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SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

JÁN MAZÁK

vom 26. Juni 2012 ( 1 )

Rechtssache C-137/11

Partena ASBL

gegen

Les Tartes de Chaumont-Gistoux SA

(Vorabentscheidungsersuchen der Cour du travail de Bruxelles [Belgien])

„Soziale Sicherheit — Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 — Art. 13 und 14c — Mitgliedstaat, in dem eine Tätigkeit ausgeübt wird — Diskriminierungsverbot — Freizügigkeit — Niederlassungsrecht“

I – Einführung

1.

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Art. 13 und 14c der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern ( 2 ), in der durch die Verordnung (EG) Nr. 1606/98 des Rates vom 29. Juni 1998 ( 3 ) und Art. 21 AEUV geänderten Fassung.

2.

Die Vorlage erfolgt im Rahmen eines Klageverfahrens, das die Partena ASBL (im Folgenden: Partena), die Sozialversicherungsstelle für Selbständige in Belgien, gegen die Les Tartes de Chaumont Gistoux SA (im Folgenden: Gesellschaft) angestrengt hat und in dem sie die Zahlung der Sozialbeiträge geltend macht, die Herr Rombouts, ein Mandatsträger der Gesellschaft, für den Zeitraum vom ersten Quartal 1999 bis zum vierten Quartal 2007 schulde.

3.

Das vorlegende Gericht möchte klären, ob die Führung einer dem Steuerrecht eines Mitgliedstaats unterstellten Gesellschaft aus dem Ausland unter dem Gesichtspunkt der Sozialbeitragspflicht als Ausübung einer Tätigkeit in diesem Mitgliedstaat angesehen werden kann. Außerdem fragt das vorlegende Gericht, ob Art. 21 AEUV einer unwiderleglichen gesetzlichen Vermutung entgegensteht, wonach ein Mandatsträger einer Gesellschaft, der aus dem Ausland eine Gesellschaft führt, die in einem Mitgliedstaat der Steuer unterliegt, dem von diesem Mitgliedstaat für Selbständige eingerichteten System der sozialen Sicherheit untersteht.

II – Rechtlicher Rahmen

A – Unionsrecht

4.

Meines Erachtens sind im vorliegenden Fall die Art. 45 AEUV und 49 AEUV einschlägig. Die Art. 13 und 14 der Verordnung Nr. 1408/71, die zum Titel II („Bestimmung der anzuwendenden Rechtsvorschriften“) gehören, sind ebenfalls anwendbar.

B – Nationales Recht

5.

Im belgischen Recht tritt die Unterstellung unter das Sozialstatut der Selbständigen gemäß dem Königlichen Erlass Nr. 38 vom 27. Juli 1967 zur Einführung des Sozialstatuts der Selbständigen ( 4 ) ein, der insbesondere durch den Königlichen Erlass vom 18. November 1996 zur Festlegung finanzieller und sonstiger Bestimmungen bezüglich des Sozialstatuts der Selbständigen, in Anwendung von Titel VI des Gesetzes vom 26. Juli 1996 zur Modernisierung der sozialen Sicherheit und zur Sicherung der gesetzlichen Pensionsregelungen und von Art. 3 des Gesetzes vom 26. Juli 1996 zur Erfüllung der Haushaltskriterien für die Teilnahme Belgiens an der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion ( 5 ), abgeändert wurde.

6.

Nach seinem Art. 3 Abs. 1 gilt für den Königlichen Erlass Nr. 38 für die Anwendung des Sozialstatuts „als Selbständiger jede natürliche Person, die in Belgien eine Berufstätigkeit ausübt, für die sie nicht durch einen Arbeitsvertrag oder durch ein Statut gebunden ist“.

7.

Mit Königlichem Erlass vom 18. November 1996 wurde Art. 3 Abs. 1 des Königlichen Erlasses Nr. 38 ein Unterabs. 4 hinzugefügt, der wie folgt lautet:

„… [B]ei den Personen, die zum Mandatsträger in einer der belgischen Körperschaftsteuer beziehungsweise der Steuer der Gebietsfremden unterliegenden Gesellschaft oder Vereinigung ernannt wurden, [wird] auf unwiderlegbare Weise davon ausgegangen, dass sie in Belgien eine selbständige Berufstätigkeit ausüben.“

8.

Mit Urteil 176/2004 vom 3. November 2004 erklärte der Verfassungsgerichtshof ( 6 ) Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 4 des Königlichen Erlasses Nr. 38 für verfassungswidrig, soweit er Mandatsträger von der belgischen Körperschaftsteuer bzw. der belgischen Steuer der Gebietsfremden unterliegenden Gesellschaften betreffe, die die jeweilige Gesellschaft nicht aus dem Ausland führten. Die hinsichtlich solcher Personen geltende unwiderlegbare Vermutung sei unverhältnismäßig, da sie einen Mandatsträger, der gegebenenfalls seine Tätigkeit eingestellt habe, daran hindere, diese Beendigung auf andere Weise als durch eine Mandatsbeendigung nachzuweisen und die Verpflichtungen zu beenden, die sich aus der Anwendung des Sozialstatuts der Selbständigen ergäben. Der Verfassungsgerichtshof hat allerdings die in Rede stehende Bestimmung für verfassungsmäßig erachtet, soweit sie Mandatsträger betreffe, die solche Gesellschaften vom Ausland aus führten. Die Unwiderlegbarkeit könne als notwendig angesehen werden, um zu gewährleisten, dass solche Mandatsträger dem Sozialstatut der Selbständigen unterliegen, da die nationalen Behörden gegenüber diesen Personen nicht über die Informationen und Befugnisse verfügten, die sie gegenüber den Personen besäßen, die Gesellschaften in Belgien führten.

9.

Nach Art. 15 Abs. 1 Unterabs. 3 des Königlichen Erlasses Nr. 38 haften die Gesellschaften gesamtschuldnerisch für die Entrichtung der Beiträge ihrer Mandatsträger.

III – Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

10.

Die Gesellschaft wurde am 17. April 1993 gegründet. Sie unterliegt der belgischen Steuer, da sich dort ihr satzungsmäßiger Sitz befindet. Zum Zeitpunkt der Generalversammlung vom 12. Oktober 1995 hielten Herr Rombouts und Herr van Acker jeweils die Hälfte des Gesellschaftskapitals. Bei den Generalversammlungen vom 7. Juni 2000 und vom 7. Juni 2006 wurde ihr Mandat als Mitglieder der Geschäftsleitung verlängert.

11.

Herr Rombouts hält sich seit Ende des Jahres 1999 in Portugal auf. Vom 1. Januar 2001 bis Juli 2005 war er dort als Arbeitnehmer tätig oder bezog Arbeitslosengeld. Das vorlegende Gericht gibt an, dass er in Portugal ab November 2007 eine selbständige Tätigkeit ausgeübt habe. Die Gesellschaft behaupte jedoch, dass diese Tätigkeit im November 2005 begonnen habe.

12.

Am 28. Mai 2008 ließ Partena Herrn Rombouts und der Gesellschaft einen Mahnbescheid zustellen, mit dem ihnen aufgetragen wurde, einen Betrag von 125696,50 Euro zu zahlen, der den von Herrn Rombouts für den Zeitraum vom ersten Quartal 1999 bis zum vierten Quartal 2007 geschuldeten Beiträgen entspreche.

13.

Mit Schriftsatz vom 5. August 2008 legte die Gesellschaft Widerspruch gegen diesen Mahnbescheid beim Tribunal du travail Nivelles ein. Mit Urteil vom 14. Dezember 2009 erklärte das Tribunal du travail u. a. den Widerspruch für begründet.

14.

Am 29. Januar 2010 legte Partena Berufung bei der Cour du travail de Bruxelles (Belgien) ein. Im Laufe des Verfahrens räumte Partena ein, dass Herr Rombouts unter Berücksichtigung seines Beschäftigungsverhältnisses in Portugal seit 1. Januar 2001 nur noch ergänzend dem belgischen Sozialstatut der Selbständigen unterstellt werden könne. Daher beläuft sich der von Partena zurzeit verlangte Betrag auf 68317,61 Euro zuzüglich Zinsen anstatt 125696,50 Euro.

15.

Die Gesellschaft beantragt die Bestätigung des Urteils des Tribunal du travail und die Verurteilung von Partena zur Tragung der Kosten. Sie wendet sich gegen die Auffassung, dass Herr Rombouts dem Sozialstatut der Selbständigen in Belgien unterstellt sei. Hilfsweise beantragt sie ein Vorabentscheidungsersuchen an den Gerichtshof u. a. bezüglich der Frage der Vereinbarkeit von Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 4 des Königlichen Erlasses Nr. 38 mit Art. 18 EG (jetzt Art. 21 AEUV).

16.

Unter diesen Umständen hat die Cour du travail de Bruxelles (Belgien) dem Gerichtshof die folgenden beiden Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

1.

Kann hinsichtlich der Anwendung der Art. 13 ff. der Verordnung Nr. 1408/71 und insbesondere ihres Art. 14c ein Mitgliedstaat im Rahmen der ihm zuerkannten Zuständigkeit für die Festlegung der Bedingungen für die Unterstellung unter das von ihm für Selbständige eingerichtete System der sozialen Sicherheit die „Führung einer dem Steuerrecht dieses Staats unterstellten Gesellschaft aus dem Ausland“ mit der Ausübung einer Tätigkeit in seinem Staatsgebiet gleichsetzen?

2.

Ist Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 4 des Erlasses Nr. 38 vom 27. Juli 1967 zur Einführung des Sozialstatuts der Selbständigen mit dem Recht der Europäischen Union, insbesondere mit der Freizügigkeit und der Aufenthaltsfreiheit, die durch Art. 21 AEUV gewährleistet werden, vereinbar, soweit er einer Person, die in einem anderen Mitgliedstaat wohnt und vom Ausland aus eine dem belgischen Steuerrecht unterstellte Gesellschaft führt, nicht erlaubt, die Vermutung der Unterstellung unter das Sozialstatut der Selbständigen umzukehren, während ein Mitglied der Geschäftsleitung der Gesellschaft, das in Belgien wohnt und nicht eine derartige Gesellschaft vom Ausland aus führt, die Möglichkeit hat, diese Vermutung umzukehren und den Beweis zu erbringen, dass es keine selbständige Tätigkeit im Sinne des Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 1 des Königlichen Erlasses Nr. 38 ausübt?

IV – Verfahren vor dem Gerichtshof

17.

Die Gesellschaft, die belgische Regierung und die Kommission haben schriftliche Erklärungen eingereicht. In der Sitzung vom 22. März 2012 haben sie auch mündliche Ausführungen gemacht.

V – Würdigung

A – Zur Zulässigkeit

18.

Die belgische Regierung macht zwei Unzulässigkeitseinreden geltend.

19.

Erstens hält sie die beiden Vorlagefragen für unzulässig, weil die in Rede stehende unwiderlegliche Vermutung im Fall von Herrn Rombouts nicht eingreife. Die Vermutung gelte nur bei Mandatsträgern, die Gesellschaften mit satzungsmäßigem Sitz in Belgien aus dem Ausland führten, in Belgien keine Einkünfte aus dieser Tätigkeit angäben und dies mit der Unentgeltlichkeit ihrer Mandatsführung begründeten. Auf diese Weise solle die Sozialbeitragspflicht umgangen werden, da die Stellung eines Selbständigen in Belgien u. a. voraussetze, dass der Betreffende eine berufliche Tätigkeit ausübe, was wiederum erfordere, dass die Tätigkeit gegen Entgelt geleistet werde.

20.

In dem im Ausgangsverfahren maßgebenden Zeitraum habe Herr Rombouts nach Art. 2 Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. a, Art. 227 Abs. 1 und Art. 228 Abs. 1 des Einkommensteuergesetzes von 1992 und Art. 16 des Doppelbesteuerungsabkommens zwischen Belgien und Portugal ( 7 ) als Gebietsfremder aufgrund seiner Tätigkeit als Mandatsträger der Gesellschaft der belgischen Steuer unterlegen.

21.

Im Übrigen habe Herr Rombouts nicht bestritten, dass er der belgischen Einkommensteuer unterliege. Seine Sozialbeiträge seien auf der Grundlage seiner Einkünfte als Mandatsträger berechnet worden, die die Steuerverwaltung berücksichtigt und dem Institut National d’Assurances Sociales pour Travailleurs Indépendants (Inasti) mitgeteilt habe. Weder Herr Rombouts noch die Gesellschaft könnten sich daher auf die Unentgeltlichkeit seiner Mandatsführung berufen und dementsprechend geltend machen, dass das Erfordernis der Ausübung einer beruflichen Tätigkeit nicht erfüllt sei.

22.

Zweitens erachtet die belgische Regierung die Vorlagefragen für unzulässig, weil sie auf eine Beurteilung der Vereinbarkeit des nationalen Rechts mit dem Unionsrecht abzielten.

23.

Meiner Meinung nach ist die von der belgischen Regierung erhobene erste Unzulässigkeitseinrede nicht begründet. Die von ihr befürwortete Auslegung des innerstaatlichen und völkerrechtlichen Steuerrechts mag zwar richtig sein, jedoch geht meines Erachtens aus der Vorlageentscheidung hervor, dass es in dem vom vorlegenden Gericht zu entscheidenden Rechtsstreit um die Frage geht, ob die belgischen Vorschriften über die soziale Sicherheit auf Herrn Rombouts anwendbar sind. Eine solche Würdigung muss sich zwangsläufig auf die Regelungen des Titels II der Verordnung Nr. 1408/71 stützen, die die Bestimmung der anzuwendenden Rechtsvorschriften betreffen. Darüber hinaus ersucht das vorlegende Gericht um Hinweise zur Auslegung der im Vertrag niedergelegten Freizügigkeitsvorschriften ( 8 ). Angesichts dessen sind die zur Vorabentscheidung vorgelegten Fragen zulässig.

24.

Was die zweite Unzulässigkeitseinrede anlangt, die damit begründet wird, dass die Fragen auf eine Beurteilung der Vereinbarkeit des nationalen Rechts mit dem Unionsrecht abzielten, genügt der Hinweis, dass in Anbetracht der Formulierung dieser Fragen eindeutig um eine Auslegung des Unionsrechts, hier verschiedener Bestimmungen der Verordnung Nr. 1408/71 sowie der Freizügigkeitsvorschriften, ersucht wird.

B – Zur Sache

1. Erste Frage

25.

Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob ein Mitgliedstaat im Einklang mit den Art. 13 und 14c der Verordnung Nr. 1408/71 vorsehen darf, dass ein Mandatsträger einer der Steuer in diesem Mitgliedstaat unterliegenden Gesellschaft ( 9 ) dort eine Tätigkeit ausübt, obwohl er die Gesellschaft aus dem Ausland führt. Es soll also geklärt werden, welcher Ort nach den genannten Vorschriften als der Ort gilt, an dem eine abhängige Beschäftigung oder selbständige Tätigkeit ausgeübt wird.

26.

Die Art. 13 und 14c der Verordnung Nr. 1408/71 gehören zu deren Titel II („Bestimmung der anzuwendenden Rechtsvorschriften“). Nach ständiger Rechtsprechung bilden die Vorschriften der Verordnung Nr. 1408/71 zur Bestimmung der anzuwendenden Rechtsvorschriften ein geschlossenes System von Kollisionsnormen, das den einzelnen nationalen Gesetzgebern die Befugnis nimmt, Geltungsbereich und Anwendungsvoraussetzungen ihrer nationalen Rechtsvorschriften im Hinblick darauf zu bestimmen, welche Personen ihnen unterliegen und in welchem Gebiet sie ihre Wirkung entfalten sollen ( 10 ).

27.

Die Vorschriften des Titels II der Verordnung Nr. 1408/71 sollen nicht nur verhindern, dass Personen, die unter diese Verordnung fallen, der Schutz auf dem Gebiet der sozialen Sicherheit vorenthalten wird, weil keine nationalen Rechtsvorschriften auf sie anwendbar sind, sondern mit ihnen sollen auch die gleichzeitige Anwendung von Rechtsvorschriften mehrerer Mitgliedstaaten und die Schwierigkeiten, die sich daraus ergeben können, vermieden werden ( 11 ).

28.

Die Kollisionsnormen der Verordnung Nr. 1408/71 sind für die Mitgliedstaaten zwingend, und ihre Anwendung hängt nur von der objektiven Lage ab, in der sich der betroffene Arbeitnehmer befindet ( 12 ).

29.

Angesichts des zwingenden Charakters der in Rede stehenden Vorschriften und angesichts gerade auch des Regelungszwecks des Titels II der Verordnung Nr. 1408/71 kann sich ein Mitgliedstaat meines Erachtens nicht eigenmächtig die Befugnis zuerkennen, zu bestimmen, ob ein Arbeitnehmer seinen Rechtsvorschriften unterliegt, indem er vorsieht, dass der Arbeitnehmer in diesem Mitgliedstaat tätig ist, wenn dies nicht der objektiven Lage, in der sich der betroffene Arbeitnehmer befindet, und den zwingenden Vorschriften für die Bestimmung der anzuwendenden Rechtsvorschriften entspricht.

30.

Wie der Gerichtshof im Urteil Aldewereld ( 13 ) ausgeführt hat, ergeben sich die anwendbaren Rechtsvorschriften objektiv aus den Bestimmungen des Titels II der Verordnung Nr. 1408/71, wobei die Anknüpfungspunkte zu berücksichtigen sind, die die betreffende Situation an die Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten aufweist. Andernfalls bestünde meines Erachtens die Gefahr, dass der Titel II der Verordnung Nr. 1408/71 über die Bestimmung der anzuwendenden Rechtsvorschriften sinn- und wirkungslos wird, insbesondere wenn mehrere Mitgliedstaaten in dieser Weise vorgingen.

31.

Im vorliegenden Fall ergibt sich aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten wohl, dass Herr Rombouts neben seiner Tätigkeit als Mandatsträger der Gesellschaft ab November 2007 in Portugal selbständig tätig war (auch wenn die Gesellschaft geltend macht, dass der Zeitraum seiner selbständigen Tätigkeit im November 2005 begann) und dass er vom 1. Januar 2001 bis Juli 2005 in Portugal als Arbeitnehmer tätig bzw. arbeitslos war.

32.

Auch wenn streitig ist, wann genau Herr Rombouts in Portugal eine selbständige Tätigkeit aufnahm, so steht doch fest, dass er ab der Aufnahme der selbständigen Tätigkeit in Portugal im Hinblick auf seine Tätigkeit als Mandatsträger der Gesellschaft nicht mehr den belgischen Vorschriften über die soziale Sicherheit unterstand ( 14 ). Mithin bezieht sich der beim vorlegenden Gericht anhängige Rechtsstreit im Wesentlichen auf Zeiträume, in denen Herr Rombouts in Portugal als Arbeitnehmer tätig bzw. dort arbeitslos war. Insofern meine ich, dass das vorlegende Gericht um Hinweise zur Anwendbarkeit von Art. 14c Buchst. b ( 15 ) und Art. 13 Abs. 2 Buchst. b ( 16 ) der Verordnung Nr. 1408/71 auf die Tätigkeit ersucht, die Herr Rombouts als Mandatsträger der Gesellschaft ausübte, während er in Portugal wohnte.

33.

Aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten scheint sich – vorbehaltlich der Überprüfung durch das vorlegende Gericht – zu ergeben, dass Herr Rombouts bei Berücksichtigung seiner objektiven Lage seine Tätigkeit als Mandatsträger der Gesellschaft de facto oder konkret „im Gebiet“ ( 17 ) Portugals ausgeübt hat. Die Ausübung dieses Mandats mag zwar Folgen in Belgien haben, wie dies die belgische Regierung geltend macht ( 18 ), die jedoch nichts an der objektiven Lage ändern können, in der sich Herr Rombouts befand. Die Ermittlung seiner objektiven Lage ist eine Tatsachenfeststellung, die das vorlegende Gericht anhand einer Einzelfallprüfung im Einklang mit Titel II der Verordnung Nr. 1408/71 und nicht anhand einer unwiderleglichen Vermutung zu treffen hat, die im Voraus und abstrakt in nationalen Rechtsvorschriften festgeschrieben ist.

34.

Unter Berücksichtigung sowohl des Zwecks als auch des eindeutigen Wortlauts der Art. 13 Abs. 2 Buchst. b und Art. 14c Buchst. b der Verordnung Nr. 1408/71, die zu den zwingenden Bestimmungen des Titels II der Verordnung zur Bestimmung der anzuwendenden Rechtsvorschriften gehören, sind die genannten Artikel meiner Meinung nach dahin auszulegen, dass sie es einem Mitgliedstaat verwehren, die „Führung einer dem Steuerrecht dieses Staats unterstellten Gesellschaft aus dem Ausland“ mit der Ausübung einer Tätigkeit in seinem Staatsgebiet gleichzusetzen, wenn diese Gleichsetzung nicht der objektiven Lage entspricht, in der sich der betroffene Arbeitnehmer befindet, und die Tätigkeit de facto im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats ausgeübt wird.

2. Zweite Frage

35.

Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht vom Gerichtshof wissen, ob Art. 21 AEUV einer nationalen Regelung entgegensteht, die eine unwiderlegliche Vermutung wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende vorsieht.

36.

Meines Erachtens sind auf den vom vorlegenden Gericht in der Vorlageentscheidung dargestellten Sachverhalt des Ausgangsverfahrens eher Art. 45 AEUV im Hinblick auf die Freizügigkeit der Arbeitnehmer und Art. 49 AEUV im Hinblick auf das Niederlassungsrecht als Art. 21 AEUV anzuwenden ( 19 ). Art. 21 AEUV, in dem das Recht eines jeden Unionsbürgers, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, in allgemeiner Form niedergelegt ist, findet in den Art. 45 AEUV und 49 AEUV einen besonderen Ausdruck ( 20 ).

37.

Aus einer ständigen Rechtsprechung ergibt sich, dass sämtliche Bestimmungen des AEU-Vertrags über die Freizügigkeit den Unionsbürgern die Ausübung beruflicher Tätigkeiten aller Art im Gebiet der Union erleichtern sollen und Maßnahmen entgegenstehen, die die Unionsbürger benachteiligen könnten, wenn sie eine Erwerbstätigkeit im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats ausüben wollen. Folglich stehen die Art. 45 AEUV und 49 AEUV jeder Maßnahme entgegen, die, auch wenn sie ohne Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit anwendbar ist, geeignet ist, die Ausübung der durch den Vertrag garantierten Grundfreiheiten durch die Unionsbürger zu behindern oder weniger attraktiv zu machen ( 21 ).

38.

Im Ausgangsverfahren hat es – vorbehaltlich der Überprüfung durch das vorlegende Gericht – den Anschein, dass bei der gemäß Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 4 des Königlichen Erlasses Nr. 38 eingreifenden Vermutung nicht nach der Staatsangehörigkeit der betroffenen Mandatsträger differenziert wird. Allerdings scheint diese nationale Rechtsvorschrift dazu zu führen, dass Gesellschaftsmandatsträger, die sich in einer Lage wie Herr Rombouts befinden, aufgrund der Ausübung ihres Rechts, sich in der Union frei zu bewegen, gegenüber Mandatsträgern benachteiligt werden, die von diesem Recht keinen Gebrauch gemacht haben.

39.

Erstens wird bei einem Mandatsträger, der von seinem Freizügigkeitsrecht Gebrauch gemacht hat und eine Gesellschaft aus dem Ausland führt, auf unwiderlegbare Weise davon ausgegangen, dass er eine Berufstätigkeit in Belgien ausübt und daher verpflichtet ist, dort für diese Tätigkeit Sozialbeiträge zu entrichten, während ein Mandatsträger, der eine Gesellschaft führt und keinen Gebrauch vom Freizügigkeitsrecht gemacht hat, nach dem Urteil 176/2004 des belgischen Verfassungsgerichtshofs vom 3. November 2004 die Möglichkeit zur Erbringung des Nachweises hat, dass er nicht eine Tätigkeit als Selbständiger im Sinne von Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 1 des Königlichen Erlasses Nr. 38 ausübt.

40.

Entscheidender noch ist zweitens, dass aufgrund des Eingreifens der in Rede stehenden unwiderleglichen Vermutung Mandatsträger, die der belgischen Steuer unterliegende Gesellschaften führen und dieses Mandat de facto oder konkret von einem anderen Mitgliedstaat aus ausüben, Gefahr laufen, für ein und dieselbe Tätigkeit Sozialbeiträge in zwei Mitgliedstaaten entrichten zu müssen.

41.

Gerade dieser Gefahr wollen die Bestimmungen des Titels II der Verordnung Nr. 1408/71 vorbeugen.

42.

Die belgische Regierung führt aus, dass der Zweck der fraglichen innerstaatlichen Rechtsvorschriften und insbesondere der unwiderleglichen Vermutung darin bestehe, durch künstliche Verlagerung begangenen Sozialbetrug in Belgien zu verhindern. Aufgrund moderner Kommunikationsmittel seien Gesellschaftsmandatsträger in der Lage, ihr Mandat für in Belgien ansässige, Gewinn erzielende Gesellschaften aus dem Ausland auszuüben. Da sie ihre aus der Mandatstätigkeit erzielten Einkünfte gegenüber der belgischen Steuerverwaltung nicht angäben und erklärten, dass sie ihr Mandat unentgeltlich ausübten, hätten diese Personen die Möglichkeit, der Entrichtung der obligatorischen Sozialbeiträge als Selbständige in Belgien zu entgehen.

43.

Die Verhinderung von Sozialbetrug ist zwar ein lobenswertes Unterfangen, das auch insbesondere durch nach Maßgabe des Unionsrechts erlassene Koordinierungs- oder Harmonisierungsmaßnahmen unterstützt werden muss, jedoch meine ich, dass die in Rede stehende unwiderlegliche Vermutung, durch die Sozialbetrug in Belgien verhindert werden soll, zu diesem Zweck völlig ungeeignet ist, wenn Mandatsträger von Gesellschaften aufgrund ihrer objektiven Lage und der zwingenden Bestimmungen des Titels II der Verordnung Nr. 1408/71 dem System der sozialen Sicherheit eines anderen Mitgliedstaats unterstehen.

44.

Vorbehaltlich der Überprüfung des Sachverhalts und der Fallumstände des Ausgangsverfahrens und speziell der objektiven Lage von Herrn Rombouts durch das vorlegende Gericht dürfte ein Sozialbetrug in Belgien in Bezug auf seine Tätigkeit als Gesellschaftsmandatsträger, die er offenbar in portugiesischem Gebiet ausübt, wohl nicht in Frage kommen.

45.

Ich bin daher der Meinung, dass die Art. 45 AEUV und 49 AEUV dahin auszulegen sind, dass sie einem Mitgliedstaat den Erlass von Rechtsvorschriften wie Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 4 des Königlichen Erlasses Nr. 38 verwehren, soweit sie einer Person, die in einem anderen Mitgliedstaat wohnt und de facto von dort aus eine dem Steuerrecht des ersten Mitgliedstaats unterstellte Gesellschaft führt, nicht erlauben, den Beweis zu erbringen, dass sie diese Tätigkeit de facto im Gebiet des anderen Mitgliedstaats ausübt, und damit die Vermutung zu widerlegen, dass sie dem vom ersten Mitgliedstaat eingerichteten System der sozialen Sicherheit für Selbständige untersteht.

VI – Ergebnis

46.

Aus den vorstehenden Gründen bin ich der Meinung, dass die von der Cour du travail de Bruxelles (Belgien) vorgelegten Fragen wie folgt zu beantworten sind:

Die Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, in der durch die Verordnung (EG) Nr. 1606/98 des Rates vom 29. Juni 1998 geänderten Fassung, die zu den zwingenden Bestimmungen des Titels II der Verordnung gehören, ist dahin auszulegen, dass sie es einem Mitgliedstaat verwehrt, die „Führung einer dem Steuerrecht dieses Staats unterstellten Gesellschaft aus dem Ausland“ mit der Ausübung einer Tätigkeit in seinem Staatsgebiet gleichzusetzen, wenn diese Gleichsetzung nicht der objektiven Lage entspricht, in der sich der betroffene Arbeitnehmer befindet, und die Tätigkeit de facto im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats ausgeübt wird.

Die Art. 45 AEUV und 49 AEUV sind dahin auszulegen, dass sie einem Mitgliedstaat den Erlass von Rechtsvorschriften wie Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 4 des Königlichen Erlasses Nr. 38 vom 27. Juli 1967 verwehren, soweit sie einer Person, die in einem anderen Mitgliedstaat wohnt und de facto von dort aus eine dem Steuerrecht des ersten Mitgliedstaats unterstellte Gesellschaft führt, nicht erlauben, den Beweis zu erbringen, dass sie diese Tätigkeit de facto im Gebiet des anderen Mitgliedstaats ausübt, und damit die Vermutung zu widerlegen, dass sie dem vom ersten Mitgliedstaat eingerichteten System der sozialen Sicherheit für Selbständige untersteht.


( 1 )   Originalsprache: Englisch.

( 2 )   ABl. L 149, S. 2.

( 3 )   ABl. L 209, S. 1.

( 4 )   Moniteur belge vom 29. Juli 1967, S. 8071.

( 5 )   Monitor belge vom 12. Dezember 1996, S. 31.018 (im Folgenden: Königlicher Erlass Nr. 38).

( 6 )   Der damals die Bezeichnung Schiedshof trug.

( 7 )   Moniteur belge vom 2. März 1971, S. 2613, und vom 5. April 2001, S. 11473.

( 8 )   Siehe unten, Nr. 36.

( 9 )   Siehe oben, Nr. 10.

( 10 )   Vgl. in diesem Sinne u. a. Urteile vom 12. Juni 1986, Ten Holder (302/84, Slg. 1986, 1821, Randnr. 21), und vom 10. Juli 1986, Luijten (60/85, Slg. 1986, 2365, Randnr. 14).

( 11 )   Vgl. entsprechend Urteil vom 7. Juli 2005, van Pommeren-Bourgondiën (C-227/03, Slg. 2005, I-6101, Randnr. 34).

( 12 )   Vgl. Urteil vom 14. Oktober 2010, van Delft u. a. (C-345/09, Slg. 2010, I-9879, Randnr. 52).

( 13 )   Urteil vom 29. Juni 1994 (C-60/93, Slg. 1994, I-2991, Randnr. 20). Wie die Kommission in ihren Erklärungen hervorgehoben hat, steht es einem Mitgliedstaat zwar frei, die in der Verordnung Nr. 1408/71 verwendeten Begriffe „Arbeitnehmer“ und „Selbständige“ zu definieren, er kann aber nicht entscheiden, ob diese Personen ihre Tätigkeiten in seinem Gebiet ausüben.

( 14 )   Selbst wenn man seine Tätigkeit als Mandatsträger der Gesellschaft als selbständige Tätigkeit in Belgien ansehen wollte, unterstünde Herr Rombouts also ab der Aufnahme einer selbständigen Tätigkeit in Portugal nach Art. 14a Abs. 2 der Verordnung Nr. 1408/71 den portugiesischen Vorschriften der sozialen Sicherheit – vgl. Urteil vom 30. Januar 1997, de Jaeck (C-340/94, Slg. 1997, I-461, Randnr. 11).

( 15 )   Art. 14c Buchst. b der Verordnung Nr. 1408/71 bestimmt, dass in den in Anhang VII der Verordnung aufgeführten Fällen eine Person, die in einem Mitgliedstaat eine abhängige Beschäftigung und zugleich in einem anderen Mitgliedstaat eine selbständige Tätigkeit ausübt, gleichzeitig den Rechtsvorschriften jedes dieser Staaten unterliegt. Diese Person ist somit verpflichtet, die Beiträge zu entrichten, die ihr gegebenenfalls von den Rechtsvorschriften des einen und des anderen der beiden Staaten auferlegt werden – Urteil vom 9. März 2006, Piatkowski (C-493/04, Slg. 2006, I-2369, Randnr. 22).

( 16 )   Nach Art. 13 Abs. 2 Buchst. b der Verordnung Nr. 1408/71 unterliegt eine Person, die im Gebiet eines Mitgliedstaats eine selbständige Tätigkeit ausübt, den Rechtsvorschriften dieses Staates, und zwar auch dann, wenn sie im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats wohnt – vgl. Urteil vom 19. November 2009, Filipiak (C-314/08, Slg. 2009, I-11049, Randnr. 64).

( 17 )   Vgl. den Wortlaut von Art. 13 Abs. 2 Buchst. b, Art. 14c Buchst. b und übrigens auch Art. 14a Abs. 2 der Verordnung Nr. 1408/71, in denen jeweils die Formulierung wiederholt wird.

( 18 )   Die belgische Regierung weist darauf hin, dass die Handlungen, die ein Mandatsträger der Gesellschaft vornimmt, Rechtswirkungen in Belgien entfalteten. Die fragliche berufliche Tätigkeit werde daher gemäß Art. 14c Buchst. b der Verordnung Nr. 1408/71 in Belgien ausgeübt, selbst wenn die Handlungen mit Hilfe moderner Kommunikationsmittel von einem anderen Mitgliedstaat (hier Portugal) ausgingen. Im Übrigen seien die Handlungen von Herrn Rombouts der Gesellschaft als eigene Handlungen zuzurechnen.

( 19 )   Der Vorlageentscheidung lässt sich entnehmen, dass Herr Rombouts Belgien verließ, um sich in Portugal aufzuhalten, und dass er dort eine abhängige Beschäftigung ausübte, arbeitslos war und eine selbständige Tätigkeit ausübte.

( 20 )   Vgl. entsprechend Urteil vom 1. Oktober 2009, Leyman (C-3/08, Slg. 2009, I-9085, Randnr. 20 und die dort angeführte Rechtsprechung).

( 21 )   Vgl. Urteil vom 1. April 2008, Gouvernement de la Communauté française und gouvernement wallon (C-212/06, Slg. 2008, I-1683, Randnrn. 44 f. und die dort angeführte Rechtsprechung).