kommt zur Doppelbesteuerung. Genau das soll die Mehrwertsteuer-Sonderregelung für Gebrauchtgegenstände verhindern, indem sie vorsieht, dass die vom steuerpflichtigen Wiederverkäufer geschuldete Mehrwertsteuer auf der Grundlage des Unterschieds zwischen Einkaufs- und Verkaufspreis ermittelt wird(9).

26.      In diesem Sinne hat der Gerichtshof ausgeführt: „Würde bei der Lieferung von Gebrauchtgegenständen … durch einen steuerpflichtigen Wiederverkäufer der Gesamtpreis besteuert, obwohl der Preis, zu dem der Wiederverkäufer die Gegenstände erworben hat, einen Mehrwertsteuerbetrag enthält, der bereits im Vorfeld durch eine Person, die unter eine der in Art. 314 Buchst. a bis d der Mehrwertsteuerrichtlinie bezeichneten Kategorien fällt, entrichtet wurde und der weder von dieser Person noch vom steuerpflichtigen Wiederverkäufer als Vorsteuer abgezogen werden konnte, so hätte dies nämlich eine solche Doppelbesteuerung zur Folge.“(10)

27.      Eine derartige gehäufte Besteuerung in Zusammenhang mit Gebrauchtgegenständen wurde recht früh eingeräumt(11). Die Kommission stellte insoweit fest, dass ohne Sonderbestimmungen für Kunstgegenstände, Antiquitäten, Sammlungsstücke und Gebrauchtgegenstände dazu führen würde, dass „ein aus der Endstufe des Verbrauchs stammender und in den Wirtschaftskreislauf zurückgeführter Gegenstand erneut und in vollem Umfang mit der Mehrwertsteuer belastet [würde], ohne dass der Steuerpflichtige, der Wiederverkäufer des Gegenstands ist, die im Erwerbspreis enthaltene Steuer in Abzug bringen könnte. Die daraus sich ergebende unterschiedliche Steuerbelastung würde dazu anreizen, den üblichen gewerblichen Handelsweg zu umgehen.“(12)

2.      Erneute Verwendbarkeit

28.      Die zweite Voraussetzung von Art. 311 Abs. 1 Nr. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie betreffend die „erneute Verwendbarkeit“ ist vom Gerichtshof im Urteil Sjelle Autogenbrugausgelegt worden. In der betreffenden Rechtssache ging es um Altfahrzeuge, die erworben worden waren, um als Ersatzteile verkauft zu werden. Der Gerichtshof hat ausgeführt, dass die „erneute Verwendbarkeit“ anhand der Frage zu prüfen ist, ob dem streitigen Gegenstand „unverändert die Funktionen zukommen“, die er im Neuzustand hatte(13). Der Gerichtshof hat festgestellt, dass der Begriff „Gebrauchtgegenstände“ „bewegliche körperliche Gegenstände, die in ihrem derzeitigen Zustand oder nach Instandsetzung erneut verwendbar sind, [nicht] ausschließt, wenn sie von einem anderen Gegenstand stammen, dessen Bestandteile sie waren. Dass ein gebrauchter Gegenstand, der Bestandteil eines anderen Gegenstands ist, von diesem getrennt wird, stellt nämlich die Einstufung des entnommenen Gegenstands als ‚Gebrauchtgegenstand‘ nicht in Frage, sofern er ‚in seinem derzeitigen Zustand oder nach Instandsetzung‘ erneut verwendbar ist.“(14)

29.      Das wesentliche Element der Definition der „erneuten Verwendbarkeit“ ist daher die unveränderte Funktion derselben Art. Im Kontext der vorliegenden Rechtssache scheint jedoch die tatsächliche Erfüllung dieser Voraussetzung der Kern der Auseinandersetzung zwischen den Parteien zu sein.

30.      In der mündlichen Verhandlung hat die Rechtsmittelführerin im Wesentlichen vorgetragen, dass die Voraussetzung der „erneuten Verwendbarkeit“ erfüllt worden sei, soweit die streitigen Gegenstände, wie etwa Ringe, weiterhin als Ringe verwendet werden könnten, unabhängig davon, ob sie nach Gewicht verkauft würden (was nach Ansicht der Rechtsmittelführerin im Juwelierhandel nichts Ungewöhnliches ist). Selbst ein Verlobungsring mit einer Inschrift (wie etwa dem Ausdruck „Auf ewig“) könne als erneut verwendbar angesehen werden, da er eindeutig weiterhin ein Ring sei und weiterhin getragen werden könne.

31.      Der Standpunkt der Rechtsmittelführerin zur erneuten Verwendbarkeit wurde von der lettischen Regierung nicht geteilt. Sie räumte ein, dass nach nationalem Recht, nämlich nach Art. 184 der Verordnung Nr. 17(15), Edelmetall- oder Edelsteinartikel als Gebrauchtgegenstände angesehen würden. Gleichwohl könnten solche Artikel nur als Gebrauchtgegenstände eingestuft werden, wenn sie weiterhin auf dieselbe Art verwendet werden könnten und nach ihrem individuellen Wert beurteilt würden. Dies sei bei den streitigen Gegenständen, die nach Gewicht und als Schrott verkauft worden seien, angesichts der herauszulösenden Edelstoffe nicht der Fall gewesen.

32.      In der mündlichen Verhandlung hat die Rechtsmittelführerin im Detail erläutert, dass nur 5 % der wiederverkauften nicht ausgelösten Pfandgegenstände, die von den Steuerbehörden im Hauptverfahren berücksichtigt worden seien, nicht erneut verwendbar seien und dass eine Reparatur dieser Gegenstände zu kostspielig wäre. Auch andere Gegenstände seien bewertet und individuell im Einzelhandel oder en gros verkauft worden; in diesem Fall sei ihr Preis nach Gewicht bestimmt worden. Diese Gegenstände seien nach Instandsetzung erneut verwendbar. Die Rechtsmittelführerin trug in der mündlichen Verhandlung vor, dass die oben beschriebenen Eigenschaften der 5 % der nicht ausgelösten Pfandgegenstände sich auf die Schlussfolgerungen der Finanzverwaltung im Hinblick auf alle betroffenen Gegenstände ausgewirkt hätten. Im Ergebnis sei die für diese 5 % der Gegenstände vorbehaltene mehrwertsteuerrechtliche Behandlung auf die Gegenstände in ihrer Gesamtheit angewandt worden.

33.      Die Kommission stellt fest, dass die streitigen Gegenstände entweder aufgrund ihrer Art (zahnärztliches Material) oder ihres Zustands (beschädigte oder personalisierte Gegenstände) nicht erneut verwendbar seien. Die fehlende erneute Verwendbarkeit wird nach Ansicht der Kommission auch durch die Umstände, unter denen das streitige Geschäft erfolgt ist, belegt.

34.      Ein richtiges Verständnis der relevanten Sachverhaltselemente ist für die Beurteilung des Falls, einschließlich vor dem Gerichtshof, sicherlich von größter Bedeutung. Tatsachenwürdigungen obliegen jedoch ausschließlich den nationalen Gerichten. Dieser Gerichtshof ist an die vom vorlegenden Gericht festgestellten und vorgelegten Tatsachen gebunden. Ich möchte diesen Punkt in Anbetracht einer Reihe von tatsachenbezogenen Aussagen insbesondere der Rechtsmittelführerin klarstellen, deren Zweck im Wesentlichen darin bestanden hat, den Gerichtshof zu überzeugen, dass die nationalen Behörden und implizit die nationalen Gerichte relevante Tatsachen unbeachtet gelassen und/oder unrichtig beurteilt hätten.

35.      Der Ausgangspunkt der rechtlichen Beurteilung nach Unionsrecht gründet sich also auf die Beschreibung der Gegenstände, wie sie vom vorlegenden Gericht in seinem Vorlagebeschluss gekennzeichnet und im Wortlaut seiner ersten Vorlagefrage wiedergegeben wurden. Ich gehe daher davon aus, dass die Edelmetall- oder Edelsteinartikel – wie es in der ersten Frage heißt – von der Rechtsmittelführerin verkauft wurden, um etwas herauszulösen, d. h. um als Rohmaterial wiederverwendet zu werden.

36.      Ist dies tatsächlich der Fall, was ausschließlich das nationale Gericht festzustellen und zu beurteilen hat, dann ist mein Vorschlag, dass die Ausnahme für Edelmetalle und Edelsteine in einer solchen Situation aus den in den folgenden Abschnitten dieser Schlussanträge im Detail dargelegten Gründen tatsächlich anwendbar ist. Gegenstände, wie sie vom vorlegenden Gericht beschrieben werden, sind keine Gebrauchtgegenstände und fallen wieder unter die allgemeine Mehrwertsteuerregelung.

37.      Über die im Wesentlichen tatsachenbezogene Prüfung der Art des konkreten Geschäfts hinaus gibt es jedoch ein tiefgreifenderes Problem, das ich bereits dargelegt habe und das meiner Ansicht nach das nationale Gericht zu seiner ersten Vorlagefrage bewegt: Die Beziehung zwischen der Voraussetzung der erneuten Verwendbarkeit und der Ausnahme für Edelmetalle oder Edelsteine. Ich stimme zu, dass diese Beziehung schwer zu beschreiben ist, da die zweite Voraussetzung von Art. 311 Abs. 1 Nr. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie durch die Verwendung (Funktion) des betreffenden Gegenstands definiert wird, während die dritte Voraussetzung – nämlich die Ausnahme für Edelmetalle und Edelsteine – anhand des betreffenden Materials definiert wird. Fügt man zu dieser Komplexität noch hinzu, dass die zweite Voraussetzung auf Unionsrecht basiert, während die dritte Voraussetzung ausdrücklich den Mitgliedstaaten überlassen bleibt, so ist ziemlich klar, dass die zwei Definitionen wahrscheinlich kollidieren oder einander überschneiden.

38.      Die Ausführungen in der mündlichen Verhandlung brachten Unsicherheiten hinsichtlich dieser Beziehung zu Tage: Schließt die Tatsache, dass ein gebrauchter Ring aus Gold ist, diesen automatisch vom Begriff der Gebrauchtgegenstände (und von der Differenzbesteuerung) aus, weil er – abgesehen davon, dass er gebraucht und erneut verwendbar ist – auch aus einem Edelmetall besteht? Oder geht der gebrauchte Zustand und die erneute Verwendbarkeit der Eigenschaft als Edelmetall oder Edelstein vor, was bedeuten würde, dass jeder gebrauchte Gegenstand, der erneut verwendet werden kann und aus Edelmetall oder Edelstein besteht, stets als Gebrauchtgegenstand anzusehen ist und daher der Differenzbesteuerung unterliegt?

39.      Um das genaue Verhältnis zwischen diesen beiden Begriffen zu bestimmen, ist zunächst auf den spezifischen Zweck, die Logik und die Geschichte der Ausnahme für Edelmetalle oder Edelsteine einzugehen.

B.      Ausnahme für Edelmetalle oder Edelsteine

40.      Bei erster Lektüre des Wortlauts von Art. 311 Abs. 1 Nr. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie scheint es offensichtlich, dass „Edelmetalle oder Edelsteine“ vom Begriff der Gebrauchtgegenstände in ähnlicher Weise wie „Kunstgegenstände, Sammlungsstücke [und] Antiquitäten“ schlicht ausgenommen sind.

41.      Diese scheinbare Ähnlichkeit ist jedoch in ihrem Kontext zu sehen. „Kunstgegenstände, Sammlungsstücke [oder] Antiquitäten“ sind vom Begriff der Gebrauchtgegenstände ausgenommen, unterliegen aber weiterhin der Differenzbesteuerung. Zu diesem Zweck sind sie schlicht in unterschiedlichen Bestimmungen der Mehrwertsteuerrichtlinie definiert(16). Hingegen sind Edelmetalle oder Edelsteine vom Begriff der Gebrauchtgegenstände und ebenso von der Differenzbesteuerung ausgenommen. Außerdem bleibt die Definition der Edelmetalle oder Edelsteine ausdrücklich den Mitgliedstaaten überlassen.

42.      Da die Prüfung des Wortlauts von Art. 311 Abs. 1 Nr. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie (einschließlich seiner verschiedenen Sprachfassungen) die genaue Beziehung zwischen den Begriffen der erneuten Verwendbarkeit und der Ausnahme für Edelmetalle oder Edelsteine nicht weiter erhellt, werde ich mich als Erstes der Entstehungsgeschichte dieser Ausnahme zuwenden, bevor ich als Zweites auf ihr Ziel und Zweck eingehen werde.

1.      Entstehungsgeschichte

43.      Der erste Vorschlag(17), der Edelmetalle oder Edelsteine im Kontext der Differenzbesteuerung betrachtete, definierte „Gebrauchtgegenstände“ als „gebrauchte und in ihrem derzeitigen Zustand oder nach Instandsetzung erneut verwendbare bewegliche Gegenstände, die nicht [Kunstgegenstände, Sammlungsstücke und Antiquitäten] sind“(18). Interessanterweise führte Art. 3 Abs. 4 dieses Vorschlags aus, dass die Regelung für Gebrauchtgegenstände „nicht für die Lieferung von Gebrauchtgegenständen aus Gold oder sonstigen Edelmetallen oder von Gegenständen[gilt], die mit Edelsteinen verziert sind“(19). Gleichzeitig erfasste die vorgeschlagene Definition von „Kunstgegenständen“, „Sammlungsstücken“ und „Antiquitäten“ Gegenstände, die aus Gold oder anderem Edelmetall gefertigt oder mit Edelsteinen verziert sind, wenn der Wertanteil des Edelmetalls oder der Edelsteine 50 % des Verkaufspreises nicht übersteigt(20). Dieser Vorschlag wurde jedoch im November 1987 wegen fehlender Einigung zurückgezogen.

44.      In einem anderen Vorschlag(21), der letztlich zum Erlass der Richtlinie 94/5/EG(22) geführt hat, schlug die Kommission vor, dass Gegenstände, die aus Gold oder einem anderen Edelmetall gefertigt oder mit Edelsteinen verziert sind, sofern der Wertanteil dieser Materialien 50 % des Verkaufspreises nicht übersteigt, weiterhin unter die u. a. für Gebrauchtgegenstände geltende Sonderregelung fallen(23).

45.      Der Wirtschafts- und Sozialausschuss stimmte der Einführung der Sonderregelung zu und billigte die Ausnahme von Edelmetallen oder Edelsteinen. Er war jedoch nicht der Ansicht, dass der Anwendungsbereich dieser Sonderregelung vom Wert dieser Materialien abhängig gemacht werden sollte. Der Ausschuss rügte, dass „das von der Kommission vorgeschlagene Kriterium für die Einbeziehung von aus Edelsteinen oder Edelmetallen gefertigten Gegenständen etwas fragwürdig [erscheine], nämlich dass ihr Materialwert 50 % des Verkaufspreises nicht übersteig[e]. Die Schwierigkeit einer objektiven Bewertung dürfte zu vielen Streitigkeiten bzw. Steuerhinterziehungen führen. Vielleicht wäre es zweckmäßiger gewesen, von der Sonderregelung die Gegenstände auszunehmen, die sich zu einer Wiederverwendung als Arbeitsmaterial eignen.“(24)

46.      Die angenommene Fassung der Richtlinie 94/5 fügte einen neuen Art. 26a(25) ein, der eine schlichte Ausnahme für Edelmetalle und Edelsteine vorsah, ohne Bezugnahme auf den Wert, den diese innerhalb des gesamten Gegenstands einnehmen.

47.      Im Licht dieser Erwägungen finden sich der Gedanke der Ausnahme von Gegenständen, die aus Edelmetallen gefertigt oder mit Edelsteinen verziert sind, von der Regelung sowie der Gedanke einer 50%-Grenze im Gesetzgebungsprozess als relevante Elemente zur Abgrenzung der Sonderregelung u. a. für Gebrauchtgegenstände.

48.      Obwohl die Entstehungsgeschichte im Hinblick auf all die aufgetretenen praktischen Probleme aufschlussreich ist, legt sie jedoch die genauen Gründe, die zur Ausnahme für Edelmetalle und Edelsteine von der Differenzbesteuerung geführt haben, nicht offen. Um diese Gründe zu verstehen, ist es erforderlich, die den Gegenständen aus Edelmetallen oder Edelsteinen innewohnende (wirtschaftliche) Logik zu betrachten.

2.      Wirtschaftliche Logik und Zweck

49.      Die Natur von Gegenständen, die aus Edelmetallen oder Edelsteinen gefertigt oder damit verziert sind, ist besonders(26). Sie haben eine doppelte Funktion (und einen doppelten Wert). Abhängig von Qualität und Zustand jedes spezifischen Gegenstands stellen sie nicht nur speziell gefertigte oder hergestellte Gegenstände mit einer bestimmten Funktion (funktioneller Wert) dar, sondern bewahren auch den Wert, den die Gesellschaft den darin enthaltenen Edelmetallen oder Edelsteinen zukommen lässt (dem „Material“ zukommender Wert).

50.      Das durch die komplexe Entstehungsgeschichte des Art. 311 Abs. 1 Nr. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie bezeugte praktische Problem ist, dass es im Hinblick auf das breite Spektrum an Gegenständen, die aus Edelmetallen oder Edelsteinen gefertigt oder damit verziert sind, schwierig ist, ein abstraktes Kriterium zu finden, um die relative Bedeutung jeder dieser Arten von Wert allgemein zu beurteilen.

51.      Auf der einen Seite des Spektrums kann ich einen Goldbarren sicherlich als Briefbeschwerer verwenden. Er kann auch verkauft und wieder als Briefbeschwerer verwendet werden. Es ist jedoch sehr unwahrscheinlich, dass der Preis eines solchen Briefbeschwerers im Hinblick auf seine unbestreitbare Effizienz dabei, ein Bündel Papier selbst bei einem starken Windstoß vor dem Wegfliegen zu bewahren, festgelegt wird. Sein Preis dürfte vielmehr auf der Grundlage des aktuellen Marktpreises für Gold ermittelt werden. In einem solchen Fall wird der Preis des Gegenstands der Preis des Rohmaterials sein, aus dem er besteht.

52.      Auf der anderen Seite ist ein komplexer und teurer medizinischer Apparat denkbar, der u. a. aus mehreren Edelmetallen oder sogar aus Edelstein(en) gefertigt ist. Der Wert der Edelmetalle oder Edelsteine in diesem Apparat könnte zwar für sich genommen erheblich sein, es ist aber wahrscheinlich, dass der funktionelle Wert des Apparats, wenn er bei vollständiger Betriebsfähigkeit wiederverkauft wird, viel höher wäre als der Wert der Edelmetalle, aus dem er besteht.

53.      Abgesehen von interessanten Beispielen ist jedoch ziemlich klar, dass zum Zweck der Anwendung von Art. 311 Abs. 1 Nr. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie wahrscheinlich der erste Fall relevant ist. Es gibt eine Reihe von Gegenständen, die aus Edelmetallen gefertigt oder damit verziert sind, deren Wert als Gegenstände mit einer bestimmten Funktion keineswegs auf der Hand liegt. Aber diese Gegenstände werden dennoch wegen des wertvollen Materials, das sie enthalten, gehandelt. Im vorliegenden Fall scheint dies insbesondere bei zahnärztlichem Material, Teilen beschädigten Bestecks oder Schmucks der Fall zu sein.

54.      Es ist daher offensichtlich, dass Gegenstände, die aus Edelmetallen oder Edelsteinen gefertigt sind, einen „gespeicherten Wert“ haben, der davon unabhängig ist, ob die ursprüngliche Funktion des konkreten Gegenstands auch weiterhin besteht oder nicht. Deshalb werden die betreffenden Metalle und Steine schließlich „edel“ genannt, wurden ihretwegen Kriege geführt und macht die Entdeckung eines verborgenen Schatzes aus Münzen, Ringen und Schmuck einer unbekannten Königin die glückliche Finderin zu einer reichen Frau(27), auch wenn sie immer noch leichteren modernen Schmuck für den täglichen Gebrauch bevorzugen mag.

55.      In Anbetracht dieser wirtschaftlichen Logik ist somit offensichtlich, dass die Ausnahme für Edelmetalle oder Edelsteine Fälle erfassen soll, in denen die ursprüngliche Funktion der Gebrauchtgegenstände einfach gesagt verloren geht oder im Zusammenhang mit dem fraglichen Geschäft nicht von Bedeutung ist. Solche Gegenstände werden nicht mehr wegen ihrer Funktion wiederverkauft, sondern wegen des Werts des Rohmaterials, aus dem sie bestehen. Folglich scheiden solche Gegenstände aus dem spezifischen Wirtschaftszyklus der Gebrauchtgegenstände aus. Sie treten hingegen in einen neuen Wirtschaftszyklus des „Rohmaterials“ ein und dienen als Stoff zur Herstellung neuer Gegenstände, die aus Edelmetallen oder Edelsteinen gefertigt werden.

56.      Schließlich ist als Ansatzpunkt einer weiter gehenden systematischen Analogie darauf hinzuweisen, dass ähnliche Erwägungen den Unionsgesetzgeber dazu gebracht haben, Anlagegold von der Mehrwertsteuer insgesamt zu befreien(28). In dem einschlägigen Vorschlag zur Einführung der Sonderregelung für Gold hat die Kommission auf das Problem der Steuerremanenz und Doppelbesteuerung hingewiesen, so dass sie „aus eben diesem Grund … auch die Sonderregelung für Gebrauchtgegenstände, Kunstgegenstände, Sammlungsstücke und Antiquitäten vorgeschlagen [hat]. … Mit Gold als Anlage hingegen sind unbegrenzt viele Transaktionen möglich. Durch eine Gewinnspannenbesteuerung wird zwar der Steuerremanenzeffekt bereits weitestgehend reduziert, aber doch eben nicht ganz und gar ausgeschaltet. Da die auf die Gewinnspanne erhobene Steuer in den Preis eingeht und vom nachfolgenden Käufer nicht abgezogen werden kann, nimmt die Restbelastung mit der Dauer des Wirtschaftskreislaufes immer mehr zu. Durch den besonders hohen Wert des Goldes und die große Anzahl aufeinanderfolgender Geschäfte, die mit ihm vorgenommen werden können, würde sich diese Wirkung erheblich verstärken.“(29)

57.      Die auf Anlagegold anwendbare Ausnahme ergibt sich daraus, dass es als „[seiner] Art nach anderen Finanzanlagen, die von der Steuer befreit sind“ entspricht(30). Demgegenüber fallen die Gründe für die Ausnahme weg, wenn das Anlagegold z. B. in Schmuck umgewandelt wird. Es ist weiterhin dasselbe Material, aber seine Funktion innerhalb des Wirtschaftszyklus wird anders betrachtet(31).

3.      Ermessen der Mitgliedstaaten und seine Grenzen

58.      Schließlich legt Art. 311 Abs. 1 Nr. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie fest, dass Edelmetalle und Edelsteine von den Mitgliedstaaten zu definieren sind.

59.      Das weite Ermessen, das die Mitgliedstaaten bei der Festlegung der Voraussetzungen für die Anwendbarkeit der Ausnahme für Edelmetalle oder Edelsteine haben, ist jedoch nicht unbegrenzt. Zwei Arten von Grenzen mögen als abschließende Schlussfolgerung angeführt werden: allgemeine und bestimmte.

60.      Was die allgemeinen Grenzen betrifft, die auf die Ausnahmen der Mehrwertsteuerrichtlinie anwendbar sind, hat der Gerichtshof anerkannt, dass die Mitgliedstaaten bei der Umsetzung einer Ausnahme insbesondere die Grundsätze der Gleichbehandlung und der steuerlichen Neutralität(32) – unter Berücksichtigung des Ziels der Mehrwertsteuerrichtlinie(33) – einhalten müssen.

61.      Die besondere Grenze ergibt sich aus dem konkreten Ziel der ausgelegten Bestimmung, d. h. im vorliegenden Fall Art. 311 Abs. 1 Nr. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie. Wiederum ist klar, dass diese Bestimmung den Mitgliedstaaten einen weiten Ermessensspielraum bei der Definition des Begriffs „Edelmetalle oder Edelsteine“, insbesondere bei der Definition der Arten von Edelmetallen und Edelsteinen, sowie der Art der in Rede stehenden Gegenstände belässt. Die Ausübung dieses Ermessens darf jedoch dem Begriff „Gebrauchtgegenstände“ durch eine zu enge Definition dessen, was unter Edelmetalle oder Edelsteine fallen kann, nicht seine eigentlichen Bedeutungsinhalt nehmen. Dies hätte zur Folge, dass alle Gegenstände, die Edelmetalle oder Edelsteine enthalten, für immer unter die Regelung für Gebrauchtgegenstände fallen würden, unabhängig von ihrer weiteren Verwendung und Funktion.

62.      Mit anderen Worten ist die grundlegende wirtschaftliche Logik der Ausnahme für Edelmetalle oder Edelsteine zu beachten. Damit ein Gegenstand in der auf Gebrauchtgegenstände anwendbaren Differenzbesteuerung bleibt, muss es irgendeine Funktion des in Rede stehenden Gegenstands geben, die über das wertvolle Material hinaus fortbesteht(34).

C.      Beurteilung eines Geschäfts

63.      Das Schlüsselkriterium bei der Entscheidung, ob ein Gegenstand in die Differenzbesteuerung für Gebrauchtgegenstände fällt oder ob er (über die Ausnahme für Edelmetalle oder Edelsteine) wieder unter die allgemeine Mehrwertsteuerregelung fällt, ist die weiterbestehendeFunktion (Verwendung) der betreffenden Gegenstände. Über all dem steht der Gedanke der Vermeidung der Doppelbesteuerung und der Verzerrung des Wettbewerbs im Zusammenhang mit Gegenständen, die ohne neuen, zusätzlichen wirtschaftlichen Wert wieder in denselben Wirtschaftszyklus eingeführt werden.

64.      Wie dieser Fall jedoch zeigt, liegt der Teufel im Detail. Wie ist diese allgemeine Regel auf komplexe Sachverhalte anzuwenden, in denen Gegenstände offenbar vermengt und en gros verkauft werden? Die in diesem Abschnitt für solche Fälle aufgestellten Leitlinien sind aus zwei Gründen zu begrenzen: Erstens konzentriert sich jede Beurteilung in einem ähnlichen Kontext auf die Tatsachen und obliegt dem nationalen Gericht. Zweitens wird diese tatsächliche Beurteilung weiter eingegrenzt durch die nationalen Regelungen, mit denen Art. 311 Abs. 1 Nr. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie umgesetzt wird und die – vorausgesetzt sie beachten die unionsrechtlichen Grenzen – durchaus eine gewisse Differenzierung zulassen können, insbesondere in Grenzfällen.

65.      Unter Beachtung dieser Vorbehalte wird der abschließende Teil dieser Schlussanträge zunächst das Kriterium zur Durchführung einer solchen Beurteilung darlegen (1) bevor auf die konkreten Faktoren eingegangen wird, die bei einer solchen Beurteilung berücksichtigt werden können (2).

1.      Kriterium: Die weiterbestehende Funktion (Verwendung) der betreffenden Gegenstände

66.      Wie bereits ausgeführt ist die zentrale Frage, ob die Funktion der streitigen Gegenstände fortbesteht und ob diese Funktion zusätzlich zum „bloßen“ Edelmetall gegeben ist, aus dem der Gegenstand besteht.

67.      Die Erörterung in der mündlichen Verhandlung hat die Komplexität der Fallgestaltungen, die in der Praxis auftreten können, zum Vorschein gebracht. Zunächst gibt es bestimmte Fälle, die eindeutig sind.

68.      Erstens bestand Einigkeit darüber, dass die Ausnahme für Edelmetalle oder Edelsteine auf Gegenstände anwendbar ist, wenn sie als Material verkauft werden. Ich teile diese Auffassung. Grundsätzlich bedeutet das, dass ein Goldnugget, das einmal als Souvenir behalten und dann als Pfand für ein Darlehen gegeben wurde, als Edelmetall im Sinne von Art. 311 Abs. 1 Nr. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie eingestuft würde (es sei denn, es ist eine andere spezifische Bestimmung der Mehrwertsteuerrichtlinie wie etwa die für Anlagegold, Sammlungsstücke oder Antiquitäten anwendbar). Die Ausnahme von der Differenzbesteuerung erscheint logisch, da solche Gegenstände wahrscheinlich getauscht würden, um sie in irgendeiner Art zu verändern.

69.      Zweitens wird es Gegenstände geben, die aus Edelmetallen gefertigt oder mit Edelsteinen verziert sind, die unter Berücksichtigung des Materialwerts und auch ihrer individuellen Funktion verkauft werden. Solche Gegenstände werden wahrscheinlich auf eine individualisierte Weise verkauft werden. Das könnte z. B. bei einer gebrauchten Halskette aus Gold der Fall sein, deren Wert sicherlich nach der Reinheit des verwendeten Materials beurteilt wird, aber auch anhand ihres Zustands, was einschließt, ob die Halskette weiterhin getragen werden kann. Die Einbeziehung eines solchen Gegenstands in die Differenzbesteuerung erscheint angebracht, da diese Gegenstände wahrscheinlich nicht gehandelt würden, um sie wieder zu verarbeiten.

70.      Abgesehen von solchen eindeutigen Fällen, die als die beiden Enden des Spektrums angesehen werden können, gibt es dazwischen eine Reihe weniger eindeutiger Fälle.

71.      Einerseits gibt es Gegenstände, die aus wirtschaftlichen Gründen nach Gewicht oder en gros verkauft werden, wobei ihre Funktion nicht nur aufrechterhalten, sondern sogar berücksichtigt wird. Das kann der Fall bei einer Mischung von Silberringen niedriger Qualität sein, deren Preis je Kilo festgelegt wird und die entsprechend verkauft werden. Ähnlich dem Vorbringen der Rechtsmittelführerin in der mündlichen Verhandlung bin ich der Ansicht, dass die Tatsache, dass der Preis bestimmter Gegenstände je Kilo festgelegt wird und diese entsprechend verkauft werden, es nicht zwangsläufig unmöglich macht, diese Gegenstände als Gebrauchtgegenstände im Sinne von Art. 311 Abs. 1 Nr. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie anzusehen, wenn die fortbestehende Funktion tatsächlich ein relevanter Gesichtspunkt des Geschäfts ist. Ist ihre fortbestehende Funktion nämlich für die Ermittlung ihres Werts maßgebend, dann werden solche Gegenstände wahrscheinlich nicht verkauft, um sie wieder zu verarbeiten.

72.      Andererseits ist jedoch ein anderes Ergebnis für den Fall geboten, dass der Preis der Gegenstände unabhängig von ihrer Funktion en gros festgelegt wird und diese entsprechend verkauft werden. In einem solchen Fall würde die Nichtberücksichtigung ihrer ursprünglichen Funktion auch das Fehlen jeder Individualisierung des einzelnen Artikels bedeuten. Wie in der mündlichen Verhandlung erörtert und vom vorlegenden Gericht angeführt wurde, wäre das der Fall bei zahnärztlichem Material oder beschädigten Gegenständen, die aus Edelmetallen gefertigt oder mit Edelsteinen verziert sind. Gilt die Funktion der streitigen gebrauchten Gegenstände nicht mehr als maßgebliches Element des gesamten Geschäfts, ist ihr Status als „Gebrauchtgegenstand“ verloren. Wird die Funktion irrelevant, dürfte nämlich kaum anzunehmen sein, dass diese Waren Gegenstand von Geschäften sind, die in den Wirtschaftszyklus eingeführt und als solche beibehalten werden. Der Sinn und Zweck der Differenzbesteuerung ginge dann verloren.

73.      Schließlich könnte in der letzten Kategorie der besondere Fall einer Mischung innerhalb der Mischung eintreten: in ein und derselben Partie könnten sich nicht nur gemischte Gegenstände (Ringe, Löffel, Armbänder, Anhänger), sondern auch eine Mischung in dem Sinn befinden, dass einige Gegenstände objektiv wiederverwendbar sein mögen, wenn sie jemand der Partie herausnehmen und verwenden wollte, während andere dies nicht sein mögen.

74.      Wie derartige Grenzfälle einzustufen sind, hängt wiederum sehr von den Umständen des Falls zusammen mit der Art und Weise ab, wie ein Mitgliedstaat die Ausnahme für Edelmetalle oder Edelsteine in Art. 311 Abs. 1 Nr. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie umgesetzt hat. Ich persönlich hielte es für sinnvoll, wenn als Faustregel der überwiegende Zweck eines jeden Geschäfts zu einer Grenze bei 50 % führte: ist der Großteil der eng gros verkauften Gegenstände zur Wiederverarbeitung bestimmt und wird als Arbeitsmaterial verkauft, dann ist die Tatsache, dass jemand nach wie vor einzelne Gegenstände aus einer Partie herausnehmen und sie verwenden könnte, schlicht irrelevant, weil der Gesamtzweck des Geschäfts ein anderer war. Da aber Versuche des Unionsgesetzgebers, wie oben erläutert(35), derartige Grenzen einzuführen, ausdrücklich verworfen wurden und das Ermessen den Mitgliedstaaten überlassen wurde, ist diese Entscheidung zu respektieren und daraus der Schluss zu ziehen, dass es Sache der Mitgliedstaaten ist, innerhalb der oben dargestellten Grenzen(36) ihres Ermessens für derartige Fälle Vorschriften zu erlassen; dies schließt die anwendbaren Grenzen ein.

2.      Beurteilung eines Geschäfts: Faktoren

75.      Welche der oben angeführten Kategorien zur Anwendung kommt, hat das vorlegende Gericht gemäß den zur Umsetzung von Art. 311 Abs. 1 Nr. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie erlassenen besonderen nationalen Vorschriften zu prüfen. Nach den Ausführungen im Vorlagebeschluss und insbesondere dem Wortlaut der ersten Vorlagefrage hat das vorlegende Gericht eine solche Tatsachenwürdigung offenbar bereits vorgenommen und festgestellt, dass der Zweck des Geschäfts gewesen sei, Edelmetalle oder Edelsteine herauszulösen und als Rohmaterial wiederzuverwenden. Wenn dies tatsächlich der Fall ist, stimme ich zu, dass die Ausnahme für Edelmetalle oder Edelsteine anzuwenden ist.

76.      Ohne diese Tatsachenwürdigung in irgendeiner Weise in Frage zu stellen, sondern, um allgemeine Leitlinien zu geben, werde ich kurz einige Faktoren erörtern, die bei einer solchen Tatsachenwürdigung relevant sein könnten. Es sei darauf hingewiesen, dass die vorgeschlagenen Leitlinien einen Teil der Beantwortung der ersten Vorlagefrage bilden. Sie beziehen sich nicht auf die zweite Frage, die angesichts meiner Antwort auf die erste Frage vom Gerichtshof nicht behandelt zu werden braucht.

77.      Es ist vorab darauf hinzuweisen, dass jede Beurteilung eines Geschäfts objektiv zu sein hat. Sie hat die Aufgabe, den Zweck des Geschäfts zu bestimmen, wie er von einem unabhängigen Beobachter unter Berücksichtigung seiner objektiven Umstände wahrgenommen würde. Nimmt man im Hinblick auf die verschiedenen in diesem Verfahren erörterten Faktoren eine Verallgemeinerung vor, so können sie vermutlich in drei verschiedene Gruppen eingeteilt werden.

78.      Erstens gibt es Faktoren, wie z. B. die Präsentation von Waren zum Wiederverkauf, die Methoden der Bewertung solcher Waren und andere Verkaufsbedingungen, wie z. B. die Mengen der insgesamt verkauften Waren, und die Tatsache, dass der Erwerber in einer bestimmten Branche, nämlich der Verarbeitung von Edelmetallen oder Edelsteinen tätig ist, die relevant und zu berücksichtigen sind.

79.      Zweitens gibt es abgesehen von derartigen objektiven Faktoren auch das ausführlich erörterte Element der subjektiven Absicht. Insoweit stimme ich mit der lettischen Regierung und der Kommission vollkommen überein, dass die Absichten der einen oder anderen Partei nicht ausschlaggebend sein können. Eine solche Absicht kann nicht eigenständig den Zweck des Geschäfts und die anwendbare Mehrwertsteuerregelung bestimmen(37). Dies gilt auch für die vom vorlegenden Gericht angesprochene Kenntnis, die die Rechtsmittelführerin im Zeitpunkt des Geschäfts hinsichtlich der Absicht der betreffenden Käufer hatte, wie die Waren verwendet würden.

80.      Das bedeutet nicht, dass die Absicht der Parteien überhaupt nicht relevant wäre. Sie ist es sehr wohl, aber nicht als ein bestimmender Faktor. Sie ist lediglich einer der (objektiven) Anhaltspunkte, der bei der Klärung der wahren Natur und des Zwecks des Geschäfts für den das Geschäft in seiner Gesamtheit beurteilenden außenstehenden Beobachter hilfreich sein kann. Dies steht damit in Zusammenhang, dass der Gerichtshof weitgehend anerkennt, dass „die Berücksichtigung der wirtschaftlichen und geschäftlichen Realität ein grundlegendes Kriterium für die Anwendung des gemeinsamen Mehrwertsteuersystems darstellt“(38).

81.      Drittens gibt es Faktoren, die für die in Rede stehende spezifische Art der Beurteilung schlicht irrelevant sind. Dies gilt für die Rechtsform des Erwerbers, wie auch die lettische Regierung und Kommission festgestellt haben.

82.      Schließlich ist festzustellen, dass alle relevanten objektiven Faktoren in ihrer Gesamtheit zu betrachten und zu würdigen sind. Sie dürfen nicht isoliert voneinander betrachtet werden. Daher macht z. B. die Tatsache, dass Edelmetall- oder Edelsteinartikel nach Gewicht verkauft werden, aber ihre Funktion behalten(39), unter bestimmten Umständen weiterhin als Gebrauchtgegenstände angesehen werden können, deutlich, dass der Verkauf von Gegenständen nach Gewicht nicht unbedingt und für sich genommen die Relevanz der Funktion dieser Gegenstände verschwinden lässt. Das Gleiche gilt für die Bewertungsmethode: Während die Festlegung des Preises der Gegenstände auf der Grundlage des Materialwerts ein Hinweis darauf sein kann, dass die streitigen Gegenstände ungeachtet ihrer individuellen Funktion gehandelt werden, ist es wahrscheinlich, dass bei der Festsetzung des Preises eines einzelnen Goldrings auch der Materialwert zu berücksichtigen ist. Aus diesem Grund, und ähnlich den Ausführungen der Kommission, vertrete ich die Auffassung, dass die relevanten objektiven Umstände des Geschäfts als Ganzes und in ihrem Zusammenspiel zu betrachten sind.

V.      Ergebnis

83.      Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor, die vom Augstākā tiesa (Oberster Gerichtshof, Lettland) vorgelegten Fragen wie folgt zu beantworten:

–        Art. 311 Abs. 1 Nr. 1 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem ist dahin auszulegen, dass der Begriff „Gebrauchtgegenstände“ durch einen Händler erworbene gebrauchte Gegenstände, die Edelmetalle oder Edelsteine enthalten, wie die des Ausgangsverfahrens nicht erfasst, die hauptsächlich zu dem Zweck wiederverkauft werden, die in ihnen enthaltenen Edelmetalle und Edelsteine herauszulösen, wenn sich aus den objektiven Umständen des Geschäfts ergibt, dass solche Gegenstände ohne Berücksichtigung der Funktion der betreffenden Gegenstände wiederverkauft werden.

–        Ob dies der Fall ist, muss anhand der objektiven Umstände des Geschäfts festgestellt werden, die in ihrer Gesamtheit zu betrachten sind. Zu den zu berücksichtigenden Gesichtspunkten gehören die Präsentation der Waren zum Zweck des Wiederverkaufs, die Methoden der Bewertung solcher Waren, die Mengen der insgesamt verkauften Waren, und die Tatsache, dass der Erwerber in einer bestimmten Branche wie der Verarbeitung von Edelmetallen oder Edelsteinen tätig ist.


1      Originalsprache: Englisch.


2      Richtlinie vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. 2006, L 347, S. 1).


3      Vgl. Kapitel 4 Abschnitt 2 Unterabschnitt 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie („Differenzbesteuerung“). Art. 313 Abs. 1 bestimmt, dass „die Mitgliedstaaten … auf die Lieferungen von Gebrauchtgegenständen, Kunstgegenständen, Sammlungsstücken und Antiquitäten durch steuerpflichtige Wiederverkäufer eine Sonderregelung zur Besteuerung der von dem steuerpflichtigen Wiederverkäufer erzielten Differenz (Handelsspanne) gemäß diesem Unterabschnitt an[wenden]“. Nach Art. 315 ist „[d]ie Steuerbemessungsgrundlage bei der Lieferung [u. a. von Gebrauchtgegenständen] die von dem steuerpflichtigen Wiederverkäufer erzielte Differenz (Handelsspanne), abzüglich des Betrags der auf diese Spanne erhobenen Mehrwertsteuer. Die Differenz (Handelsspanne) des steuerpflichtigen Wiederverkäufers entspricht dem Unterschied zwischen dem von ihm geforderten Verkaufspreis und dem Einkaufspreis des Gegenstands.“


4      Zur Auslegung von Art. 314 der Mehrwertsteuerrichtlinie vgl. Urteil vom 18. Mai 2017, Litdana (C-624/15, EU:C:2017:389, Rn. 23 und die dort angeführte Rechtsprechung).


5      Urteil vom 8. Dezember 2005, Jyske Finans (C-280/04, EU:C:2005:753, Rn. 35 und die dort angeführte Rechtsprechung).


6      Vgl. in einem anderen Kontext Urteil vom 15. Januar 2002, Libéros/Kommission (C-171/00 P, EU:C:2002:17, Rn. 27). Vgl. auch Schlussanträge von Generalanwalt Jacobs in der Rechtssache Zoological Society (C-267/00, EU:C:2001:698, Nr. 19).


7      Auf diese doppelte Zielsetzung hat der Gerichtshof im Urteil vom 3. März 2011, Auto Nikolovi (C-203/10, EU:C:2011:118, Rn. 47 und 48), hingewiesen.


8      Urteil vom 1. April 2004, Stenholmen (C-320/02, EU:C:2004:213, Rn. 27).


9      Vgl. dazu z. B. Urteil vom 8. Dezember 2005, Jyske Finans (C-280/04, EU:C:2005:753, Rn. 38 bis 41).


10      Urteil vom 18. Mai 2017, Litdana(C-624/15, EU:C:2017:389, Rn. 26 und die dort angeführte Rechtsprechung). Vgl. in diesem Sinne auch Urteil vom 1. April 2004, Stenholmen (C-320/02, EU:C:2004:213, Rn. 25).


11      Vgl. Urteil vom 5. Dezember 1989, ORO Amsterdam Beheer und Concerto (C-165/88, EU:C:1989:608, Rn. 16). Vgl. sinngemäß Urteil vom 27. Juni 1989, Kühne (50/88, EU:C:1989:262, Rn. 9 und 10). Vgl. auch Nr. 1.2 der Stellungnahme des Wirtschafts- und Sozialausschusses vom 21. Juni 1989 zu dem Vorschlag für eine Richtlinie des Rates zur Ergänzung des gemeinsamen Mehrwertsteuersystems und zur Änderung der Artikel 32 und 28 der Richtlinie 77/388/EWG – Sonderregelung für Gebrauchtgegenstände, Kunstgegenstände, Antiquitäten und Sammlungsstücke (ABl. 1989, C 201, S. 6).


12      Vgl. Vorschlag für eine siebente Richtlinie des Rates zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern – Gemeinsame Regelung über die Anwendung der Mehrwertsteuer auf Umsätze von Kunstgegenständen, Sammlungsstücken, Antiquitäten und Gebrauchtgegenständen (ABl. 1978, C 26, S. 2).


13      Urteil vom 18. Januar 2017 (C-471/15, EU:C:2017:20, Rn. 32 bis 33). Hervorhebung nur hier.


14      Urteil vom 18. Januar 2017, Sjelle Autogenbrug (C-471/15, EU:C:2017:20, Rn. 31).


15      Oben, Nr. 7 dieser Schlussanträge.


16      Vgl. Teil A, B und C des Anhangs IX der Mehrwertsteuerrichtlinie.


17      Vorschlag für eine siebente Richtlinie des Rates vom 11. Januar 1978 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern – Gemeinsame Regelung über die Anwendung der Mehrwertsteuer auf Umsätze von Kunstgegenständen, Sammlungsstücken, Antiquitäten und Gebrauchtgegenständen (ABl. 1978, C 26, S. 2). Dieser Vorschlag wurde später geändert; diese Änderungen sind aber im vorliegenden Kontext irrelevant (ABl. 1979, C 136, S. 8).


18      Vgl. Art. 3 des oben in Fn. 17 erwähnten Vorschlags (ABl. 1978, C 26, S. 2).


19      Hervorhebung nur hier.


20      Vgl. den vorgeschlagenen Art. 2 Abs. 4 des oben in Fn. 17 erwähnten Vorschlags.


21      Vorschlag für eine Richtlinie des Rates zur Ergänzung des gemeinsamen Mehrwertsteuersystems und zur Änderung der Artikel 32 und 28 der Richtlinie 77/388/EWG – Sonderregelung für Gebrauchtgegenstände, Kunstgegenstände, Antiquitäten und Sammlungsstücke, KOM(88) 846 endg. (ABl. 1989, C 76, S. 10).


22      Richtlinie des Rates vom 14. Februar 1994 zur Ergänzung des gemeinsamen Mehrwertsteuersystems und zur Änderung der Richtlinie 77/388/EWG – Sonderregelung für Gebrauchtgegenstände, Kunstgegenstände, Sammlungsstücke oder Antiquitäten (ABl. 1994, L 60, S. 16).


23      Vgl. Art. 1 des Vorschlags für eine Richtlinie des Rates zur Ergänzung des gemeinsamen Mehrwertsteuersystems und zur Änderung der Artikel 32 und 28 der Richtlinie 77/388/EWG – Sonderregelung für Gebrauchtgegenstände, Kunstgegenstände, Antiquitäten und Sammlungsstücke, KOM(88) 846 endg. (ABl. 1989, C 76, S. 10).


24      Nr. 3.1 der Stellungnahme vom 21. Juni 1989 zu dem Vorschlag für eine Richtlinie des Rates zur Ergänzung des gemeinsamen Mehrwertsteuersystems und zur Änderung der Artikel 32 und 28 der Richtlinie 77/388/EWG – Sonderregelung für Gebrauchtgegenstände, Kunstgegenstände, Antiquitäten und Sammlungsstücke (ABl. 1989, C 201, S. 6).


25      „A. … gelten … als … d) ,Gebrauchtgegenstände‘ bewegliche körperliche Gegenstände, die keine Kunstgegenstände, Sammlungsstücke oder Antiquitäten und Edelmetalle oder Edelsteine gemäß der Definition der Mitgliedstaaten sind und die in ihrem derzeitigen Zustand oder nach Instandsetzung erneut verwendbar sind.“


26      Vgl. entsprechend zu Anlagegold, Urteil vom 26. Mai 2016, Envirotec Denmark (C-550/14, EU:C:2016:354, Rn. 41).


27      Selbstverständlich vorbehaltlich der einschlägigen nationalen Rechtsvorschriften.


28      Vgl. Art. 346 der Mehrwertsteuerrichtlinie. Art. 344 der Mehrwertsteuerrichtlinie definiert „Anlagegold“.


29      Vorschlag für eine Richtlinie des Rates zur Ergänzung des gemeinsamen Mehrwertsteuersystems und zur Änderung der Richtlinie 77/388/EWG – Sonderregelung für Gold (KOM[92] 441 endg., S. 6 und 7). Dieser Vorschlag führte zur Richtlinie 98/80/EG des Rates vom 12. Oktober 1998 zur Ergänzung des gemeinsamen Mehrwertsteuersystems und zur Änderung der Richtlinie 77/388/EWG – Sonderregelung für Anlagegold (ABl. 1998, L 281, S. 31).


30      53. Erwägungsgrund der Mehrwertsteuerrichtlinie.


31      Wie im 27. Erwägungsgrund der Mehrwertsteuerrichtlinie anerkannt. Vgl. auch Art. 82 der Mehrwertsteuerrichtlinie. Vgl. außerdem vierter Erwägungsgrund des Vorschlags für eine Richtlinie des Rates zur Änderung der Richtlinie 77/388/EWG hinsichtlich bestimmter Maßnahmen zur Vereinfachung der Erhebung der Mehrwertsteuer, zur Unterstützung der Bekämpfung der Steuerhinterziehung und -umgehung und zur Aufhebung bestimmter Entscheidungen über die Genehmigung von Ausnahmeregelungen (KOM[2005] 89 endg.).


32      Was verschiedene Begriffe der Mehrwertsteuerrichtlinie (oder ihrer Vorläufer) betrifft, deren Definition den Mitgliedstaaten überlassen ist, vgl. z. B. Urteil vom 26. Mai 2005, Kingscrest Associates und Montecello (C-498/03, EU:C:2005:322, Rn. 51 bis 54), vom 27. April 2006, Solleveld (C-443/04, EU:C:2006:257, Rn. 27 bis 36), vom 28. Juni 2007, JP Morgan Fleming Claverhouse Investment Trust und The Association of Investment Trust Companies (C-363/05, EU:C:2007:391, Rn. 41 bis 49), vom 15. November 2012, Zimmermann (C-174/11, EU:C:2012:716, Rn. 31 bis 33), vom 28. November 2013, MDDP (C-319/12, EU:C:2013:778, Rn. 37 und 38), oder vom 13. März 2014, ATP PensionService (C-464/12, EU:C:2014:139, Rn. 42).


33      Vgl. in diesem Sinne Urteile vom 27. April 2006, Solleveld (C-443/04, EU:C:2006:257, Rn. 35), vom 28. Juni 2007, JP Morgan Fleming Claverhouse Investment Trust und The Association of Investment Trust Companies (C-363/05, EU:C:2007:391, Rn. 43), und vom 13. März 2014, ATP PensionService (C-464/12, EU:C:2014:139, Rn. 42).


34      Vgl. auch Capaccioli, S., „VAT Taxation of Gold in the European Union“, EC Tax Review 2014, S. 85 bis 101, auf S. 100: „the margin scheme is applicable to used jewellery only if the transaction has a ‚margin‘ over the precious metals contained, meaning that added value over the metal exists. If the transaction has the substance of reworking or recovering the gold, used jewellery is deemed gold material“.


35      Oben, Nrn. 44 bis 46 der vorliegenden Schlussanträge. Sicherlich bin ich mir des Betrugspotenzials bewusst, das der Wirtschafts- und Sozialausschuss in seinem Widerspruch gegen die Einführung jeder eindeutigen Grenze in diesem Zusammenhang aufgezeigt hat (oben, Nr. 45). Ich frage mich jedoch, inwieweit dieses bekannte Problem dadurch, dass es überhaupt keine Grenze auf Unionsebene gibt und es den Mitgliedstaaten überlassen bleibt, wirksam behandelt wird.


36      Oben, Nrn. 58 bis 62 der vorliegenden Schlussanträge.


37            Vgl. entsprechend Urteil vom 6. Juli 2006, Kittel und Recolta Recycling (C-439/04 und C-440/04, EU:C:2006:446, Rn. 41 und 42 und die dort angeführte Rechtsprechung). Vgl. auch zum Begriff „Dienstleistung“ Urteil vom 20. Juni 2013, Newey (C-653/11, EU:C:2013:409, Rn. 41).


38      Urteil vom 20. Juni 2013, Newey (C-653/11, EU:C:2013:409, Rn. 42 und die dort angeführte Rechtsprechung).


39      Beispiel oben in Nr. 71 der vorliegenden Schlussanträge erwähnt.