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Rechtssache C-427/10

Banca Antoniana Popolare Veneta SpA

gegen

Ministero dell’Economia e delle Finanze

und

Agenzia delle Entrate

(Vorabentscheidungsersuchen der Corte suprema di cassazione)

„Mehrwertsteuer – Erstattung zu Unrecht gezahlter Steuer – Nationale Regelung, nach der vor verschiedenen Gerichten Klage auf Erstattung einer Nichtschuld erhoben werden kann, wobei unterschiedliche Fristen gelten, je nachdem, ob es sich um den Empfänger oder den Erbringer von Dienstleistungen handelt – Für den Dienstleistungsempfänger bestehende Möglichkeit, vom Dienstleistungserbringer nach Ablauf der für diesen gegenüber der Finanzverwaltung geltenden Klagefrist die Erstattung der Steuer zu verlangen – Grundsatz der Effektivität“

Leitsätze des Urteils

Steuerliche Vorschriften – Harmonisierung der Rechtsvorschriften – Umsatzsteuern – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem – Erstattung zu Unrecht gezahlter Steuer

(Richtlinie 77/388 des Rates)

Der Grundsatz der Effektivität steht einer nationalen Regelung über die Rückforderung einer Nichtschuld, die eine längere Verjährungsfrist für die zivilrechtliche Klage auf Rückerstattung einer Nichtschuld, die der Dienstleistungsempfänger gegen den mehrwertsteuerpflichtigen Erbringer dieser Dienstleistungen erhebt, vorsieht als die spezifische Verjährungsfrist für die steuerrechtliche Erstattungsklage, die dieser Dienstleistungserbringer gegenüber der Finanzverwaltung erhebt, nicht entgegen, sofern dieser Steuerpflichtige die Erstattung der Steuer von der Finanzverwaltung tatsächlich verlangen kann. Diese Voraussetzung ist nicht erfüllt, wenn die Anwendung einer solchen Regelung zur Folge hat, dass dem Steuerpflichtigen das Recht, die nicht geschuldete Mehrwertsteuer, die er selbst dem Empfänger seiner Dienstleistungen erstatten musste, von der Finanzverwaltung zurückzuerhalten, vollständig genommen wird.

(vgl. Randnr. 42 und Tenor)







URTEIL DES GERICHTSHOFS (Dritte Kammer)

15. Dezember 2011(*)

„Mehrwertsteuer – Erstattung zu Unrecht gezahlter Steuer – Nationale Regelung, nach der vor verschiedenen Gerichten Klage auf Erstattung einer Nichtschuld erhoben werden kann, wobei unterschiedliche Fristen gelten, je nachdem, ob es sich um den Empfänger oder den Erbringer von Dienstleistungen handelt – Für den Dienstleistungsempfänger bestehende Möglichkeit, vom Dienstleistungserbringer nach Ablauf der für diesen gegenüber der Finanzverwaltung geltenden Klagefrist die Erstattung der Steuer zu verlangen – Grundsatz der Effektivität“

In der Rechtssache C-427/10

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht von der Corte suprema di cassazione (Italien) mit Entscheidung vom 7. Juni 2010, beim Gerichtshof eingegangen am 31. August 2010, in dem Verfahren

Banca Antoniana Popolare Veneta SpA, incorporante la Banca Nazionale dell’Agricoltura SpA,

gegen

Ministero dell’Economia e delle Finanze,

Agenzia delle Entrate

erlässt

DER GERICHTSHOF (Dritte Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten K. Lenaerts sowie der Richter E. Juhász, G. Arestis (Berichterstatter), T. von Danwitz und D. Šváby,

Generalanwalt: J. Mazák,

Kanzler: A. Impellizzeri, Verwaltungsrätin,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 16. Juni 2011,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

–        der Banca Antoniana Popolare Veneta SpA, incorporante la Banca Nazionale dell’Agricoltura SpA, vertreten durch A. Fantozzi, R. Tieghi und R. Esposito, avvocati,

–        der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von G. De Bellis, avvocato dello Stato,

–        der deutschen Regierung, vertreten durch T. Henze und C. Blaschke als Bevollmächtigte,

–        der Regierung des Vereinigten Königreichs, vertreten durch S. Hathaway als Bevollmächtigten im Beistand von P. Mantle, Barrister,

–        der Europäischen Kommission, vertreten durch D. Recchia und R. Lyal als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 15. September 2011

folgendes

Urteil

1        Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Grundsätze der Steuerneutralität, der Effektivität und der Nichtdiskriminierung in Bezug auf die Mehrwertsteuer.

2        Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Banca Antoniana Popolare Veneta SpA, incorporante la Banca Nazionale dell’Agricoltura SpA (im Folgenden: BAPV) einerseits und dem Ministero dell’Economia e delle Finanze und der Agenzia delle Entrate (im Folgenden zusammen: Steuerverwaltung) andererseits über deren Weigerung, BAPV nicht geschuldete Mehrwertsteuer zu erstatten, die auf die von BAPV erbrachte Leistungen der Einziehung von Verbandsbeiträgen erhoben wurde.

 Rechtlicher Rahmen

 Unionsrecht

3        Art. 2 der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage (ABl. L 145, S. 1) sah vor:

„Der Mehrwertsteuer unterliegen:

1.      Lieferungen von Gegenständen und Dienstleistungen, die ein Steuerpflichtiger als solcher im Inland gegen Entgelt ausführt;

…“

4        Art. 13 Teil B Buchst. d Nrn. 2 und 3 dieser Richtlinie bestimmte:

„B. Sonstige Steuerbefreiungen

Unbeschadet sonstiger Gemeinschaftsvorschriften befreien die Mitgliedstaaten unter den Bedingungen, die sie zur Gewährleistung einer korrekten und einfachen Anwendung der nachstehenden Befreiungen sowie zur Verhütung von Steuerhinterziehungen, Steuerumgehungen und etwaigen Missbräuchen festsetzen, von der Steuer:

d)      die folgenden Umsätze:

      …

2.      die Vermittlung und die Übernahme von Verbindlichkeiten, Bürgschaften und anderen Sicherheiten und Garantien sowie die Verwaltung von Kreditsicherheiten durch die Kreditgeber,

3.      die Umsätze – einschließlich der Vermittlung – im Einlagengeschäft und Kontokorrentverkehr, im Zahlungs- und Überweisungsverkehr, im Geschäft mit Forderungen, Schecks und anderen Handelspapieren, mit Ausnahme der Einbeziehung von Forderungen.“

5        In Art. 13 Teil C Abs. 1 der Richtlinie heißt es:

„C.       Optionen

Die Mitgliedstaaten können ihren Steuerpflichtigen das Recht einräumen, für eine Besteuerung zu optieren:

b)       bei den Umsätzen nach Teil B Buchstaben d) …“

6        Art. 21 („Steuerschuldner gegenüber dem Fiskus“) Abs. 1 Buchst. a der Sechsten Richtlinie 77/388 lautete:

„Die Mehrwertsteuer schuldet

1.       im inneren Anwendungsbereich

a)      der Steuerpflichtige, der einen steuerpflichtigen Umsatz bewirkt, mit Ausnahme der in Artikel 9 Absatz 2 Buchstabe e) genannten Umsätze, die von einem im Ausland ansässigen Steuerpflichtigen erbracht werden. Wird der steuerpflichtige Umsatz durch einen im Ausland ansässigen Steuerpflichtigen erbracht, so können die Mitgliedstaaten Regelungen treffen, nach denen die Steuer von einer anderen Person als dem im Ausland ansässigen Steuerpflichtigen geschuldet wird. Als solche kann unter anderem ein Vertreter oder diejenige Person bezeichnet werden, für die der steuerpflichtige Umsatz bewirkt wurde. Die Mitgliedstaaten können außerdem bestimmen, dass eine andere Person als der Steuerpflichtige die Steuer gesamtschuldnerisch zu entrichten hat“.

 Nationales Recht

7        Art. 10 Abs. 5 des Dekrets des Präsidenten der Republik Nr. 633 vom 26. Oktober 1972 zur Einführung und Regelung der Mehrwertsteuer (Supplemento ordinario zur GURI Nr. 1 vom 11. November 1972, S. 1, im Folgenden: DPR Nr. 633/72) bestimmt:

„Von der Steuer sind befreit:

5.       Umsätze in Bezug auf die Einziehung von Steuern einschließlich der Zahlung von Steuern für Rechnung der Steuerpflichtigen durch Unternehmen und Kreditinstitute nach besonderen gesetzlichen Bestimmungen“.

8        Art. 21 des Decreto legislativo Nr. 546 vom 31. Dezember 1992 mit Vorschriften über das abgabenrechtliche Verfahren in Ausübung der Befugnis der Regierung nach Art. 30 des Gesetzes Nr. 413 vom 30. Dezember 1991 (Supplemento ordinario zur GURI Nr. 8 vom 13. Januar 1993, S. 1) sieht vor:

„1.       Der Rechtsbehelf ist binnen 60 Tagen nach Zustellung des angefochtenen Rechtsakts einzulegen, andernfalls ist er unzulässig. Die Zustellung des Veranlagungsbescheids gilt auch als Bekanntgabe der Registereintragung.

2.       Der Rechtsbehelf gegen die stillschweigende Ablehnung der Erstattung nach Art. 19 Abs. 1 Buchst. g kann ab dem 90. Tag, der auf den Erstattungsantrag folgt, der innerhalb der im jeweiligen Steuergesetz festgesetzten Fristen eingereicht wurde, bis zur Verjährung des Erstattungsanspruchs eingelegt werden. Sofern nicht besondere Vorschriften etwas anderes bestimmen, kann der Erstattungsantrag binnen zwei Jahren nach erfolgter Zahlung oder Eintreten der Erstattungsvoraussetzungen gestellt werden, je nachdem, welcher Zeitpunkt der spätere ist.“

9        Art. 2033 des Zivilgesetzbuchs, der die objektive Nichtschuld regelt, lautet:

„Wer eine nichtgeschuldete Zahlung vorgenommen hat, hat das Recht, das zurückzufordern, was er bezahlt hat. Er hat außerdem Anrecht auf die Früchte und die Zinsen vom Tag der Zahlung an, wenn sich derjenige, der sie angenommen hat, in schlechtem Glauben befand, oder vom Tag der Anspruchserhebung an, wenn dieser gutgläubig gewesen ist (Art. 163 des Zivilverfahrensgesetzbuchs).“

10      Art. 2946 des Zivilgesetzbuchs regelt die ordentliche Verjährung:

„Abgesehen von den Fällen, in denen das Gesetz etwas anderes verfügt, erlöschen Ansprüche durch Verjährung nach Ablauf von zehn Jahren.“

11      Gemäß Art. 2935 des Zivilgesetzbuchs beginnt die Verjährung von jenem Tag an zu laufen, an dem das Recht geltend gemacht werden kann.

 Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

12      In den Jahren 1984 bis 1994 nahm BAPV für Rechnung dreier Verbände der Wasserbewirtschaftung – durch nationale und regionale Gesetze geregelte und mit der Ausführung öffentlicher Infrastrukturarbeiten beauftragte öffentliche Einrichtungen – die Einziehung von Verbandsbeiträgen vor, die von Verbandsmitgliedern geschuldet wurden. Die als Gegenleistung für diese Dienstleistungen erhaltenen Vergütungen unterlagen der Mehrwertsteuer, die BAPV auf die Verbände überwälzte. BAPV führte die Mehrwertsteuer nach den Gesetzesmodalitäten ordnungsgemäß an die Finanzverwaltung ab, da die Finanzverwaltung zu diesem Zeitpunkt der Ansicht war, die Tätigkeit der Einziehung von Verbandsbeiträgen falle nicht unter die in Art. 10 Abs. 5 des DPR Nr. 633/72 vorgesehene Befreiung.

13      Mit Rundschreiben vom 26. Februar 1999 teilte die Finanzverwaltung mit, dass sie ihre ursprüngliche Auslegung dieser Bestimmung ändere, und wies darauf hin, dass die Verbandsbeiträge steuerlicher Natur seien und die von den Verbänden für die Einziehung dieser Beiträge zu zahlenden Vergütungen daher als mehrwertsteuerfrei im Sinne von Art. 10 Abs. 5 des DPR Nr. 633/72 anzusehen seien.

14      Die Verbände der Wasserbewirtschaftung verlangten daher von der SIFER SpA, der Rechtsnachfolgerin von BAPV, die Erstattung der als Mehrwertsteuer auf diese Vergütungen geleisteten nicht geschuldeten Zahlungen unter dem Gesichtspunkt der objektiven Nichtschuld im Sinne von Art. 2033 des Zivilgesetzbuchs. Auf die Klage eines der Verbände vor dem Tribunale civile di Ferrara wurde BAPV zur Erstattung dieser Beträge verurteilt.

15      BAPV beantrage ihrerseits bei der Finanzverwaltung die Rückerstattung der Mehrwertsteuer in Höhe der Beträge, die von den Empfängern ihrer Dienstleistungen von ihr gefordert worden waren. Angesichts der stillschweigenden Ablehnung ihres Antrags erhob BAPV bei der Commissione tributaria provinciale di Roma drei verschiedene Klagen, denen stattgegeben wurde.

16      Die Finanzverwaltung legte jedoch gegen diese drei Entscheidungen Berufung ein, und die Commissione tributaria regionale del Lazio entschied nach Verbindung der Berufungsverfahren, dass der Erstattungsanspruch von BAPV verjährt sei, da ihr Erstattungsantrag nach Ablauf der in Art. 21 Abs. 2 des Decreto legislativo Nr. 546 vom 31. Dezember 1992 vorgesehenen besonderen Verjährungsfrist von zwei Jahren ab Zahlung der Mehrwertsteuer gestellt worden sei. In diesem Zusammenhang wies das Gericht darauf hin, dass diese Frist nicht vom Rundschreiben vom 26. Februar 1999 an habe laufen können.

17      BAPV legte gegen diese Entscheidung Kassationsbeschwerde bei der Corte suprema di cassazione ein.

18      Die Corte suprema di cassazione hat Zweifel, ob die nationale Verfahrensregelung mit den Leitprinzipien im Bereich der Mehrwertsteuer vereinbar ist, wenn sich aus dieser Regelung Fallkonstellationen wie die hier in Frage stehenden ergeben können, die auf eine grundsätzliche Versagung des Anspruchs auf Erstattung der nicht geschuldeten Mehrwertsteuer hinauslaufen. Denn BAPV, die die Mehrwertsteuer an die Finanzverwaltung abgeführt habe, sei aufgrund einer zivilgerichtlichen Entscheidung verpflichtet, diese Mehrwertsteuer der Person zu erstatten, die sie gezahlt habe, ohne eine Erstattung von Seiten der Finanzverwaltung erhalten zu können. Demnach machten die Verfahrensmodalitäten sowie die Vorschriften des materiellen Rechts über die Erstattung der nicht geschuldeten Steuer im Ergebnis die Wahrnehmung des Erstattungsanspruchs praktisch unmöglich.

19      Unter diesen Umständen hat die Corte suprema di cassazione das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

1.      Stehen die Grundsätze der Effektivität, der Nichtdiskriminierung und der Steuerneutralität im Mehrwertsteuerbereich einer nationalen Regelung oder Praxis entgegen, die den Anspruch des Erwerbers/Dienstleistungsempfängers auf Erstattung der rechtsgrundlos gezahlten Mehrwertsteuer im Gegensatz zu dem Erstattungsanspruch, den der Hauptschuldner (Veräußerer/Dienstleistungserbringer) geltend macht, rückwirkend in einen Anspruch wegen objektiver Nichtschuld nach dem allgemeinen Recht umwandelt, wobei die zeitliche Begrenzung für den Ersteren erheblich länger ist als die für den Letzteren, so dass die Klage des Ersteren, die eingereicht wird, nachdem die Frist für den Letzteren abgelaufen ist, zu einer Verurteilung des Letzteren zur Erstattung der Mehrwertsteuer führen kann, ohne dass dieser die Erstattung von der Finanzverwaltung verlangen kann, und kein übergreifendes Instrumentarium vorgesehen ist, um Konflikten oder Widersprüchen zwischen Verfahren vorzubeugen, die bei den verschiedenen Gerichten eingeleitet oder noch einzuleiten sind?

2.      Ist – abgesehen von dem vorstehend genannten Fall – eine nationale Praxis oder Rechtsprechung mit den bereits angeführten Grundsätzen vereinbar, die zulässt, dass der Veräußerer/Dienstleistungserbringer verurteilt wird, dem Erwerber/Dienstleistungsempfänger die Mehrwertsteuer zu erstatten, der Erstere aber im Vertrauen auf eine in der Verwaltungspraxis befolgte Rechtsprechung, wonach der Umsatz mehrwertsteuerpflichtig war, nicht innerhalb der geltenden Fristen vor einem anderen Gericht Klage auf Erstattung eingereicht hatte?

 Zu den Vorlagefragen

 Zur ersten Frage

20      Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die Grundsätze der Effektivität, der Steuerneutralität und der Nichtdiskriminierung einer nationalen Regelung über die Rückforderung einer Nichtschuld wie der im Ausgangsverfahren streitigen entgegensteht, die eine spezifische Verjährungsfrist für die steuerrechtliche Erstattungsklage vorsieht, die kürzer als die für die zivilrechtliche Klage auf Rückerstattung einer Nichtschuld ist, so dass ein Dienstleistungsempfänger, der in dieser Weise gegen einen Dienstleistungserbringer klagt, die nicht geschuldete Mehrwertsteuer vom Dienstleistungserbringer erstattet erhalten könnte, ohne dass diesem seinerseits die Mehrwertsteuer von der Finanzverwaltung erstattet wird.

21      Zunächst ist festzustellen, dass der Gerichtshof den Grundsatz der Steuerneutralität bei der Feststellung, ob das Unionsrecht einer nationalen Regelung über Verjährungsfristen für Anträge auf Erstattung der Mehrwertsteuer entgegensteht, grundsätzlich nicht prüft (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 19. November 1998, SFI, C-85/97, Slg. 1998, I-7447, Randnrn. 22 bis 36, vom 11. Juli 2002, Marks & Spencer, C-62/00, Slg. 2002, I-6325, Randnrn. 22 bis 47, und vom 21. Januar 2010, Alstom Power Hydro, C-472/08, Slg. 2010, I-623, Randnrn. 14 bis 22).

22      Im Urteil vom 15. März 2007, Reemtsma Cigarettenfabriken (C-35/05, Slg. 2007, I-2425, Randnr. 37), hat der Gerichtshof entschieden, dass es in Ermangelung einer Gemeinschaftsregelung über die Erstattung von zu Unrecht gezahlten Abgaben Sache der innerstaatlichen Rechtsordnung der einzelnen Mitgliedstaaten ist, die Voraussetzungen zu regeln, unter denen eine solche Erstattung verlangt werden kann; diese Voraussetzungen müssen den Grundsätzen der Gleichwertigkeit und der Effektivität entsprechen, d. h., sie dürfen nicht ungünstiger sein als bei ähnlichen Klagen, die auf Bestimmungen des innerstaatlichen Rechts gestützt sind, und sie dürfen nicht so ausgestaltet sein, dass sie die Ausübung der Rechte, die die Gemeinschaftsrechtsordnung einräumt, praktisch unmöglich machen.

23      In Randnr. 42 des Urteils Reemtsma Cigarettenfabriken hat der Gerichtshof entschieden, dass der Grundsatz der Effektivität nationalen Rechtsvorschriften, nach denen nur der Veräußerer/Dienstleistungserbringer einen Anspruch auf Erstattung von zu Unrecht als Mehrwertsteuer gezahlten Beträgen gegen die Steuerbehörden hat und der Dienstleistungsempfänger eine zivilrechtliche Klage auf Rückerstattung der Nichtschuld gegen diesen Veräußerer/Dienstleistungserbringer erheben kann, nicht entgegensteht.

24      Der Gerichtshof hat außerdem anerkannt, dass die Festsetzung angemessener Ausschlussfristen für die Rechtsverfolgung im Interesse der Rechtssicherheit, die zugleich den Abgabepflichtigen und die Behörde schützt, mit dem Gemeinschaftsrecht vereinbar ist. Solche Fristen sind nämlich nicht geeignet, die Ausübung der durch die Unionsrechtsordnung verliehenen Rechte praktisch unmöglich zu machen oder übermäßig zu erschweren (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 17. November 1998, Aprile, C-228/96, Slg. 1998, I-7141, Randnr. 19, und vom 30. Juni 2011, Meilicke u. a., C-262/09, Slg. 2011, I-0000, Randnr. 56).

25      Dies gilt auch bei einer Ausschlussfrist von zwei Jahren, da es diese Frist jedem durchschnittlich aufmerksamen Steuerpflichtigen grundsätzlich ermöglicht, die Rechte, die er aus der Unionsrechtsordnung ableitet, ordnungsgemäß geltend zu machen (vgl. in diesem Sinne Urteil Alstom Power Hydro, Randnrn. 20 und 21). Eine solche Feststellung gilt auch für eine Verjährungsfrist von zwei Jahren im Rahmen des Rechts auf Erstattung von zu Unrecht an die Finanzverwaltung gezahlter Mehrwertsteuer.

26      Der Gerichtshof hat außerdem festgestellt, dass der Grundsatz der Effektivität nicht verletzt ist, wenn für die Finanzverwaltung eine angeblich günstigere nationale Verjährungsfrist gilt als für den Einzelnen (Urteil vom 8. September 2011, Q-Beef und Bosschaert, C-89/10 und C-96/10, Slg. 2011, I-0000, Randnr. 42).

27      Folglich steht der Grundsatz der Effektivität einer besonderen Verjährungsfrist von zwei Jahren, innerhalb deren der Steuerpflichtige von der Finanzverwaltung die Erstattung der nicht geschuldeten Mehrwertsteuer verlangen kann, während die Verjährungsfrist für Klagen auf Rückerstattung einer objektiven Nichtschuld zwischen Einzelnen zehn Jahre beträgt, grundsätzlich nicht entgegen.

28      Der Gerichtshof hat jedoch bereits entschieden, dass, falls die Erstattung der Mehrwertsteuer unmöglich oder übermäßig erschwert wird, die Mitgliedstaaten zur Wahrung des Grundsatzes der Effektivität die erforderlichen Mittel vorsehen müssen, die es dem Dienstleistungsempfänger ermöglichen, die zu Unrecht in Rechnung gestellte Steuer erstattet zu bekommen (Urteil Reemtsma Cigarettenfabriken, Randnr. 42).

29      Die gleichen Erwägungen müssen auch den Ausschlag geben, wenn die Unmöglichkeit oder übermäßige Schwierigkeit, die Erstattung der nicht geschuldeten Mehrwertsteuer zu erlangen, nicht den Dienstleistungsempfänger, sondern den Dienstleistungserbringer betrifft.

30      Aus der Rechtsprechung ergibt sich außerdem, dass der Grundsatz der Effektivität verletzt wäre, wenn der Steuerpflichtige weder einen Anspruch auf Erstattung der betreffenden Abgabe während seiner Klagefrist gegenüber der Finanzverwaltung noch nach einer von seinen Kunden nach Ablauf dieser Frist gegen ihn eingelegten Klage auf Rückerstattung einer Nichtschuld ein Rückgriffsrecht gegen die Finanzverwaltung gehabt hätte, so dass die Folgen der vom Staat zu verantwortenden rechtsgrundlosen Zahlung der Mehrwertsteuer allein vom Mehrwertsteuerpflichtigen getragen würden (vgl. entsprechend Urteil Q-Beef und Bosschaert, Randnr. 43).

31      Auch ist bereits entschieden worden, dass sich eine nationale Behörde dann nicht auf den Ablauf einer angemessenen Verjährungsfrist berufen kann, wenn das Verhalten der nationalen Behörden in Verbindung mit einer Verjährungsfrist dem Betroffenen jede Möglichkeit nimmt, seine Rechte vor den nationalen Gerichten geltend zu machen (vgl. entsprechend Urteil Q-Beef und Bosschaert, Randnr. 51).

32      Im Ausgangsverfahren ist zunächst festzustellen, dass es – wie die Europäische Kommission in der mündlichen Verhandlung vorgetragen hat – für BAPV insbesondere angesichts des Standpunkts der Finanzverwaltung, der nach den Angaben des vorlegenden Gerichts durch die nationale Rechtsprechung bestätigt wurde und wonach die von BAPV erbrachten Dienstleistungen vom Anwendungsbereich der in Art. 10 Abs. 5 des DPR Nr. 633/72 vorgesehenen Befreiung ausgeschlossen waren, unmöglich oder ihr zumindest übermäßig erschwert gewesen wäre, mit einer innerhalb der Verjährungsfrist von zwei Jahren erhobenen Klage die Erstattung der in den Jahren 1984 bis 1994 gezahlten Mehrwertsteuer zu erwirken.

33      Sodann führt die vom vorlegenden Gericht und in der in Randnr. 16 des vorliegenden Urteils genannten gerichtlichen Entscheidung vorgenommene Auslegung, indem dem Rundschreiben vom 26. Februar 1999 Rückwirkung beigemessen wird, dazu, dass der Beginn des Fristenlaufs für Rückforderungsklagen auf den Zeitpunkt der Zahlung der Mehrwertsteuer zurückverlegt wird, was dem Dienstleistungserbringer angesichts der Verjährungsfrist von zwei Jahren für eine Klage auf Rückerstattung einer Nichtschuld, die ihm der Finanzverwaltung gegenüber offensteht, vollständig die Möglichkeit genommen hat, die zu Unrecht gezahlte Steuer zurückzuerhalten.

34      Schließlich ist unstreitig, dass die Verbände die Klage auf Rückerstattung der Nichtschuld nach Ablauf der besonderen Verjährungsfrist von zwei Jahren erhoben haben, über die BAPV nach der vorerwähnten gerichtlichen Auslegung ab der Zahlung der Mehrwertsteuer verfügte, um von der Finanzverwaltung Erstattung der zu Unrecht gezahlten Mehrwertsteuer zu verlangen.

35      Die Verbände haben die Klage auf Rückerstattung der Nichtschuld nämlich nach der Bekanntmachung des Rundschreibens vom 26. Februar 1999 erhoben, mit dem die Finanzverwaltung ihre Auslegung hinsichtlich der Art der im Ausgangsverfahren fraglichen Umsätze dahin geändert hat, dass sie sie seither als von der Mehrwertsteuer befreite Umsätze ansieht.

36      Daher ist festzustellen, dass BAPV in einer Situation wie der im Ausgangsverfahren streitigen selbst die Zahlung der nicht geschuldeten Mehrwertsteuer trägt, ohne dass sie von der Finanzverwaltung wirksam deren Erstattung verlangen kann, weil die besondere Verjährungsfrist von zwei Jahren abgelaufen ist, und dies selbst wenn ihr eine solche Situation nicht angelastet werden kann, sondern diese darauf zurückzuführen ist, dass die Dienstleistungsempfänger aufgrund des Rundschreibens nach Ablauf dieser Verjährungsfrist Klage auf Rückerstattung einer Nichtschuld gegen BAPV erhoben haben.

37      In den vom vorlegenden Gericht übermittelten Unterlagen deutet nämlich nichts darauf hin, dass BAPV nicht wie ein umsichtiger und besonnener Wirtschaftsteilnehmer gehandelt hätte, indem sie die Einziehung der Verbandsbeiträge gegen Zahlung eines die Mehrwertsteuer umfassenden Preises vorgenommen und die Mehrwertsteuer an die Finanzverwaltung abgeliefert hat.

38      Dazu geht aus der Vorlageentscheidung hervor, dass BAPV die Einziehung der Verbandsbeiträge, die sie vorgenommen hat, nach der zum Zeitpunkt der Fakturierung dieser Umsätze gängigen Verwaltungspraxis zu Recht der Mehrwertsteuer unterzogen und diese Steuer ordnungsgemäß an die Finanzverwaltung abgeführt hat.

39      Die italienische Regierung hat jedoch vorgetragen, dass die Frage des mehrwertsteuerrechtlichen Status dieser Umsätze seit einiger Zeit Gegenstand eines Meinungsstreits sei, so dass ein umsichtiger und besonnener Wirtschaftsteilnehmer auf die Beibehaltung der Mehrwertsteuerpflicht dieser Umsätze nicht habe vertrauen dürfen.

40      Es ist allerdings zu bemerken, dass erst mit dem Rundschreiben vom 26. Februar 1999 klar wurde, dass die Finanzverwaltung, die die mit der Anwendung des betreffenden Rechts betraute Verwaltungsbehörde ist, ausdrücklich bestätigt hat, dass die Verbandsbeiträge steuerlicher Natur seien und die von den Verbänden geschuldeten Vergütungen im Sinne von Art. 10 Abs. 5 des DPR Nr. 633/72 als von der Mehrwertsteuer befreit anzusehen seien. Demnach hat dieses Rundschreiben die Erhebung von Mehrwertsteuer auf die Einziehung dieser Beiträge rückwirkend in Frage gestellt.

41      In einer solchen Situation hat diese Verwaltung die besondere Situation der Wirtschaftsteilnehmer zu berücksichtigen und gegebenenfalls die Anwendung ihrer neuen rechtlichen Beurteilungen dieser Umsätze entsprechend anzupassen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 10. September 2009, Plantanol, C-201/08, Slg. 2009, I-8343, Randnr. 49).

42      Aus dem Vorstehenden ergibt sich daher, dass der Grundsatz der Effektivität einer nationalen Regelung über die Rückforderung einer Nichtschuld, die eine längere Verjährungsfrist für die zivilrechtliche Klage auf Rückerstattung einer Nichtschuld, die der Dienstleistungsempfänger gegen den mehrwertsteuerpflichtigen Erbringer dieser Dienstleistungen erhebt, vorsieht als die spezifische Verjährungsfrist für die steuerrechtliche Erstattungsklage, die dieser Dienstleistungserbringer gegenüber der Finanzverwaltung erhebt, nicht entgegensteht, sofern dieser Steuerpflichtige die Erstattung der Steuer von der Finanzverwaltung tatsächlich verlangen kann. Diese Voraussetzung ist nicht erfüllt, wenn die Anwendung einer solchen Regelung zur Folge hat, dass dem Steuerpflichtigen das Recht, die nicht geschuldete Mehrwertsteuer, die er selbst dem Empfänger seiner Dienstleistungen erstatten musste, von der Finanzverwaltung zurückzuerhalten, vollständig genommen wird.

 Zur zweiten Frage

43      Angesichts der Antwort auf die erste Frage ist die zweite Frage nicht zu beantworten.

 Kosten

44      Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Dritte Kammer) für Recht erkannt:

Der Grundsatz der Effektivität steht einer nationalen Regelung über die Rückforderung einer Nichtschuld, die eine längere Verjährungsfrist für die zivilrechtliche Klage auf Rückerstattung einer Nichtschuld, die der Dienstleistungsempfänger gegen den mehrwertsteuerpflichtigen Erbringer dieser Dienstleistungen erhebt, vorsieht als die spezifische Verjährungsfrist für die steuerrechtliche Erstattungsklage, die dieser Dienstleistungserbringer gegenüber der Finanzverwaltung erhebt, nicht entgegen, sofern dieser Steuerpflichtige die Erstattung der Steuer von der Finanzverwaltung tatsächlich verlangen kann. Diese Voraussetzung ist nicht erfüllt, wenn die Anwendung einer solchen Regelung zur Folge hat, dass dem Steuerpflichtigen das Recht, die nicht geschuldete Mehrwertsteuer, die er selbst dem Empfänger seiner Dienstleistungen erstatten musste, von der Finanzverwaltung zurückzuerhalten, vollständig genommen wird.

Unterschriften


* Verfahrenssprache: Italienisch.