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SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

JÁN MAZÁK

vom 15. September 2011(1)

Rechtssache C-427/10

Banca Antoniana Popolare Veneta SpA, incorporante la Banca Nazionale dell’Agricoltura SpA

gegen

Ministero dell’Economia e delle Finanze,

Agenzia delle Entrate

(Vorabentscheidungsersuchen der Corte suprema di cassazione [Italien])

„Mehrwertsteuer – Zu Unrecht in Rechnung gestellte und entrichtete Steuer – Anspruch des Dienstleistungserbringers gegen die Finanzverwaltung auf Erstattung der zu Unrecht abgeführten Mehrwertsteuer – Anspruch des Dienstleistungsempfängers gegen den Dienstleistungserbringer auf Erstattung der zu Unrecht in Rechnung gestellten Mehrwertsteuer wegen objektiver Nichtschuld – Änderung der Auslegung der nationalen Rechtsvorschrift, die eine Befreiung von der Mehrwertsteuer vorsieht – Grundsätze der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes“






 Tatsächlicher und rechtlicher Kontext des Ausgangsrechtsstreits und Vorlagefragen

1.        Der vor den italienischen Gerichten verhandelte Rechtsstreit betrifft Beträge, die von der Banca Nazionale dell’Agricoltura SpA (im Folgenden: BNA) als Mehrwertsteuer auf die Vergütungen für die Einziehung von Verbandsbeiträgen, die sie in den Jahren 1984 bis 1994 für Rechnung dreier Verbände der Wasserbewirtschaftung vornahm, an den Fiskus abgeführt wurden.

2.        Damals wurde die Einziehung von Verbandsbeiträgen nicht als „Einziehung von Steuern einschließlich der Zahlung von Steuern für Rechnung der Steuerpflichtigen“ angesehen, die gemäß Art. 10 Abs. 5 des Dekrets Nr. 633 des Präsidenten der Republik vom 26. Oktober 1972 zur Einführung und Regelung der Mehrwertsteuer(2) (im Folgenden: Präsidialdekret Nr. 633/72) von der Mehrwertsteuer befreit ist.

3.        Die Steuerverwaltung änderte jedoch mit Rundschreiben Nr. 52/E vom 26. Februar 1999 ihre ursprüngliche Auffassung zur Auslegung dieser Vorschrift des Präsidialdekrets Nr. 633/72 und vertrat die Ansicht, dass die Verbandsbeiträge steuerlicher Natur und die von den Verbänden zu zahlenden Vergütungen daher als mehrwertsteuerfrei anzusehen seien. Nach den Ausführungen der Corte suprema di cassazione (Italien) in ihrer Vorlageentscheidung entsprach das genannte Rundschreiben der geänderten Rechtsprechung zur steuerlichen Natur der Verbandsbeiträge.

4.        Nach der Änderung der Auslegung des Art. 10 Abs. 5 des Präsidialdekrets Nr. 633/72 verlangten die betroffenen Verbände von der SIFER SpA, der Rechtsnachfolgerin der BNA als Einzugsstelle für die Verbandsbeiträge, die Erstattung der Beträge, die als Mehrwertsteuer auf die Vergütungen für die Beitragseinziehung gezahlt worden waren, wegen objektiver Nichtschuld im Sinne von Art. 2033 des Codice civile (italienisches Zivilgesetzbuch).

5.        Nach italienischem Recht wird eine solche Streitigkeit, d. h. eine Auseinandersetzung zwischen einer Person, der die Mehrwertsteuer in Rechnung gestellt wurde, und einem Dienstleistungserbringer, der die Mehrwertsteuer in Rechnung gestellt hat, wegen objektiver Nichtschuld, als nicht steuerlicher Art angesehen und fällt daher in die Zuständigkeit der ordentlichen Zivilgerichte. Die Geltendmachung eines Anspruchs auf Erstattung rechtsgrundlos gezahlter Beträge unterliegt der in Art. 2946 des Codice civile vorgesehenen allgemeinen zehnjährigen Verjährungsfrist.

6.        Einer der betroffenen Verbände verklagte die SIFER SpA vor dem Zivilgericht, das die Einbeziehung der BNA wegen der ihr zustehenden Beträge zuließ. Das Gericht verurteilte die BNA zur Zahlung des als Mehrwertsteuer auf die Vergütungen für die Beitragseinziehung in Rechnung gestellten Betrags nebst Zinsen. Die BNA legte gegen diese Entscheidung ein Rechtsmittel ein.

7.        Nach Erhebung der Zivilklage beantragte die BNA bei der Steuerverwaltung die Erstattung der Mehrwertsteuer, die den von den betroffenen Verbänden geforderten Beträgen entsprach. In Anbetracht der stillschweigenden Ablehnung dieses Antrags erhob die BNA gegen die Steuerverwaltung drei verschiedene Klagen.

8.        Eine solche Streitigkeit, d. h. die Auseinandersetzung zwischen der BNA als Dienstleistungserbringer, der die Mehrwertsteuer in Rechnung stellt, und der Steuerverwaltung wegen der Erstattung der zu Unrecht entrichteten Mehrwertsteuer, fällt in die Zuständigkeit der Finanzgerichte. Nach den Ausführungen des vorlegenden Gerichts liegt die Rechtsgrundlage des Erstattungsanspruchs in Art. 21 der Bestimmungen über den Rechtsstreit in Abgabenangelegenheiten (Decreto legislativo Nr. 546/1992), der in Abs. 2 vorsieht, dass „[s]ofern nicht besondere Vorschriften etwas anderes bestimmen, … der Erstattungsantrag innerhalb von zwei Jahren nach erfolgter Zahlung oder Eintreten der Erstattungsvoraussetzungen gestellt werden [kann], je nachdem, welcher Zeitpunkt der spätere ist“.

9.        Das Finanzgericht erster Instanz hatte den Klagen der BNA zwar stattgegeben und die Steuerverwaltung zur Erstattung der streitigen Beträge verurteilt, das Finanzgericht zweiter Instanz änderte jedoch nach Verbindung der von der Finanzverwaltung eingeleiteten Berufungsverfahren die erstinstanzlichen Urteile mit der Begründung ab, dass der Erstattungsanspruch der BNA verjährt sei, da die in Art. 21 Abs. 2 des Decreto legislativo Nr. 546/1992 vorgesehene zweijährige Verjährungsfrist abgelaufen sei, und dass das Rundschreiben Nr. 52/E der Steuerverwaltung keine Quelle sein könne, die geeignet wäre, das Vorliegen der Voraussetzungen für den Erstattungsanspruch zu bestätigen.

10.      Aufgrund der vorstehend genannten tatsächlichen und rechtlichen Gesichtpunkte hat die Corte suprema di cassazione, die über die Kassationsbeschwerde der Banca Antoniana Popolare Veneta SpA (im Folgenden: BAPV), die die BNA übernommen hat, gegen die Entscheidung des Finanzgerichts zweiter Instanz zu entscheiden hat, beschlossen, dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.      Stehen die Grundsätze der Effektivität, der Nichtdiskriminierung und der Steuerneutralität im Mehrwertsteuerbereich einer nationalen Regelung oder Praxis entgegen, die den Anspruch des Erwerbers/Dienstleistungsempfängers auf Erstattung der rechtsgrundlos gezahlten Mehrwertsteuer im Gegensatz zu dem Erstattungsanspruch, den der Hauptschuldner (Veräußerer/Dienstleistungserbringer) geltend macht, rückwirkend in einen Anspruch wegen objektiver Nichtschuld nach dem allgemeinen Recht umwandelt, wobei die zeitliche Begrenzung für den Ersteren erheblich länger ist als die für den Letzteren, so dass die Klage des Ersteren, die eingereicht wird, nachdem die Frist für den Letzteren abgelaufen ist, zu einer Verurteilung des Letzteren zur Erstattung der Mehrwertsteuer führen kann, ohne dass dieser die Erstattung von der Steuerverwaltung verlangen kann, und kein übergreifendes Instrumentarium vorgesehen ist, um Konflikten oder Widersprüchen zwischen Verfahren vorzubeugen, die bei den verschiedenen Gerichten eingeleitet oder noch einzuleiten sind?

2.      Ist – abgesehen von dem vorstehend genannten Fall – eine nationale Praxis oder Rechtsprechung mit den bereits angeführten Grundsätzen vereinbar, die zulässt, dass der Veräußerer/Dienstleistungserbringer verurteilt wird, dem Erwerber/Dienstleistungsempfänger die Mehrwertsteuer zu erstatten, der Erstere aber im Vertrauen auf eine in der Verwaltungspraxis befolgte Rechtsprechung, wonach der Umsatz mehrwertsteuerpflichtig war, nicht innerhalb der geltenden Fristen vor einem anderen Gericht Klage auf Erstattung eingereicht hatte?

 Beurteilung

 Zur ersten Vorlagefrage

11.      Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob eine nationale Regelung, die hinsichtlich der zu Unrecht an den Fiskus abgeführten Mehrwertsteuer erstens dem Dienstleistungserbringer als Mehrwertsteuerpflichtigem auf der einen und dem Dienstleistungsempfänger als der Person, der die Mehrwertsteuer in Rechnung gestellt wurde, auf der anderen Seite unterschiedliche Rechte einräumt (nämlich dem Dienstleistungserbringer einen Anspruch auf Erstattung der zu Unrecht abgeführten Mehrwertsteuer gegen den Fiskus, wobei die Klage innerhalb von zwei Jahren nach erfolgter Zahlung oder Eintreten der Erstattungsvoraussetzungen eingereicht werden muss, und dem Dienstleistungsempfänger einen Anspruch auf Erstattung der rechtsgrundlos gezahlten Beträge gegen den Dienstleistungserbringer, mit einer Verjährungsfrist von zehn Jahren) und die zweitens für mögliche Streitigkeiten hierüber die Zuständigkeit unterschiedlicher Gerichte begründet (nämlich das Finanzgericht im Fall einer Streitigkeit zwischen dem Dienstleistungserbringer und der Steuerverwaltung und das Zivilgericht im Fall einer Streitigkeit zwischen dem Dienstleistungsempfänger und dem Dienstleistungserbringer), mit den Grundsätzen der Neutralität der Mehrwertsteuer, der Effektivität und der Nichtdiskriminierung vereinbar ist.

12.      Zunächst ist festzustellen, dass die Corte suprema di cassazione nach den Ausführungen in ihrer Vorlageentscheidung nicht in Frage stellt, dass die betreffenden Steuern zu Unrecht in Rechnung gestellt und an den Fiskus abgeführt wurden. Insoweit besteht also Einigkeit zwischen diesem Gericht und den ordentlichen italienischen Zivilgerichten, die über die Klage der betroffenen Verbände gegen die BNA auf Erstattung der nicht geschuldeten Beträge entschieden haben. Die in den Vorlagefragen aufgeworfene Problematik betrifft den sich hieraus ergebenden Anspruch, nämlich den Anspruch auf Erstattung der rechtsgrundlos erhobenen Mehrwertsteuer, und zwar konkret das Verfahren und die Voraussetzungen für dessen Geltendmachung.

13.      Meines Erachtens lässt sich der Rechtsprechung entnehmen, dass das Unionsrecht den Mitgliedstaaten generell vorschreibt, die Erstattung rechtsgrundlos erhobener Mehrwertsteuer und den Einzelnen die Ausübung der damit verbundenen Rechte zu ermöglichen. Der Gerichtshof ist in der Rechtssache, in der das Urteil Schmeink & Cofreth und Strobel ergangen ist, von dieser Annahme ausgegangen, als er über die Zulässigkeit der Vorlagefragen entschieden hat(3).

14.      Die Sechste Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage(4) enthält jedoch keine Regelung in Bezug auf die Erstattung zu Unrecht in Rechnung gestellter und danach an den Fiskus abgeführter Mehrwertsteuer.

15.      In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof wiederholt festgestellt hat, dass diese Frage, da es keine Gemeinschaftsregelung über die Erstattung rechtsgrundlos erhobener nationaler Steuern gibt, in den einzelnen Mitgliedstaaten unterschiedlich geregelt ist. Die Bestimmung der zuständigen Gerichte und der Verfahrensmodalitäten der Klagen, die den Schutz der dem Einzelnen aus dem Gemeinschaftsrecht erwachsenden Rechte gewährleisten sollen, ist in einem solchen Fall Aufgabe des innerstaatlichen Rechts der einzelnen Mitgliedstaaten, sofern diese Modalitäten nicht weniger günstig gestaltet sind als die entsprechender innerstaatlicher Klagen (Äquivalenzgrundsatz) und die Ausübung der durch die Gemeinschaftsrechtsordnung verliehenen Rechte nicht praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren (Effektivitätsgrundsatz)(5).

16.      Dem ist noch hinzuzufügen, dass sich dieselbe Verpflichtung der Mitgliedstaaten nach den mit dem Vertrag von Lissabon eingeführten Änderungen unmittelbar aus dem Vertrag über die Europäische Union ergibt. Gemäß Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 2 EUV schaffen die Mitgliedstaaten die erforderlichen Rechtsbehelfe, damit ein wirksamer Rechtsschutz in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen gewährleistet ist.

17.      Was das italienische System zur Erstattung rechtsgrundlos erhobener Mehrwertsteuer anbelangt, ist es nicht das erste Mal, dass dieses System und die damit verbundenen drei Aspekte Gegenstand dem Gerichtshof von italienischen Gerichten zur Vorabentscheidung vorgelegter Fragen sind.

18.      Zunächst hat der Gerichtshof in der Rechtssache, in der das Urteil Reemtsma Cigarettenfabriken(6) ergangen ist, das italienische System im Licht der Grundsätze der Neutralität, der Effektivität und der Nichtdiskriminierung im Hinblick darauf geprüft, dass dieses System für den Dienstleistungserbringer und den Dienstleistungsempfänger unterschiedliche Wege vorsieht, die Erstattung zu Unrecht in Rechnung gestellter und abgeführter Mehrwertsteuer zu erwirken. Der Gerichtshof hat letztlich festgestellt, dass diese Grundsätze nationalen Rechtsvorschriften, nach denen nur der Dienstleistungserbringer einen Anspruch auf Erstattung von zu Unrecht als Mehrwertsteuer gezahlten Beträgen gegen die Steuerbehörden hat und der Dienstleistungsempfänger eine zivilrechtliche Klage auf Rückzahlung der nicht geschuldeten Leistung gegen diesen Dienstleistungserbringer erheben kann, nicht entgegenstehen(7).

19.      Zweitens hat der Gerichtshof in der Rechtssache, in der das Urteil Edis(8) ergangen ist, den weiteren Aspekt des italienischen Systems für die Erstattung rechtsgrundlos erhobener Mehrwertsteuer untersucht, nämlich die unterschiedlichen Ausschluss- oder Verjährungsfristen im Fall eines Antrags auf Erstattung der zu Unrecht entrichteten Mehrwertsteuer gegenüber der Steuerverwaltung auf der einen und einer Klage gegen Private auf Erstattung rechtsgrundlos gezahlter Beträge auf der anderen Seite. Der Gerichtshof hat für Recht erkannt, dass das Gemeinschaftsrecht Vorschriften eines Mitgliedstaats nicht entgegensteht, die neben einer allgemeinen Verjährungsfrist, die für Klagen gegen Private auf Erstattung rechtsgrundlos gezahlter Beträge gilt, bei Steuern und sonstigen Abgaben besondere – weniger günstige – Beschwerde- und Klagemodalitäten vorsehen(9).

20.      Was drittens die Dauer der Ausschlussfrist für den an die Steuerverwaltung gerichteten Antrag auf Erstattung zu Unrecht entrichteter Mehrwertsteuer anbelangt, ergibt sich aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs, dass es sich um eine angemessene Frist handeln muss, die zugleich den Steuerpflichtigen und die Steuerverwaltung schützt. Eine solche Frist ist nämlich nicht geeignet, die Ausübung der durch die Gemeinschaftsrechtsordnung verliehenen Rechte praktisch unmöglich zu machen oder übermäßig zu erschweren(10). Die Möglichkeit, einen Antrag auf Erstattung zu Unrecht entrichteter Mehrwertsteuer ohne jede zeitliche Beschränkung auszuüben, liefe dem Grundsatz der Rechtssicherheit zuwider, der verlangt, dass die steuerliche Lage des Steuerpflichtigen in Anbetracht seiner Rechte und Pflichten gegenüber der Finanzverwaltung nicht unbegrenzt offenbleiben kann(11).

21.      Die Beurteilung der Angemessenheit der Frist nimmt der Gerichtshof im Einzelfall vor. Hinsichtlich der Ausschlussfrist von zwei Jahren hat der Gerichtshof die Auffassung vertreten, dass eine solche Frist in Bezug auf das Recht auf Abzug der Mehrwertsteuer angemessen sei(12). Meines Erachtens kann dieses Ergebnis auf den Anspruch auf Erstattung zu Unrecht entrichteter Mehrwertsteuer entsprechend angewandt werden.

22.      Stützt man sich auf die genannte Rechtsprechung, scheint das italienische System der Erstattung rechtsgrundlos erhobener Mehrwertsteuer, das hier Gegenstand der Vorlagefragen ist, als solches im Allgemeinen mit den Grundsätzen der Effektivität, der Nichtdiskriminierung und der Steuerneutralität vereinbar zu sein.

23.      Im vorliegenden Fall wurde die Ausgewogenheit des italienischen Systems jedoch von der Steuerverwaltung beeinträchtigt, die durch ein Rundschreiben, das die Befreiung von der Mehrwertsteuer im Fall der Einziehung von Steuern vorsah, die Auslegung von Art. 10 Abs. 5 des Präsidialdekrets Nr. 633/72 geändert hat. Laut Rundschreiben waren die Verbandsbeiträge steuerlicher Natur und folglich die für deren Einziehung gezahlten Vergütungen als mehrwertsteuerbefreit anzusehen.

24.      Da die oben genannte Änderung der Auslegung nach Ablauf der für den Steuerpflichtigen, hier die BNA, geltenden Ausschlussfrist erfolgte, konnte diese als Steuerpflichtiger nicht mehr von der Steuerverwaltung die Erstattung des Betrags verlangen, der der auf die Vergütungen für die Einziehung von Verbandsbeiträgen in Rechnung gestellten und dann an den Fiskus abgeführten Mehrwertsteuer entsprach, während die Verbände als Empfänger einer Dienstleistung, die in der Einziehung der Verbandsbeiträge bestand, noch immer von der BNA die Erstattung der entsprechenden Beträge wegen objektiver Nichtschuld verlangen konnten.

25.      Folglich wäre die BNA mit der Mehrwertsteuer belastet, obwohl die Mehrwertsteuer als Verbrauchsteuer im Allgemeinen vom Endverbraucher, hier den Verbänden, zu tragen wäre.

26.      Im vorliegenden Fall hat die BNA diese Konstellation nicht verursacht. Wie die Corte suprema di cassazione in ihrer Vorlageentscheidung ausführt, folgte die BNA lediglich einer zum Zeitpunkt der Inrechnungstellung der Mehrwertsteuer bestehenden Praxis der Verwaltung und Gerichte, die in der Erwägung, dass die Verbandsbeiträge nicht steuerlicher Natur seien, den Schluss zuließ, dass Mehrwertsteuer zu entrichten sei.

27.      Es deutet nämlich nichts darauf hin, dass sich die BNA nicht wie ein ausreichend umsichtiger und besonnener Steuerpflichtiger verhalten hat. Folglich ist der fruchtlose Ablauf der zweijährigen Frist nach erfolgter Zahlung der Mehrwertsteuer, die der BNA für einen Antrag auf Erstattung der nicht geschuldeten Beträge gesetzt war, nicht dieser, sondern vielmehr der Finanzverwaltung anzulasten.

28.      Meiner Ansicht nach ist in einem solchen Fall zu prüfen, ob die oben dargestellten Auswirkungen der Änderung der Auslegung des Art. 10 Abs. 5 des Präsidialdekrets Nr. 633/72 auf die Rechtsstellung der BAPV, die die BNA übernommen hat, nicht den Grundsätzen der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes widersprechen, die nach ständiger Rechtsprechung Teil der Gemeinschaftsrechtsordnung sind und deshalb von den Gemeinschaftsorganen, aber auch von den Mitgliedstaaten bei der Ausübung der Befugnisse, die ihnen die Gemeinschaftsrichtlinien einräumen, beachtet werden müssen(13).

29.      Es obliegt aber nicht dem Gerichtshof, zu prüfen, ob eine nationale Regelung sowie deren Auslegung und Anwendung den Grundsätzen der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes entsprechen. Dies ist allein Sache des vorlegenden Gerichts. Der Gerichtshof ist darauf beschränkt, wenn er im Rahmen eines Vorabentscheidungsersuchens nach Art. 267 AEUV entscheidet, dem vorlegenden Gericht alle gemeinschaftsrechtlichen Auslegungshinweise zu geben, die es diesem ermöglichen, die Frage der Vereinbarkeit zu beurteilen(14).

30.      In diesem Zusammenhang ist daran zu erinnern, dass der Grundsatz der Rechtssicherheit gebietet, dass Rechtsvorschriften klar und bestimmt sind und ihre Anwendung für den Einzelnen voraussehbar ist. Dieses Gebot gilt in besonderem Maß, wenn es sich um eine Regelung handelt, die sich finanziell belastend auswirken kann, denn die Betroffenen müssen in der Lage sein, den Umfang der ihnen damit auferlegten Verpflichtungen genau zu erkennen(15).

31.      Ich bin der Ansicht, dass die Zweifel im vorliegenden Fall nicht die Klarheit und Bestimmtheit des Art. 10 Abs. 5 des Präsidialdekrets Nr. 633/72, wonach die Einziehung von Steuern mehrwertsteuerbefreit ist, sondern die Vorhersehbarkeit seiner Anwendung betreffen. Ich gehe von der Prämisse aus, dass die Anwendung des Rechts mit seiner Auslegung, die hier von der Steuerverwaltung geändert wurde, untrennbar verbunden ist.

32.      Für die Beurteilung der Vorhersehbarkeit der Auslegung und der Anwendung des Art. 10 Abs. 5 des Präsidialdekrets Nr. 633/72 müsste das vorlegende Gericht nicht nur berücksichtigen, dass die Steuerverwaltung ihre Auffassung zur Besteuerung der für die Einziehung von Verbandsbeiträgen gezahlten Vergütungen geändert hat, sondern auch, dass die italienischen Gerichte im Begriff waren, ihre Haltung zu dieser Frage zu ändern.

33.      Was den Grundsatz des Vertrauensschutzes betrifft, könnte das Urteil Elmeka(16) für das vorlegende Gericht hilfreich sein, auch wenn es das berechtigte Vertrauen der Steuerpflichtigen in Bezug auf die Handlungen der Verwaltungsbehörden zum Gegenstand hat. Meiner Ansicht nach lassen sich die Schlussfolgerungen aus diesem Urteil generell auf jedes Verhalten der Verwaltungsbehörden übertragen.

34.      Das vorlegende Gericht müsste daher zunächst feststellen, ob das Verhalten der Steuerverwaltung in der Vorstellung eines umsichtigen und besonnenen Wirtschaftsteilnehmers vernünftige Erwartungen begründet hat, und anschließend, sofern die Antwort auf diese Frage positiv ausfällt, ob diese Erwartungen berechtigt sind(17).

35.      In der mündlichen Verhandlung hat der Vertreter der italienischen Regierung hierzu vorgetragen, dass die Frage der Befreiung der Einziehung von Verbandsbeiträgen von der Mehrwertsteuer bereits seit einiger Zeit diskutiert worden sei, so dass nicht davon auszugehen gewesen sei, dass die Handlungen der Verwaltungsbehörden bei einem verständigen und informierten Wirtschaftsteilnehmer begründete Erwartungen geweckt hätten.

36.      Meines Erachtens sollte diesem Vorbringen als solches bei der vom vorlegenden Gericht vorgenommenen Beurteilung keine ausschlaggebende Rolle zukommen. Berücksichtigt werden muss erstens auch die Dauer des Zeitraums, während dessen die ursprüngliche Praxis der Verwaltung und der Gerichte galt, wonach die Einziehung von Verbandsbeiträgen steuerpflichtig war, und zweitens der Zeitpunkt, bezogen auf den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens, zu dem die Auseinandersetzungen über die Natur der Verbandsbeiträge begonnen haben.

37.      Schließlich möchte ich hinzufügen, dass das vorlegende Gericht im Rahmen seiner Beurteilung auch das Eigentumsrecht berücksichtigen muss, das durch Art. 1 des Zusatzprotokolls Nr. 1 zu der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten garantiert und auch in Art. 17 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union verankert ist und nach ständiger Rechtsprechung zu den allgemeinen Grundsätzen des Unionsrechts gehört. Nach dieser Rechtsprechung gilt dieser Grundsatz nicht uneingeschränkt, sondern muss im Hinblick auf seine gesellschaftliche Funktion gesehen werden. Folglich kann die Ausübung des Eigentumsrechts Beschränkungen unterworfen werden, sofern diese tatsächlich dem Gemeinwohl dienenden Zielen der Europäischen Union entsprechen und nicht einen im Hinblick auf den verfolgten Zweck unverhältnismäßigen und nicht tragbaren Eingriff darstellen, der das so gewährleistete Recht in seinem Wesensgehalt antasten würde(18).

38.      Im vorliegenden Fall muss das vorlegende Gericht prüfen, ob das italienische System, insbesondere die darin vorgesehenen unterschiedlichen Ausschluss- oder Verjährungsfristen für die BAPV auf der einen und die Verbände auf der anderen Seite, hinsichtlich der Ausübung ihrer Rechte im Zusammenhang mit der zu Unrecht in Rechnung gestellten und danach an den Fiskus abgeführten Mehrwertsteuer wegen des Verhaltens der Steuerverwaltung, das in der Änderung der Auslegung bestand, einen Verstoß gegen das Eigentumsrecht der BAPV darstellt.

39.      Wäre dies der Fall, müsste das vorlegende Gericht beurteilen, ob die sich aus der Rechtsprechung ergebenden und vorstehend in Nr. 37 genannten Voraussetzungen erfüllt sind.

40.      Daher sollte der Gerichtshof meines Erachtens die erste Frage dahin gehend beantworten, dass die Grundsätze der Neutralität, der Effektivität und der Nichtdiskriminierung einer nationalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren streitigen nicht entgegenstehen, die hinsichtlich zu Unrecht an den Fiskus abgeführter Mehrwertsteuer erstens dem Dienstleistungserbringer als Mehrwertsteuerpflichtigem auf der einen und dem Dienstleistungsempfänger als der Person, der die Mehrwertsteuer in Rechnung gestellt wurde, auf der anderen Seite unterschiedliche Rechte einräumt, die einer unterschiedlichen Ausschluss- oder möglicherweise Verjährungsfrist unterliegen, und die zweitens für mögliche Streitigkeiten hierüber die Zuständigkeit unterschiedlicher Gerichte begründet, sofern diese Regelung im Einklang mit den Grundsätzen der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes sowie unter Beachtung des Eigentumsrechts angewandt wird.

 Zur zweiten Vorlagefrage

41.      Mit ihrer zweiten Frage möchte die Corte suprema di cassazione wissen, ob die Grundsätze der Effektivität, der Nichtdiskriminierung und der Steuerneutralität im Mehrwertsteuerbereich mit einer nationalen Praxis oder Rechtsprechung vereinbar sind, die zulässt, dass der Dienstleistungserbringer verurteilt wird, dem Dienstleistungsempfänger die Mehrwertsteuer zu erstatten, der Dienstleistungserbringer aber im Vertrauen auf eine in der Verwaltungspraxis befolgte Rechtsprechung, wonach der Umsatz mehrwertsteuerpflichtig war, nicht innerhalb der geltenden Fristen vor einem anderen Gericht Klage auf Erstattung eingereicht hatte.

42.      In der mündlichen Verhandlung hat der Vertreter der italienischen Regierung beantragt, die zweite Frage für unzulässig zu erklären, da die Frage der Erstattung der von der BNA oder möglicherweise von der BAPV, die die BNA übernommen hat, zu Unrecht in Rechnung gestellten Mehrwertsteuer nicht Gegenstand des Ausgangsverfahrens sei.

43.      Nach ständiger Rechtsprechung haben nur die nationalen Gerichte, die mit dem Rechtsstreit befasst sind und in deren Verantwortungsbereich die zu erlassende Entscheidung fällt, im Hinblick auf die Besonderheiten der jeweiligen Rechtssache sowohl die Erforderlichkeit einer Vorabentscheidung für den Erlass ihres Urteils als auch die Erheblichkeit der dem Gerichtshof vorzulegenden Fragen zu beurteilen. Das Ersuchen eines nationalen Gerichts kann nur zurückgewiesen werden, wenn die erbetene Auslegung des Gemeinschaftsrechts offensichtlich in keinem Zusammenhang mit der Realität oder dem Gegenstand des Ausgangsverfahrens steht(19).

44.      Meines Erachtens ist in der vorliegenden Rechtssache genau dieser Fall gegeben. Es ist festzustellen, dass der Ausgangsrechtsstreit, in dessen Rahmen die Vorlagefragen gestellt wurden, nur die Erstattung der zu Unrecht an den Fiskus abgeführten Mehrwertsteuer durch die Finanzverwaltung betrifft, da die Frage der Erstattung der zu Unrecht in Rechnung gestellten Mehrwertsteuer durch die BAPV, die die BNA übernommen hat, von einem anderen italienischen Gericht entschieden wurde.

45.      Da die Antwort des Gerichtshofs für die Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits nicht nützlich sein kann, bin ich der Ansicht, dass der Gerichtshof die zweite Vorlagefrage der Corte suprema di cassazione für unzulässig erklären sollte.

46.      Sollte der Gerichtshof meine Auffassung nicht teilen und die zweite Frage für zulässig erklären, stellt die von mir dem Gerichtshof vorgeschlagene Antwort auf die erste Frage meines Erachtens gleichzeitig die Antwort auf die zweite Frage dar, da diese ebenfalls die Beurteilung des italienischen Systems der Erstattung rechtsgrundlos erhobener Mehrwertsteuer betrifft.

 Ergebnis

47.      Angesichts der vorstehenden Erwägungen schlage ich dem Gerichtshof vor, die zweite Vorlagefrage der Corte suprema di cassazione für unzulässig zu erklären und die erste Vorlagefrage dieses Gerichts wie folgt zu beantworten:

Die Grundsätze der Neutralität, der Effektivität und der Nichtdiskriminierung stehen einer nationalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren streitigen nicht entgegen, die hinsichtlich zu Unrecht an den Fiskus abgeführter Mehrwertsteuer erstens dem Dienstleistungserbringer als Mehrwertsteuerpflichtigem auf der einen und dem Dienstleistungsempfänger als der Person, die die Mehrwertsteuer zu tragen hat, auf der anderen Seite unterschiedliche Rechte einräumt, die einer unterschiedlichen Ausschluss- oder möglicherweise Verjährungsfrist unterliegen, und die zweitens für mögliche Streitigkeiten hierüber die Zuständigkeit unterschiedlicher Gerichte begründet, sofern diese Regelung im Einklang mit den Grundsätzen der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes sowie unter Beachtung des Eigentumsrechts angewandt wird.


1 – Originalsprache: Französisch.


2 – Supplemento ordinario zur GURI Nr. 292 vom 11. November 1972.


3 – Urteil vom 19. September 2000 (C-454/98, Slg. 2000, I-6973, Randnrn. 39 und 49).


4 – ABl. L 145, S. 1.


5 – Vgl. in diesem Sinne Urteile vom 15. September 1998, Edis (C-231/96, Slg. 1998, I-4951, Randnrn. 33 und 34), vom 11. Juli 2002, Marks & Spencer (C-62/00, Slg. 2002, I-6325, Randnr. 34), und vom 21. Januar 2010, Alstom Power Hydro (C-472/08, Slg. 2010, I-623, Randnr. 17).


6 – Urteil vom 15. März 2007 (C-35/05, Slg. 2007, I-2425).


7 – Urteil Reemtsma Cigarettenfabriken (in Fn. 6 angeführt, Randnr. 42).


8 – In Fn. 5 angeführt.


9 – Urteil Edis (in Fn. 5 angeführt, Randnr. 37). Dieselbe Feststellung ist z. B. auch im Urteil vom 9. Februar 1999, Dilexport (C-343/96, Slg. 1999, I-579, Randnr. 28), enthalten.


10 – Vgl. in diesem Sinne Urteile vom 16. Dezember 1976, Rewe-Zentralfinanz und Rewe-Zentral (33/76, Slg. 1976, 1989, Randnr. 5), Edis (in Fn. 5 angeführt, Randnr. 35) und vom 30. Juni 2011, Meilicke u. a. (C-262/09, Slg. 2011, I-0000, Randnr. 56).


11 – Vgl. entsprechend Urteil vom 8. Mai 2008, Ecotrade (C-95/07 und C-96/07, Slg. 2008, I-3457, Randnr. 44), und Urteil Alstom Power Hydro (in Fn. 5 angeführt, Randnr. 16).


12 – Vgl. Urteile Ecotrade (in Fn. 11 angeführt, Randnr. 48) und Alstom Power Hydro (in Fn. 5 angeführt, Randnr. 20).


13 – Vgl. in diesem Sinne Urteile vom 14. September 2006, Elmeka (C-181/04 bis C-183/04, Slg. 2006, I-8167, Randnr. 31), und vom 10. September 2009, Plantanol (C-201/08, Slg. 2009, I-8343, Randnr. 43 und die dort angeführte Rechtsprechung).


14 – Vgl. in diesem Sinne Urteil Plantanol (in Fn. 13 angeführt, Randnr. 45 und die dort angeführte Rechtsprechung).


15 – Vgl. in diesem Sinne Urteile Plantanol (in Fn. 13 angeführt, Randnr. 46 und die dort angeführte Rechtsprechung) und vom 2. Dezember 2009, Aventis Pasteur (C-358/08, Slg. 2009, I-11305, Randnr. 47).


16 – In Fn. 13 angeführt.


17 – Vgl. in diesem Sinne Urteil Elmeka (in Fn. 13 angeführt, Randnr. 32 und die dort angeführte Rechtsprechung).


18 – Vgl. in diesem Sinne Urteil vom 3. September 2008, Kadi und Al Barakaat International Foundation/Rat und Kommission (C-402/05 P und C-415/05 P, Slg. 2008, I-6351, Randnr. 355 und die dort angeführte Rechtsprechung).


19 – Vgl. in diesem Sinne u. a. Urteile vom 17. Mai 1994, Corsica Ferries (C-18/93, Slg. 1994, I-1783, Randnr. 14), vom 18. Juni 1998, Corsica Ferries France (C-266/96, Slg. 1998, I-3949, Randnr. 27), und vom 10. März 2009, Heinrich (C-345/06, Slg. 2009, I-1659, Randnrn. 36 und 37).