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Vorläufige Fassung

SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

MACIEJ SZPUNAR

vom 14. Dezember 2023(1)

Rechtssache C-746/22

Slovenské Energetické Strojárne A.S.

gegen

Nemzeti Adó- és Vámhivatal Fellebbviteli Igazgatósága

(Vorabentscheidungsersuchen des Fővárosi Törvényszék [Hauptstädtisches Stuhlgericht, Ungarn])

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Steuern – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem – Richtlinie 2006/112/EG – Art. 170 – Erstattung der Steuer an Steuerpflichtige, die nicht im Mitgliedstaat der Erstattung ansässig sind – Richtlinie 2008/9/EG – Art. 20 – Anforderung zusätzlicher Informationen durch den Mitgliedstaat der Erstattung – Einstellung des Verfahrens mangels Vorlegung zusätzlicher Informationen innerhalb der vorgegebenen Frist – Art. 23 – Nichtberücksichtigung von Informationen, die erstmals im Einspruchsverfahren vorgelegt wurden“






 Einleitung

1.        Das Recht auf Abzug der auf einer früheren Umsatzstufe entrichteten Steuer ist für das gemeinsame Mehrwertsteuersystem von überragender Bedeutung, da es dem Steuerpflichtigen erlaubt, sich der Last der Besteuerung mit dieser Steuer zu entledigen, die erst durch den Verbraucher zu tragen ist. Wegen des territorialen Charakters der Mehrwertsteuer, die auf das Hoheitsgebiet der einzelnen Mitgliedstaaten beschränkt ist, entsteht kein Abzugsrecht, wenn ein Steuerpflichtiger, der in dem betreffenden Mitgliedstaat weder ansässig ist noch über ein feste Niederlassung verfügt, in diesem Mitgliedstaat Gegenstände oder Waren erwirbt, die er zu Zwecken seiner steuerpflichtigen Tätigkeit verwendet, die er in einem anderen Mitgliedstaat betreibt, oder zu Zwecken einer steuerpflichtigen Tätigkeit, die keine Pflicht zur Entrichtung der Steuer durch diesen Steuerpflichtigen begründet, was z. B. im Rahmen des Mechanismus der „umgekehrten Steuerschuldnerschaft“ der Fall ist. In diesem Fall gibt es nämlich keine im Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats geschuldete Steuer, von der die Steuer abgezogen werden könnte, die der Steuerpflichtige auf die im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats erworbenen Gegenstände und Dienstleistungen entrichtet hat.

2.        Statt des Abzugsrechts sieht das Unionsrecht in dieser Situation ein Recht auf Erstattung der entrichteten Mehrwertsteuer vor. Das Unionsrecht regelt nicht nur die materiellen Aspekte dieses Erstattungsanspruchs, sondern auch die damit verbundenen Verfahrensfragen, einschließlich der Fristen, die im Erstattungsverfahren einzuhalten sind.

3.        Der Gerichtshof hatte bereits mehrfach Gelegenheit, diese Bestimmungen auszulegen(2). Wie die vorliegende Rechtssache zeigt, können aus dieser Rechtsprechung jedoch unterschiedliche Schlussfolgerungen hinsichtlich der rechtlichen Natur dieser Fristen und der Folgen ihrer Nichteinhaltung gezogen werden. Der Gerichtshof wird folglich Gelegenheit haben, die Auslegung dieser Bestimmungen zu präzisieren und die auftretenden Zweifel auszuräumen.

 Rechtlicher Rahmen

 Unionsrecht

4.        Art. 170 Buchst. b und Art. 171 Abs. 1 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem(3) in der durch die Richtlinie 2008/8/EG des Rates vom 12. Februar 2008(4) geänderten Fassung (im Folgenden: Richtlinie 2006/112) bestimmen:

„Artikel 170

Jeder Steuerpflichtige, der im Sinne … des Artikels 3 der Richtlinie 2008/9/EG[(5)] und des Artikels 171 der vorliegenden Richtlinie nicht in dem Mitgliedstaat ansässig ist, in dem er die Gegenstände und Dienstleistungen erwirbt oder mit der Mehrwertsteuer belastete Gegenstände einführt, hat Anspruch auf Erstattung dieser Mehrwertsteuer, soweit die Gegenstände und Dienstleistungen für die Zwecke folgender Umsätze verwendet werden:

b)      die Umsätze, bei denen die Steuer nach den Artikeln 194 bis 197 und 199 lediglich vom Empfänger geschuldet wird.

Artikel 171

(1)      Die Erstattung der Mehrwertsteuer an Steuerpflichtige, die nicht in dem Mitgliedstaat, in dem sie die Gegenstände und Dienstleistungen erwerben oder mit der Mehrwertsteuer belastete Gegenstände einführen, sondern in einem anderen Mitgliedstaat ansässig sind, erfolgt nach dem in der Richtlinie 2008/9/EG vorgesehenen Verfahren.

…“

5.        Die Art. 3, 5, 7, 15, 19, 20, 21 und 23 der Richtlinie 2008/9 bestimmen insbesondere:

„Artikel 3

Diese Richtlinie gilt für jeden nicht im Mitgliedstaat der Erstattung ansässigen Steuerpflichtigen, der folgende Voraussetzungen erfüllt:

a)      er hat während des Erstattungszeitraums im Mitgliedstaat der Erstattung weder den Sitz seiner wirtschaftlichen Tätigkeit noch eine feste Niederlassung, von der aus Umsätze bewirkt wurden, noch hat er – in Ermangelung eines solchen Sitzes oder einer solchen festen Niederlassung – dort seinen Wohnsitz oder seinen gewöhnlichen Aufenthaltsort;

b)      er hat während des Erstattungszeitraums keine Gegenstände geliefert oder Dienstleistungen erbracht, die als im Mitgliedstaat der Erstattung bewirkt gelten, mit Ausnahme der folgenden Umsätze:

ii)      Lieferungen von Gegenständen oder Dienstleistungen, deren Empfänger nach den Artikeln 194 bis 197 und Artikel 199 der Richtlinie 2006/112/EG die Mehrwertsteuer schuldet.

Artikel 5

Jeder Mitgliedstaat erstattet einem nicht im Mitgliedstaat der Erstattung ansässigen Steuerpflichtigen die Mehrwertsteuer, mit der die ihm von anderen Steuerpflichtigen in diesem Mitgliedstaat gelieferten Gegenstände oder erbrachten Dienstleistungen oder die Einfuhr von Gegenständen in diesen Mitgliedstaat belastet wurden, sofern die betreffenden Gegenstände und Dienstleistungen für Zwecke der folgenden Umsätze verwendet werden:

b)      Umsätze, deren Empfänger nach den Artikeln 194 bis 197 und Artikel 199 der Richtlinie 2006/112/EG, wie sie im Mitgliedstaat der Erstattung angewendet werden, Schuldner der Mehrwertsteuer ist.

Artikel 7

Um eine Erstattung von Mehrwertsteuer im Mitgliedstaat der Erstattung zu erhalten, muss der nicht im Mitgliedstaat der Erstattung ansässige Steuerpflichtige einen elektronischen Erstattungsantrag an diesen Mitgliedstaat richten und diesen in dem Mitgliedstaat, in dem er ansässig ist, über das von letzterem Mitgliedstaat eingerichtete elektronische Portal einreichen.

Artikel 15

(1)      Der Erstattungsantrag muss dem Mitgliedstaat, in dem der Steuerpflichtige ansässig ist, spätestens am 30. September des auf den Erstattungszeitraum folgenden Kalenderjahres vorliegen. Der Erstattungsantrag gilt nur dann als vorgelegt, wenn der Antragsteller alle in den Artikeln 8, 9 und 11 geforderten Angaben gemacht hat.

Artikel 19

(2)      Der Mitgliedstaat der Erstattung teilt dem Antragsteller innerhalb von vier Monaten ab Eingang des Erstattungsantrags in diesem Mitgliedstaat mit, ob er die Erstattung gewährt oder den Erstattungsantrag abweist.

Artikel 20

(1)      Ist der Mitgliedstaat der Erstattung der Auffassung, dass er nicht über alle relevanten Informationen für die Entscheidung über eine vollständige oder teilweise Erstattung verfügt, kann er insbesondere beim Antragsteller oder bei den zuständigen Behörden des Mitgliedstaats, in dem der Antragsteller ansässig ist, innerhalb des in Artikel 19 Absatz 2 genannten Viermonatszeitraums elektronisch zusätzliche Informationen anfordern. Werden die zusätzlichen Informationen bei einer anderen Person als dem Antragsteller oder der zuständigen Behörde eines Mitgliedstaats angefordert, soll das Ersuchen nur auf elektronischem Wege ergehen, wenn der Empfänger des Ersuchens über solche Mittel verfügt.

Gegebenenfalls kann der Mitgliedstaat der Erstattung weitere zusätzliche Informationen anfordern.

Die gemäß diesem Absatz angeforderten Informationen können die Einreichung des Originals oder eine Durchschrift der einschlägigen Rechnung oder des einschlägigen Einfuhrdokuments umfassen, wenn der Mitgliedstaat der Erstattung begründete Zweifel am Bestehen einer bestimmten Forderung hat. …

(2)      Die gemäß Absatz 1 angeforderten Informationen sind dem Mitgliedstaat der Erstattung innerhalb eines Monats ab Eingang des Informationsersuchens bei dessen Adressaten vorzulegen.

Artikel 21

Fordert der Mitgliedstaat der Erstattung zusätzliche Informationen an, so teilt er dem Antragsteller innerhalb von zwei Monaten ab Eingang der angeforderten Informationen, oder, falls er keine Antwort auf sein Ersuchen erhalten hat, binnen zwei Monaten nach Ablauf der Frist nach Artikel 20 Absatz 2 mit, ob er die Erstattung gewährt oder den Erstattungsantrag abweist. Der Zeitraum, der für die Entscheidung über eine vollständige oder teilweise Erstattung ab Eingang des Erstattungsantrags im Mitgliedstaat der Erstattung zur Verfügung steht, beträgt jedoch auf jeden Fall mindestens sechs Monate.

Wenn der Mitgliedstaat der Erstattung weitere zusätzliche Informationen anfordert, teilt er dem Antragsteller innerhalb von acht Monaten ab Eingang des Erstattungsantrags in diesem Mitgliedstaat die Entscheidung über eine vollständige oder teilweise Erstattung mit.

Artikel 23

(1)      Wird der Erstattungsantrag ganz oder teilweise abgewiesen, so teilt der Mitgliedstaat der Erstattung dem Antragsteller gleichzeitig mit seiner Entscheidung die Gründe für die Ablehnung mit.

(2)      Der Antragsteller kann bei den zuständigen Behörden des Mitgliedstaats der Erstattung Einspruch gegen eine Entscheidung, einen Erstattungsantrag abzuweisen, einlegen, und zwar in den Formen und binnen der Fristen, die für Einsprüche bei Erstattungsanträgen der in diesem Mitgliedstaat ansässigen Personen vorgesehen sind.

Wenn nach dem Recht des Mitgliedstaates der Erstattung das Versäumnis, innerhalb der in dieser Richtlinie festgelegten Fristen eine Entscheidung über den Erstattungsantrag zu treffen, weder als Zustimmung noch als Ablehnung betrachtet wird, müssen jegliche Verwaltungs- oder Rechtsverfahren, die in dieser Situation Steuerpflichtigen, die in diesem Mitgliedstaat ansässig sind, zugänglich sind, entsprechend für den Antragsteller zugänglich sein. Gibt es solche Verfahren nicht, so gilt das Versäumnis, innerhalb der festgelegten Frist eine Entscheidung über den Erstattungsantrag zu treffen, als Ablehnung des Antrags.“

 Ungarisches Recht

6.        Die Art. 19 bis 21 der Richtlinie 2008/9 wurden durch die §§ 251/C, 251/E, 251/F und 251/G des Az általános forgalmi adóról szóló 2007. évi CXXVII. törvény (Gesetz Nr. CXXVII von 2007 über die allgemeine Umsatzsteuer)(6) in ungarisches Recht umgesetzt.

7.        § 49 Abs. 1 Buchst. b des Az adóigazgatási rendtartásról szóló 2017. évi CLI. törvény (Gesetz Nr. CLI von 2017 über die Steuerverwaltungsordnung, im Folgenden: Steuerverwaltungsordnung)(7) bestimmt, dass das Steuerverfahren einzustellen ist, wenn der Antragsteller keine Erklärung abgegeben hat oder trotz Aufforderung durch die Steuerverwaltung keine Berichtigung vorgenommen hat, so dass über den Antrag nicht entschieden werden kann.

8.        § 124 der Steuerverwaltungsordnung sieht ein Einspruchsrecht gegen Steuerbescheide vor. Abs. 3 dieses Paragrafen bestimmt, dass der Einspruch nicht auf Umstände oder Beweise gestützt werden kann, von denen der Einspruchsführer Kenntnis hatte, die er jedoch der erstinstanzlichen Behörde nicht angeführt bzw. vorgelegt hat, obwohl er dazu aufgefordert worden war.

9.        § 78 Abs. 4 des A közigazgatási perrendtartásról szóló 2017. évi I. törvény (Gesetz Nr. I von 2017 über die Verwaltungsgerichtsordnung)(8) bestimmt, dass eine Partei sich vor Gericht auf einen Umstand stützen kann, der im vorangegangenen Verfahren nicht berücksichtigt worden ist, und zwar sowohl, wenn die Behörde seine Berücksichtigung abgelehnt hat, als auch, wenn die Partei ohne eigenes Verschulden von diesem Umstand keine Kenntnis hatte oder sich nicht darauf gestützt hat.

 Sachverhalt, Verfahren und Vorlagefragen

10.      Die in der Slowakei ansässige Gesellschaft Slovenské Energetické Strojárne A.S. (im Folgenden: SES) ist auf dem Energiebausektor tätig. Im Jahr 2020 führte diese Gesellschaft Montage- und Installationsarbeiten in einem Kraftwerk in Újpest (Ungarn) durch. Zu diesem Zweck erwarb sie verschiedene Gegenstände und Dienstleistungen in Ungarn.

11.      Am 18. Februar 2021 beantragte SES bei der Nemzeti Adó- és Vámhivatal Kiemelt Adó- és Vámigazgatósága (Steuer- und Zolldirektion der nationalen Steuer- und Zollverwaltung, Ungarn, im Folgenden: erstinstanzliche Steuerbehörde) die Erstattung der Mehrwertsteuer in Höhe von 37 013 654 Forint (HUF) (etwa 97 400 Euro), die sie für die Gegenstände und Dienstleistungen bezahlt habe, die sie 2020 in Ungarn erworben habe.

12.      Am 22. Februar 2021 forderte die erstinstanzliche Steuerbehörde SES dazu auf, innerhalb von einem Monat eine Reihe von Unterlagen im Zusammenhang mit ihrem Antrag auf Erstattung der Mehrwertsteuer vorzulegen. Diese Aufforderung ging der SES zwar auf elektronischem Wege zu, doch erteilte sie darauf keine Antwort(9).

13.      Daraufhin stellte die erstinstanzliche Steuerbehörde das auf Antrag der SES eingeleitete Verfahren zur Erstattung der Mehrwertsteuer gemäß § 49 Abs. 1 Buchst. b der Steuerverwaltungsordnung mit Bescheid vom 6. Mai 2021 ein.

14.      Am 9. Juni 2021 legte SES Einspruch gegen diese Entscheidung bei der Nemzeti Adó- és Vámhivatal Fellebbviteli Igazgatósága (Direktion für Rechtsbehelfsangelegenheiten der nationalen Steuer- und Zollverwaltung, Ungarn, im Folgenden: Steuerbehörde zweiter Instanz) ein. Zugleich legte sie alle von der erstinstanzlichen Steuerbehörde angeforderten Unterlagen vor.

15.      Mit Bescheid vom 20. Juli 2021 hielt die Steuerbehörde zweiter Instanz die Entscheidung der erstinstanzlichen Steuerbehörde aufrecht. Sie wies insbesondere darauf hin, dass die Steuerverwaltungsordnung es nicht gestatte, sich im Einspruchsverfahren auf neue Beweise zu stützen, von denen der Einspruchsführer vor dem Erlass des erstinstanzlichen Bescheids Kenntnis gehabt habe, ohne sie vorzulegen, obwohl er dazu durch die Steuerbehörde aufgefordert worden sei.

16.      SES erhob gegen diesen Bescheid Klage beim Fővárosi Törvényszék (Hauptstädtisches Stuhlgericht, Ungarn), dem in dem jetzigen Verfahren vorlegenden Gericht. SES stellt die Anwendung von § 124 Abs. 3 der Steuerverwaltungsordnung im Verfahren zur Erstattung der Mehrwertsteuer nach der Richtlinie 2008/9 infrage, da er das Recht auf Einlegung eines Einspruchs nach Art. 23 Abs. 2 dieser Richtlinie einschränke. Des Weiteren ist sie der Ansicht, dass die Monatsfrist, von der in Art. 20 Abs. 2 der angeführten Richtlinie die Rede sei, keine Ausschlussfrist sei. Nach Ansicht der Steuerbehörde zweiter Instanz findet § 124 Abs. 3 der Steuerverwaltungsordnung im Verfahren zur Erstattung der Mehrwertsteuer hingegen Anwendung. Ein Steuerpflichtiger, der sich in einer Lage wie SES befinde, verliere dadurch jedoch nicht sein Recht auf Erstattung, da ihm die Möglichkeit offenstehe, Wiedereinsetzung zu beantragen.

17.      Vor diesem Hintergrund hat das Fővárosi Törvényszék (Hauptstädtisches Stuhlgericht) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.      Ist Art. 23 Abs. 2 der Richtlinie 2008/9 dahin auszulegen, dass eine nationale Regelung – konkret § 124 Abs. 3 der Steuerverwaltungsordnung –, die es im Rahmen der Beurteilung von Anträgen auf Erstattung der Mehrwertsteuer gemäß der Richtlinie 2006/112 nicht zulässt, dass in der Rechtsbehelfsphase neue Tatsachen behauptet oder neue Beweise angeführt oder vorgelegt werden, die dem Antragsteller vor Erlass des erstinstanzlichen Bescheids bekannt waren, die er jedoch trotz der Aufforderung der Steuerbehörde nicht vorgelegt oder nicht angeführt hat, was zu einer materiellen Beschränkung führt, die über die in der Richtlinie 2008/9 vorgesehenen Form- und Fristvoraussetzungen hinausgeht, den Anforderungen an Einsprüche nach dieser Richtlinie entspricht?

2.      Bedeutet die Bejahung der ersten Frage, dass die in Art. 20 Abs. 2 der Richtlinie 2008/9 genannte Frist von einem Monat als Ausschlussfrist anzusehen ist? Steht dies im Einklang mit dem Postulat des in Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) verankerten Rechts auf einen wirksamen Rechtsbehelf und ein unparteiisches Gericht sowie mit den Art. 167, 169, 170 und 171 Abs. 1 der Richtlinie 2006/112 und mit den vom Gerichtshof entwickelten tragenden Grundsätzen der Steuerneutralität, der Effektivität und der Verhältnismäßigkeit?

3.      Ist Art. 23 Abs. 1 der Richtlinie 2008/9, der die ganze oder teilweise Abweisung eines Erstattungsantrags betrifft, dahin auszulegen, dass mit diesem eine nationale Regelung – konkret § 49 Abs. 1 Buchst. b der Steuerverwaltungsordnung – im Einklang steht, wonach die Steuerbehörde das Verfahren einstellt, wenn der antragstellende Steuerpflichtige einer Aufforderung der Steuerbehörde bzw. seiner Verpflichtung zur Behebung von Mängeln nicht nachkommt und in Ermangelung dessen der Antrag nicht beurteilt werden kann, ohne dass das Verfahren von Amts wegen fortgesetzt wird?

18.      Das Vorabentscheidungsersuchen ist am 6. Dezember 2022 beim Gerichtshof eingegangen. SES, Ungarn, der Rat der Europäischen Union(10) sowie die Europäische Kommission haben schriftliche Erklärungen eingereicht. Der Gerichtshof hat beschlossen, ohne mündliche Verhandlung zu entscheiden.

 Würdigung

19.      Das nationale Gericht legt dem Gerichtshof in der anhängigen Rechtssache drei Fragen zur Vorabentscheidung vor, von denen die erste von ausschlaggebender Bedeutung für die Streitentscheidung im Ausgangsverfahren ist. Ich werde zunächst dennoch auf die zweite Vorlagefrage eingehen, da die Antwort auf diese Frage mit Leichtigkeit der bisherigen Rechtsprechung des Gerichtshofs entnommen werden kann und sich auf die Würdigung der ersten Frage auswirken wird.

 Zur zweiten Vorlagefrage

20.      Die zweite Vorlagefrage betrifft zwei unterschiedliche Problemkreise. Gegenstand des ersten ist die rechtliche Natur der Monatsfrist für die Beantwortung der Aufforderung durch die mit dem Antrag auf Erstattung der Mehrwertsteuer befasste Behörde zur Erteilung zusätzlicher Informationen nach Art. 20 Abs. 2 der Richtlinie 2008/9. Genauer gesagt möchte das vorlegende Gericht wissen, ob diese Frist als eine Ausschlussfrist angesehen werden kann, d. h., ob ihre Nichteinhaltung dazu führen kann, dass der Steuerpflichtige die Möglichkeit verliert, sich in den späteren Stadien des Erstattungsverfahrens auf zusätzliche Informationen zu stützen. Der zweite Problemkreis betrifft die Frage, ob ein solcher Ausschlusscharakter dieser Frist mit Art. 47 der Charta und einer Reihe von Grundsätzen und Bestimmungen des Unionsrechts auf dem Gebiet der Mehrwertsteuer vereinbar wäre. Das vorlegende Gericht stellt die zweite Vorlagefrage zwar für den Fall, dass die erste Frage bejaht wird, doch ist es – im Hinblick auf die bisherige Rechtsprechung des Gerichtshofs – zur Beantwortung dieser Frage gar nicht erforderlich, zunächst auf die erste Frage einzugehen.

 Urteil Sea Chefs Cruise Services

21.      Die rechtliche Natur der Frist in Art. 20 Abs. 2 der Richtlinie 2008/9 wurde nämlich schon im Urteil Sea Chefs Cruise Services vom Gerichtshof näher bestimmt. In diesem Urteil hat der Gerichtshof ausdrücklich entschieden, dass die angeführte Frist keine Ausschlussfrist ist und ihre Nichteinhaltung den Steuerpflichtigen nicht der Möglichkeit beraubt, seinen Antrag auf Erstattung der Mehrwertsteuer im Stadium des Gerichtsverfahrens zu ergänzen(11).

22.      Der Gerichtshof hat diese Entscheidung auf die grammatikalischen und die systematische Auslegung der Richtlinie 2008/9 gestützt(12). Darüber hinaus hat der Gerichtshof festgehalten, dass die Anforderung von zusätzlichen Informationen nach Art. 20 Abs. 1 der Richtlinie 2008/9 nicht nur an den Steuerpflichtigen gerichtet sein kann, der die Steuererstattung beantragt, sondern auch an den Mitgliedstaat seiner Niederlassung oder an Dritte. In diesem Fall darf eine möglicherweise verspätete Antwort dieser anderen Beteiligten, auf die der Steuerpflichtige keinen Einfluss hat, nicht dazu führen, dass er das Recht auf Erstattung verliert(13).

23.      Der Gerichtshof hat schließlich festgestellt, dass, da der Steuerpflichtige gemäß Art. 23 Abs. 2 der Richtlinie 2008/9 Einspruch gegen die Entscheidung einlegen kann, mit der die Erstattung der Steuer abgelehnt wurde, und die in ihrem Art. 20 Abs. 2 genannte Frist keine Ausschlussfrist ist, sich der Steuerpflichtige im Einspruchsverfahren gegen eine solche Entscheidung auf zusätzliche Informationen zur Begründung seines Rechts auf Erstattung stützen kann(14). Es ist daher davon auszugehen, dass der Steuerpflichtige sich u. a. auf Informationen und Unterlagen stützen kann, deren Vorlegung die mit dem Erstattungsantrag befasste Behörde verlangt hat und die der Steuerpflichtige nicht innerhalb der in Art. 20 Abs. 2 der Richtlinie 2008/9 bestimmten Frist vorgelegt hat.

24.      Es ist zwar richtig, dass der Gerichtshof im Urteil Sea Chefs Cruise Services speziell auf die Frage eingegangen ist, inwieweit sich der Steuerpflichtige im Verfahren vor dem nationalen Gericht auf zusätzliche Informationen stützen kann. Dies war jedoch durch die besondere Konstellation des Ausgangsrechtsstreits, in dem dieses Urteil ergangen ist, und den Gegenstand der Vorlagefrage bedingt. Dabei hat der Gerichtshof aber ausdrücklich auf das Recht des Steuerpflichtigen hingewiesen, gegen die Entscheidung über die Erstattung der Steuer Einspruch gemäß Art. 23 Abs. 2 der Richtlinie 2008/9 einzulegen(15). Diese Bestimmung regelt allgemein Einsprüche „bei den zuständigen Behörden des Mitgliedstaats“, worunter sowohl Gerichte als auch Verwaltungsbehörden fallen können. Bestätigt wird dies insbesondere durch Unterabs. 2 dieses Absatzes, wonach dem Steuerpflichtigen „jegliche Verwaltungs- oder Rechtsverfahren“ im Mitgliedstaat der Erstattung zugänglich sein müssen. In Anbetracht der vorstehenden Erwägungen können die Erkenntnisse aus dem Urteil Sea Chefs Cruise Services nicht nur auf gerichtliche Verfahren Anwendung finden, sondern auch – wie in der vorliegenden Rechtssache – auf verwaltungsrechtliche Rechtsbehelfe gegen Bescheide betreffend die Erstattung der Mehrwertsteuer übertragen werden, wenn ein solches Rechtsbehelfsverfahren im Recht des Mitgliedstaats der Erstattung vorgesehen ist.

25.      Der erste Teil der zweiten Vorlagefrage ist folglich dahin zu beantworten, dass nach dem Urteil Sea Chefs Cruise Services die Monatsfrist in Art. 20 Abs. 2 der Richtlinie 2008/9 nicht als eine Ausschlussfrist angesehen werden kann.

 Nichteinschlägigkeit des Urteils GE Auto Service Leasing

26.      Dieses Ergebnis wird durch die Erkenntnisse aus dem Urteil GE Auto Service Leasing nicht erschüttert. In diesem Urteil hat der Gerichtshof entschieden, dass die Bestimmungen des Unionsrechts es nicht verbieten, den Antrag eines Steuerpflichtigen auf Erstattung der Mehrwertsteuer abzulehnen, wenn der Steuerpflichtige der zuständigen Steuerbehörde nicht innerhalb der gesetzten Frist alle in dieser Richtlinie vorgeschriebenen Dokumente vorgelegt und Auskünfte erteilt hat, ungeachtet dessen, dass er diese Dokumente und Auskünfte im Überprüfungsverfahren oder im gerichtlichen Verfahren über die Klage gegen die einen solchen Erstattungsanspruch versagende Entscheidung von sich aus vorgelegt bzw. erteilt hat(16). Wegen der besonderen Umstände der Rechtssache, in der dieses Urteil ergangen ist, kann es nach meiner Ansicht nicht auf die vorliegende Rechtssache übertragen werden.

27.      Erstens ging es im Urteil GE Auto Service Leasing nicht um die Auslegung der Bestimmungen der Richtlinie 2008/9, sondern der Bestimmungen ihrer Vorgängerrichtlinie 79/1072/EWG(17). Diese Richtlinie war weit weniger detailliert als die Richtlinie 2008/9. Sie bestimmte insbesondere nur eine Verfahrensfrist für die Steuerpflichtigen, und zwar die Frist für die Stellung des Antrags auf die Steuererstattung(18). Sie hat die Frage der Anforderung von zusätzlichen Informationen durch die Steuerbehörde vom Steuerpflichtigen gar nicht geregelt und überließ diese Frage vollständig dem nationalen Recht. Folglich waren die Mitgliedstaaten insoweit aus unionsrechtlicher Sicht nur durch die Grundsätze der Äquivalenz und der Effektivität beschränkt.

28.      Zweitens betraf die Anforderung der Steuerbehörde in der Rechtssache, in der das Urteil GE Auto Service Leasing ergangen ist, die Vorlage von Unterlagen durch den Steuerpflichtigen, deren Beifügung zum Erstattungsantrag die Richtlinie 79/1072 in ihrem Art. 3 selbst gefordert hat, und zwar von Rechnungen, auf die sich der Antrag bezog, und einer Bescheinigung über die Registrierung als Mehrwertsteuerpflichtiger im Mitgliedstaat der Niederlassung. Nach den Bestimmungen der angeführten Richtlinie konnte der Steuerpflichtige das Abzugsrecht nur dann in Anspruch nehmen, wenn er diese Unterlagen dem Antrag beigefügt hatte(19). Fehlten diese Unterlagen, konnte das Bestehen dieses Rechts folglich auch nicht bejaht werden.

29.      Die Anforderung von zusätzlichen Informationen gemäß Art. 20 Abs. 1 der Richtlinie 2008/9 kann sich – wie schon die Verwendung des Wortes „zusätzliche“ zeigt – auf Informationen oder Unterlagen beziehen, deren Beifügung die Art. 8 bis 10 dieser Richtlinie nicht verlangen und deren Fehlen zwar zu einer Ablehnung des Antrags führen kann, aber nicht muss(20).

30.      Drittens hat der Gerichtshof im Tenor des Urteils GE Auto Service Leasing den Vorbehalt erklärt, wonach die dort vorgenommene Auslegung der Bestimmungen der Richtlinie 79/1072 nur gilt, sofern die Grundsätze der Äquivalenz und der Effektivität gewahrt bleiben. Der Gerichtshof hat zwar festgestellt, dass im Ausgangsverfahren in der Rechtssache, in der dieses Urteil ergangen ist, nicht ersichtlich war, dass die Geltendmachung des Rechts auf Mehrwertsteuererstattung durch den Steuerpflichtigen übermäßig erschwert oder unmöglich gewesen ist, doch hat er die Prüfung dieser Frage dem nationalen Gericht überlassen. Dies zeigt meines Erachtens, dass die vom Gerichtshof in diesem Urteil gewählte Auslegung stark von den besonderen Umständen des Ausgangsverfahrens abhing und nicht auf Rechtssachen übertragen werden muss, die sich von jener wesentlich unterscheiden.

31.      Viertens schließlich zeigt meines Erachtens der Umstand, dass der Gerichtshof im Urteil GE Auto Service Leasing in keiner Weise auf das Urteil Sea Chefs Cruise Services Bezug genommen hat, das über zwei Jahre zuvor verkündet wurde, dass der Gerichtshof diese beiden Rechtssachen als völlig unterschiedlich eingestuft hat, so dass das Urteil GE Auto Service Leasing die Erkenntnisse aus dem Urteil Sea Chefs Cruise Services keineswegs in Frage stellt.

 Frage der Vereinbarkeit von Art. 20 Abs. 2 der Richtlinie 2008/9 mit Art. 47 der Charta

32.      Das vorlegende Gericht hat die Frage nach der Auslegung von Art. 47 der Charta für den Fall der Annahme gestellt, dass es sich bei der in Art. 20 Abs. 2 der Richtlinie 2008/9 bestimmten Frist um eine Ausschlussfrist handeln kann. In Anbetracht der von mir vorgeschlagenen Antwort auf den ersten Teil der zweiten Vorlagefrage stellt sich diese Frage nicht.

33.      Ich möchte daher nur am Rande anmerken, dass nach meiner Ansicht die in Art. 20 Abs. 2 der Richtlinie 2008/9 bestimmte Frist unabhängig davon, ob sie eine Ausschlussfrist darstellt oder im nationalen Recht der Mitgliedstaaten als eine solche behandelt werden kann, nicht gegen Art. 47 der Charta verstößt.

34.      In wahrscheinlich allen Rechtsordnungen gibt es Verfahrensfristen, u. a. betreffend die – für das in Art. 47 der Charta verankerte Recht auf ein Gericht so wichtige – Erhebung von Klagen und Einlegung von Rechtsmitteln, die Ausschlusscharakter haben und deren Nichteinhaltung zum Verlust der Möglichkeit führt, Klage vor einem Gericht zu erheben. Sofern diese Fristen vernünftig bemessen sind(21), ist darin kein Verstoß gegen das Recht auf ein Gericht zu sehen. Die Rechtssicherheit und die Beständigkeit der Rechtsverhältnisse, also Werte, deren Schutz die Verfahrensfristen dienen, gehen diesem Recht nämlich vor(22). Erst recht kann keine Frist – auch keine Ausschlussfrist – gegen das Recht auf ein Gericht verstoßen, innerhalb deren der Steuerbehörde Informationen vorzulegen sind, die für die Prüfung eines Steuererstattungsantrags erforderlich sind, wenn die Nichteinhaltung dieser Frist dem Steuerpflichtigen nicht das Recht nimmt, den in seiner Sache erlassenen Bescheid – insbesondere auch vor einem Gericht – anzufechten.

 Antwort auf die zweite Vorlagefrage

35.      Was die übrigen vom vorlegenden Gericht in der zweiten Vorlagefrage genannten Bestimmungen und Grundsätze des Unionsrechts angeht, so werde ich auf ihre Bedeutung für die vorliegende Rechtssache später bei der Würdigung der ersten Vorlagefrage eingehen. Ich schlage daher vor, auf die zweite Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 20 Abs. 2 der Richtlinie 2008/9 dahin auszulegen ist, dass die dort bestimmte Monatsfrist für die Vorlegung zusätzlicher Informationen auf Anforderung der Behörde, die mit dem Antrag auf Erstattung der Mehrwertsteuer befasst ist, den ein in einem anderen Mitgliedstaat ansässiger Steuerpflichtiger gestellt hat, nicht als eine Ausschlussfrist angesehen werden kann.

 Zur ersten Vorlagefrage

36.      Die erste Vorlagefrage soll dem nationalen Gericht die Prüfung der Vereinbarkeit einer Bestimmung des innerstaatlichen Rechts mit dem Unionsrecht ermöglichen, die die Möglichkeit ausschließt, sich im Einspruchsverfahren auf zusätzliche Informationen oder Unterlagen zu stützen, die die erstinstanzliche Steuerbehörde angefordert und die der Steuerpflichtige erst im Rahmen des Einspruchs bei der Steuerbehörde zweiter Instanz vorgelegt hat.

37.      Nach ihrem Wortlaut bezieht sich diese Frage nur auf die Auslegung von Art. 23 Abs. 2 der Richtlinie 2008/9. Aus dieser Bestimmung geht aber nur hervor, dass der Einspruch gegen eine Entscheidung über die Erstattung der Mehrwertsteuer an Steuerpflichtige, die in einem anderen Mitgliedstaat ansässig sind, den gleichen Grundsätzen unterliegt wie Einsprüche inländischer Steuerpflichtiger. Um dem vorlegenden Gericht eine sachdienliche Antwort erteilen zu können, ist es nach meinem Dafürhalten erforderlich, die Würdigung auch auf andere Bestimmungen und Grundsätze des Mehrwertsteuerrechts der Union zu erstrecken, insbesondere auf Art. 170 der Richtlinie 2006/112, Art. 20 Abs. 2 der Richtlinie 2008/9 sowie die Grundsätze der steuerlichen Äquivalenz, Effektivität und Neutralität. Art. 170 der Richtlinie 2006/112 sowie die Grundsätze der steuerlichen Effektivität und Neutralität wurden im Übrigen vom vorlegenden Gericht selbst in der zweiten Vorlagefrage erwähnt. Mit seiner ersten Vorlagefrage möchte das vorlegende Gericht eigentlich wissen, ob die oben genannten Bestimmungen und Grundsätze des Unionsrechts der Anwendung nationalen Rechtsvorschriften wie der in Nr. 36 der vorliegenden Schlussanträge beschriebenen Bestimmung entgegenstehen. Ich werde die Prüfung dieser Frage mit einem Rückblick auf die einschlägige Rechtsprechung des Gerichtshofs beginnen.

 Bisherige Rechtsprechung des Gerichtshofs

38.      Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs entspricht der in Art. 170 der Richtlinie 2006/112 verankerte Anspruch eines in einem anderen Mitgliedstaat ansässigen Steuerpflichtigen auf Erstattung der Mehrwertsteuer dem in Art. 168 dieser Richtlinie vorgesehenen Anspruch auf Abzug der im Inland entrichteten Steuer. Er stellt ein Grundprinzip des gemeinsamen Mehrwertsteuersystems dar, das darauf abzielt, den Steuerpflichtigen von der Last dieser Steuer zu befreien und dadurch die steuerliche Neutralität zu wahren. Dieses Recht ist folglich integraler Bestandteil dieses Systems und kann grundsätzlich nicht eingeschränkt werden(23).

39.      Der Grundsatz der Neutralität verlangt zudem, dass dem Steuerpflichtigen der Vorsteuerabzug oder die Erstattung der auf einer früheren Umsatzstufe entrichteten Steuer gewährt wird, wenn die materiellen Anforderungen dieses Rechts erfüllt sind, selbst wenn dieser Steuerpflichtige bestimmten formellen Anforderungen nicht Genüge getan hat. Anders verhält es sich nur, wenn der Verstoß gegen die formellen Anforderungen den sicheren Nachweis verhindert, dass die materiellen Anforderungen erfüllt wurden(24). Was den Zeitpunkt angeht, zu dem die Beweise für die Erfüllung der materiellen Anforderungen des Rechts auf Steuererstattung vorzulegen sind, so hat der Gerichtshof festgestellt, dass eine zeitlich unbeschränkte Möglichkeit zur Vorlegung solcher Beweise zur Folge hätte, dass die steuerliche Lage des Steuerpflichtigen in Anbetracht seiner Rechte und Pflichten gegenüber der Steuerverwaltung unbegrenzt offenbliebe, was dem Grundsatz der Rechtssicherheit zuwiderliefe(25).

40.      Darüber hinaus richten sich bei Fragen, die durch die Unionsrechtsvorschriften nicht geregelt sind, die formellen Anforderungen an das Recht auf Erstattung der Mehrwertsteuer gemäß dem Grundsatz der Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten nach dem innerstaatlichen Recht dieser Staaten, allerdings unter dem Vorbehalt der Wahrung der Grundsätze der Äquivalenz und der Effektivität. Nach diesen Grundsätzen dürfen solche Anforderungen nicht ungünstiger sein als diejenigen, die gleichartige interne Sachverhalte regeln, und die Ausübung des Erstattungsrechts nicht praktisch unmöglich machen oder sie übermäßig erschweren(26).

41.      Schließlich hat der Gerichtshof – wie ich bereits in dem Teil der vorliegenden Schlussanträge ausgeführt habe, in dem es um die zweite Vorlagefrage ging – entschieden, dass die in Art. 20 Abs. 2 der Richtlinie 2008/9 vorgesehene Frist keine Ausschlussfrist ist, so dass der Steuerpflichtige die Informationen, die die mit dem Antrag auf Erstattung der Mehrwertsteuer befasste Behörde angefordert hat, auch auf der Stufe des Gerichtsverfahrens vorlegen kann(27).

42.      Die erste Vorlagefrage ist im Licht dieser vorstehend angeführten Rechtsprechung zu prüfen.

 Übertragbarkeit auf die vorliegende Rechtssache

43.      Der Gerichtshof hat es unter Zugrundelegung der in den Nrn. 38 bis 40 der vorliegenden Schlussanträge angeführten Rechtsprechung nicht ausgeschlossen, dass nationale Bestimmungen der Mitgliedstaaten mit dem Unionsrecht vereinbar sein können, die es einem Steuerpflichtigen, der nicht im Mitgliedstaat der Erstattung ansässig ist, nicht gestatten, zusätzliche Informationen im Zusammenhang mit einem Antrag auf Erstattung der Mehrwertsteuer erst auf der Stufe des Gerichtsverfahrens vorzulegen(28), ebenso wie Bestimmungen, die es gestatten, Beweise für die Erfüllung der Anforderungen an eine Steuerbefreiung unberücksichtigt zu lassen, die vom Steuerpflichtigen erst nach dem Abschluss der Steuerprüfung vorgelegt worden sind(29). Der Gerichtshof hat die Vereinbarkeit solcher Bestimmungen mit dem Unionsrecht lediglich von der Wahrung der Grundsätze der Effektivität und der Äquivalenz abhängig gemacht(30) und es den nationalen Gerichten überlassen, ihre Einhaltung zu prüfen.

44.      Der Gerichtshof hat auf diese Weise sowohl in einem Fall entschieden, in dem er – nach Erteilung entsprechender Hinweise an das nationale Gericht – diese Voraussetzungen, insbesondere den Grundsatz der Effektivität, als eher gewahrt angesehen hat(31), als auch in dem umgekehrten Fall. Im Urteil Nec Plus Ultra Cosmetics hat der Gerichtshof insbesondere entschieden, dass „[d]ie Nichtberücksichtigung von Beweisen vor dem Erlass eines … Steuerbescheids … geeignet [ist], die Ausübung der vom Unionsrecht anerkannten Rechte übermäßig zu erschweren, da eine solche Nichtberücksichtigung die Möglichkeit der steuerpflichtigen Person einschränkt, Beweise für die Erfüllung der materiellen Voraussetzungen für eine Mehrwertsteuerbefreiung vorzulegen. Eine nationale Regelung, die es einer steuerpflichtigen Person in diesem Stadium des Steuerverfahrens nicht gestattet, die noch fehlenden Beweise beizubringen, um das von ihr geltend gemachte Recht zu stützen, und die etwaigen Erläuterungen zu den Gründen, aus denen diese Beweise nicht früher vorgelegt wurden, unberücksichtigt lässt, ist somit offensichtlich schwerlich mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit sowie mit dem Grundprinzip der Neutralität der Mehrwertsteuer vereinbar“(32). Letztlich hat der Gerichtshof die Beantwortung der Frage nach der Vereinbarkeit der innerstaatlichen Rechtsvorschriften dem in der Rechtssache, in der dieses Urteil ergangen ist, vorlegenden Gericht überlassen.

45.      Meines Erachtens wäre eine derartige Entscheidung in der vorliegenden Rechtssache unzureichend. Das Verfahren der Erstattung der Mehrwertsteuer an Steuerpflichtige, die nicht im Mitgliedstaat der Erstattung ansässig sind, wurde recht detailliert in der Richtlinie 2008/9 geregelt. Wichtige Fragen – und eine solche stellt die Frage nach der Auswirkung der Nichteinhaltung der in Art. 20 Abs. 2 dieser Richtlinie vorgesehenen Frist auf das Recht des Steuerpflichtigen auf die Steuererstattung sicherlich dar – der Regulierung durch das innerstaatliche Recht der Mitgliedstaaten unter dem bloßen Vorbehalt der Wahrung der Grundsätze der Äquivalenz und der Effektivität unter der Kontrolle der nationalen Gerichte zu überlassen, stünde im Widerspruch zum „effet utile“ der vom Unionsgesetzgeber vorgenommenen Harmonisierung.

46.      Was den Äquivalenzgrundsatz angeht, so erfordert die Prüfung der Vereinbarkeit der nationalen Rechtsvorschriften mit diesem Grundsatz die Auslegung dieser Rechtsvorschriften und muss daher Sache der mitgliedstaatlichen Gerichte sein. In der vorliegenden Rechtssache deutet im Übrigen nichts darauf hin, dass dieser Grundsatz verletzt worden wäre, da die anwendbaren nationalen Rechtsvorschriften allgemein für alle Steuerverfahren zu gelten scheinen. Ich bin jedoch der Ansicht, dass der Gerichtshof einen entschiedeneren Standpunkt vertreten sollte, was die Frage der Vereinbarkeit dieser Vorschriften mit dem Effektivitätsgrundsatz angeht.

47.      Es sei daran erinnert, dass nach dem Grundsatz der Effektivität die nationalen Vorschriften, die im Rahmen der Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten erlassen worden sind, die Ausübung der vom Unionsrecht verliehenen Rechte durch den Einzelnen nicht übermäßig erschweren oder praktisch unmöglich machen dürfen(33). Nach den ungarischen Rechtsvorschriften kann ein Steuerpflichtiger, der der Behörde, die mit seinem Antrag auf Erstattung der Mehrwertsteuer befasst ist, nicht fristgemäß die zusätzlichen Informationen vorgelegt hat, die diese Behörde gemäß Art. 20 Abs. 1 der Richtlinie 2008/9 angefordert hat, diesen Mangel nicht durch ihre Vorlegung im Rahmen des Einspruchs gegen den Bescheid beheben, den die angeführte Behörde auf seinen Antrag hin erlassen hat. Es steht ihm jedoch unter bestimmten Bedingungen frei, diese Informationen wirksam im gerichtlichen Verfahren nach der Klageerhebung gegen einen solchen Bescheid vorzulegen(34). Meines Erachtens erschweren diese Vorschriften übermäßig die Geltendmachung der Erstattung der Steuer durch Steuerpflichtige, die nicht im Mitgliedstaat der Erstattung ansässig sind.

48.      Die Richtlinie 2008/9 legt eine Reihe von Verfahrensfristen fest, zu deren Beachtung sowohl die zuständigen nationalen Behörden als auch die beteiligten Steuerpflichtigen verpflichtet sind(35). Die Beteiligten stehen sich aber im Hinblick auf die Rechte aus dieser Richtlinie oder – allgemein betrachtet – den Unionsrechtsvorschriften betreffend die Mehrwertsteuer nicht gleichrangig gegenüber. Diese Vorschriften dienen in erster Linie dem Schutz und der Verbesserung der Lage der Steuerpflichtigen, wohingegen die Steuerbehörden darüber wachen, dass das öffentliche Interesse an der Sicherstellung der ordnungsgemäßen Funktionsweise dieses Systems gewahrt wird. Dies ist von besonderer Bedeutung für das Mehrwertsteuersystem, das auf dem Grundsatz der steuerlichen Neutralität beruht, wonach die Steuerpflichtigen die wirtschaftliche Last der Besteuerung grundsätzlich nicht tragen dürfen. So gesehen dient die in Art. 20 Abs. 2 der Richtlinie 2008/9 bestimmte Frist meines Erachtens zwei Zielen. Erstens gewährt sie den Steuerpflichtigen eine Mindestzeit, die ihnen zur Verfügung steht, so dass die Steuerbehörden nicht willkürlich übermäßig kurze Fristen für die Vorlegung zusätzlicher Informationen bestimmen können. Zweitens ermöglicht sie den Abschluss des gesamten Erstattungsverfahrens innerhalb der in Art. 21 dieser Richtlinie festgelegten Fristen. Es handelt sich somit um eine Frist, die im Interesse der Steuerpflichtigen und nicht im Interesse der Steuerbehörden festgelegt wurde.

49.      Selbstverständlich dienen Verfahrensfristen – wie der Gerichtshof angemerkt hat – auch dazu, die Ungewissheit über die rechtliche Lage des Steuerpflichtigen nicht ins Unendliche zu verlängern(36). Was die Erstattung der Mehrwertsteuer an Steuerpflichtige angeht, die nicht im Mitgliedstaat der Erstattung ansässig sind, so dient diesem Ziel insbesondere die in Art. 15 Abs. 1 der Richtlinie 2008/9 bestimmte Frist zur Stellung des Erstattungsantrags, bei der es sich nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs um eine Ausschlussfrist(37) handelt, deren Nichteinhaltung zur Verwirkung des Erstattungsrechts führt. Wird dem Steuerpflichtigen jedoch die Möglichkeit eingeräumt, im verwaltungsrechtlichen Einspruchsverfahren zusätzliche Informationen vorzulegen, die die erstinstanzliche Behörde von ihm angefordert hat, birgt dies keine Gefahr der Verlängerung des Schwebezustands in Bezug auf die rechtliche Lage dieses Steuerpflichtigen ins Unendliche. Ein solches Verfahren unterliegt nämlich naturgemäß strengen Verfahrensfristen, insbesondere der Frist zur Einspruchseinlegung, und bleibt für gewöhnlich sehr überschaubar, was seinen zeitlichen Rahmen angeht.

50.      Ich verstehe natürlich, dass es frustrierend sein kann, wenn ein Steuerpflichtiger bestimmte Informationen, zu deren Vorlage er von der erstinstanzlichen Behörde ordnungsgemäß aufgefordert wurde, ohne triftigen Grund nicht rechtzeitig vorlegt und erst im Rahmen des Einspruchsverfahrens nachreicht. In einer solchen Situation entbindet Art. 26 Abs. 2 der Richtlinie 2008/9 den Mitgliedstaat der Erstattung aber von der Pflicht zur Zahlung etwaiger Verzugszinsen auf den zu erstattenden Betrag, was zur Folge hat, dass der Steuerpflichtige die Kosten der selbst verschuldeten Verspätung trägt. Ich kann mir auch vorstellen, dass das nationale Recht in solchen Fällen vorsieht, dass dem nachlässigen Steuerpflichtigen die zusätzlichen Verwaltungskosten auferlegt werden, die durch seine Nachlässigkeit entstanden sind.

51.      Es ist aber meines Erachtens unverhältnismäßig und verstößt gegen den Grundsatz der Effektivität, wenn man es dem Steuerpflichtigen – obwohl das nationale Recht die Möglichkeit hierzu vorsieht(38) – unmöglich macht, nach Fristablauf Informationen vorzulegen, die seinen Erstattungsanspruch stützen, mit der Folge, dass er dieses Recht möglicherweise verliert. Denn dadurch wird seine Geltendmachung ohne erkennbare Notwendigkeit übermäßig erschwert. Ich möchte daran erinnern, dass es hierbei um ein fundamentales Recht des gemeinsamen Mehrwertsteuersystems geht, auf dem die Funktionsweise dieses Systems beruht und das grundsätzlich nicht eingeschränkt werden kann(39). Eine Beschränkung dieses Rechts aus rein formellen Gründen, wenn die materiellen Voraussetzungen erfüllt sind, verstieße folglich auch gegen Art. 170 der Richtlinie 2006/112, wonach alle Steuerpflichtigen, die diese materiellen Voraussetzungen erfüllen, Anspruch auf Erstattung haben.

52.      An diesem Ergebnis ändert auch nichts, dass dem Steuerpflichtigen eventuell die Möglichkeit offensteht, sich im gerichtlichen Verfahren auf die zusätzlichen Informationen zu stützen, die sein Recht auf Erstattung der Mehrwertsteuer begründen. Der Steuerpflichtige wird dadurch nämlich gezwungen, gegen den Bescheid über die Ablehnung der Erstattung (oder wie in der vorliegenden Rechtssache über die Einstellung des Verfahrens) Klage bei einem Gericht zu erheben, um einen Verfahrensmangel formeller Natur zu heilen, obwohl dies im Rahmen des verwaltungsrechtlichen Einspruchsverfahrens einfacher und schneller möglich gewesen wäre.

53.      Wie ich in dem Teil dieser Schlussanträge ausgeführt habe, der der Würdigung der zweiten Vorlagefrage gewidmet ist, hat der Gerichtshof darüber hinaus im Urteil Sea Chefs Cruise Services entschieden, dass die in Art. 20 Abs. 2 der Richtlinie 2008/9 vorgesehene Frist keine Ausschlussfrist ist, so dass der Steuerpflichtige berechtigt ist, sich im gerichtlichen Verfahren auf Informationen zu stützen, die er nicht innerhalb der in dieser Bestimmung vorgesehenen Frist auf Anforderung der mit der Prüfung seines Antrags auf Erstattung der Mehrwertsteuer befassten Behörde vorgelegt hat. Das Gleiche sollte für das behördliche Einspruchsverfahren gelten, wenn das nationale Recht ein solches Verfahren gegen Bescheide über die Erstattung der Mehrwertsteuer an Steuerpflichtige vorsieht, die nicht im Mitgliedstaat der Erstattung ansässig sind(40). Alle Argumente, die der Gerichtshof in dem vorstehend genannten Urteil angeführt hat, gelten nämlich genauso für ein solches Verfahren. Es wäre mit der vom Gerichtshof im Urteil Sea Chefs Cruise Services vorgenommenen Auslegung von Art. 20 Abs. 2 der Richtlinie 2008/9 unvereinbar, wenn es keine Möglichkeit gäbe, zusätzliche Informationen im Rahmen des verwaltungsrechtlichen Einspruchsverfahrens vorzulegen, obwohl das nationale Recht ein solches Verfahren vorsieht(41).

54.      Die vorstehenden Erwägungen gelten natürlich nur, wenn die materiellen Voraussetzungen des Anspruchs auf Erstattung der Mehrwertsteuer erfüllt sind und der Steuerpflichtige die angeforderten Unterlagen nicht zu Zwecken der Begehung einer Steuerhinterziehung oder eines Rechtsmissbrauchs verspätet vorlegt. Andernfalls sind die Mitgliedstaaten selbstverständlich berechtigt, die in ihrem nationalen Recht vorgesehenen Maßnahmen zu ergreifen, um solche Hinterziehungen oder Rechtsmissbrauch zu verhindern. Wie der Gerichtshof jedoch bereits festgestellt hat, stellt der Umstand, dass der Steuerpflichtige zusätzliche Informationen erst in einem späteren Stadium des Verfahrens vorgelegt hat, für sich genommen keinen Rechtsmissbrauch dar(42).

 Antwort auf die Frage

55.      Ich schlage daher vor, die erste Vorlagefrage dahin zu beantworten, dass Art. 170 der Richtlinie 2006/112, Art. 20 Abs. 2 der Richtlinie 2008/9 sowie die Grundsätze der Effektivität und der steuerlichen Neutralität dahin auszulegen sind, dass sie der Anwendung von nationalen Rechtsvorschriften entgegenstehen, die die Möglichkeit ausschließen, sich im Einspruchsverfahren auf Informationen oder Unterlagen zu stützen, die die erstinstanzliche Steuerbehörde angefordert, der Steuerpflichtige aber erst im Einspruchsverfahren vor der Steuerbehörde zweiter Instanz vorgelegt hat.

 Zur dritten Vorlagefrage

56.      Mit seiner dritten Vorlagefrage möchte das nationale Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 23 der Richtlinie 2008/9 dahin auszulegen ist, dass er der Anwendung einer nationalen Rechtsvorschrift entgegensteht, wonach ein Verfahren betreffend die Erstattung der Mehrwertsteuer an einen Steuerpflichtigen, der in einem anderen Mitgliedstaat ansässig ist, ohne Entscheidung über den Erstattungsantrag eingestellt wird, wenn dieser Steuerpflichtige der Aufforderung zur Vorlegung von zusätzlichen Informationen gemäß Art. 20 dieser Richtlinie durch die mit dem Antrag befasste Behörde nicht nachgekommen ist. Das vorlegende Gericht führt in der Frage zwar nur Art. 23 Abs. 1 der Richtlinie 2008/9 an, doch – wie aus den Erläuterungen im Vorabentscheidungsersuchen hervorgeht – möchte dieses Gericht wissen, ob der Bescheid über die Einstellung des Verfahrens einem Bescheid über die Ablehnung der Steuererstattung gleichzusetzen ist. Diese Frage ist in Art. 23 Abs. 2 Unterabs. 2 dieser Richtlinie geregelt. Ich schlage daher vor, Art. 23 der Richtlinie 2008/9 als Ganzes zum Gegenstand der dritten Frage zu machen.

57.      Gemäß Art. 23 Abs. 1 der Richtlinie 2008/9 muss die Entscheidung über die Ablehnung der Mehrwertsteuererstattung begründet werden. Art. 23 Abs. 2 Unterabs. 1 dieser Richtlinie bestimmt, dass dem Steuerpflichtigen gegen eine solche Entscheidung die gleichen Rechtsbehelfe zustehen müssen, wie sie nach dem nationalen Recht des Mitgliedstaats der Erstattung für inländische Steuerpflichtige vorgesehen sind. Art. 23 Abs. 2 Unterabs. 2 der Richtlinie bestimmt schließlich, dass dem Steuerpflichtigen, der in einem anderen Mitgliedstaat ansässig ist, die gleichen Verwaltungs- und Rechtsverfahren zugänglich sein müssen wie inländischen Steuerpflichtigen in der gleichen Lage, wenn das Versäumnis, eine Entscheidung über den Erstattungsantrag zu treffen, weder als Zuerkennung des Erstattungsanspruchs noch als Ablehnung der Erstattung betrachtet wird. Sieht das nationale Recht des Staats der Erstattung kein solches Verfahren vor, ist das Fehlen einer Entscheidung als Ablehnung der Erstattung anzusehen.

58.      Diese Bestimmungen sind meines Erachtens dahin auszulegen, dass im Fall einer Beendigung des Verfahrens zur Erstattung der Mehrwertsteuer ohne eine Entscheidung über den Antrag – wie dies z. B. im Ausgangsverfahren der Fall ist – im Wege einer Einstellung des Verfahrens mangels Vorlegung der angeforderten Unterlagen durch den Steuerpflichtigen innerhalb der vorgegebenen Frist dem Steuerpflichtigen wirksame verwaltungsrechtliche oder gerichtliche Rechtsbehelfe zustehen müssen, die es ihm ermöglichen, eine erneute Prüfung seines Antrags zu verlangen. Ich möchte hinzufügen, dass eine solche Entscheidung über die Einstellung oder sonstige Beendigung des Verfahrens eine Begründung enthalten muss, da ohne diese das Recht zur Einlegung eines Einspruchs nicht effektiv ausgeübt werden kann. Wenn es jedoch keine geeigneten Rechtsbehelfe gibt, ist die Einstellung des Verfahrens ohne eine Entscheidung über den Antrag als eine Ablehnung der Erstattung – mit allen sich daraus gemäß Art. 23 Abs. 1 und Art. 23 Abs. 2 Unterabs. 1 der Richtlinie 2008/9 ergebenden Folgen – anzusehen.

59.      Diese Auslegung der angeführten Bestimmungen ergibt sich aus dem besonderen Charakter des Mechanismus der Mehrwertsteuererstattung an Steuerpflichtige, die in einem anderen Mitgliedstaat ansässig sind. Im Unterschied nämlich zum Abzugsrecht, das der Steuerpflichtige selbständig zum Zeitpunkt der Entrichtung der Steuer an die Steuerbehörden ausübt, bedarf es zur Wahrnehmung des Rechts auf Erstattung der Steuer, das das Gegenstück des Abzugsrechts darstellt, an Steuerpflichtige, die in einem anderen Mitgliedstaat ansässig sind, einer aktiven Betätigung des Mitgliedstaats der Erstattung durch Erlass eines Erstattungsbescheids und Auszahlung der entsprechenden Beträge. In dieser Situation kommen die Beendigung des Verfahrens ohne eine Prüfung des Antrags und – was damit einhergeht – das Fehlen einer positiven Entscheidung praktisch einer Ablehnung der Erstattung gleich. Daher müssen dem Steuerpflichtigen wirksame Rechtsbehelfe gegen eine solche Art und Weise der Beendigung des Verfahrens zustehen.

60.      Im Kontext der vorliegenden Rechtssache ist hinzuzufügen, dass, wenn der Gerichtshof meinem Vorschlag zur Beantwortung der ersten und der zweiten Vorlagefrage zustimmen sollte, dem Steuerpflichtigen nach dem Abschluss des Verfahrens ohne Entscheidung über den Erstattungsantrag Rechtsbehelfe zustehen müssen, die es ihm u. a. ermöglichen, sich auf etwaige zusätzliche Informationen zu stützen, die er nicht innerhalb der vorgegebenen Frist auf Anforderung der mit dem Antrag befassten Behörde nach Art. 20 der Richtlinie 2008/9 vorgelegt hat. Andernfalls würde die Beendigung des Verfahrens ohne eine Entscheidung über den Antrag es dem Steuerpflichtigen unmöglich machen, seinen Fehler bei der Nichteinhaltung der Frist für die Vorlegung zusätzlicher Informationen zu beheben, wodurch diese Frist zu einer Ausschlussfrist werden würde, was der Entscheidung des Gerichtshofs im Urteil Sea Chefs Cruise Services zuwiderliefe.

61.      Ich schlage daher vor, die dritte Vorlagefrage dahin zu beantworten, dass Art. 23 der Richtlinie 2008/9 dahin auszulegen ist, dass er der Anwendung einer nationalen Rechtsvorschrift nicht entgegensteht, wonach ein Verfahren zur Erstattung der Mehrwertsteuer an einen Steuerpflichtigen, der in einem anderen Mitgliedstaat ansässig ist, ohne eine Entscheidung über den Antrag eingestellt wird, wenn der Steuerpflichtige seiner Verpflichtung zur Vorlegung von Informationen auf Anforderung der mit dem Antrag befassten Behörde nach Art. 20 dieser Richtlinie nicht nachgekommen ist; dies gilt allerdings nur unter der Bedingung, dass nach nationalen Recht wirksam Einspruch gegen die Entscheidung über die Einstellung des Verfahrens eingelegt werden kann, was dem Steuerpflichtigen erlaubt, sich im Verlauf des Einspruchsverfahrens insbesondere auf die zusätzlichen Informationen zu stützen, die er im Rahmen des eingestellten Verfahrens nicht fristgemäß vorgelegt hat. Andernfalls muss die Entscheidung über die Einstellung des Verfahrens als eine Ablehnung der Erstattung angesehen werden.

 Ergebnis

62.      Nach alledem schlage ich vor, die an den Gerichtshof gerichteten Vorlagefragen des Fővárosi Törvényszék (Hauptstädtisches Stuhlgericht, Ungarn) wie folgt zu beantworten:

1.      Art. 20 Abs. 2 der Richtlinie 2008/9/EG des Rates vom 12. Februar 2008 zur Regelung der Erstattung der Mehrwertsteuer gemäß der Richtlinie 2006/112/EG an nicht im Mitgliedstaat der Erstattung, sondern in einem anderen Mitgliedstaat ansässige Steuerpflichtige

ist dahin auszulegen, dass

die dort bestimmte Monatsfrist für die Vorlegung zusätzlicher Informationen auf Anforderung der Behörde, die mit dem Antrag auf Erstattung der Mehrwertsteuer befasst ist, den ein in einem anderen Mitgliedstaat ansässiger Steuerpflichtiger gestellt hat, nicht als eine Ausschlussfrist angesehen werden kann.

2.      Art. 170 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem in der durch die Richtlinie 2008/8/EG des Rates vom 12. Februar 2008 geänderten Fassung, Art. 20 Abs. 2 der Richtlinie 2008/9 sowie die Grundsätze der Effektivität und der steuerlichen Neutralität

sind dahin auszulegen, dass

sie der Anwendung von nationalen Rechtsvorschriften entgegenstehen, die die Möglichkeit ausschließen, sich im Einspruchsverfahren auf Informationen oder Unterlagen zu stützen, die die erstinstanzliche Steuerbehörde angefordert, der Steuerpflichtige aber erst im Einspruchsverfahren vor der Steuerbehörde zweiter Instanz vorgelegt hat.

3.      Art. 23 der Richtlinie 2008/9

ist dahin auszulegen, dass

er der Anwendung einer nationalen Rechtsvorschrift nicht entgegensteht, wonach ein Verfahren zur Erstattung der Mehrwertsteuer an einen Steuerpflichtigen, der in einem anderen Mitgliedstaat ansässig ist, ohne eine Entscheidung über den Antrag eingestellt wird, wenn der Steuerpflichtige seiner Verpflichtung zur Vorlegung von Informationen auf Anforderung der mit dem Antrag befassten Behörde nach Art. 20 dieser Richtlinie nicht nachgekommen ist; dies gilt allerdings nur unter der Bedingung, dass nach nationalen Recht wirksam Einspruch gegen die Entscheidung über die Einstellung des Verfahrens eingelegt werden kann, was dem Steuerpflichtigen erlaubt, sich im Verlauf des Einspruchsverfahrens insbesondere auf die zusätzlichen Informationen zu stützen, die er im Rahmen des eingestellten Verfahrens nicht fristgemäß vorgelegt hat. Andernfalls muss die Entscheidung über die Einstellung des Verfahrens als eine Ablehnung der Erstattung angesehen werden.


1      Originalsprache: Polnisch.


2      Vgl. insbesondere Urteile vom 21. Juni 2012, Elsacom (C-294/11, EU:C:2012:382), vom 2. Mai 2019, Sea Chefs Cruise Services (C-133/18, im Folgenden: Urteil Sea Chefs Cruise Services, EU:C:2019:354), vom 17. Dezember 2020, Bundeszentralamt für Steuern (C-346/19, EU:C:2020:1050), sowie vom 9. September 2021, GE Auto Service Leasing (C-294/20, im Folgenden: Urteil GE Auto Service Leasing, EU:C:2021:723).


3      ABl. 2006, L 347, S. 1.


4      ABl. 2008, L 44, S. 11.


5      Richtlinie des Rates vom 12. Februar 2008 zur Regelung der Erstattung der Mehrwertsteuer gemäß der Richtlinie 2006/112/EG an nicht im Mitgliedstaat der Erstattung, sondern in einem anderen Mitgliedstaat ansässige Steuerpflichtige (ABl. 2008, L 44, S. 23).


6      Magyar Közlöny 2007/155 (XI. 16.).


7      Magyar Közlöny 2017/192.


8      Magyar Közlöny 2017/30.


9      In ihren Erklärungen erläutert SES die Gründe für die Nichtbeantwortung der Aufforderung der erstinstanzlichen Steuerbehörde. Ich denke jedoch nicht, dass diese Gründe für die Beantwortung der Vorlagefragen in der vorliegenden Rechtssache relevant sind. Jedenfalls deutet nichts im Ausgangsverfahren darauf hin, dass SES versucht hat, ihr Recht auf Erstattung der Mehrwertsteuer zu missbrauchen.


10      Die Erklärungen des Rates wurden für den Fall abgegeben, dass das Vorabentscheidungsersuchen in der vorliegenden Rechtssache als ein Antrag auf Prüfung der Gültigkeit von Art. 20 Abs. 2 der Richtlinie 2008/9 im Licht von Art. 47 der Charta ausgelegt werden sollte.


11      Urteil Sea Chefs Cruise Services (Tenor).


12      Urteil Sea Chefs Cruise Services (Rn. 39 bis 41 und 43 bis 46).


13      Urteil Sea Chefs Cruise Services (Rn. 42).


14      Urteil Sea Chefs Cruise Services (Rn. 48).


15      Vgl. insbesondere Urteil Sea Chefs Cruise Services (Rn. 48).


16      Urteil GE Auto Service Leasing (Nr. 1 des Tenors).


17      Achte Richtlinie des Rates vom 6. Dezember 1979 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern – Verfahren zur Erstattung der Mehrwertsteuer an nicht im Inland ansässige Steuerpflichtige (ABl. 1979, L. 331, S. 11).


18      Diese Frist ist indes eine Ausschlussfrist, vgl. Urteil vom 21. Juni 2012, Elsacom (C-294/11, EU:C:2012:382, Tenor).


19      Urteil GE Auto Service Leasing (Rn. 54).


20      Wie der Gerichtshof selbst festgestellt hat, vgl. Urteil Sea Chefs Cruise Services (Rn. 44).


21      Wobei die einmonatige Frist zur Vorlegung von Informationen oder Unterlagen, die sich unter normalen Umständen ohnehin im Besitz des Steuerpflichtigen befinden, da sie seine eigene wirtschaftliche Tätigkeit betreffen, nicht übermäßig rigoros erscheint.


22      Vgl. in diesem Sinne das kürzlich ergangene Urteil vom 20. Mai 2021, Dickmanns/EUIPO (C-63/20 P, EU:C:2021:406, Rn. 58 und 60).


23      Vgl. in diesem Sinne Urteil Sea Chefs Cruise Services (Rn. 34 bis 36).


24      Vgl. in diesem Sinne Urteil vom 17. Dezember 2020, Bundeszentralamt für Steuern (C-346/19, EU:C:2020:1050, Rn. 47 und 48).


25      Vgl. in diesem Sinne Urteil GE Auto Service Leasing (Rn. 60).


26      Vgl. in diesem Sinne Urteil GE Auto Service Leasing (Rn. 59).


27      Urteil Sea Chefs Cruise Services (Tenor).


28      Urteil GE Auto Service Leasing.


29      Urteil vom 2. März 2023, Nec Plus Ultra Cosmetics (C-664/21, EU:C:2023:142, Tenor).


30      Im Sinne der in Nr. 39 der vorliegenden Schlussanträge angeführten Rechtsprechung.


31      Vgl. Urteil GE Auto Service Leasing (Rn. 61).


32      Urteil vom 2. März 2023, Nec Plus Ultra Cosmetics (C-664/21, EU:C:2023:142, Rn. 37).


33      Vgl. in diesem Sinne Urteil GE Auto Service Leasing (Rn. 59).


34      Vgl. Erörterung der nationalen Rechtsvorschriften in den Nrn. 8 und 9 der vorliegenden Schlussanträge.


35      Vgl. auch zweiter Erwägungsgrund dieser Richtlinie.


36      Vgl. in diesem Sinne Urteil GE Auto Service Leasing (Rn. 60).


37      Vgl. Urteil Sea Chefs Cruise Services (Rn. 39 und die dort angeführte Rechtsprechung).


38      Nämlich das Einspruchsverfahren gegen die erstinstanzliche Entscheidung.


39      Vgl. die in den Nrn. 38 und 39 der vorliegenden Schlussanträge angeführte Rechtsprechung.


40      Wie ich bereits in Nr. 24 der vorliegenden Schlussanträge ausgeführt habe.


41      Wie ich in den Nrn. 26 bis 30 der vorliegenden Schlussanträge ausgeführt habe, wird diese Auslegung durch das spätere Urteil GE Auto Service Leasing nicht außer Kraft gesetzt, das unter Zugrundelegung anderer, weniger detaillierter Bestimmungen des Unionsrechts ergangen ist.


42      Vgl. in diesem Sinne Urteil GE Auto Service Leasing (Nr. 2 des Tenors).