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Vorläufige Fassung

SCHLUSSANTRÄGE DER GENERALANWÄLTIN

JULIANE KOKOTT

vom 8. Juli 2021(1)

Rechtssache C-156/20

Zipvit Ltd

gegen

The Commissioners for Her Majesty’s Revenue & Customs

(Vorabentscheidungsersuchen des Supreme Court of the United Kingdom [Oberster Gerichtshof des Vereinigten Königreichs])

„Vorabentscheidungsersuchen – Steuerrecht – Mehrwertsteuer – Richtlinie 2006/112/EG – Art. 168 und 178 Buchst. a – Entstehung des Rechts auf Vorsteuerabzug bei irrtümlich für steuerfrei gehaltener Eingangsleistung – Mehrwertsteuer im Preis trotz Irrtum enthalten – Entstehungszeitraum – Geschuldete oder abgeführte Mehrwertsteuer – Besitz einer Rechnung als materielle Voraussetzung – Abgrenzung zu den formellen Voraussetzungen des Vorsteuerabzugs“






I.      Einführung

1.        Zwei Unternehmen gehen – in Übereinstimmung mit der Ansicht der Finanzverwaltung – gemeinsam, aber unionsrechtlich fehlerhaft von einer steuerfreien Dienstleistung aus. Folglich wird nur ein Preis ohne Mehrwertsteuer vereinbart, in Rechnung gestellt und auch nur dieser Preis gezahlt. Nachdem der Irrtum entdeckt wird, „verzichtet“ die Finanzverwaltung u. a. wohl auch aus Verwaltungsvereinfachungsgründen auf eine Nacherhebung beim Leistenden, weil viele der Leistungsempfänger zum Vorsteuerabzug berechtigt wären. Fiskalisch wäre dies nur ein „Nullsummenspiel“ mit viel Verwaltungsaufwand auf allen Seiten. Nachdem auf der Ebene des Leistenden Verjährung eingetreten ist, macht der Leistungsempfänger (hier Zipvit) einen Vorsteuerabzug geltend. Da es aber an einer Rechnung fehlt, in der irgendeine Mehrwertsteuer gesondert ausgewiesen ist, versagt dies die Finanzverwaltung.

2.        In diesem Kontext haben zwei Gesichtspunkte das nationale Gericht zu einer Vorlage an den Gerichtshof veranlasst. Zum einen lassen die Art. 73, 78 und 90 der Mehrwertsteuerrichtlinie erkennen, dass die Bemessungsgrundlage für die Mehrwertsteuer immer alles ist, was der Leistende tatsächlich erhalten hat. Folglich könnte auf dieser Grundlage ein Vorsteuerabzugsrecht von Zipvit entstanden sein. Zum anderen sind aufgrund der Entscheidung des Gerichtshofs in der Rechtssache Vădan(2) wieder Zweifel bezüglich der Bedeutung einer Rechnung für den Vorsteuerabzug aufgekommen. So stellt sich insbesondere die Frage, ob eine solche für einen Vorsteuerabzug nötig ist.

3.        Daher zweifelt der Oberste Gerichtshof des Vereinigten Königreichs an der Unionsrechtskonformität der Versagung des Vorsteuerabzugs durch die Finanzverwaltung. Anders sieht es hingegen die Kommission, die ausführt: „The simple answer to the issues raised in the present case is that since Zipvit has paid no VAT, it is not entitled to deduct input VAT. Sometimes simple answers are correct. The Commission submits that on the basis of the following considerations, this is one of those times.“

4.        Manchmal sieht eine Antwort allerdings auch nur einfach aus, entpuppt sich aber in Wahrheit als gar nicht so einfach, wenn eine Lösung gesucht wird, die auch der Dogmatik, Systematik und dem Wortlaut der Mehrwertsteuerrichtlinie Rechnung trägt. Dass jedenfalls die Begründung, die die Kommission vorschlägt, nicht richtig sein kann, zeigt schon die Tatsache, dass der Vorsteuerabzug nicht voraussetzt, dass der Steuerpflichtige irgendetwas bezahlt hat. Dieses sogenannte Sollprinzip beim Vorsteuerabzug ist in der Rechtsprechung des Gerichtshofs anerkannt(3) und ergibt sich mittlerweile auch aus der Richtlinie. Ob Zipvit daher kein Entgelt (0), einen Nettobetrag (100) oder ein Bruttoentgelt (120) an den Vertragspartner gezahlt hat, ist für den Vorsteuerabzug dem Grunde nach irrelevant.

5.        Daher muss sich der Gerichtshof hier mit anderen – nicht gerade simplen – Grundfragen des Mehrwertsteuerrechts beschäftigen. So stellt sich die Frage, ob eine Mehrwertsteuer immer im Preis enthalten ist, wenn der Umsatz (objektiv) mehrwertsteuerpflichtig ist, auch wenn die Vertragsparteien und die Finanzverwaltung (subjektiv) von einem steuerfreien Umsatz ausgehen. Wenn dies bejaht wird, kann der Leistungsempfänger dann eine Entlastung von dieser im Preis bereits enthaltenen Mehrwertsteuer verlangen, obwohl der Leistende diese (irrtümlich) nicht in die Gegenleistung eingepreist und damit auch nicht auf den Leistungsempfänger übergewälzt hat? Erfasst die „geschuldete“ Mehrwertsteuer aus Art. 168 Buchst. a der Mehrwertsteuerrichtlinie die konkret vom Leistenden geschuldete (hier ist aufgrund der Verjährung keine Mehrwertsteuer mehr geschuldet) oder die abstrakt (d. h. gesetzlich, hier jedenfalls unionsrechtlich) eigentlich geschuldete Mehrwertsteuer?

6.        Da der Leistende bei der irrtümlichen Annahme der Steuerfreiheit seiner Lieferung oder Dienstleistung natürlich keine Rechnung mit ausgewiesener Mehrwertsteuer ausstellt, kommt der Funktion der Rechnung im Mehrwertsteuerrecht hier erneut(4) eine entscheidende Bedeutung für den Vorsteuerabzug des Leistungsempfängers zu. Ein Vorsteuerabzug wäre unabhängig von den oben aufgeworfenen Fragen nämlich nur möglich, wenn der Besitz einer Rechnung mit gesondertem Mehrwertsteuerausweis keine Voraussetzung des Vorsteuerabzugs wäre.

II.    Rechtlicher Rahmen

A.      Unionsrecht

7.        Art. 63 der Richtlinie 2006/112/EG über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem(5) (im Folgenden: Mehrwertsteuerrichtlinie) regelt die Entstehung des Steuertatbestandes und des Steueranspruchs:

„Steuertatbestand und Steueranspruch treten zu dem Zeitpunkt ein, zu dem die Lieferung von Gegenständen bewirkt oder die Dienstleistung erbracht wird.“

8.        Art. 73 der Mehrwertsteuerrichtlinie betrifft die Steuerbemessungsgrundlage:

„Bei der Lieferung von Gegenständen und Dienstleistungen, die nicht unter die Artikel 74 bis 77 fallen, umfasst die Steuerbemessungsgrundlage alles, was den Wert der Gegenleistung bildet, die der Lieferer oder Dienstleistungserbringer für diese Umsätze vom Erwerber oder Dienstleistungsempfänger oder einem Dritten erhält oder erhalten soll, einschließlich der unmittelbar mit dem Preis dieser Umsätze zusammenhängenden Subventionen.“

9.        Art. 78 der Mehrwertsteuerrichtlinie erläutert die Bestandteile der Bemessungsgrundlage:

„In die Steuerbemessungsgrundlage sind folgende Elemente einzubeziehen:

a)      Steuern, Zölle, Abschöpfungen und Abgaben mit Ausnahme der Mehrwertsteuer selbst; …“

10.      Art. 90 der Mehrwertsteuerrichtlinie regelt die nachträgliche Änderung der Steuerbemessungsgrundlage und die Rechtsfolgen für den Leistenden:

„(1) Im Falle der Annullierung, der Rückgängigmachung, der Auflösung, der vollständigen oder teilweisen Nichtbezahlung oder des Preisnachlasses nach der Bewirkung des Umsatzes wird die Steuerbemessungsgrundlage unter den von den Mitgliedstaaten festgelegten Bedingungen entsprechend vermindert.

(2) Die Mitgliedstaaten können im Falle der vollständigen oder teilweisen Nichtbezahlung von Absatz 1 abweichen.“

11.      Art. 93 Satz 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie betrifft die Anwendung des Steuersatzes auf die ermittelte Bemessungsgrundlage und lautet:

„Auf die steuerpflichtigen Umsätze ist der Steuersatz anzuwenden, der zu dem Zeitpunkt gilt, zu dem der Steuertatbestand eintritt.“

12.      Für den Normalsatz sieht Art. 96 der Mehrwertsteuerrichtlinie vor:

„Die Mitgliedstaaten wenden einen Mehrwertsteuer-Normalsatz an, den jeder Mitgliedstaat als Prozentsatz der Bemessungsgrundlage festsetzt und der für die Lieferungen von Gegenständen und für Dienstleistungen gleich ist.“

13.      Art. 167 der Mehrwertsteuerrichtlinie betrifft die Entstehung des Rechts auf Vorsteuerabzug. Er lautet:

„Das Recht auf Vorsteuerabzug entsteht, wenn der Anspruch auf die abziehbare Steuer entsteht.“

14.      Art. 168 Buchst. a der Mehrwertsteuerrichtlinie regelt den materiellen Umfang des Vorsteuerabzugs:

„Soweit die Gegenstände und Dienstleistungen für die Zwecke seiner besteuerten Umsätze verwendet werden, ist der Steuerpflichtige berechtigt, in dem Mitgliedstaat, in dem er diese Umsätze bewirkt, vom Betrag der von ihm geschuldeten Steuer folgende Beträge abzuziehen:

a)      die in diesem Mitgliedstaat geschuldete oder entrichtete Mehrwertsteuer für Gegenstände und Dienstleistungen, die ihm von einem anderen Steuerpflichtigen geliefert bzw. erbracht wurden oder werden“.

15.      Art. 178 der Mehrwertsteuerrichtlinie regelt hingegen die Ausübung des Rechts auf Vorsteuerabzug:

„Um das Recht auf Vorsteuerabzug ausüben zu können, muss der Steuerpflichtige folgende Bedingungen erfüllen:

a)      [F]ür den Vorsteuerabzug nach Artikel 168 Buchstabe a in Bezug auf die Lieferung von Gegenständen oder das Erbringen von Dienstleistungen muss er eine gemäß den Artikeln 220 bis 236 sowie 238, 239 und 240 ausgestellte Rechnung besitzen; …

f)      hat er die Steuer in seiner Eigenschaft als Dienstleistungsempfänger oder Erwerber gemäß den Artikeln 194 bis 197 sowie 199 zu entrichten, muss er die von dem jeweiligen Mitgliedstaat vorgeschriebenen Formalitäten erfüllen.“

16.      Art. 203 der Mehrwertsteuerrichtlinie sichert einen Gleichlauf von der in einer Rechnung ausgestellten und der geschuldeten Mehrwertsteuer. Er sieht vor:

„Die Mehrwertsteuer wird von jeder Person geschuldet, die diese Steuer in einer Rechnung ausweist.“

17.      Art. 226 der Mehrwertsteuerrichtlinie schreibt die notwendigen Angaben in einer Rechnung vor:

„Unbeschadet der in dieser Richtlinie festgelegten Sonderbestimmungen müssen gemäß den Artikeln 220 und 221 ausgestellte Rechnungen für Mehrwertsteuerzwecke nur die folgenden Angaben enthalten: …

8.      die Steuerbemessungsgrundlage für die einzelnen Steuersätze beziehungsweise die Befreiung, den Preis je Einheit ohne Mehrwertsteuer sowie jede Preisminderung oder Rückerstattung, sofern sie nicht im Preis je Einheit enthalten sind;

9.      den anzuwendenden Mehrwertsteuersatz;

10.      den zu entrichtenden Mehrwertsteuerbetrag, außer bei Anwendung einer Sonderregelung, bei der nach dieser Richtlinie eine solche Angabe ausgeschlossen wird; …“

B.      Recht des Vereinigten Königreichs

18.      Das Vereinigte Königreich hat die Mehrwertsteuerrichtlinie und ihre Vorgängervorschrift durch den Value Added Tax Act 1994 (Mehrwertsteuergesetz 1994 [im Folgenden: VATA]) umgesetzt.

III. Ausgangsrechtsstreit

19.      Die Gesellschaft Zipvit Ltd (im Folgenden: Klägerin) betreibt einen Versandhandel mit Vitaminen und Mineralstoffen. Im Zeitraum vom 1. Januar 2006 bis 31. März 2010 erbrachte Royal Mail für die Klägerin eine Reihe von Postdienstleistungen, die auf individuell ausgehandelten Verträgen beruhten.

20.      Royal Mail ist der öffentliche Postdienst im Vereinigten Königreich. Nach Art. 132 Abs. 1 Buchst. a der Mehrwertsteuerrichtlinie befreien die Mitgliedstaaten „von öffentlichen Posteinrichtungen erbrachte Dienstleistungen und dazugehörende Lieferungen von Gegenständen mit Ausnahme von Personenbeförderungs- und Telekommunikationsdienstleistungen“ von der Steuer. Bei ihrer Umsetzung wurde diese Bestimmung vom Gesetzgeber und der Steuerverwaltung dahin gehend ausgelegt, dass sie für sämtliche von Royal Mail erbrachten Postdienstleistungen gilt. Das nationale Umsetzungsgesetz VATA enthielt eine entsprechende Bestimmung (Anhang 9 Gruppe 3 Nr. 1), und die Steuerverwaltung erließ entsprechende Guidance Notes (Leitlinien).

21.      In dem Vertrag, aufgrund dessen Royal Mail die Dienstleistungen erbrachte, war geregelt, dass sich alle von der Klägerin zu zahlenden Postgebühren ohne Mehrwertsteuer verstanden, dass die Klägerin „jegliche auf Postgebühren und sonstige Gebühren zu zahlende Mehrwertsteuer zum entsprechenden Satz zahlen muss“ und dass „die Mehrwertsteuer auf [den Geschäftspreis der Dienstleistungen] zu berechnen und zu zahlen ist“. Danach bestand der von der Klägerin aufgrund des Vertrags zu zahlende Gesamtpreis, soweit auf die erbrachten Dienstleistungen Mehrwertsteuer geschuldet war, aus dem Geschäftspreis zuzüglich der Mehrwertsteuerkomponente.

22.      Wegen des nationalen Gesetzes und der Leitlinien sowie des gemeinsamen Irrtums, dass die Dienstleistungen mehrwertsteuerfrei seien, waren jedoch die Rechnungen, die Royal Mail der Klägerin über die Dienstleistungen ausstellte, mit einem „E“ („exempt“) als steuerbefreit gekennzeichnet; es war darin kein Betrag als geschuldete Mehrwertsteuer ausgewiesen, und es wurde nur der Geschäftspreis für die Dienstleistungen berechnet. Die Klägerin zahlte die in den Rechnungen angegebenen Beträge ordnungsgemäß an Royal Mail. In der Zeit, in der die Dienstleistungen erbracht wurden, machte die Klägerin diesbezüglich keinen Vorsteuerabzug geltend.

23.      Da Royal Mail die Dienstleistungen für steuerbefreit hielt und in den Rechnungen keinen Mehrwertsteuerbetrag ausgewiesen hatte, wurde der Steuerverwaltung (Her Majesty’s Revenue and Customs Commissioners [im Folgenden: Steuerverwaltung]) bezüglich der erbrachten Dienstleistungen weder ein Mehrwertsteuerbetrag gemeldet noch an diese abgeführt. Der Steuerverwaltung unterlief derselbe Irrtum bzw. hatte sie zum Irrtum der Beteiligten beigetragen, indem sie eine Tax Guidance (Steuerleitlinie) erließ, die eine entsprechende Darstellung der Rechtslage enthielt. Folglich verlangte sie auch nicht, dass Royal Mail die Mehrwertsteuer abführte.

24.      Diese Verfahrensweise wurde mehrere Jahre beibehalten, bis der Gerichtshof mit Urteil vom 23. April 2009, TNT Post UK (C-357/07, EU:C:2009:248), entschied, dass die Steuerbefreiung für Postdienstleistungen nur für Dienstleistungen gilt, die die öffentlichen Posteinrichtungen in ihrer Eigenschaft als solche erbringen, und nicht für Dienstleistungen, deren Bedingungen individuell ausgehandelt werden.

25.      Nach dieser vom Gerichtshof vorgenommenen Auslegung der Mehrwertsteuerrichtlinie hätte auf die Dienstleistungen, um die es im vorliegenden Verfahren geht, im relevanten Zeitraum Mehrwertsteuer zum Normalsatz erhoben werden müssen. Royal Mail hätte der Klägerin für die erbrachten Dienstleistungen einen Gesamtpreis, der dem Geschäftspreis zuzüglich der Mehrwertsteuer zum einschlägigen Satz entsprach, in Rechnung stellen und die Mehrwertsteuer der Steuerverwaltung melden und an diese abführen müssen.

26.      Vor dem Hintergrund des Urteils TNT Post UK macht die Klägerin bezüglich der Dienstleistungen nunmehr Vorsteuerabzugsansprüche geltend. Die Berechnung dieser Ansprüche erfolgte auf der Grundlage, dass die für die Dienstleistungen tatsächlich gezahlten Preise die Mehrwertsteuer umfassen. Die von der Klägerin als Vorsteuer geltend gemachten Beträge auf die relevanten Dienstleistungen belaufen sich auf 415 746 Pfund Sterling (GBP) (dies entspricht in etwa 480 000 Euro) zuzüglich Zinsen. Das vorliegende Verfahren ist ein Musterprozess für von Royal Mail erbrachte Dienstleistungen, die ebenfalls unzutreffend als steuerfrei behandelt wurden. Nach dem vorlegenden Gericht beläuft sich der Gesamtwert der gegen die Steuerverwaltung geltend gemachten Forderungen auf einen Betrag zwischen 500 Mio. und 1 Mrd. GBP (das entspricht in etwa zwischen 575 Mio. und 1,15 Mrd. Euro).

27.      Die Ansprüche der Klägerin wurden von der Steuerverwaltung zurückgewiesen. Dies wurde darauf gestützt, dass die Klägerin zwar vertraglich verpflichtet gewesen sei, Mehrwertsteuer auf den Geschäftspreis für die Dienstleistungen zu zahlen, dass ihr jedoch in den Rechnungen keine Mehrwertsteuer berechnet worden sei und sie die Mehrwertsteuer damit nicht entrichtet habe.

28.      Unterdessen stellte die Steuerverwaltung bei Royal Mail Nachforschungen an, um genau festzustellen, welche ihrer Dienstleistungen vom Urteil TNT Post UK betroffen waren. Im Juli 2010 war die nach nationalem Recht geltende Verjährungsfrist von sechs Jahren, die sich aus Section 5 des Limitation Act 1980 (Verjährungsgesetz 1980) ergibt, für den vertraglichen Anspruch von Royal Mail auf Zahlung des Restbetrags des ihr geschuldeten Gesamtpreises für die erbrachten Dienstleistungen (d. h. des Betrags, der dem in Bezug auf den Geschäftspreis der Dienstleistungen berechneten Mehrwertsteuerbetrag entspricht) noch nicht abgelaufen. Allerdings hätte es für Royal Mail einen hohen Kosten- und Verwaltungsaufwand erfordert, gegen alle ihre vom Urteil TNT Post UK betroffenen Kunden (einschließlich der Klägerin) Forderungen zu erheben; die Ansprüche wurden daher nicht verfolgt, zumal Royal Mail auch keinerlei geschäftliches Interesse daran hatte.

29.      Damals waren auch die in Section 73(6) und Section 77(1) VATA geregelten steuerrechtlichen Verjährungsfristen noch nicht abgelaufen. Die Steuerverwaltung entschied sich jedoch gegen eine Steuerfestsetzung, weil die Dienstleistungen nach dem geltenden nationalen Recht steuerbefreit gewesen seien und weil Royal Mail von der Klägerin tatsächlich keine für die Dienstleistungen geschuldete Mehrwertsteuer erhalten habe. Des Weiteren war die Steuerverwaltung der Ansicht, sie habe bei Royal Mail ein schutzwürdiges Vertrauen dahin gehend erweckt, dass diese nicht verpflichtet sei, die Mehrwertsteuer für die Dienstleistungen einzuziehen, so dass sich Royal Mail gegen jeden Versuch, Mehrwertsteuerbescheide in Bezug auf die Dienstleistungen gegen sie zu erlassen, voraussichtlich mit Erfolg hätte wehren können.

30.      Gegen die Überprüfungsentscheidung der Steuerverwaltung erhob die Klägerin Klage beim First-tier Tribunal (Tax Chamber) (Gericht erster Instanz [Kammer für Steuersachen], Vereinigtes Königreich). Zu diesem Zeitpunkt war die Verjährungsfrist für vertragliche Ansprüche von Royal Mail gegen die Klägerin auf Zahlung des Restbetrags des geschuldeten Gesamtpreises für die erbrachten Dienstleistungen für den Großteil dieser Leistungen abgelaufen. Auch was die Möglichkeit der Steuerverwaltung angeht, Steuerbescheide gegen Royal Mail zu erlassen, war größtenteils, wenn nicht sogar vollends, Verjährung eingetreten.

31.      Das First-tier Tribunal (Gericht erster Instanz) wies die Klage ab. Es befand, dass die Steuerverwaltung keine durchsetzbare Steuerforderung gegen Royal Mail habe. Royal Mail habe keine Rechnung ausgestellt, in der die geschuldete Mehrwertsteuer ausgewiesen sei. Außerdem habe die Steuerverwaltung keine Mehrwertsteuer gegen Royal Mail festgesetzt. Unter diesen Umständen gebe es keine von Royal Mail für die erbrachten Dienstleistungen „geschuldete oder entrichtete“ Mehrwertsteuer im Sinne von Art. 168 Buchst. a der Mehrwertsteuerrichtlinie.

32.      Darüber hinaus sei die Klägerin, da sie für die erbrachten Dienstleistungen keine gültigen Mehrwertsteuerrechnungen mit ausgewiesener Mehrwertsteuer besitze, nicht zum Vorsteuerabzug berechtigt. Es wäre für die Klägerin ein unverdienter Zufallsgewinn, wenn ihr fiktive Vorsteuer auf die Dienstleistungen erstattet würde. Dies würde wirtschaftlich betrachtet bedeuten, dass die Klägerin die Dienstleistungen erheblich unter deren wahrem Handelswert erlangt hätte. Dagegen legte die Klägerin Rechtsmittel ein. Das Upper Tribunal (Tax Chamber) (Gericht zweiter Instanz [Kammer für Steuersachen], Vereinigtes Königreich) wies das Rechtsmittel zurück.

33.      Die Berufung der Klägerin beim Court of Appeal (Berufungsgericht, Vereinigtes Königreich) war ebenfalls erfolglos. Nach Prüfung der Rechtsprechung des Gerichtshofs befand der Court of Appeal (Berufungsgericht), es sei eine zwingende Voraussetzung für die Geltendmachung des Vorsteuerabzugs bezüglich der Dienstleistungen, dass die Klägerin in der Lage sei, Mehrwertsteuerrechnungen vorzuweisen, aus denen entsprechend Art. 226 Nrn. 9 und 10 der Mehrwertsteuerrichtlinie hervorgehe, dass Mehrwertsteuer auf die erbrachten Dienstleistungen erhoben worden sei. Der Court of Appeal (Berufungsgericht) hielt die Rechtslage in der Frage der Rechnung für einen „acte clair“. Die Klägerin hat nunmehr beim vorlegenden Gericht Revision eingelegt.

IV.    Vorabentscheidungsersuchen und Verfahren vor dem Gerichtshof

34.      Der mit der Revision befasste Supreme Court of the United Kingdom (Oberster Gerichtshof des Vereinigten Königreichs) legte mit Entscheidung vom 1. April 2020 dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vor:

1.       Wenn (i) eine Steuerbehörde, der Dienstleistungserbringer und der steuerpflichtige Händler die Mehrwertsteuervorschriften der Europäischen Union falsch auslegen und eine Dienstleistung, die zum Normalsatz zu versteuern ist, als mehrwertsteuerfrei behandeln, (ii) der Vertrag zwischen dem Dienstleistungserbringer und dem Händler festlegt, dass der Preis für die Dienstleistung ohne Mehrwertsteuer zu verstehen ist und dass, falls Mehrwertsteuer geschuldet sein sollte, deren Kosten vom Händler zu tragen sind, (iii) der Dienstleistungserbringer die zusätzliche Mehrwertsteuer zu keinem Zeitpunkt vom Händler verlangt und sie auch nicht mehr verlangen kann und (iv) die Steuerbehörde die Mehrwertsteuer, die hätte entrichtet werden müssen, vom Dienstleistungserbringer nicht oder (wegen Verjährung) nicht mehr verlangen kann, ergibt sich dann aus der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem, dass der tatsächlich gezahlte Preis aus einem zu versteuernden Nettobetrag und der darauf entfallenden Mehrwertsteuer besteht, so dass der Händler nach Art. 168 Buchst. a der Richtlinie Vorsteuerabzug wegen tatsächlich für die Dienstleistung „entrichteter“ Mehrwertsteuer geltend machen kann?

2.       Hilfsweise: Kann der Händler unter den genannten Umständen nach Art. 168 Buchst. a der Richtlinie Vorsteuerabzug wegen für die Dienstleistung „geschuldeter“ Mehrwertsteuer geltend machen?

3.       Wenn eine Steuerbehörde, der Dienstleistungserbringer und der steuerpflichtige Händler Mehrwertsteuervorschriften der Union falsch auslegen und eine Dienstleistung, die zum Normalsatz zu versteuern ist, als mehrwertsteuerfrei behandeln, was dazu führt, dass der Händler hinsichtlich der ihm erbrachten Dienstleistung nicht in der Lage ist, der Steuerbehörde eine Mehrwertsteuerrechnung vorzulegen, die Art. 226 Nrn. 9 und 10 der Richtlinie genügt, ist dann der Händler berechtigt, nach Art. 168 Buchst. a der Richtlinie Vorsteuerabzug geltend zu machen?

4.       Ist es für die Beantwortung der Fragen (1) bis (3) relevant:

(a)      ob sich der Dienstleistungserbringer nach nationalem Recht oder Unionsrecht, sei es aufgrund schutzwürdigen Vertrauens oder aus sonstigen Gründen, gegen Versuche der Steuerbehörde wehren könnte, ihn durch Erlass eines Steuerbescheids zur Meldung eines Betrags, der die Mehrwertsteuer auf die Dienstleistung darstellt, zu verpflichten;

(b)      dass der Händler zum selben Zeitpunkt wie die Steuerbehörde und der Dienstleistungserbringer Kenntnis hatte, dass die Dienstleistung tatsächlich nicht steuerbefreit war, oder dass er dieselben Möglichkeiten hatte wie diese, sich diese Kenntnis zu verschaffen, und dass er hätte anbieten können, die für die Dienstleistung geschuldete Mehrwertsteuer (berechnet unter Bezugnahme auf den Geschäftspreis der Dienstleistung) zu entrichten, so dass diese an die Steuerbehörde hätte abgeführt werden können, dass er dies jedoch unterließ?

35.      Im Verfahren vor dem Gerichtshof haben die Klägerin, das Vereinigte Königreich, das Königreich Spanien, die Tschechische Republik, die Hellenische Republik und die Europäische Kommission schriftlich Stellung genommen.

V.      Rechtliche Würdigung

A.      Zum Verständnis der Vorlagefragen

36.      Das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen betrifft den gar nicht so seltenen Fall, dass sich erst aufgrund der Rechtsprechung der Finanzgerichte oder – wie hier – des Gerichtshofs herausstellt, dass die jahrelang vorgenommene steuerrechtliche Behandlung bestimmter Umsätze (hier gewisser Postdienstleistungen) unzutreffend war. Im vorliegenden Fall wurde im Vereinigten Königreich die Reichweite einer Steuerbefreiungsvorschrift weiter verstanden, als es das Unionsrecht nach Auslegung durch den Gerichtshof ermöglicht.

37.      Führt diese (neue) Rechtsprechung zu einem höheren Steueranspruch des Staates, versucht die Finanzverwaltung normalerweise unter Berufung auf die objektive Rechtslage auch für in der Vergangenheit schon erbrachte Umsätze beim leistenden Unternehmen noch die entsprechende Mehrwertsteuer nachträglich festzusetzen. Dies wirft bereits die Frage auf, ob bei einer indirekten Verbrauchsteuer, bei der das leistende Unternehmen nur als Steuereinnehmer für Rechnung des Staates(6) fungiert, wirklich verlangt werden kann, dass ein Unternehmen diese Rechtsprechung antizipiert. Insbesondere wäre zu berücksichtigen, dass ein Steuereinnehmer für Rechnung des Staates keine besseren Steuerrechtskenntnisse als der Staat aufweisen muss und sich daher auch auf die entsprechenden Verwaltungsvorschriften verlassen konnte. Besonders heikel wird es, wenn – so wie hier – die Finanzverwaltung selbst demselben Irrtum wie der Steuerpflichtige (hier Royal Mail) unterlag und auch der nationale Gesetzgeber offenbar die Leistung als steuerfrei behandelt hat.

38.      Die vorgelegten Fragen betreffen allerdings die andere Seite der Medaille, d. h. den Vorsteuerabzug des Leistungsempfängers. Sind die empfangenen Leistungen als steuerfrei zu behandeln, steht ihm kein Vorsteuerabzug zu. Stellt sich aufgrund der Rechtsprechung jedoch heraus, dass der Umsatz eigentlich (bei objektiver Betrachtung) steuerpflichtig war, dann könnte ein Vorsteuerabzug grundsätzlich in Betracht kommen.

39.      Normalerweise würde bei einem Irrtum über den Steuersatz das leistende Unternehmen den Preis – wenn es ihm zivilrechtlich möglich ist – um die entsprechende Mehrwertsteuer erhöhen und dem Leistungsempfänger eine entsprechende (höhere) Rechnung ausstellen. Diese Rechnung würde der Leistungsempfänger bezahlen und mittels dieser dann die zusätzliche Mehrwertsteuerbelastung im Rahmen des Vorsteuerabzugs neutralisieren können.

40.      Hier ist jedoch ein anderer Weg gewählt worden, der das vorlegende Gericht zu den Vorlagefragen veranlasst hat. Der Leistungsempfänger musste nämlich keine zusätzliche Mehrwertsteuer tragen, da der Leistende seinen Preis nicht um die Mehrwertsteuer erhöht hat. Der Leistende konnte darauf verzichten, weil die Finanzverwaltung selbst auf eine nachträgliche Festsetzung aus den oben genannten Gründen verzichtet hat bzw. weil nach nationalem Recht die Leistung steuerfrei war.

41.      Da aber die Dienstleistung unionsrechtlich objektiv steuerpflichtig war und die Klägerin einen gewissen Preis bezahlt hat, vertritt sie die Auffassung, dass in diesem Preis die unionsrechtlich geschuldete Mehrwertsteuer objektiv enthalten gewesen sei. Diese „geschuldete Mehrwertsteuer“ könne sie auch nach Art. 168 Buchst. a der Mehrwertsteuerrichtlinie neutralisieren, auch wenn Royal Mail diese „geschuldete Steuer“ mangels Festsetzung nie an den Steuergläubiger entrichtet hat. Die eigentlich nach Art. 178 Buchst. a der Mehrwertsteuerrichtlinie notwendige Rechnung, die diese von Royal Mail geschuldete Mehrwertsteuer ausweise, sei hingegen entbehrlich, da der Gerichtshof selbst eine Rechnung nur als formelles Kriterium betrachtet habe.

42.      Wenn dies richtig wäre, dann würde bei allen zum Vorsteuerabzug berechtigten Leistungsempfängern der Royal Mail ein sogenannter „Windfall-Profit“ eintreten. Diese sind bis zur Entscheidung des Gerichtshofs über die Reichweite der Steuerbefreiungsvorschrift nämlich nicht von einem Vorsteuerabzug ausgegangen. Dieser unerwartete Vorsteuerabzug würde nun die bezogenen Leistungen zulasten des Mehrwertsteueraufkommens verbilligen, mithin die Gewinnspanne der Leistungsempfänger (u. a. auch die der Klägerin) erhöhen. Laut dem vorlegenden Gericht geht es insgesamt um ein Volumen zwischen ca. 575 Mio. und ca. 1,15 Mrd. Euro (hier um 480 000 Euro).

43.      Aus diesem Grund fragt das vorlegende Gericht mit seinen Fragen 1 und 2, die zusammen behandelt werden können, ob bei einem solchen gemeinsamen Irrtum und der fehlenden Nachberechnung der eigentlich anfallenden Mehrwertsteuer überhaupt von einer nach Art. 168 Buchst. a der Mehrwertsteuerrichtlinie „geschuldeten und entrichteten“ Mehrwertsteuer gesprochen werden kann, die der Leistungsempfänger über den Vorsteuerabzug neutralisieren kann. Dies betrifft den Vorsteuerabzug dem Grunde nach (unter C.).

44.      Die dritte Frage betrifft die Durchführung des Vorsteuerabzugs und damit den Vorsteuerabzug der Höhe nach, wenn der Leistungsempfänger aufgrund des oben angesprochenen gemeinsamen Irrtums nicht über eine Rechnung verfügt, die die eigentlich anfallende Mehrwertsteuer gesondert ausweist (unter B.). Die vierte Frage des vorlegenden Gerichts betrifft gewisse Details des gemeinsamen Irrtums und andere Alternativen einer Rückabwicklung, bei der kein „Windfall-Profit“ entstanden wäre. Auf sie wird bei den anderen Fragen mit eingegangen.

45.      Aufgrund der Tatsache, dass eine Antwort auf die Fragen 1 und 2 eigentlich nur nötig ist, wenn die Antwort auf Frage 3 ergibt, dass auch ohne eine Rechnung mit gesondertem Mehrwertsteuerausweis ein Vorsteuerabzug möglich ist, werde ich die dritte Frage zuerst beantworten. Diese betrifft die Durchsetzung des Vorsteuerabzugs und die Frage, ob der in Art. 178 Buchst. a der Mehrwertsteuerrichtlinie verlangte Besitz einer Rechnung eine Voraussetzung für den Vorsteuerabzug ist – wie dies der Gerichtshof in den Urteilen Volkswagen(7) und Biosafe(8) (B.2) entschieden hat – oder ob diese Voraussetzung aufgrund der Entscheidung des Gerichtshofs in dem Urteil Vădan(9) obsolet geworden ist (dazu unter B.3).

B.      Zur Bedeutung einer Rechnung für den Vorsteuerabzug (dritte Vorlagefrage)

1.      Vorbemerkungen

46.      Ausgangspunkt der Beurteilung der Frage, ob eine Rechnung mit gesondertem Mehrwertsteuerausweis für einen Vorsteuerabzug notwendig ist, ist Art. 167 der Mehrwertsteuerrichtlinie. Dieser sieht vor, dass das Recht auf Vorsteuerabzug (des Leistungsempfängers) entsteht, wenn der Anspruch auf die abziehbare Steuer (mithin die Steuerschuld des Leistenden – Art. 63 der Mehrwertsteuerrichtlinie) entsteht. Das setzt keine Rechnung voraus.

47.      Während Art. 167 der Mehrwertsteuerrichtlinie im Grundsatz einen zeitlichen Gleichlauf von Steuerschuld des Leistenden und Vorsteuerabzug des Leistungsempfängers bezweckt, modifiziert Art. 178 der Mehrwertsteuerrichtlinie diesen Grundsatz. Voraussetzung für eine erfolgreiche Durchsetzung des Vorsteuerabzugs ist hiernach nämlich nicht nur, dass die Steuerschuld auf Seiten des Leistenden entstanden ist, sondern auch, dass der Leistungsempfänger im Besitz einer Rechnung ist. Dabei muss diese Rechnung noch gewisse Angaben (vgl. Art. 226 der Mehrwertsteuerrichtlinie) enthalten.

48.      Entweder kann das Recht auf Vorsteuerabzug im Einklang mit Art. 167 und Art. 63 der Mehrwertsteuerrichtlinie bereits bei Leistungsausführung ausgeübt werden. Dann ist allein entscheidend, ob trotz des gemeinsamen Irrtums in dem gezahlten Preis eine Mehrwertsteuer enthalten war (dazu unter C.3), oder es kommt gemäß Art. 178 der Mehrwertsteuerrichtlinie auch auf den Besitz einer entsprechenden Rechnung an, die den übergewälzten Mehrwertsteuerbetrag ausweist.

49.      Ich halte den zweiten Ansatz für zutreffend. Nur diese Auffassung ist bei genauer Betrachtung auch mit der bisherigen Rechtsprechung des Gerichtshofs zu vereinbaren. Dabei sind zunächst das Entstehen des Rechts auf Vorsteuerabzug dem Grunde nach und das Entstehen des Rechts auf Vorsteuerabzug der Höhe nach zu unterscheiden.

50.      Wenn man die Rechtsprechung des Gerichtshofs näher betrachtet, dann hat dieser sich bislang hauptsächlich zur Entstehung des Rechts auf Vorsteuerabzug dem Grunde nach geäußert. Danach ist das Recht auf Vorsteuerabzug, und damit auch der Erstattungsanspruch, integraler Bestandteil des Mechanismus der Mehrwertsteuer und kann grundsätzlich nicht eingeschränkt werden. Dieses Recht kann für die gesamte Steuerbelastung der vorausgehenden Umsatzstufen sofort ausgeübt werden.(10) Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs erfordert das Grundprinzip der Neutralität der Mehrwertsteuer, dass der Vorsteuerabzug oder die Mehrwertsteuererstattung gewährt wird, wenn die materiellen Anforderungen erfüllt sind, selbst wenn der Steuerpflichtige bestimmten formellen Anforderungen nicht genügt hat.(11) Eine Ausnahme soll bestehen, wenn der Verstoß gegen die formellen Anforderungen den sicheren Nachweis verhindert hat, dass die materiellen Anforderungen erfüllt wurden.(12)

51.      Art. 168 Buchst. a der Mehrwertsteuerrichtlinie – der für den Vorsteuerabzug des Leistungsempfängers auf die „in diesem Mitgliedstaat geschuldete oder entrichtete Mehrwertsteuer für … Dienstleistungen, die ihm von einem anderen Steuerpflichtigen … erbracht wurden oder werden“, abstellt – verdeutlicht dabei den Sinn und Zweck des Vorsteuerabzugs. Aufgrund des Verbrauchsteuercharakters(13) der Mehrwertsteuer und der indirekten Besteuerungstechnik muss der vorsteuerabzugsberechtigte Leistungsempfänger von der mittels des Preises auf ihn übergewälzten Mehrwertsteuer – die ein anderer (der Leistende – hier Royal Mail) schuldet – durch den Vorsteuerabzug entlastet werden.

52.      Nimmt man diesen Gedanken ernst, dann müsste eigentlich auf die tatsächliche Zahlung des Preises durch die Klägerin abgestellt werden. Denn erst dann ist diese auch tatsächlich mit Mehrwertsteuer (indirekt) belastet. Die Regelung des Art. 167a der Mehrwertsteuerrichtlinie zeigt aber, dass der Richtliniengeber auch schon vor Bezahlung einen Vorsteuerabzug gewährt. Diese Bestimmung ermöglicht eine Beschränkung des Vorsteuerabzugs auf den Zeitpunkt der Zahlung, wenn auch die Steuerschuld erst mit Vereinnahmung des Preises entsteht. Dies ergibt nur Sinn, wenn in den übrigen Fällen der Vorsteuerabzug bereits vor Bezahlung des Preises möglich ist.

53.      Damit steht fest, dass der Richtliniengeber von einer Belastung des Leistungsempfängers mit Mehrwertsteuer im Regelfall bereits vor der Bezahlung des Preises, aber nach der Leistungsausführung ausgeht. Zu diesem Zeitpunkt ist das Vorsteuerabzugsrecht dem Grunde nach bereits entstanden.

2.      Entstehung des Rechts auf Vorsteuerabzug der Höhe nach

54.      Dieses Ergebnis enthält aber keine Aussage zum Vorsteuerabzug der Höhe nach. Hierfür kommt der Regelung des Art. 178 Buchst. a der Mehrwertsteuerrichtlinie entscheidende Bedeutung zu.

55.      Denn allein die Leistungserbringung sagt noch nichts darüber aus, wie hoch die Belastung des Leistungsempfängers mit der in den Preis einkalkulierten Mehrwertsteuer ist. Das ist aber notwendig für die Ausübung des Vorsteuerabzugsrechts. Ganz deutlich wird dies in Fällen wie hier, in denen sich die Parteien gemeinsam über die Steuerfreiheit des Umsatzes geirrt haben. Laut den vertraglichen Abreden gingen Royal Mail und die Klägerin ja davon aus, dass in dem vereinbarten Preis keine Mehrwertsteuer enthalten sei. Wenn eine solche anfallen sollte, dann sollte nach den vertraglichen Abreden die Klägerin diese zusätzlich tragen. Dies ist nie geschehen, obwohl die Leistung unzweifelhaft ausgeführt wurde. Die Leistungsausführung allein enthält mithin keine Aussage darüber, ob die Klägerin mit Mehrwertsteuer belastet ist.

56.      Daher ist es nur folgerichtig, wenn der Richtliniengeber die Ausübung des Rechts auf Vorsteuerabzug nicht allein an die Leistungsausführung koppelt, sondern in Art. 178 Buchst. a der Mehrwertsteuerrichtlinie zusätzlich verlangt, dass der Leistungsempfänger eine „Rechnung besitzen“ muss.(14)

57.      Das Erfordernis des Besitzes einer Rechnung dient auch dazu, den im Mehrwertsteuerrecht verankerten Neutralitätsgrundsatz umzusetzen. Der Grundsatz der Neutralität stellt ein sich aus dem Verbrauchsteuercharakter ergebendes grundlegendes Prinzip(15) der Mehrwertsteuer dar. Er beinhaltet u. a., dass das Unternehmen als Steuereinnehmer für Rechnung des Staates von der endgültigen Belastung mit Mehrwertsteuer grundsätzlich zu befreien ist,(16) sofern die unternehmerische Tätigkeit selbst der Erzielung (grundsätzlich) steuerpflichtiger Umsätze dient.(17)

58.      Aus dem Entlastungsgedanken(18) folgt, dass ein Vorsteuerabzug nur in Betracht kommt, soweit der Leistungsempfänger überhaupt mit Mehrwertsteuer belastet ist.(19) Belastet ist er aber nicht schon mit der Leistungsausführung, sondern letztlich erst mit der Bezahlung der Gegenleistung (siehe dazu oben, Nrn. 52 und 55). Hinter der Regelung des Art. 178 Buchst. a der Mehrwertsteuerrichtlinie steht offenkundig der Gedanke, dass in der Regel eine zeitnahe Bezahlung erfolgt, wenn eine entsprechende Rechnung vorliegt. Dann kann bereits in diesem Moment eine zeitnahe Belastung des Leistungsempfängers vermutet werden.

59.      Ganz deutlich wird dies in der früheren Rechtsprechung des Gerichtshofs, in der dieser noch ausführte,(20) dass dem sofortigen Vorsteuerabzugsrecht die Annahme zugrunde liegt, dass die Steuerpflichtigen grundsätzlich keine Zahlungen vornehmen und daher keine Vorsteuer abführen, bevor sie eine Rechnung oder ein anderes, als Rechnung zu betrachtendes Dokument erhalten haben, und dass daher vorher nicht von der Belastung eines Umsatzes mit Mehrwertsteuer ausgegangen werden kann.

60.      Inwieweit der Leistungsempfänger mit Mehrwertsteuer belastet ist (oder werden wird), ergibt sich – wie auch Spanien, die Tschechische Republik und das Vereinigte Königreich zutreffend vortragen – nämlich erst daraus, dass eine entsprechende Mehrwertsteuer in die Gegenleistung einkalkuliert wurde, die der Empfänger zu zahlen hat. In welchem Umfang eine Mehrwertsteuer in die Gegenleistung einkalkuliert wurde, ergibt sich aber nur aus dem zugrunde liegenden Rechtsverhältnis und aus der Abrechnung über dessen Vollzug. Die Abrechnung über den Vollzug des Rechtsgeschäfts erfolgt durch die Übermittlung einer entsprechenden Rechnung, in der der Leistende seine Kalkulation offenlegt.

61.      In einem Massenverfahren wie der Mehrwertbesteuerung wird erst durch die Offenlegung der Überwälzung der geschuldeten Mehrwertsteuer mittels des Preises auf den Leistungsempfänger sichergestellt, dass dieser weiß – und die Finanzverwaltung es kontrollieren kann –, in welcher Höhe er nach Auffassung des Leistenden mit Mehrwertsteuer belastet ist. Damit weiß er auch, ab wann und in welcher Höhe er diese Mehrwertsteuer mit Hilfe des Rechts auf Vorsteuerabzug wieder neutralisieren kann.

62.      Wenn, so wie hier, beide Parteien sowie die Finanzverwaltung irrtümlich von einem steuerfreien Umsatz ausgingen, dann wird mit der vereinbarten Gegenleistung – wie alle Beteiligten mit Ausnahme der Klägerin zutreffend betonen – keine Mehrwertsteuer vom Leistenden auf den Leistungsempfänger übergewälzt. Deswegen hat der Leistende sie auch nicht in der Rechnung ausgewiesen. Sollten sich beide Parteien nach Aufdeckung des Irrtums zu einer Vertragsanpassung entscheiden und die fehlende Mehrwertsteuer in den Preis einkalkulieren, dann würde sich dies auch in einer entsprechenden Rechnung zeigen, mit Hilfe derer der Leistungsempfänger dann auch einen Vorsteuerabzug geltend machen könnte. Korrespondierend dazu würde Royal Mail die nachträglich ausgewiesene Mehrwertsteuer spätestens gemäß Art. 203 der Mehrwertsteuerrichtlinie mit der Rechnungsausstellung auch schulden.(21) Der von Art. 178 Buchst. a der Mehrwertsteuerrichtlinie bezweckte Gleichlauf von Vorsteuer und Steuerschuld wäre damit wiederhergestellt.

63.      Im Ergebnis ist der in Art. 178 Buchst. a der Mehrwertsteuerrichtlinie geforderte Besitz einer Rechnung gerade das von der Mehrwertsteuerrichtlinie vorgesehene Mittel, um die Belastung mit Mehrwertsteuer von dem Leistenden (der die Steuer schuldet) auf den Leistungsempfänger (der sie mittels des Preises trägt) für alle Beteiligten (inklusive Finanzverwaltung) nachvollziehbar zu übertragen. Erst dadurch kann der Leistungsempfänger erkennen, inwieweit er nach Auffassung des Leistenden mit Mehrwertsteuer belastet wird. Er kann dann mit Hilfe dieser Rechnung – aus der sich seine Belastung ergibt – eine Entlastung in dieser Höhe geltend machen.

64.      In seinen Urteilen Volkswagen(22) und Biosafe(23) hat der Gerichtshof diese Bedeutung des Besitzes einer Rechnung als notwendiges Transportmittel der Mehrwertsteuerbelastung und Voraussetzung für eine Entlastung mittels des Vorsteuerabzugs bereits hinreichend klargestellt. Dies betonen auch das Vereinigte Königreich und die Tschechische Republik.

65.      Das Urteil Volkswagen betraf den Fall, dass die Parteien von nicht steuerpflichtigen Umsätzen ausgingen. Nachdem der Irrtum bemerkt wurde, wurden Jahre später erstmalig Rechnungen mit gesondert ausgewiesener Mehrwertsteuer ausgestellt und ein Erstattungsantrag nach der Erstattungsrichtlinie gestellt. Der Gerichtshof führte aus,(24) dass es unter diesen Umständen dem Leistungsempfänger objektiv unmöglich war, sein Erstattungsrecht vor dieser Berichtigung auszuüben, da er vorher weder „im Besitz der Rechnungen war, noch von der Mehrwertsteuerschuld wusste. Erst nach dieser Berichtigung lagen nämlich die materiellen und formellen Voraussetzungen des Rechts auf Vorsteuerabzug vor“.

66.      Das Urteil Biosafe betraf einen ähnlichen Fall wie hier, nur dass der Vorsteuerabzug im Fall eines gemeinsamen Irrtums über den richtigen Steuersatz begehrt wurde. Der Steuersatz wurde zu niedrig angenommen und der Leistende korrigierte seine Rechnung Jahre später, indem er die gesondert ausgewiesene Mehrwertsteuer erhöhte. Auch hier kam der Gerichtshof zu dem Ergebnis,(25) dass es dem Leistungsempfänger offensichtlich objektiv unmöglich war, sein Abzugsrecht vor der Rechnungsberichtigung auszuüben, weil er zuvor „weder über die Dokumente zur Berichtigung der ursprünglichen Rechnungen [verfügte], noch wusste, dass eine zusätzliche Mehrwertsteuer geschuldet war. Erst nach dieser Berichtigung lagen nämlich die materiellen und formellen Voraussetzungen des Rechts auf Vorsteuerabzug vor“.

67.      In beiden Fällen nahm der Gerichtshof zutreffend eine Belastung des Leistungsempfängers erst in dem Moment an, in dem dieser über eine entsprechende Rechnung verfügte, aus der sich seine Mehrwertsteuerbelastung ergab. Der Klägerin hier fehlt aber eine solch korrigierte Rechnung.

68.      Darüber hinaus ermöglicht erst der Besitz einer Rechnung der Finanzverwaltung eine Kontrolle von entstandener Steuerschuld und geltend gemachtem Vorsteuerabzug, wie der Gerichtshof bereits ausgeführt hat.(26) Dabei wird die Kontrolle umso effektiver, je mehr Angaben eine solche Rechnung enthält, was den mittlerweile sehr umfangreichen Katalog des Art. 226 der Mehrwertsteuerrichtlinie erklärt. Auch dies spricht dafür, dass der Besitz einer Rechnung mit ausgewiesener Mehrwertsteuer maßgeblich ist, mithin eine materielle Voraussetzung des Vorsteuerabzugs darstellt. Ein Vorsteuerabzug ohne eine solche Rechnung ist für die Klägerin mithin nicht möglich.

3.      Vorsteuerabzug ohne Rechnung dennoch möglich?

a)      Rechtsprechung des Gerichtshofs zum Nachweis des Vorsteuerabzugsrechts durch einen Sachverständigen

69.      Aus der Entscheidung des Gerichtshofs in der Rechtssache Vădan(27) folgt – wie ich bereits andernorts dargelegt habe(28) – nichts Gegenteiliges. Dort hat der Gerichtshof in Rn. 42 zwar ausgeführt, dass die strikte Anwendung des formellen Erfordernisses, Rechnungen vorzulegen, gegen die Grundsätze der Neutralität und der Verhältnismäßigkeit verstoße, da dadurch dem Steuerpflichtigen auf unverhältnismäßige Weise die steuerliche Neutralität seiner Umsätze verwehrt würde.

70.      Bei vordergründiger Betrachtung könnte man meinen, dass deswegen ein Vorsteuerabzug ganz ohne Rechnung und entgegen dem Wortlaut des Art. 178 möglich sei. Eine solche Lektüre des zitierten Urteils schlägt jedoch fehl.

71.      Zum einen hatte der Gerichtshof in dieser Sache nämlich „nur“ die Frage zu beantworten, ob ein Vorsteuerabzug aufgrund der Schätzung eines Gutachters zur Höhe des üblichen Vorsteuerabzugs bei Bauprojekten der betroffenen Art möglich sei. Diese Frage hat der Gerichtshof zutreffend verneint. Der Vorsteuerabzug setzt an der tatsächlichen Mehrwertsteuerbelastung und nicht an der üblichen Mehrwertsteuerbelastung an. Nur Letztere hätte aber der Gutachter im Wege einer Schätzung nachweisen können.

72.      Zum anderen blieb in dem ganzen Verfahren offen, ob jemals Rechnungen mit Mehrwertsteuerausweis erstellt wurden. Fest stand nur, dass die ursprünglichen Rechnungen nicht mehr lesbar waren und die Finanzverwaltung auf der Vorlage der Originale bestanden hat. Letzteres ist jedoch nicht mit der Richtlinie vereinbar. Diese verlangt nicht, dass der Steuerpflichtige bei der steuerrechtlichen Überprüfung noch im Besitz der Rechnung ist und diese vorlegen kann, sondern nur, dass er im Moment der Geltendmachung des Vorsteueranspruchs im Besitz einer Rechnung war. Geht die Rechnung danach verloren, kann der Steuerpflichtige natürlich über alle möglichen Beweismittel (in der Regel durch eine Kopie) nachweisen, dass er einmal im Besitz einer Rechnung war, aus der sich eine Mehrwertsteuerbelastung in einer bestimmten Höhe ergab.

73.      Daher sind die Ausführungen des Gerichtshofs im Urteil Vădan zutreffend nur auf den Nachweis des Vorsteuerabzugs bezogen.(29) Die materiellen Voraussetzungen (d. h. die Voraussetzungen, die sich aus den Art. 167 und 178 der Mehrwertsteuerrichtlinie ergeben) des Vorsteuerabzugs können mittels aller möglichen Beweismittel nachgewiesen werden – der Nachweis eines Gutachters über die üblicherweise anfallende Mehrwertsteuer ist dafür jedoch per se ungeeignet.(30) Dieses Ergebnis ergibt sich meines Erachtens eindeutig aus dem Tenor des angesprochenen Urteils, wenn man diesen in Bezug zu den Fragen und dem mitgeteilten Sachverhalt liest.

b)      Rechtsprechung des Gerichtshofs zum Zeitraum der Geltendmachung des Vorsteuerabzugs

74.      Bei diesem Verständnis des Urteils Vădan(31) existiert auch kein Widerspruch zu der Rechtsprechung, in der der Gerichtshof sich mit dem konkreten Zeitraum beschäftigt hat,(32) in dem das Vorsteuerabzugsrecht geltend zu machen ist. In diesen Entscheidungen hat er nämlich immer auf den Besitz einer Rechnung beim steuerpflichtigen Leistungsempfänger abgestellt.(33)

75.      So argumentierte der Gerichtshof im Urteil Terra Baubedarf-Handel ausdrücklich: „Es verstößt keineswegs gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, dass der Steuerpflichtige den Vorsteuerabzug für den Erklärungszeitraum vorzunehmen hat, in dem sowohl die Voraussetzung des Besitzes einer Rechnung oder eines als Rechnung zu betrachtenden Dokuments als auch die der Entstehung des Vorsteuerabzugsrechts erfüllt sind. Dieses Erfordernis steht nämlich zum einen im Einklang mit einem der Ziele der Sechsten Richtlinie, das darin besteht, die Erhebung der Mehrwertsteuer und ihre Überprüfung sicherzustellen (Nachweise), zum anderen erfolgt … die Zahlung für die Lieferung von Gegenständen oder die Erbringung von Dienstleistungen und damit die Abführung der Vorsteuer regelmäßig nicht vor Erhalt einer Rechnung.“(34) Im Urteil Senatex(35) entschied der Gerichtshof, dass das Recht auf Vorsteuerabzug grundsätzlich für den Zeitraum auszuüben ist, in dem zum einen dieses Recht entstanden und zum anderen der Steuerpflichtige „im Besitz einer Rechnung ist“.

76.      Wenn aber der Besitz einer Rechnung entscheidend dafür ist, in welchem Zeitraum das Vorsteuerabzugsrecht geltend zu machen ist, dann ist dieser Besitz auch nicht bloß ein formelles, sondern ein materielles Kriterium. Der Vorsteuerabzug setzt folglich den Besitz einer entsprechenden Rechnung voraus.

c)      Rechtsprechung des Gerichtshofs zur rückwirkenden Korrektur einer unvollständigen bzw. fehlerhaften Rechnung

77.      Dies folgt letztendlich auch aus der jüngeren Rechtsprechung des Gerichtshofs zur rückwirkenden Rechnungsberichtigung.(36) Darin trennt der Gerichtshof zwar zwischen materiellen und formellen Anforderungen des Rechts auf Vorsteuerabzug. Unter Letztere fallen die Modalitäten, die Kontrolle seiner Ausübung, das ordnungsgemäße Funktionieren des Mehrwertsteuersystems sowie die Verpflichtungen zu Aufzeichnungen, Rechnungsstellung und Steuererklärung.(37) Dabei verlange das Grundprinzip der Mehrwertsteuerneutralität, dass der Vorsteuerabzug gewährt wird, wenn die materiellen Voraussetzungen erfüllt sind, selbst wenn der Steuerpflichtige bestimmten formellen Voraussetzungen nicht genügt hat.(38) Folglich darf die Steuerverwaltung, wenn sie über die Angaben verfügt, die für die Feststellung des Vorliegens der materiellen Voraussetzungen erforderlich sind, hinsichtlich des Rechts des Steuerpflichtigen auf Abzug dieser Steuer keine zusätzlichen Voraussetzungen aufstellen, die die Ausübung dieses Rechts vereiteln können.(39)

78.      Die Rechtsprechung des Gerichtshofs zu den formellen Mängeln, die einem Vorsteuerabzug nicht entgegenstehen, bezieht sich bei genauer Lektüre aber nie auf den Besitz einer Rechnung als solchen (bzw. das Vorliegen einer Rechnung), sondern immer auf die Details der Gestaltung einer Rechnung.(40)

79.      So wird in dieser Rechtsprechung nur von dem Fehlen bestimmter formeller Voraussetzungen und nicht von dem Fehlen aller formellen Voraussetzungen gesprochen. Daher kann dieser Rechtsprechung nicht entnommen werden, dass ein Vorsteuerabzugsrecht ohne Besitz einer Rechnung entstehen kann. Der Gerichtshof selbst spricht auch nur davon, dass „der Besitz einer Rechnung, die die in Art. 226 der Richtlinie 2006/112 vorgesehenen Angaben enthält, eine formelle und keine materielle Bedingung für das Recht auf Vorsteuerabzug“ darstellt.(41) Dies trifft zu. Die Erfüllung aller der im Katalog des Art. 226 der Mehrwertsteuerrichtlinie genannten Angaben stellt eine formelle Voraussetzung dar. Diese können – sofern sie nicht essenziell sind (siehe dazu näher Nrn. 81 ff.) – auch noch nachträglich (z. B. gemäß Art. 219 der Mehrwertsteuerrichtlinie) ergänzt oder verändert werden. Der Besitz einer Rechnung nach Art. 178 der Mehrwertsteuerrichtlinie als solcher ist als faktischer Zustand allerdings keine solche formelle Voraussetzung.(42)

80.      Außerdem folgert der Gerichtshof aus dieser Aussage auch „nur“, dass die Steuerverwaltung das Recht auf Vorsteuerabzug nicht allein deshalb verweigern kann, weil z. B. eine Rechnung nicht die in Art. 226 Nrn. 6 und 7 der Mehrwertsteuerrichtlinie aufgestellten Voraussetzungen (präzise Beschreibung der Menge und Art der Leistung und Angabe des Leistungsdatums) erfüllt, wenn sie über sämtliche Daten verfügt, um zu prüfen, ob die für dieses Recht geltenden materiellen Voraussetzungen erfüllt sind.(43) Gleiches gilt für die in Art. 226 Nr. 3 (Angabe der Mehrwertsteuer-Identifikationsnummer des Leistenden)(44) oder die in Art. 226 Nr. 2 (Angabe der Rechnungsnummer)(45) genannten Angaben. Infolgedessen hat der Gerichtshof der Korrektur einer bereits im Besitz des Leistungsempfängers befindlichen (formal inkorrekten) Rechnung eine Rückwirkung beigemessen.(46)

81.      Dies überzeugt. Ein Dokument, welches über eine Lieferung oder Dienstleistung abrechnet, ist bereits dann eine Rechnung im Sinne des Art. 178 Buchst. a der Mehrwertsteuerrichtlinie, wenn es sowohl dem Leistungsempfänger als auch der Finanzverwaltung ermöglicht, ihm zu entnehmen, für welchen Umsatz welcher Leistende wann die Mehrwertsteuer in welcher Höhe auf welchen Leistungsempfänger übergewälzt hat. Dies bedingt Angaben zum Leistenden, Leistungsempfänger, Leistungsgegenstand, Preis und der gesondert ausgewiesenen Mehrwertsteuer.(47) Liegen diese fünf essenziellen Angaben vor, ist – wie ich auch schon andernorts ausgeführt habe(48) – dem Sinn und Zweck der Rechnung Genüge getan und das Recht auf Vorsteuerabzug endgültig entstanden.(49)

82.      Verstöße gegen einzelne der übrigen in Art. 226 der Mehrwertsteuerrichtlinie vorgesehenen Angaben stehen einem Vorsteuerabzug hingegen nicht entgegen, wenn sie noch im Verwaltungsverfahren oder im Gerichtsverfahren berichtigt werden. Diese Rechtsfolge ergibt sich letztendlich aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs zur rückwirkenden Rechnungsberichtigung.(50)

83.      Bezieht sich jedoch der Mangel der Rechnung – so wie hier – auf den gesonderten Mehrwertsteuerausweis, der eines der essenziellen Merkmale einer zum Vorsteuerabzug berechtigenden Rechnung ist, dann scheidet ein Vorsteuerabzug schon deshalb aus. Mit Hilfe einer Rechnung, die eine steuerfreie Leistung ausweist, kann der Leistungsempfänger nicht die Entlastung von einer Mehrwertsteuerbelastung geltend machen. Das Vereinigte Königreich spricht insoweit zu Recht von einer Vorbedingung für einen Vorsteuerabzug. Aus einer solchen Rechnung ergibt sich nämlich keine Belastung mit Mehrwertsteuer. Ohne eine solche Rechnung als „Transportmittel“ der Belastung sind die Voraussetzungen des Art. 178 Buchst a der Mehrwertsteuerrichtlinie nicht erfüllt.

84.      Auch der Vergleich von Art. 178 Buchst. a und f der Mehrwertsteuerrichtlinie zeigt deutlich, dass der Richtliniengeber für den Normalfall der indirekten Erhebung (Buchst. a) eine zusätzliche Bedingung – den Besitz einer Rechnung – aufgestellt hat. Diese Voraussetzung ist für den Sonderfall der direkten Erhebung (Buchst. f) – Steuerschuldverlagerung – gerade nicht notwendig(51) und daher nicht vorgesehen. Diese gesetzgeberische Entscheidung würde aber umgangen, wenn der Besitz einer Rechnung zu einer bloßen Formalie und für unbeachtlich erklärt würde.

d)      Zwischenergebnis

85.      Sowohl aus dem Wortlaut der Mehrwertsteuerrichtlinie als auch aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs ergibt sich mithin, dass ein Vorsteuerabzugsrecht in einer bestimmten Höhe auch voraussetzt, dass der Leistungsempfänger einmal im Besitz einer Rechnung gewesen ist, in der die übergewälzte Mehrwertsteuer in dieser Höhe gesondert ausgewiesen wurde. Da dies hier nie der Fall war, scheidet ein Vorsteuerabzug der Klägerin bereits aus diesem Grund aus.

4.      Ergebnis

86.      Die Antwort auf die dritte Frage lautet, dass das Recht auf Vorsteuerabzug die Leistungsausführung und den Besitz einer Rechnung (Art. 178 Buchst. a der Mehrwertsteuerrichtlinie), die die Überwälzung der Mehrwertsteuer durch den gesonderten Ausweis der Mehrwertsteuer dokumentiert, voraussetzt. Folglich ist die Klägerin hier ohne eine solche Rechnung nicht berechtigt, einen Vorsteuerabzug geltend zu machen.

C.      Hilfsweise: Zur „geschuldeten oder entrichteten Mehrwertsteuer“ im Sinne von Art. 168 Buchst. a der Mehrwertsteuerrichtlinie (erste und zweite Vorlagefrage)

87.      Nur für den Fall, dass der Gerichtshof die Frage der Notwendigkeit des Besitzes einer Rechnung mit ausgewiesener Mehrwertsteuer offenlässt oder anders beurteilt, besteht ein praktisches Bedürfnis, die erste und die zweite Frage des vorlegenden Gerichts zu beantworten.

88.      Mit diesen beiden Fragen möchte das vorlegende Gericht wissen, ob der tatsächlich gezahlte Preis immer aus einem zu versteuernden Nettobetrag und der darauf entfallenden Mehrwertsteuer besteht. Dies bezieht sich auf die Auslegung der Art. 73 und 78 der Mehrwertsteuerrichtlinie, die die Bemessungsgrundlage betreffen (dazu unter 2.). Darüber hinaus möchte es wissen, ob dann – wenn in dem Preis auch ein Mehrwertsteueranteil enthalten ist – der Leistungsempfänger nach Art. 168 Buchst. a der Richtlinie Vorsteuerabzug wegen tatsächlich für die Dienstleistung „geschuldeter oder entrichteter“ Mehrwertsteuer geltend machen kann, auch wenn aufgrund des gemeinsamen Irrtums beide Parteien von einer steuerfreien Dienstleistung ausgegangen sind. Letzteres bezieht sich auf die Auslegung des Art. 168 Buchst. a der Mehrwertsteuerrichtlinie. Dabei ist zu klären, wessen „geschuldete oder entrichtete“ Mehrwertsteuer (dazu unter 1.) und ob die konkret geschuldete oder die bei richtiger Anwendung des Gesetzes eigentlich (abstrakt) geschuldete Mehrwertsteuer gemeint ist (dazu unter 3.).

1.      Zum Begriff der „geschuldete(n) oder entrichtete(n) Mehrwertsteuer“ in Art. 168 Buchst. a der Mehrwertsteuerrichtlinie

89.      Für das Verhältnis der Klägerin (als Leistungsempfänger) zur Finanzverwaltung ist Art. 168 Buchst. a der Mehrwertsteuerrichtlinie entscheidend. Dieser spricht von dem Abzug der „geschuldete(n) oder entrichtete(n) Mehrwertsteuer“. Zu klären ist, welche Mehrwertsteuer damit gemeint ist. In Betracht kommt die von Royal Mail (d. h. dem Leistenden) oder die von der Klägerin (d. h. dem Leistungsempfänger) „geschuldete oder entrichtete Mehrwertsteuer“.

90.      Da Art. 168 Buchst. a der Mehrwertsteuerrichtlinie jedoch den Vorsteuerabzug aus einer Eingangsleistung betrifft, ist die Antwort eindeutig. In diesem Stadium – d. h. beim Bezug der Eingangsleistung durch den Leistungsempfänger – schuldet nur eine einzige Person eine Mehrwertsteuer bzw. kann nur eine einzige Person Mehrwertsteuer entrichten. Diese Person ist der Leistende, mithin hier Royal Mail.

91.      Ob der Leistungsempfänger eine Mehrwertsteuer schuldet oder entrichtet, hängt allein von seinen Ausgangsumsätzen – Art. 168 der Mehrwertsteuerrichtlinie spricht von seinen „besteuerten Umsätze(n)“ – ab. Letzteres bestätigt im Umkehrschluss Art. 169 der Mehrwertsteuerrichtlinie, der darüber hinaus für bestimmte steuerfreie Ausgangsumsätze einen Vorsteuerabzug zulässt. Folglich steht in diesem Stadium überhaupt nicht fest, ob der Leistungsempfänger dem Staat jemals eine Mehrwertsteuer schuldet. Ebenso hat der Gerichtshof schon mehrfach entschieden,(52) dass auch ein erfolgloser Unternehmer ohne Ausgangsumsätze (d. h., ohne dass er jemals eine Mehrwertsteuer geschuldet oder gar abgeführt hat) zum Vorsteuerabzug berechtigt ist. Schon deshalb kann sich die Formulierung in Art. 168 Buchst. a der Mehrwertsteuerrichtlinie nicht auf ihn beziehen.

92.      In Bezug auf seine Eingangsumsätze schuldet der Leistungsempfänger – außerhalb der Fälle der Steuerschuldverlagerung nach den Art. 194 ff. der Mehrwertsteuerrichtlinie – nämlich keine Mehrwertsteuer und kann auch keine entrichten. Der Leistungsempfänger schuldet – zivilrechtlich – nur den Preis für die Lieferung oder Dienstleistung. Nur diesen Preis kann er auch entrichten. Dieser Preis mag einen Anteil enthalten, der kalkulatorisch der Mehrwertsteuerschuld des Leistenden entspricht. Dies ändert aber nichts an der Tatsache, dass mit der Bezahlung des Preises durch den Leistungsempfänger auch nur der Preis und keine Mehrwertsteuer geschuldet oder entrichtet wird. Steuergläubiger der Mehrwertsteuer ist nämlich nicht der Leistende, sondern allein der Staat.

93.      Dies wird durch den weiteren Wortlaut des Art. 168 Buchst. a der Mehrwertsteuerrichtlinie bestätigt. Dieser spricht von einer „in diesem Mitgliedstaat geschuldeten … Mehrwertsteuer“. Der Preis bzw. der darin enthaltene kalkulatorische Mehrwertsteueranteil wird aber nicht in einem Mitgliedstaat geschuldet, sondern gegenüber dem Vertragspartner. Dabei richtet sich das anwendbare Recht oder der Gerichtsstand nach den vertraglichen Abreden und nicht nach den mehrwertsteuerrechtlichen Ortsbestimmungen.

94.      Die in Art. 168 Buchst. a der Mehrwertsteuerrichtlinie genannte „geschuldete oder entrichtete Mehrwertsteuer“ meint folglich – entgegen der Auffassung der Kommission – die vom leistenden Unternehmen dem jeweiligen Mitgliedstaat geschuldete oder an diesen entrichtete Mehrwertsteuer.

2.      Zum Mehrwertsteueranteil des Preises für eine vermeintlich steuerfreie Dienstleistung

95.      Eine andere und davon zu unterscheidende Frage ist, ob in dem vom Leistungsempfänger geschuldeten (oder entrichteten) Preis ein Mehrwertsteueranteil enthalten ist, den der Leistende schuldet, auch wenn er alleine oder gemeinsam mit seinem Vertragspartner (und eventuell mit der Finanzverwaltung) von einer steuerfreien Leistung ausging. Diese Frage wird jedoch nicht von Art. 168 Buchst. a, sondern von den Art. 73 und 78 unter Berücksichtigung von Art. 90 der Mehrwertsteuerrichtlinie beantwortet.

96.      Aus Art. 73 der Mehrwertsteuerrichtlinie ergibt sich, dass die Steuerbemessungsgrundlage alles umfasst, was den Wert der Gegenleistung bildet, die der Lieferer des Gegenstands oder der Erbringer der Dienstleistung für die betreffenden Umsätze vom Erwerber oder Dienstleistungsempfänger oder einem Dritten erhält oder erhalten soll. Art. 78 der Richtlinie führt bestimmte Elemente auf, die in die Steuerbemessungsgrundlage einzubeziehen sind. Nach Art. 78 Buchst. a dieser Richtlinie ist die Mehrwertsteuer in diese Bemessungsgrundlage nicht einzubeziehen.

97.      Wenn jemand daher eine steuerpflichtige Leistung mit 100 bezahlt, dann ist darin schon – insofern sind die Ausführungen der Klägerin zutreffend – die Mehrwertsteuer enthalten. Dies folgt aus Art. 78 Buchst. a der Mehrwertsteuerrichtlinie. Da nach den Art. 93 und 96 dieser Richtlinie der Steuersatz aber auf die Bemessungsgrundlage angewendet wird und diese keine Mehrwertsteuer enthält, muss der erhaltene Preis aufgeteilt werden. Deswegen schlüsseln sich bei einem Steuersatz von 20 % die erhaltenen 100 in die Bemessungsgrundlage (100/120 von 100 = 83,33) und die deswegen vom Leistenden geschuldete Mehrwertsteuer (20/120 von 100 = 16,66) auf. Der nach den Art. 93 und 96 der Mehrwertsteuerrichtlinie auf die Bemessungsgrundlage von 83,33 angewandte Steuersatz von 20 % ergibt dann eine Mehrwertsteuer von genau 16,66. Diese Berechnungsmethode ist immer die gleiche und unabhängig von den vertraglichen Vereinbarungen oder einem Irrtum über den richtigen Steuersatz.

98.      Denn nach der in Art. 73 der Mehrwertsteuerrichtlinie aufgestellten allgemeinen Regel ist die Besteuerungsgrundlage für die Lieferung eines Gegenstands oder die Erbringung einer Dienstleistung gegen Entgelt die vom Steuerpflichtigen tatsächlich dafür erhaltene Gegenleistung. Diese Gegenleistung stellt den subjektiven, nämlich tatsächlich erhaltenen Wert und nicht einen nach objektiven Kriterien geschätzten Wert dar.(53) Diese Regel ist in Übereinstimmung mit dem Grundprinzip der Mehrwertsteuerrichtlinie anzuwenden, nach dem nur der Endverbraucher durch das Mehrwertsteuersystem belastet werden soll.(54)

99.      Zutreffend betont der Gerichtshof daher in seiner Rechtsprechung, dass dann, wenn ein Kaufvertrag ohne Hinweis auf die Mehrwertsteuer abgeschlossen wurde und der Lieferer nach nationalem Recht die später von der Steuerbehörde verlangte Mehrwertsteuer vom Erwerber nicht wiedererlangen kann, die Berücksichtigung des Gesamtpreises ohne Abzug der Mehrwertsteuer als Grundlage für die Erhebung der Mehrwertsteuer zur Folge hätte, dass die Mehrwertsteuer diesen Lieferer belasten würde. Dies wiederum verstieße somit gegen den Grundsatz, dass es sich bei der Mehrwertsteuer um eine Verbrauchsteuer handelt, die vom Endverbraucher zu tragen ist.(55) Eine solche Berücksichtigung verstieße außerdem gegen die Regel, wonach die Steuerverwaltung als Mehrwertsteuer keinen Betrag erheben darf, der den dem Steuerpflichtigen gezahlten übersteigt.(56) Die Folge davon ist, dass in (jeder) tatsächlich erhaltenen Gegenleistung die unionsrechtlich vorgesehene Mehrwertsteuer bereits enthalten ist.

100. Ob tatsächlich – wie der Gerichtshof zuweilen(57) ausführt – etwas anderes gälte, nur weil der Lieferer nach nationalem Recht die bloße Möglichkeit hätte, zum vereinbarten Preis einen Zuschlag entsprechend der auf den Umsatz zu erhebenden Steuer hinzufügen und diesen vom Erwerber des Gegenstands einzufordern, scheint mir hingegen zweifelhaft zu sein. Sowohl nach Art. 90 der Mehrwertsteuerrichtlinie als auch nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs ist die Besteuerungsgrundlage für die Lieferung eines Gegenstands oder die Erbringung einer Dienstleistung gegen Entgelt letztendlich die vom Steuerpflichtigen tatsächlich dafür erhaltene Gegenleistung.(58)

101. Ändert sich aufgrund einer Vertragsanpassung nachträglich die Höhe der Gegenleistung (d. h. des Preises), dann ermöglicht Art. 90 der Mehrwertsteuerrichtlinie eine Anpassung, die – wie der Gerichtshof auch schon ausgeführt hat – sowohl zu einer niedrigen als auch nachträglich zu einer höheren Steuerschuld (dies folgt bereits aus Art. 73 der Mehrwertsteuerrichtlinie) führen kann.(59) Allein die bloße Möglichkeit, etwas nachzufordern, führt aber noch nicht dazu, dass der Leistungsempfänger auch tatsächlich über den Nachforderungsbetrag verfügt. Letztendlich kann dies hier jedoch offenbleiben, da im vorliegenden Fall aufgrund des Ablaufs der zivilrechtlichen Verjährung eine solche Nachforderung nicht mehr möglich ist.

102. Es steht damit fest, dass Art. 168 Buchst. a der Mehrwertsteuerrichtlinie die vom Leistenden geschuldete Mehrwertsteuer meint und dass sich aus den Art. 73, 78 und 90 der Mehrwertsteuerrichtlinie ergibt, dass in jedem tatsächlich erhaltenen Betrag die gesetzlich vorgesehene Mehrwertsteuer enthalten ist. Davon zu trennen ist die oben beantwortete Frage (unter B.), ob diese immanente Mehrwertsteuer auch auf den Vertragspartner übergewälzt wurde, so dass dieser zum Vorsteuerabzug berechtigt ist.

3.      Vom Leistenden abstrakt oder konkret geschuldete Mehrwertsteuer?

103. Insofern ist „nur“ noch zu klären, ob für einen Vorsteuerabzug – jenseits der Notwendigkeit einer Rechnung – mit dem Begriff der vom Leistenden geschuldeten Mehrwertsteuer die konkret geschuldete Mehrwertsteuer gemeint ist. Daran würde es hier fehlen, da aufgrund der inzwischen eingetretenen steuerrechtlichen Verjährung feststeht, dass die eigentlich (zumindest unionsrechtlich) geschuldete Mehrwertsteuer nicht mehr erhoben werden kann.

104. Andernfalls könnte mit dem Begriff der geschuldeten Mehrwertsteuer auch abstrakt die eigentlich (hier zumindest unionsrechtlich) geschuldete Mehrwertsteuer gemeint sein. Diese wäre dann im Vereinigten Königreich bei einem Steuersatz von 20 % in Höhe von 20/120 aus dem erhaltenen Preis herauszurechnen.

105. Aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs ergibt sich dabei klar und deutlich, dass der Vorsteuerabzug des Leistungsempfängers unabhängig von der konkreten Behandlung und Durchsetzung des Steueranspruchs beim Leistenden ist. Insoweit hat der Gerichtshof in ständiger Rechtsprechung entschieden, dass es für das Recht des Steuerpflichtigen auf Vorsteuerabzug nicht von Bedeutung ist, ob die Mehrwertsteuer, die für die vorausgegangenen oder nachfolgenden Verkäufe der betreffenden Gegenstände geschuldet war, tatsächlich an den Fiskus entrichtet wurde. Denn die Mehrwertsteuer wird auf jeden Produktions- oder Vertriebsvorgang erhoben, abzüglich der Mehrwertsteuer, mit der die verschiedenen Kostenelemente unmittelbar belastet worden sind.(60)

106. Diese Rechtsprechung zeigt, dass der konkrete Vorsteuerabzug des Leistungsempfängers unabhängig von der konkreten Steuerschuld des Leistenden ist. Daher ist es auch irrelevant, ob dieser sich hier erfolgreich gegen eine nachträgliche Besteuerung hätte wehren können oder nicht (Frage 4a).

107. Wenn dem so ist, dann muss der Begriff der vom Leistenden geschuldeten Mehrwertsteuer, die über den Preis auf den Leistungsempfänger übergewälzt wurde und die dieser mittels des Vorsteuerabzugs neutralisieren kann, auch grundsätzlich abstrakt betrachtet werden. Mithin ist damit die eigentlich (abstrakt) geschuldete Mehrwertsteuer gemeint. Darauf hat weder der gemeinsame Irrtum der Vertragsparteien (inklusive des Irrtums der Finanzverwaltung) noch die Tatsache, dass die Finanzverwaltung aus rechtsstaatlichen und praktischen Gründen auf eine nachträgliche Steuerfestsetzung verzichtet hat oder verzichten musste und mittlerweile eine Verjährung der Steuerschuld des Leistenden eingetreten ist, einen Einfluss.

4.      Ergebnis

108. Folglich ist mit dem Begriff der „geschuldete(n) oder entrichtete(n) Mehrwertsteuer“ in Art. 168 Buchst. a der Mehrwertsteuerrichtlinie dogmatisch gesehen die vom Leistenden abstrakt und in der richtigen Höhe geschuldete Mehrwertsteuer gemeint, die in dem tatsächlich erhaltenen Preis bereits enthalten ist.

109. Praktisch relevant wird dies für den Leistungsempfänger aber erst, wenn er eine entsprechende Rechnung mit ausgewiesener Mehrwertsteuer erhält, die die Überwälzung dieser Steuer auf den Leistungsempfänger demonstriert. Eine solche Rechnung wird der Leistende ihm aber im Falle eines gemeinsamen Irrtums erst ausstellen, wenn er entweder alleine das Risiko der richtigen mehrwertsteuerrechtlichen Würdigung tragen muss oder wenn der Leistungsempfänger die aufgrund des gemeinsamen Irrtums bislang noch nicht übergewälzte Mehrwertsteuer nachträglich noch bezahlt, mithin der Preis entsprechend angepasst wird.

VI.    Ergebnis

110. Somit schlage ich dem Gerichtshof vor, wie folgt auf die Vorlagefragen des Supreme Court of the United Kingdom (Oberster Gerichtshof des Vereinigten Königreichs) zu antworten:

1.       Die in Art. 168 Buchst. a der Richtlinie 2006/112 genannte „geschuldete oder entrichtete Mehrwertsteuer“ erfasst die vom leistenden Unternehmen dem Mitgliedstaat eigentlich geschuldete oder an den Mitgliedstaat entrichtete Mehrwertsteuer.

2.       Aus den Art. 73 und 78 unter Berücksichtigung von Art. 90 der Mehrwertsteuerrichtlinie ergibt sich, dass Besteuerungsgrundlage für die Lieferung eines Gegenstands oder die Erbringung einer Dienstleistung gegen Entgelt die vom Steuerpflichtigen tatsächlich dafür erhaltene Gegenleistung ist, in der die Mehrwertsteuer bereits enthalten ist.

3.       Das Recht auf Vorsteuerabzug nach Art. 168 Buchst. a der Mehrwertsteuerrichtlinie setzt jedoch die Leistungsausführung und den Besitz einer Rechnung (Art. 178 Buchst. a der Mehrwertsteuerrichtlinie), die die Überwälzung der Mehrwertsteuer dokumentiert, voraus. Ein Vorsteuerabzug ohne Besitz einer Rechnung, die die Mehrwertsteuer gesondert ausweist, ist demgegenüber nicht möglich.

4.       Der Leistungsempfänger, der sich nicht innerhalb der zivilrechtlichen Verjährungsfrist um eine entsprechende Rechnung mit gesondert ausgewiesener Mehrwertsteuer bemüht hat, kann ohne eine solche Rechnung auch gegenüber der Finanzverwaltung keinen Anspruch auf Vorsteuerabzug geltend machen.

5.      Da der Vorsteuerabzug des Leistungsempfängers unabhängig von der konkreten Besteuerung des Leistenden ist, ist es irrelevant, ob der Leistende sich erfolgreich gegen eine eigene Besteuerung wehren konnte.


1      Originalsprache: Deutsch.


2      Urteil vom 21. November 2018 (C-664/16, EU:C:2018:933).


3      Vgl. z. B. Urteil vom 16. Februar 2012, Eon Aset Menidjmunt (C-118/11, EU:C:2012:97, Rn. 63).


4      Dieser Fall hängt eng mit der in dem Verfahren Wilo Salmson France (C-80/20) aufgeworfenen Frage nach der Funktion einer Rechnung mit gesondertem Mehrwertsteuerausweis für den Vorsteuerabzug des Leistungsempfängers/Rechnungsempfängers zusammen. Siehe dazu auch meine Schlussanträge in der Rechtssache Wilo Salmson France (C-80/20, EU:C:2021:326).


5      Richtlinie des Rates vom 28. November 2006 (ABl. 2006, L 347, S. 1) in der für die Streitjahre (2007 bis März 2010) geltenden Fassung, die durch Richtlinie 2010/23/EU des Rates vom 16. März 2010 (ABl. 2010, L 72, S. 1) insoweit zuletzt geändert wurde. Für das Streitjahr 2006 findet zwar noch die Vorgängervorschrift (Sechste Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage (ABl. 1977, L 145, S. 1) Anwendung, deren Regelungen aber – soweit hier interessant – inhaltlich grundsätzlich gleich waren.


6      Vgl. dazu nur Urteile vom 23. November 2017, Di Maura (C-246/16, EU:C:2017:887, Rn. 23), vom 21. Februar 2008, Netto Supermarkt (C-271/06, EU:C:2008:105, Rn. 21), und vom 20. Oktober 1993, Balocchi (C-10/92, EU:C:1993:846, Rn. 25).


7      Urteil vom 21. März 2018 (C-533/16, EU:C:2018:204).


8      Urteil vom 12. April 2018, Biosafe – Indústria de Reciclagens (C-8/17, EU:C:2018:249).


9      Urteil vom 21. November 2018 (C-664/16, EU:C:2018:933).


10      Urteile vom 17. Dezember 2020, Bundeszentralamt für Steuern (C-346/19, EU:C:2020:1050, Rn. 46), vom 18. November 2020, Kommission/Deutschland (Erstattung der Mehrwertsteuer – Rechnungen) (C-371/19, nicht veröffentlicht, EU:C:2020:936, Rn. 79), vom 2. Mai 2019, Sea Chefs Cruise Services (C-133/18, EU:C:2019:354, Rn. 36), und vom 21. März 2018, Volkswagen (C-533/16, EU:C:2018:204, Rn. 39).


11      Urteile vom 17. Dezember 2020, Bundeszentralamt für Steuern (C-346/19, EU:C:2020:1050, Rn. 47), vom 18. November 2020, Kommission/Deutschland (Erstattung der Mehrwertsteuer – Rechnungen) (C-371/19, nicht veröffentlicht, EU:C:2020:936, Rn. 80), vom 19. Oktober 2017, Paper Consult (C-101/16, EU:C:2017:775, Rn. 41), vom 28. Juli 2016, Astone (C-332/15, EU:C:2016:614, Rn. 45), vom 15. September 2016, Barlis 06 – Investimentos Imobiliários e Turísticos (C-516/14, EU:C:2016:690, Rn. 42), vom 9. Juli 2015, Salomie und Oltean (C-183/14, EU:C:2015:454, Rn. 58), vom 30. September 2010, Uszodaépítő (C-392/09, EU:C:2010:569, Rn. 39), vom 21. Oktober 2010, Nidera Handelscompagnie (C-385/09, EU:C:2010:627, Rn. 42), und vom 8. Mai 2008, Ecotrade (C-95/07 und C-96/07, EU:C:2008:267, Rn. 63).


12      Urteile vom 17. Dezember 2020, Bundeszentralamt für Steuern (C-346/19, EU:C:2020:1050, Rn. 48), vom 18. November 2020, Kommission/Deutschland (Erstattung der Mehrwertsteuer – Rechnungen) (C-371/19, nicht veröffentlicht, EU:C:2020:936, Rn. 81), Urteil vom 19. Oktober 2017, Paper Consult (C-101/16, EU:C:2017:775, Rn. 42 und die dort angeführte Rechtsprechung).


13      Vgl. Urteile vom 10. April 2019, PSM „K“ (C-214/18, EU:C:2019:301, Rn. 40), vom 18. Mai 2017, Latvijas Dzelzceļš (C-154/16, EU:C:2017:392, Rn. 69), vom 7. November 2013, Tulică und Plavoşin (C-249/12 und C-250/12, EU:C:2013:722, Rn. 34), und vom 24. Oktober 1996, Elida Gibbs (C-317/94, EU:C:1996:400, Rn. 19).


14      So auch Schlussanträge des Generalanwalts Campos Sánchez-Bordona in der Rechtssache Volkswagen (C-533/16, EU:C:2017:823, Nr. 60).


15      Der Gerichtshof spricht im Urteil vom 13. März 2014, Malburg (C-204/13, EU:C:2014:147, Rn. 43), von einem Auslegungsgrundsatz.


16      Urteile vom 13. März 2008, Securenta (C-437/06, EU:C:2008:166, Rn. 25), und vom 1. April 2004, Bockemühl (C-90/02, EU:C:2004:206, Rn. 39).


17      Urteile vom 13. März 2014, Malburg (C-204/13, EU:C:2014:147, Rn. 41), vom 15. Dezember 2005, Centralan Property (C-63/04, EU:C:2005:773, Rn. 51), vom 21. April 2005, HE (C-25/03, EU:C:2005:241, Rn. 57), und meine Schlussanträge in der Rechtssache Centralan Property (C-63/04, EU:C:2005:185, Nr. 25).


18      So schon in meinen Schlussanträgen in der Rechtssache Wilo Salmson France (C-80/20, EU:C:2021:326, Nrn. 59 ff.) und in der Rechtssache Biosafe – Indústria de Reciclagens (C-8/17, EU:C:2017:927, Nrn. 44 ff.).


19      Ebenso Schlussanträge des Generalanwalts Campos Sánchez-Bordona in der Rechtssache Volkswagen (C-533/16, EU:C:2017:823, Nr. 64).


20      Urteil vom 29. April 2004, Terra Baubedarf-Handel (C-152/02, EU:C:2004:268, Rn. 35).


21      Anders als die Klägerin meint, ist Art. 203 der Mehrwertsteuerrichtlinie keine bloße „Betrugsvorschrift“, sondern sie sichert auch den Gleichlauf von dem Vorsteuerabzug mittels einer Rechnung und der Steuerschuld wegen einer Rechnung.


22      Urteil vom 21. März 2018 (C-533/16, EU:C:2018:204).


23      Urteil vom 12. April 2018, Biosafe – Indústria de Reciclagens (C-8/17, EU:C:2018:249).


24      Urteil vom 21. März 2018, Volkswagen (C-533/16, EU:C:2018:204, Rn. 49 und 50).


25      Urteil vom 12. April 2018, Biosafe – Indústria de Reciclagens (C-8/17, EU:C:2018:249, Rn. 42 und 43).


26      Urteile vom 15. November 2017, Geissel und Butin (C-374/16 und C-375/16, EU:C:2017:867, Rn. 41), und vom 15. September 2016, Barlis 06 – Investimentos Imobiliários e Turísticos (C-516/14, EU:C:2016:690, Rn. 27); siehe auch meine Schlussanträge in der Rechtssache Barlis 06 – Investimentos Imobiliários e Turísticos (C-516/14, EU:C:2016:101, Nrn. 30, 32 und 46).


27      Urteil vom 21. November 2018 (C-664/16, EU:C:2018:933).


28      Vgl. meine Schlussanträge in der Rechtssache Wilo Salmson France (C-80/20, EU:C:2021:326, Nrn. 70 ff.).


29      Urteil vom 21. November 2018, Vădan (C-664/16, EU:C:2018:933, Rn. 44 „durch objektive Nachweise belegen“, Rn. 45 „Nachweise“, Rn. 47 „Nachweise“ und Rn. 48 „nachzuweisen“).


30      Völlig zutreffend insoweit Urteil vom 21. November 2018, Vădan (C-664/16, EU:C:2018:933, Rn. 45 – eine Schätzung kann solche Nachweise nicht ersetzen).


31      Urteil vom 21. November 2018 (C-664/16, EU:C:2018:933).


32      Dies betraf z. B. Urteile vom 15. September 2016, Senatex (C-518/14, EU:C:2016:691), und vom 29. April 2004, Terra Baubedarf-Handel (C-152/02, EU:C:2004:268).


33      Ebenso auch Schlussanträge des Generalanwalts Campos Sánchez-Bordona in der Rechtssache Volkswagen (C-533/16, EU:C:2017:823, Nr. 58); siehe auch meine Schlussanträge in der Rechtssache Biosafe – Indústria de Reciclagens (C-8/17, EU:C:2017:927, Nrn 65 ff.).


34      Urteil vom 29. April 2004, Terra Baubedarf-Handel (C-152/02, EU:C:2004:268, Rn. 37).


35      Urteil vom 15. September 2016 (C-518/14, EU:C:2016:691, Rn. 35).


36      Darunter fallen z. B. die Urteile vom 15. September 2016, Senatex (C-518/14, EU:C:2016:691), vom 15. September 2016, Barlis 06 – Investimentos Imobiliários e Turísticos (C-516/14, EU:C:2016:690), und vom 8. Mai 2013, Petroma Transports u. a. (C-271/12, EU:C:2013:297).


37      Urteil vom 28. Juli 2016, Astone (C-332/15, EU:C:2016:614, Rn. 47); vgl. in diesem Sinne Urteil vom 11. Dezember 2014, Idexx Laboratories Italia (C-590/13, EU:C:2014:2429, Rn. 41 und 42 und die dort angeführte Rechtsprechung).


38      Urteile vom 17. Dezember 2020, Bundeszentralamt für Steuern (C-346/19, EU:C:2020:1050, Rn. 47), vom 18. November 2020, Kommission/Deutschland (Erstattung der Mehrwertsteuer – Rechnungen) (C-371/19, nicht veröffentlicht, EU:C:2020:936, Rn. 80), vom 19. Oktober 2017, Paper Consult (C-101/16, EU:C:2017:775, Rn. 41), vom 28. Juli 2016, Astone (C-332/15, EU:C:2016:614, Rn. 45), vom 15. September 2016, Barlis 06 – Investimentos Imobiliários e Turísticos (C-516/14, EU:C:2016:690, Rn. 42), vom 9. Juli 2015, Salomie und Oltean (C-183/14, EU:C:2015:454, Rn. 58), vom 30. September 2010, Uszodaépítő (C-392/09, EU:C:2010:569, Rn. 39), vom 21. Oktober 2010, Nidera Handelscompagnie (C-385/09, EU:C:2010:627, Rn. 42), und vom 8. Mai 2008, Ecotrade (C-95/07 und C-96/07, EU:C:2008:267, Rn. 63).


39      Urteile vom 15. September 2016, Barlis 06 – Investimentos Imobiliários e Turísticos (C-516/14, EU:C:2016:690, Rn. 42), vom 9. Juli 2015, Salomie und Oltean (C-183/14, EU:C:2015:454, Rn. 58 und 59); vgl. in diesem Sinne auch Urteile vom 1. März 2012, Kopalnia Odkrywkowa Polski Trawertyn P. Granatowicz, M. Wąsiewicz (C-280/10, EU:C:2012:107, Rn. 43), allerdings unter Bezugnahme auf die Umkehrung der Steuerschuldnerschaft, und vom 21. Oktober 2010, Nidera Handelscompagnie (C-385/09, EU:C:2010:627, Rn. 42), auch im Fall einer Umkehrung der Steuerschuldnerschaft.


40      So ausdrücklich klarstellend Urteil vom 15. September 2016, Senatex (C-518/14, EU:C:2016:691, Rn. 39 ff.). Auch das Urteil vom 15. September 2016, Barlis 06 – Investimentos Imobiliários e Turísticos (C-516/14, EU:C:2016:690, Rn. 35 und 49), betraf eine Rechnung, deren Besitz unstreitig war, deren Angaben jedoch in Teilen unpräzise waren. Auch das Urteil vom 15. Juli 2010, Pannon Gép Centrum (C-368/09, EU:C:2010:441, Rn. 45), erwähnt den Besitz einer ursprünglichen Rechnung.


41      Urteile vom 15. November 2017, Geissel und Butin (C-374/16 und C-375/16, EU:C:2017:867, Rn. 40), und vom 15. September 2016, Senatex (C-518/14, EU:C:2016:691, Rn. 38 und ähnlich in Rn. 29 [„im Einklang mit Art. 226 der Richtlinie ausgestellte Rechnung besitzt“]). Ähnlich auch Urteile vom 21. März 2018, Volkswagen (C-533/16, EU:C:2018:204, Rn. 42), und vom 21. Oktober 2010, Nidera Handelscompagnie (C-385/09, EU:C:2010:627, Rn. 47).


42      Davon scheint auch der Gerichtshof (Urteil vom 30. September 2010, Uszodaépítő, C-392/09, EU:C:2010:569, Rn. 45) auszugehen, wenn er davon spricht, dass Art. 178 der Mehrwertsteuerrichtlinie der Auferlegung von zusätzlichen Förmlichkeiten entgegensteht. Dann kann Art. 178 der Mehrwertsteuerrichtlinie selbst ja nicht bloß eine Förmlichkeit darstellen. Auch die Urteile vom 12. April 2018, Biosafe – Indústria de Reciclagens (C-8/17, EU:C:2018:249, Rn. 43), und vom 21. März 2018, Volkswagen (C-533/16, EU:C:2018:204, Rn. 50), stellen klar, dass erst nach dem Besitz einer Rechnung, aus der sich die Mehrwertsteuerbelastung ergibt, die materiellen und formellen Voraussetzungen vorliegen, um den Vorsteuerabzug geltend zu machen.


43      Urteil vom 15. September 2016, Barlis 06 – Investimentos Imobiliários e Turísticos (C-516/14, EU:C:2016:690, Rn. 43).


44      Urteil vom 15. September 2016, Senatex (C-518/14, EU:C:2016:691, Rn. 40 ff.).


45      Urteil vom 15. Juli 2010, Pannon Gép Centrum (C-368/09, EU:C:2010:441, Rn. 45), ähnlich auch Urteil vom 17. Dezember 2020, Bundeszentralamt für Steuern (C-346/19, EU:C:2020:1050, Rn. 53 und 57).


46      Vgl. Urteile vom 15. September 2016, Senatex (C-518/14, EU:C:2016:691, Rn. 43), vom 15. September 2016, Barlis 06 – Investimentos Imobiliários e Turísticos (C-516/14, EU:C:2016:690, Rn. 44), und vom 8. Mai 2013, Petroma Transports u. a. (C-271/12, EU:C:2013:297, Rn. 34).


47      In diesem Sinne auch der deutsche Bundesfinanzhof. Vgl. Urteile vom 12. März 2020 – V R 48/17, BStBl. II 2020, 604 Rn. 23, vom 22. Januar 2020 – XI R 10/17, BStBl. II 2020, 601 Rn. 17; und vom 20. Oktober 2016 – V R 26/15, BStBl. 2020, 593 Rn. 19.


48      Siehe meine Schlussanträge in der Rechtssache Wilo Salmson France (C-80/20, EU:C:2021:326, Nrn. 93 und 94).


49      Hinsichtlich des Kriteriums der „gesondert ausgewiesenen Mehrwertsteuer“ folgt dies bereits aus den Entscheidungen des Gerichtshofs in den Urteilen Volkswagen und Biosafe, in denen Rechnungen vorlagen, bei denen der Ausweis der Mehrwertsteuer fehlte, um den Vorsteuerabzug in der entsprechenden Höhe geltend zu machen. Vgl. Urteile vom 12. April 2018, Biosafe – Indústria de Reciclagens (C-8/17, EU:C:2018:249, Rn. 42 und 43), und vom 21. März 2018, Volkswagen (C-533/16, EU:C:2018:204, Rn. 49 und 50).


50      Darunter fallen z. B. die Urteile vom 15. September 2016, Senatex (C-518/14, EU:C:2016:691, Rn. 43), vom 15. September 2016, Barlis 06 – Investimentos Imobiliários e Turísticos (C-516/14, EU:C:2016:690, Rn. 44), und vom 8. Mai 2013, Petroma Transports u. a. (C-271/12, EU:C:2013:297, Rn. 34).


51      Ausdrücklich bestätigt durch Urteil vom 1. April 2004, Bockemühl (C-90/02, EU:C:2004:206, Rn. 47 und 51). Hier hat die Rechnung nämlich nicht die Funktion als Transportmittel der Mehrwertsteuerbelastung (dazu ausführlich oben, Nrn. 60 ff.), da der Leistende sie nicht schuldet und sie damit auch nicht überwälzen muss.


52      Urteile vom 17. Oktober 2018, Ryanair (C-249/17, EU:C:2018:834, Rn. 18), vom 29. Februar 1996, Inzo (C-110/94, EU:C:1996:67, Rn. 17), und vom 14. Februar 1985, Rompelman (268/83, EU:C:1985:74, Rn. 23 und 24), sowie meine Schlussanträge in der Rechtssache Ryanair (C-249/17, EU:C:2018:301, Nrn. 16 und 26).


53      Urteile vom 7. November 2013, Tulică und Plavoşin (C-249/12 und C-250/12, EU:C:2013:722, Rn. 33), vom 26. April 2012, Balkan and Sea Properties (C-621/10 und C-129/11, EU:C:2012:248, Rn. 43), und vom 5. Februar 1981, Coöperatieve Aardappelenbewaarplaats (154/80, EU:C:1981:38, Rn. 13).


54      Urteile vom 7. November 2013, Tulică und Plavoşin (C-249/12 und C-250/12, EU:C:2013:722, Rn. 34), und vom 24. Oktober 1996, Elida Gibbs (C-317/94, EU:C:1996:400, Rn. 19).


55      Urteil vom 7. November 2013, Tulică und Plavoşin (C-249/12 und C-250/12, EU:C:2013:722, Rn. 35).


56      Urteile vom 7. November 2013, Tulică und Plavoşin (C-249/12 und C-250/12, EU:C:2013:722, Rn. 36), und vom 26. April 2012, Balkan and Sea Properties (C-621/10 und C-129/11, EU:C:2012:248, Rn. 44), vom 3. Juli 1997, Goldsmiths (C-330/95, EU:C:1997:339, Rn. 15), und vom 24. Oktober 1996, Elida Gibbs (C-317/94, EU:C:1996:400, Rn. 24).


57      Urteil vom 7. November 2013, Tulică und Plavoşin (C-249/12 und C-250/12, EU:C:2013:722, Rn. 37).


58      So ausdrücklich Urteile vom 7. November 2013, Tulică und Plavoşin (C-249/12 und C-250/12, EU:C:2013:722, Rn. 33), vom 26. April 2012, Balkan and Sea Properties (C-621/10 und C-129/11, EU:C:2012:248, Rn. 43), und vom 3. Juli 1997, Goldsmiths (C-330/95, EU:C:1997:339, Rn. 15).


59      Vgl. dazu Urteil vom 23. November 2017, Di Maura (C-246/16, EU:C:2017:887, Rn. 27), und meine Schlussanträge in der Rechtssache Di Maura (C-246/16, EU:C:2017:440, Nrn. 63 ff.).


60      Urteile vom 6. Dezember 2012, Bonik (C-285/11, EU:C:2012:774, Rn. 28), vom 21. Juni 2012, Mahagében (C-80/11 und C-142/11, EU:C:2012:373, Rn. 40), und vom 12. Januar 2006, Optigen u. a. (C-354/03, C-355/03 und C-484/03, EU:C:2006:16, Rn. 54), sowie Beschluss vom 3. März 2004, Transport Service (C-395/02, EU:C:2004:118, Rn. 26).