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SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

NIILO JÄÄSKINEN

vom 25. Oktober 2012(1)

Rechtssache C-360/11

Europäische Kommission

gegen

Königreich Spanien

„Vertragsverletzung eines Mitgliedstaats – Richtlinie 2006/112/EG – Anhang III Nrn. 3 und 4 – Ermäßigter Mehrwertsteuersatz – Lieferungen von Gegenständen, auf die ermäßigte Sätze angewandt werden können – Arzneimittel, die üblicherweise für die Gesundheitsvorsorge, die Verhütung von Krankheiten und für ärztliche und tierärztliche Behandlungen verwendet werden – Medizinische Geräte, Hilfsmittel und sonstige Vorrichtungen, die üblicherweise für die Linderung und die Behandlung von Behinderungen verwendet werden und die ausschließlich für den persönlichen Gebrauch von Behinderten bestimmt sind“






I –    Einführung

1.        Nach dem Mehrwertsteuerrecht der Union können die Mitgliedstaaten auf Arzneimittel und bestimmte medizinische Geräte einen ermäßigten Mehrwertsteuersatz anwenden. Die Kommission hat die vorliegende Vertragsverletzungsklage gegen das Königreich Spanien erhoben, da dieser Mitgliedstaat ihrer Meinung nach einen ermäßigten Mehrwertsteuersatz auf Gegenstände anwendet, die nicht in den Kategorien gemäß Anhang III Nrn. 3 und 4 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem(2) (im Folgenden: Mehrwertsteuerrichtlinie) aufgezählt sind.

2.        Das Königreich Spanien beantragt Klageabweisung. Es macht geltend, die Kategorien der Gegenstände und Dienstleistungen in Anhang III der Mehrwertsteuerrichtlinie seien nicht klar genug definiert, um als Grundlage für eine Vertragsverletzungsklage zu dienen.

II – Rechtlicher Rahmen

 Unionsrecht

3.        Art. 96 der Mehrwertsteuerrichtlinie bestimmt:

„Die Mitgliedstaaten wenden einen Mehrwertsteuer-Normalsatz an, den jeder Mitgliedstaat als Prozentsatz der Bemessungsgrundlage festsetzt und der für die Lieferungen von Gegenständen und für Dienstleistungen gleich ist.“

4.        Art. 98 der Mehrwertsteuerrichtlinie, der zu Abschnitt 2 („Ermäßigte Steuersätze“) gehört, sieht vor:

„(1) Die Mitgliedstaaten können einen oder zwei ermäßigte Steuersätze anwenden.

(2) Die ermäßigten Steuersätze sind nur auf die Lieferungen von Gegenständen und die Dienstleistungen der in Anhang III genannten Kategorien anwendbar.

…“

5.        Anhang III Nr. 3 der Mehrwertsteuerrichtlinie (im Folgenden: Kategorie 3) umfasst die Lieferungen folgender Gegenstände:

„Arzneimittel, die üblicherweise für die Gesundheitsvorsorge, die Verhütung von Krankheiten und für ärztliche und tierärztliche Behandlungen verwendet werden, einschließlich Erzeugnissen für Zwecke der Empfängnisverhütung und der Monatshygiene …“

6.        Anhang III Nr. 4 der Mehrwertsteuerrichtlinie (im Folgenden: Kategorie 4) umfasst die Lieferungen folgender Gegenstände bzw. Dienstleistungen:

„medizinische Geräte, Hilfsmittel und sonstige Vorrichtungen, die üblicherweise für die Linderung und die Behandlung von Behinderungen verwendet werden und die ausschließlich für den persönlichen Gebrauch von Behinderten bestimmt sind, einschließlich der Instandsetzung solcher Gegenstände, sowie Kindersitze für Kraftfahrzeuge …“

 Nationales Recht

7.        Art. 91.Uno.1.5o und 1.6o des spanischen Mehrwertsteuergesetzes (Ley del Impuesto sobre el Valor Añadido(3)) sieht die Anwendung eines ermäßigten Mehrwertsteuersatzes auf die Lieferung folgender Gegenstände vor:

„5. Medikamente zur tierärztlichen Verwendung und medizinische Stoffe, die üblicherweise zur Herstellung von Medikamenten verwendet werden können und dafür geeignet sind.

6. Vorrichtungen und Zubehör, einschließlich Brillen mit Korrekturgläsern und Kontaktlinsen, die im Wesentlichen oder hauptsächlich dazu dienen können, körperliche Behinderungen von Menschen oder Tieren auszugleichen, einschließlich Einschränkungen der Bewegungs- und der Kommunikationsfähigkeit.

Gesundheitsprodukte, Stoffe, Ausstattung oder Vorrichtungen, die objektiv nur zur Vorbeugung bzw. zur Diagnose, Behandlung, Linderung oder Heilung von Krankheiten oder Leiden von Menschen oder Tieren verwendet werden können.

Diese Kategorie umfasst weder Kosmetika noch Erzeugnisse für die persönliche Hygiene, abgesehen von Monatsbinden, Tampons und Slipeinlagen.“

8.        Art. 91.Dos.1.3o des spanischen Mehrwertsteuergesetzes sieht die Anwendung eines ermäßigten Mehrwertsteuersatzes auf die Lieferung folgender Gegenstände vor:

„Medikamente zur Verwendung beim Menschen sowie medizinische Stoffe, Darreichungsformen und Zwischenerzeugnisse, die üblicherweise zur Herstellung von Medikamenten verwendet werden können und dafür geeignet sind.“

III – Vorverfahren

9.        Mit Schreiben vom 22. März 2010 teilte die Kommission dem Königreich Spanien mit, dass ihrer Meinung nach die in Art. 91.Uno.1.5o und 1.6o sowie Art. 91.Dos.1.3o des spanischen Mehrwertsteuergesetzes vorgesehene Regelung für ermäßigte Mehrwertsteuersätze eine Verletzung der Verpflichtungen des Königreichs Spanien aus der Mehrwertsteuerrichtlinie darstelle.

10.      Mit Antwortschreiben vom 28. Mai 2010 erklärte das Königreich Spanien, es halte die spanischen Bestimmungen über die ermäßigten Mehrwertsteuersätze für mit der Mehrwertsteuerrichtlinie vereinbar.

11.      Die Kommission erachtete das Vorbringen des Königreichs Spanien als unzureichend und forderte im Rahmen einer mit Gründen versehenen Stellungnahme vom 25. November 2010 diesen Mitgliedstaat auf, innerhalb einer bestimmten Frist geeignete Maßnahmen zu treffen.

12.      Da das Königreich Spanien in seiner Antwort auf die mit Gründen versehene Stellungnahme an seinem Standpunkt festhielt, dass die spanischen Bestimmungen über die Gegenstände, auf die ermäßigte Mehrwertsteuersätze angewandt werden könnten, unionsrechtskonform seien, hat die Kommission die vorliegende Klage erhoben.

IV – Verfahren vor dem Gerichtshof

13.      Mit ihrer Klageschrift vom 8. Juli 2011 beantragt die Kommission, festzustellen, dass das Königreich Spanien dadurch gegen seine Verpflichtungen aus Art. 98 der Mehrwertsteuerrichtlinie in Verbindung mit Anhang III dieser Richtlinie verstoßen hat, dass es auf die folgenden Kategorien von Gegenständen einen ermäßigten Mehrwertsteuersatz anwendet:

1.         medizinische Stoffe, die üblicherweise für die Herstellung von Medikamenten verwendet werden können und dafür geeignet sind (Art. 91.Uno.1.5o und Dos.1.3o des spanischen Mehrwertsteuergesetzes);

2.         Gesundheitsprodukte, Stoffe, Ausstattung oder Werkzeug, die objektiv nur zur Vorbeugung bzw. zur Diagnose, Behandlung, Linderung oder Heilung von Krankheiten oder Leiden von Menschen oder Tieren verwendet werden können, jedoch nicht „üblicherweise für die Linderung und die Behandlung von Behinderungen verwendet werden und ausschließlich für den persönlichen Gebrauch von Behinderten bestimmt sind“ (Art. 91.Uno.1.6o des spanischen Mehrwertsteuergesetzes);

3.         Geräte und Zubehör, die im Wesentlichen oder hauptsächlich dazu dienen können, körperliche Behinderungen von Tieren auszugleichen (Art. 91.Uno.1.6o des spanischen Mehrwertsteuergesetzes);

4.         Geräte und Zubehör, die im Wesentlichen oder hauptsächlich dazu verwendet werden, Behinderungen des Menschen auszugleichen, jedoch nicht ausschließlich dem persönlichen Gebrauch des „Behinderten“ dienen; dieser Begriff ist allgemein so zu verstehen, dass er sich von dem des „Kranken“ unterscheidet und enger als dieser ist (erster Absatz von Art. 91.Uno.1.6o des spanischen Mehrwertsteuergesetzes).

14.      Darüber hinaus beantragt die Kommission, dem Königreich Spanien die Kosten aufzuerlegen.

V –    Zulässigkeit

15.      Ohne eine förmliche Einrede der Unzulässigkeit zu erheben, weist das Königreich Spanien in seiner Klagebeantwortung auf die Klageschrift der Kommission darauf hin, dass diese de facto einen weiteren Klagegrund betreffend die Anwendung eines ermäßigten Mehrwertsteuersatzes auf „Zwischenerzeugnisse“ in ihre Klage aufgenommen habe, ohne dies im Vorverfahren gerügt zu haben.

16.      Da es sich hierbei nicht um eine förmliche Einrede der Unzulässigkeit handelt, werde ich die Klagegründe der Kommission in der Form prüfen, in der sie in der beim Gerichtshof eingegangenen Klageschrift aufgeführt sind. Im Übrigen stelle ich fest, dass die Einbeziehung oder der Ausschluss des Begriffs „Zwischenerzeugnis“ in den Gegenstand der Vertragsverletzungsklage für das Ergebnis der Klage ohne Belang ist.

VI – Prüfung

A –    Vorbemerkungen

17.      Zunächst ist daran zu erinnern, dass das gemeinsame Mehrwertsteuersystem der Union, „selbst wenn die Sätze und Befreiungen nicht völlig harmonisiert werden, eine Wettbewerbsneutralität in dem Sinne bewirken [sollte], dass gleichartige Gegenstände und Dienstleistungen innerhalb des Gebiets der einzelnen Mitgliedstaaten ungeachtet der Länge des Produktions- und Vertriebswegs steuerlich gleich belastet werden“(4). Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs sind die Einführung und Beibehaltung ermäßigter Mehrwertsteuersätze nur zulässig, wenn sie den Grundsatz der steuerlichen Neutralität nicht missachten(5).

18.      Außerdem ist vorab festzuhalten, dass es sich bei der Regelung für die ermäßigten Mehrwertsteuersätze um eine Ausnahme von der allgemeinen Regel handelt, wonach die Mehrwertsteuer zum Normalsatz anzuwenden ist. Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs sind die Bestimmungen, die Ausnahmen von einem allgemeinen Grundsatz darstellen, eng auszulegen; dies gilt auch im Fall ermäßigter Mehrwertsteuersätze(6).

19.      Bei all diesen Erwägungen ist daran zu erinnern, dass die klare Festlegung der Gruppen der Lieferungen von Gegenständen und der Dienstleistungen, auf die ein ermäßigter Mehrwertsteuersatz oder eine Befreiung Anwendung findet, umso größere Bedeutung gewinnt, je umfangreicher diese Gruppen sind. Ein ermäßigter Mehrwertsteuersatz darf nur auf die in Anhang III der Mehrwertsteuerrichtlinie aufgezählten Kategorien der Lieferungen von Gegenständen und der Dienstleistungen angewandt werden. Da es sich hierbei um Ausnahmen handelt, ist der Umfang dieser Kategorien restriktiv festzulegen.

20.      Das Königreich Spanien wendet sich nicht gegen die Auffassung der Kommission, dass die Kategorien 3 und 4 eng zu fassen seien, sondern macht vielmehr geltend, dass die in diesen Bestimmungen verwandten Begriffe in den Unionsrechtsvorschriften nicht definiert seien und es deshalb unklar sei, welche Erzeugnisse erfasst würden. Dies zwinge dazu, die Auslegung dieser Begriffe nach nationalem Gesundheitsrecht vorzunehmen.

21.      Ferner folgt aus den Anforderungen sowohl der einheitlichen Anwendung des Unionsrechts als auch des Gleichheitsgrundsatzes, dass die Begriffe einer unionsrechtlichen Bestimmung, die für die Ermittlung ihres Sinnes und ihrer Bedeutung nicht ausdrücklich auf das Recht der Mitgliedstaaten verweist, in der Regel in der gesamten Union eine autonome und einheitliche Auslegung erhalten müssen, die unter Berücksichtigung des Kontexts der Vorschrift und des mit der Regelung verfolgten Ziels gefunden werden muss(7).

22.      Die in den Kategorien 3 und 4 verwandten Begriffe gehören zu unionsrechtlichen Bestimmungen, die für die Ermittlung ihres Sinnes und ihrer Bedeutung nicht ausdrücklich auf das Recht der Mitgliedstaaten verweisen(8). Angesichts des Umstands, dass die sozialpolitischen Ziele des Systems der ermäßigten Mehrwertsteuersätze nicht ohne Berücksichtigung der konkreten Gegebenheiten in den einzelnen Mitgliedstaaten erreicht werden können, mag es an sich gerechtfertigt und sogar vernünftig sein, wenn die in den nationalen Regelungen für den ermäßigten Mehrwertsteuersatz verwandten Definitionen an andere innerstaatliche Vorschriften anknüpfen, sofern diese Definitionen nicht den Anwendungsbereich derjenigen Bestimmungen der Mehrwertsteuerrichtlinie ausweiten, die eine Ausnahme von dem allgemeinen System darstellen.

23.      In diesem Zusammenhang ist daran zu erinnern, dass mit der Regelung für die ermäßigten Mehrwertsteuersätze nicht bezweckt wird, den Ermessensspielraum der Mitgliedstaaten bei der Festlegung der einem ermäßigten Mehrwertsteuersatz unterliegenden Gegenstände und Dienstleistungen völlig einzuengen. Der Grund hierfür ist zumindest teilweise darin zu suchen, dass es unpraktikabel und ineffizient wäre, auf europäischer Ebene ein detailliertes Verzeichnis von Gegenständen und Dienstleistungen aufstellen zu wollen.

24.      Dies geht übrigens auch aus einem Bericht der Kommission zur Überprüfung des Verzeichnisses in Anhang H der Sechsten Mehrwertsteuerrichtlinie(9) hervor, in dem die Kommission die Entstehungsgeschichte der in dem Anhang aufgezählten Kategorien wie folgt beschreibt:

„Statt endloser Auseinandersetzungen darüber, was in eine bestimmte Kategorie aufzunehmen sei und was nicht, hatte der Rat nur über die Grundzüge einer allgemeinen Definition der einzelnen Kategorien auf Gemeinschaftsebene Einvernehmen zu erzielen (d. h. im Wesentlichen darüber, was nicht in eine bestimmte Kategorie fiel). Aufgrund dessen stand es dann jedem Mitgliedstaat frei – solange er diese allgemeine Abgrenzung beachtete, indem er den Anwendungsbereich der einzelnen Kategorie nicht ausweitete –, bei seinen Durchführungsvorschriften eine eigene Definition der Kategorien anzuwenden, je nachdem welche besondere Gruppe von Gegenständen oder Dienstleistungen er zum ermäßigten Satz besteuern wollte.“(10)

25.      Somit muss man zu dem Ergebnis kommen, dass das Gebot, Bedeutung und Sinn der Kategorien 3 und 4 auf europäischer Ebene unter Berücksichtigung sowohl des Wortlauts als auch des Zusammenhangs und der Ziele der Bestimmungen(11) eng auszulegen, es den Mitgliedstaaten nicht verwehrt, die einzelnen Gegenstände zu bestimmen, auf die ein ermäßigter Mehrwertsteuersatz angewandt wird, solange diese Gegenstände in den Anwendungsbereich der Kategorien 3 und 4 fallen.

26.      Ich werde den Anwendungsbereich der Kategorien 3 und 4 im Rahmen der Klagegründe erörtern und mich dabei an die Reihenfolge halten, in der sie die Kommission in der vorliegenden Vertragsverletzungsklage anführt.

B –    Erster Klagegrund: medizinische Stoffe, die üblicherweise für die Herstellung von Medikamenten verwendet werden können und dafür geeignet sind

27.      Als ersten Klagegrund im Rahmen der Vertragsverletzungsklage führt die Kommission an, dass die nach Art. 91.Uno.1.5o und Dos.1.3o des spanischen Mehrwertsteuergesetzes vorgesehene Anwendung eines ermäßigten Mehrwertsteuersatzes auf medizinische Stoffe, die üblicherweise für die Herstellung von Medikamenten verwendet werden könnten und dafür geeignet seien, gegen die Mehrwertsteuerrichtlinie verstoße.

28.      Nach Auffassung der Kommission gestattet Kategorie 3 den Mitgliedstaaten die Anwendung eines ermäßigten Mehrwertsteuersatzes auf Gegenstände, die zwei Voraussetzungen erfüllen. Erstens müsse es sich um „Arzneimittel“ handeln, und zweitens müssten diese Arzneimittel „üblicherweise für die Gesundheitsvorsorge, die Verhütung von Krankheiten und für ärztliche und tierärztliche Behandlungen verwendet werden“.

29.      Die Kommission rügt, dass medizinische Stoffe nicht in Kategorie 3 fielen, da sie keine Enderzeugnisse darstellten und daher nicht angenommen werden könne, dass sie „üblicherweise für die Gesundheitsvorsorge, die Verhütung von Krankheiten und für ärztliche und tierärztliche Behandlungen verwendet werden“. Hätte der Unionsgesetzgeber – so die Kommission – beabsichtigt, in die in Anhang III der Mehrwertsteuerrichtlinie genannten Kategorien auch Stoffe aufzunehmen, die für die Herstellung von Gegenständen verwendet werden, hätte er dies ausdrücklich erklärt. So umfasse z. B. Anhang III Nr. 1 neben „Nahrungs- und Futtermitteln“ auch „lebende Tiere, Saatgut, Pflanzen und üblicherweise für die Zubereitung von Nahrungs- und Futtermitteln verwendete Zutaten“.

30.      Das Königreich Spanien macht geltend, dass medizinische Stoffe Arzneimittel im Sinne der Kategorie 3 seien. Mangels einer Begriffsbestimmung auf europäischer Ebene sei es gerechtfertigt, auf eine im innerstaatlichen Recht normierte Definition zurückzugreifen. Der im spanischen Mehrwertsteuergesetz benutzte Begriff „medizinischer Stoff“ entstamme einem inzwischen aufgehobenen spanischen Gesetz (Gesetz 25/1990). Die spanischen Behörden weisen darauf hin, dass sich der Begriff von dem im aktuellen Gesetz (Gesetz 29/2006) verwandten Begriff „Rohstoffe“ (materias primas) unterscheide, für deren Lieferung der ermäßigte Mehrwertsteuersatz nicht gelte.

31.      Ich schließe mich der Auffassung der Kommission bezüglich der Kriterien an, anhand deren die Gegenstände zu ermitteln sind, auf die ein ermäßigter Mehrwertsteuersatz im Rahmen der Kategorie 3 angewandt werden kann. Als Erstes stellt sich daher die Frage, ob medizinische Stoffe, die üblicherweise für die Herstellung von Medikamenten verwendet werden können und dafür geeignet sind, als Arzneimittel zu qualifizieren sind.

32.      Nach Ansicht der Kommission sollte der Begriff „Arzneimittel“ dem Begriff „Arzneimittel“ entsprechen, der in Art. 1 der Richtlinie 2001/83/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 6. November 2001 zur Schaffung eines Gemeinschaftskodexes für Humanarzneimittel(12) wie folgt definiert ist:

„Alle Stoffe oder Stoffzusammensetzungen, die als Mittel zur Heilung oder zur Verhütung menschlicher Krankheiten bezeichnet werden;

[a]lle Stoffe oder Stoffzusammensetzungen, die dazu bestimmt sind, im oder am menschlichen Körper zur Erstellung einer ärztlichen Diagnose oder zur Wiederherstellung, Besserung oder Beeinflussung der menschlichen physiologischen Funktionen angewandt zu werden, gelten ebenfalls als Arzneimittel.“

33.      In den meisten Sprachfassungen werden in Kategorie 3 einerseits und in Art. 1 der Richtlinie 2001/83 andererseits verschiedene Begriffe verwendet(13). Die Kommission weist jedoch darauf hin, dass in den deutschen Sprachfassungen in beiden Bestimmungen der Begriff „Arzneimittel“ benutzt werde. Dieser Ausdruck ist sicherlich enger als der in der englischen Sprachfassung der Kategorie 3 verwendete Begriff „pharmaceutical product“, jedoch scheint es sich bei der Verwendung ein und desselben Begriffs um eine Ausnahme von der allgemeinen Tendenz zu handeln, zwei verschiedene Wendungen zu benutzen.

34.      Für mich steht fest, dass Arzneimittel im Sinne der Richtlinie 2001/83 stets auch Arzneimittel im Sinne der Kategorie 3 sind, aber ich bezweifele, dass dieser Satz umkehrbar ist, wie die Kommission meint. Die beiden Richtlinien verfolgen recht unterschiedliche Ziele, und ohne einen ausdrücklichen Verweis auf die Begriffsbestimmung in einer anderen Richtlinie würde ich keinen Bezug zwischen den beiden Rechtsakten herstellen.

35.      Überdies fügt sich die Definition des Begriffs „Arzneimittel“ in Art. 1 der Richtlinie 2001/83 in das Konzept der ärztlichen Heilbehandlung des Menschen ein. Der Begriff „Arzneimittel“ in Kategorie 3 umfasst hingegen auch die tierärztliche Verwendung. Meines Erachtens soll mit dem Begriff „Arzneimittel“ in Kategorie 3 ein breiteres Spektrum abgedeckt werden als mit dem Begriff „Arzneimittel“ gemäß der Definition in der Richtlinie 2001/83.

36.      Das zweite Kriterium, wonach die Mittel „üblicherweise für die Gesundheitsvorsorge, die Verhütung von Krankheiten und für ärztliche und tierärztliche Behandlungen verwendet werden“, ist meiner Meinung nach entscheidend für die Frage, ob Kategorie 3 der Anwendung eines ermäßigten Mehrwertsteuersatzes auf medizinische Stoffe entgegensteht, die üblicherweise für die Herstellung von Medikamenten verwendet werden können und dafür geeignet sind.

37.      Nach dem Wortlaut der Kategorie 3 knüpft die Definition des Begriffs „Arzneimittel“ an den Verwendungszweck an. Das deutet darauf hin, dass Arzneimittel gemeint sind, deren Herstellungsprozess ein gewisses Stadium erreicht hat, in dem sie „für die Gesundheitsvorsorge, die Verhütung von Krankheiten und für ärztliche und tierärztliche Behandlungen“ verwendet werden können. Das Abstellen auf dieses ausgereifte Stadium steht auch im Einklang mit den Zielsetzungen der Regelung für ermäßigte Mehrwertsteuersätze.

38.      Ziel der Mehrwertsteuerregelung ist die Besteuerung von zum persönlichen Verbrauch bestimmten Gegenständen und damit letztlich eine Belastung des Endverbrauchers(14). Der Zweck der Regelung für ermäßigte Mehrwertsteuersätze besteht darin, die Auswirkungen der Mehrwertsteuer auf die Endverbraucher bei Gegenständen abzuschwächen, die als zum Grundbedarf gehörend angesehen werden, wie etwa Arzneimittel und medizinische Geräte für Behinderte(15).

39.      Meines Erachtens können medizinische Stoffe, die für die Herstellung von Arzneimitteln verwendet werden, eindeutig nicht als solche an Endkunden verkauft werden, sondern nur als Bestandteile des Enderzeugnisses. Soweit jedoch solche medizinischen Stoffe auch „üblicherweise für die Gesundheitsvorsorge, die Verhütung von Krankheiten und für ärztliche und tierärztliche Behandlungen verwendet“ und zum Zweck des Erwerbs durch die Verbraucher in den Verkehr gebracht werden, besteht kein Grund, weshalb für sie nicht ein ermäßigter Mehrwertsteuersatz gelten können soll.

40.      Ebenso liegt auf der Hand, dass im Fall der Anwendung eines ermäßigten Mehrwertsteuersatzes auf Arzneimittel deren pharmazeutische bzw. Dosierungsform keine Rolle spielt. Die steuerliche Neutralität gebietet, gleichartige Gegenstände, die miteinander in Wettbewerb stehen, demselben Satz zu unterwerfen, um den Wettbewerb nicht zu verfälschen. Bloße Unterschiede in der Darreichungsform, in der Gegenstände angeboten werden, z. B. als Tabletten oder in flüssiger Form, können für sich allein genommen keine unterschiedliche mehrwertsteuerliche Behandlung rechtfertigen.

41.      Für mich steht also fest, dass die Anwendung eines ermäßigten Mehrwertsteuersatzes auf die Lieferung medizinischer Stoffe, die üblicherweise für die Herstellung von Medikamenten verwendet werden und dafür geeignet sind, nur dann als mit der Mehrwertsteuerrichtlinie vereinbar angesehen werden können, wenn sie „üblicherweise für die Gesundheitsvorsorge, die Verhütung von Krankheiten und für ärztliche und tierärztliche Behandlungen verwendet“ und zum Zweck des Erwerbs durch die Verbraucher in den Verkehr gebracht werden.

42.      Ich komme demnach zu dem Ergebnis, dass der erste Klagegrund der Kommission durchgreift.

C –    Zweiter Klagegrund: Gesundheitsprodukte, Stoffe, Ausstattung oder Werkzeug, die nur zur Vorbeugung bzw. zur Diagnose, Behandlung, Linderung oder Heilung von Krankheiten oder Leiden von Menschen oder Tieren verwendet werden

43.      Mit dem zweiten Klagegrund im Rahmen der Vertragsverletzungsklage macht die Kommission geltend, die nach Art. 91.Uno.1.6o des spanischen Mehrwertsteuergesetzes vorgesehene Anwendung eines ermäßigten Mehrwertsteuersatzes auf Gesundheitsprodukte, Stoffe, Ausstattung oder Werkzeug, die objektiv nur zur Vorbeugung bzw. zur Diagnose, Behandlung, Linderung oder Heilung von Krankheiten oder Leiden von Menschen oder Tieren verwendet werden können, jedoch nicht „üblicherweise für die Linderung und die Behandlung von Behinderungen, ausschließlich für den persönlichen Gebrauch von Behinderten, verwendet werden“, stehe nicht im Einklang mit der Mehrwertsteuerrichtlinie, da solche Erzeugnisse weder in Kategorie 3 noch in Kategorie 4 fielen.

44.      Hinsichtlich Kategorie 4 führt die Kommission zwei Argumente an. Erstens seien medizinische Geräte zur tierärztlichen Verwendung nicht von Kategorie 4 umfasst, da dort nur von medizinischen Geräten, Hilfsmitteln und Vorrichtungen die Rede sei, die ausschließlich für die Verwendung beim Menschen bestimmt seien. Zweitens verweise Kategorie 4 auf Gegenstände, die ausschließlich für den persönlichen Gebrauch bestimmt seien, und schließe somit für den allgemeinen Gebrauch bestimmte Gegenstände aus.

45.      Dem hält das Königreich Spanien entgegen, dass der Ausdruck „Arzneimittel“ in Kategorie 3 auch Gesundheitsprodukte umfasse, da in Art. 168 AEUV die Begriffe „Arzneimittel“ und „Medizinprodukte“ unter derselben Zielsetzung, nämlich Schutz der öffentlichen Gesundheit, zusammengefasst seien, woraus sich ergebe, dass der Schutz des einen auch den Schutz des anderen beinhalte(16). Bei dieser Auslegung werde Kategorie 4 keineswegs bedeutungslos, da dort ein ganz spezifischer Gebrauch medizinischer Geräte angesprochen werde, die nicht unter den Begriff „Arzneimittel“ im Sinne der Kategorie 3 fielen. Die Einbeziehung von Geräten in Kategorie 3, die nicht für diesen spezifischen Gebrauch bestimmt seien, die aber „üblicherweise für die Gesundheitsvorsorge, die Verhütung von Krankheiten und für ärztliche und tierärztliche Behandlungen verwendet werden“, stellt daher nach Ansicht des Königreichs Spanien keinen Widerspruch dar.

46.      Dieses vom Königreich Spanien befürwortete weite Verständnis des Begriffs „Arzneimittel“ hat dazu geführt, dass die Dirección General de Tributos (spanische allgemeine Steuerbehörde) z. B. auf Blutdruckmessgeräte, Thermometer, Akupunkturnadeln und -material sowie auf für die medizinische Verwendung bestimmte Handschuhe, Masken, Kittel und Hauben einen Mehrwertsteuersatz in Höhe von 8 % anwendet.

47.      Zunächst muss ich der Kommission darin zustimmen, dass Art. 168 AEUV hier nicht einschlägig ist, da diese Bestimmung lediglich die Qualität und Sicherheit von Arzneimitteln und Medizinprodukten betrifft.

48.      Was das Vorbringen des Königreichs Spanien betrifft, wonach der Begriff „Arzneimittel“ Gesundheitsprodukte umfasse, die über die in Kategorie 4 genannten hinausgingen, so erklären sich der Wortlaut und die Systematik der Kategorien 3 und 4 insoweit aus sich selbst heraus. Hätte der Begriff „Arzneimittel“ tatsächlich Gesundheitsprodukte umfassen sollen, die über die in Kategorie 4 genannten hinausgehen, wäre es einfacher gewesen, eine einzige Kategorie aufzuführen, in die alle „Arzneimittel“ fallen, und zwar einschließlich derjenigen, die für den in Kategorie 4 genannten spezifischen Gebrauch bestimmt sind, anstatt zwei eigenständige, detailliertere Kategorien zu schaffen.

49.      In den meisten Sprachfassungen der Mehrwertsteuerrichtlinie wird im Rahmen der Kategorie 3 ein Wort verwendet, das aus dem lateinischen pharmaceuticus abgeleitet ist und „von arzneilicher Beschaffenheit“ bedeutet. Der entscheidende Faktor für die Bestimmung der Gegenstände, die in diese Kategorie fallen, ist daher ihre chemische oder biochemische(17) Zusammensetzung und nicht allein ihr Verwendungszweck zur Vorbeugung bzw. zur Diagnose, Behandlung oder Linderung von Krankheiten.

50.      Nach dem Wortlaut der Kategorie 4 muss es sich bei medizinischen Geräten, auf die ein ermäßigter Mehrwertsteuersatz angewandt werden kann, um Gegenstände handeln, die „ausschließlich für den persönlichen Gebrauch von Behinderten bestimmt sind“. Zu diesem Wortlaut ist zweierlei anzumerken. Erstens bezieht sich Kategorie 4 auf Gesundheitsprodukte, die ausschließlich beim Menschen verwendet werden – von einer tierärztlichen Verwendung ist nicht die Rede. Zweitens gilt die Anwendung eines ermäßigten Mehrwertsteuersatzes nur bei Gesundheitsprodukten, die „ausschließlich für den persönlichen Gebrauch“ bestimmt sind, so dass zum allgemeinen Gebrauch bestimmte Produkte ausgeschlossen sind.

51.      Es kann davon ausgegangen werden, dass der Gesetzgeber, falls er auch medizinische Geräte für die tierärztliche Verwendung hätte einbeziehen wollen, wie dies bei Kategorie 3 der Fall ist, diese ausdrücklich in Kategorie 4 aufgeführt hätte. Somit steht die Anwendung eines ermäßigten Mehrwertsteuersatzes auf Gesundheitsprodukte, Stoffe, Ausstattung oder Werkzeug, die zur Diagnose und Behandlung von Tierkrankheiten verwendet werden, offenkundig nicht im Einklang mit der Mehrwertsteuerrichtlinie.

52.      Aus dem Wortlaut der Kategorie 4 geht ebenso deutlich hervor, dass zum allgemeinen Gebrauch bestimmte medizinische Geräte, Hilfsmittel und Vorrichtungen ausgeschlossen sind, die zur Gesundheitsvorsorge für die Verhütung und Diagnose von Krankheiten z. B. vom Arzt- oder Krankenpflegepersonal in Krankenhäusern und Kliniken verwendet werden. Jeder allgemeine Gebrauch von Arzneimitteln, selbst wenn man diesen Begriff in dem vom Königreich Spanien befürworteten weiten Sinne auslegen wollte, ist von der Möglichkeit der Anwendung eines ermäßigten Mehrwertsteuersatzes ausgeschlossen. In den verschiedenen Sprachfassungen scheinen hinsichtlich der Voraussetzung des persönlichen Gebrauchs der Geräte keine Abweichungen zu bestehen(18).

53.      Wie oben dargelegt, liegt der ausnahmsweisen Zulassung ermäßigter Mehrwertsteuersätze ein sozialpolitisches Ziel zugrunde, nämlich die mehrwertsteuerliche Belastung der Einzelnen für Gegenstände zu mindern, die als Gegenstände des Grundbedarfs gelten. Mit diesem Ziel lässt sich nicht vereinbaren, einen ermäßigten Mehrwertsteuersatz auf die Lieferung von Gegenständen anzuwenden, die im Rahmen der ärztlichen Heilbehandlung verwendet werden, wobei solche Heilbehandlungen im Übrigen ihrerseits nach Art. 132 der Mehrwertsteuerrichtlinie von der Mehrwertsteuer befreit werden können.

54.      Daher bin ich der Meinung, dass ein ermäßigter Mehrwertsteuersatz für die Lieferung von Gesundheitsprodukten, Stoffen, Ausstattung oder Werkzeug, die objektiv nur zur Vorbeugung bzw. zur Diagnose, Behandlung, Linderung oder Heilung von Krankheiten oder Leiden von Menschen oder Tieren verwendet werden können, jedoch nicht „üblicherweise für die Linderung und die Behandlung von Behinderungen, ausschließlich für den persönlichen Gebrauch von Behinderten, verwendet werden“, weder in den Anwendungsbereich der Kategorie 3 noch in den der Kategorie 4 fällt.

55.      Ich komme demnach zu dem Ergebnis, dass der zweite Klagegrund der Kommission durchgreift.

D –    Dritter Klagegrund: Geräte und Zubehör, die im Wesentlichen oder hauptsächlich dazu dienen können, körperliche Behinderungen von Tieren auszugleichen

56.      Der von der Kommission angeführte dritte Klagegrund im Rahmen der Vertragsverletzungsklage betrifft die Anwendung eines ermäßigten Mehrwertsteuersatzes auf Geräte und Zubehör, die im Wesentlichen oder hauptsächlich dazu dienen können, körperliche Behinderungen von Tieren auszugleichen. Nach Auffassung der Kommission steht dies nicht im Einklang mit Kategorie 4, da dort nicht auf Tiere Bezug genommen werde. Die spanische Bestimmung sei auch nicht von Kategorie 3 gedeckt, da die in der nationalen Vorschrift genannten Gegenstände keine Arzneimittel darstellten.

57.      Nach Ansicht des Königreichs Spanien sind Gesundheits- und tierärztliche Produkte Arzneimittel im Sinne der Kategorie 3.

58.      In Kategorie 4, die nach ihrem Wortlaut medizinische Geräte, Hilfsmittel und sonstige Vorrichtungen erfasst, findet sich keine Bezugnahme auf die tierärztliche Verwendung solcher Produkte. Da in Kategorie 3 die tierärztliche Verwendung ausdrücklich erwähnt ist, ist der Schluss erlaubt, dass der Unionsgesetzgeber, hätte er die Einbeziehung von Geräten für die Linderung und die Behandlung von Tierbehinderungen beabsichtigt, Kategorie 4 dementsprechend formuliert hätte.

59.      Wenn man darüber hinaus noch berücksichtigt, dass auch in anderen Bereichen der Mehrwertsteuerregelung zwischen Veterinärmedizin und Humanmedizin unterschieden wird(19), muss ich zu dem Ergebnis gelangen, dass die Anwendung eines ermäßigten Mehrwertsteuersatzes auf die Lieferung von Geräten und Zubehör, die im Wesentlichen oder hauptsächlich dazu dienen können, körperliche Behinderungen von Tieren auszugleichen, nicht mit der Mehrwertsteuerrichtlinie vereinbar ist.

60.      Ich komme demnach zu dem Ergebnis, dass der dritte Klagegrund der Kommission durchgreift.

E –    Vierter Klagegrund: Geräte und Zubehör, die im Wesentlichen oder hauptsächlich dazu verwendet werden, Behinderungen des Menschen auszugleichen, jedoch nicht ausschließlich dem persönlichen Gebrauch des „Behinderten“ dienen

61.      Mit dem vierten Klagegrund rügt die Kommission, dass die Anwendung eines ermäßigten Mehrwertsteuersatzes auf medizinische Geräte und Zubehör, die im Wesentlichen oder hauptsächlich dazu verwendet werden, körperliche Behinderungen des Menschen auszugleichen, jedoch nicht ausschließlich dem persönlichen Gebrauch des „Behinderten“ dienen, nicht im Einklang mit der Mehrwertsteuerrichtlinie stehe, da Kategorie 4 keine zum allgemeinen Gebrauch bestimmten medizinischen Geräte erfasse. Außerdem macht die Kommission geltend, dass die spanische Auslegung des Begriffs „Behinderter“ zu weit sei, weil er de facto gleichbedeutend mit „Kranker“ benutzt werde.

62.      Das Königreich Spanien wendet ein, dass es den Begriff „Behinderter“ mangels einer unionsrechtlichen Definition entsprechend der Terminologie der Weltgesundheitsorganisation festgelegt habe. Dies führe – auch im Bereich der Mehrwertsteuer – zu einer Auslegung dahin, dass der Begriff „Behinderter“ alle Personen bezeichne, die aufgrund einer Krankheit in ihren Fähigkeiten eingeschränkt seien.

63.      Aus dem Wortlaut der Kategorie 4 geht hervor, dass die Regelung für ermäßigte Mehrwertsteuersätze sich auf medizinische Geräte beziehen soll, die ausschließlich für den Gebrauch von Behinderten bestimmt sind, und dass dieser Gebrauch persönlich sein muss, d. h., wie oben dargelegt nicht allgemein sein darf. Daraus ergeben sich zwei Fragen: Wie ist erstens der Begriff „Behinderter“ im Rahmen der Mehrwertsteuerregelung der Union zu verstehen, und umfasst zweitens die Wendung „ausschließlicher Gebrauch“ auch den Gebrauch entsprechend dem ersten Absatz von Art. 91.Uno.1.6o des spanischen Mehrwertsteuergesetzes?

64.      Was die Auslegung des in Kategorie 4 verwendeten Begriffs „Behinderter“ betrifft, meine ich, dass mangels einer ausdrücklichen mehrwertsteuerlichen Definition hierfür auf die Definition im Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen zurückgegriffen werden kann, zu dessen Vertragsparteien die Union gehört(20) und dem zufolge „[z]u den Menschen mit Behinderungen … Menschen [zählen], die langfristige körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, welche sie in Wechselwirkung mit verschiedenen Barrieren an der vollen, wirksamen und gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft hindern können“(21).

65.      Dem lässt sich entnehmen, dass ein wesentliches Merkmal der Definition des Begriffs „Behinderter“ eine Beeinträchtigung ist, die den Einzelnen langfristig an einem normalen Leben in der Gesellschaft hindert. Meines Erachtens spielt die Ursache der Beeinträchtigung keine Rolle; der Begriff „Behinderter“ in Kategorie 4 ist weit genug, um auch Behinderungen zu erfassen, die auf einer schweren oder chronischen Krankheit beruhen, ohne dass er gleichbedeutend mit „Kranker“ verwendet wird(22).

66.      Der Anwendungsbereich der Kategorie 4 wird weiter eingeschränkt durch die Vorgabe, dass ein ermäßigter Mehrwertsteuersatz nur auf diejenigen medizinischen Geräte, Hilfsmittel und sonstigen Vorrichtungen angewandt werden kann, die ausschließlich für den persönlichen Gebrauch von Behinderten bestimmt sind. Damit wird der allgemeine Gebrauch derjenigen Gegenstände vom Anwendungsbereich ausgenommen, die zwar für die Linderung und die Behandlung von körperlichen Behinderungen bestimmt sind, aber in Krankenhäusern, Gesundheitszentren, Kliniken und anderen Einrichtungen zur Versorgung von Behinderten eingesetzt werden. Überdies sind damit Gegenstände ausgenommen, die von Behinderten benötigt werden, aber auch anderen Verwendungszwecken dienen.

67.      Bestimmte Gegenstände können sowohl zum Gebrauch von Behinderten als auch für andere Zwecke bestimmt sein. Der Gerichtshof hat entschieden, dass der Zweck der Lieferung eines Gegenstands tatsächlich ein Indiz dafür sein kann, ob ein ermäßigter Mehrwertsteuersatz angewandt werden darf(23). Im Kontext des vorliegenden Verfahrens ließe sich in der Praxis jedoch unmöglich gewährleisten, dass ausschließlich Behinderten – die ja eindeutig die begünstigte Zielgruppe der Regelung für ermäßigte Mehrwertsteuersätze sind – die Vorteile des ermäßigten Mehrwertsteuersatzes zugutekommen.

68.      Der Mehrwertsteuerausschuss hat in seinen Leitlinien erklärt, dass „die Mitgliedstaaten einen ermäßigten MwSt-Satz auf Produkte anwenden können, die speziell für Behinderte bestimmt sind (medizinische Geräte bzw. Hilfsmittel und ähnliche Vorrichtungen), die üblicherweise nur von (dauerhaft oder vorübergehend) behinderten Personen erworben oder verwendet werden, um ihre Beschwerden zu lindern oder zu behandeln. Produkte, die normalerweise für andere Zwecke verwendet werden (z. B. schnurlose Telefone), sind hiervon ausgenommen, ebenso medizinische Geräte bzw. Hilfsmittel, die für allgemeine Zwecke und nicht speziell für Behinderte bestimmt sind (z. B. Röntgengeräte).“(24)

69.      Die Kommission hat unlängst vorgeschlagen, in Kategorie 4 Hilfsmittel und Vorrichtungen aufzunehmen, die speziell für Behinderte entwickelt oder ausgestattet worden seien (z. B. Blindentastatur, speziell für Behinderte ausgestattetes Fahrzeug), auf die der ermäßigte Satz nicht anwendbar sei, obwohl diese Gegenstände genau dieser Art von Bedarf entsprächen(25), jedoch wurden diese Änderungen nicht in die Richtlinie 2009/47/EG zur Änderung der Mehrwertsteuerrichtlinie(26) übernommen.

70.      In diesem Zusammenhang ist daran zu erinnern, dass es neben der Anwendung ermäßigter Mehrwertsteuersätze noch andere Möglichkeiten für die Mitgliedstaaten gibt, die finanzielle Belastung von Behinderten zu mindern, die Hilfsmittel benötigen, die auch für andere Zwecke verwendet werden können.

71.      Deshalb bin ich der Meinung, dass der Anwendungsbereich der Kategorie 4 einem ermäßigten Mehrwertsteuersatz für im Wesentlichen oder hauptsächlich von Behinderten verwendete Gegenstände entgegensteht.

72.      Ich komme daher zu dem Ergebnis, dass der vierte Klagegrund der Kommission durchgreift.

VII – Ergebnis

73.      Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor,

1.      festzustellen, dass das Königreich Spanien dadurch gegen seine Verpflichtungen aus Art. 98 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem in Verbindung mit Anhang III dieser Richtlinie verstoßen hat, dass es auf folgende Kategorien von Gegenständen einen ermäßigten Mehrwertsteuersatz anwendet:

–        medizinische Stoffe, die üblicherweise für die Herstellung von Medikamenten verwendet werden können und dafür geeignet sind;

–        Gesundheitsprodukte, Stoffe, Ausstattung oder Werkzeug, die objektiv nur zur Vorbeugung bzw. zur Diagnose, Behandlung, Linderung oder Heilung von Krankheiten oder Leiden von Menschen oder Tieren verwendet werden können, jedoch nicht „üblicherweise für die Linderung und die Behandlung von Behinderungen verwendet werden und ausschließlich für den persönlichen Gebrauch von Behinderten bestimmt sind“;

–        Geräte und Zubehör, die im Wesentlichen oder hauptsächlich dazu dienen können, körperliche Behinderungen von Tieren auszugleichen;

–        Geräte und Zubehör, die im Wesentlichen oder hauptsächlich dazu verwendet werden, Behinderungen des Menschen auszugleichen, jedoch nicht ausschließlich dem persönlichen Gebrauch des Behinderten dienen;

2.      dem Königreich Spanien die Kosten aufzuerlegen.


1 – Originalsprache: Englisch.


2 – ABl. L 347, S. 1.


3 – Nr. 37/1992.


4 – Vgl. siebter Erwägungsgrund der Mehrwertsteuerrichtlinie.


5 – Vgl. Urteile vom 3. April 2008, Zweckverband zur Trinkwasserversorgung und Abwasserbeseitigung Torgau-Westelbien (C-442/05, Slg. 2008, I-1817, Randnr. 42 und die dort angeführte Rechtsprechung).


6 – Vgl. Urteile vom 18. Januar 2001, Kommission/Spanien (C-83/99, Slg. 2001, I-445, Randnr. 19 und die dort angeführte Rechtsprechung), und aus jüngerer Zeit vom 18. März 2010, Erotic Center (C-3/09, Slg. 2010, I-2361, Randnr. 15).


7 – Vgl. z. B. Urteil vom 29. Oktober 2009, NCC Construction Danmark (C-174/08, Slg. 2009, I-10567, Randnr. 24 und die dort angeführte Rechtsprechung).


8 – Nach Art. 100 der Mehrwertsteuerrichtlinie ist es Sache des Rates, auf der Grundlage eines Berichts der Kommission alle zwei Jahre den Anwendungsbereich der ermäßigten Steuersätze zu überprüfen und das Verzeichnis von Gegenständen und Dienstleistungen in Anhang III erforderlichenfalls zu ändern.


9 – Sechste Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage (ABl. L 145, S.1, im Folgenden: Sechste Mehrwertsteuerrichtlinie). Der Anhang H der Sechsten Mehrwertsteuerrichtlinie wurde in Anhang III der neu gefassten Mehrwertsteuerrichtlinie ohne Änderung des Wortlauts der Nrn. 3 und 4 übernommen.


10 –      Vgl. Bericht der Kommission an den Rat gemäß den Artikeln 12 Absatz 4 und 28 Absatz 2 Buchstabe g der Sechsten Richtlinie des Rates vom 17. Mai 1977 (geänderte Fassung) zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: Einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage, KOM(94) 584 endg., S. 12.


11 – Vgl. Urteil NCC Construction Danmark, Randnr. 23 und die dort angeführte Rechtsprechung.


12 – ABl. L 311, S. 67.


13 – Im Englischen z. B. „pharmaceutical product“ gegenüber „medicinal product“, im Französischen „les produits pharmaceutiques“ gegenüber „médicament“, im Italienischen „prodotti farmaceutici“ gegenüber „medicinale“.


14 – Vgl. z. B. Urteil vom 3. Mai 2012, Lebara (C-520/10, Randnr. 24 und die dort angeführte Rechtsprechung).


15 – Vgl. z. B. Urteil vom 3. Mai 2001, Kommission/Frankreich (C-481/98, Slg. 2001, I-3369, Randnr. 32).


16 – In Art. 168 Abs. 4 Buchst. c AEUV sind „Maßnahmen zur Festlegung hoher Qualitäts- und Sicherheitsstandards für Arzneimittel und Medizinprodukte“ als Mittel zur Erreichung der in Art. 168 genannten Ziele aufgezählt.


17 – Es sei daran erinnert, dass für die Substitutionsbehandlung von Krankheiten wie Hypothyreose und insulinabhängiger Diabetes ursprünglich Hormone tierischen Ursprungs verwendet wurden, ehe die Fortschritte in der Biotechnologie die synthetische Herstellung menschlicher Hormone ermöglichten.


18 – So lautet z. B. die in der spanischen Sprachfassung von Anhang III Nr. 4 benutzte Wendung „uso personal y exclusivo“.


19 – Im Urteil vom 24. Mai 1988, Kommission/Italien (122/87, Slg. 1988, 2685), hat der Gerichtshof entschieden, dass die Leistungen der Tierärzte nicht von der Mehrwertsteuer befreit werden können, obwohl die im Rahmen der Ausübung der ärztlichen und arztähnlichen Berufe erbrachten Heilbehandlungen befreit sind.


20 – Beschluss 2010/48/EG des Rates vom 26. November 2009 über den Abschluss des Übereinkommens der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen durch die Europäische Gemeinschaft (ABl. 2010, L 23, S. 35).


21 – Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen, Vereinte Nationen, Treaty Series, Vol. 2515, S. 3.


22 – Vg auch entsprechend Urteil vom 11. Juli 2006, Chacón Navas (C-13/05, Slg. 2006, I-6467, Randnr. 44), in dem der Gerichtshof zu dem Ergebnis kommt, dass in Bezug auf die Richtlinie 2000/78/EG des Rates vom 27. November 2000 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf (ABl. L 303, S. 16) die Begriffe „Behinderung“ und „Krankheit“ sich nicht einander gleichsetzen lassen.


23 – Vgl. Urteil vom 3. März 2011, Kommission/Niederlande (C-41/09, Slg. 2011, I-831, Randnr. 57), in dem der Gerichtshof ausgeführt hat, dass auf die Lieferung eines Pferdes dann ein ermäßigter Mehrwertsteuersatz angewandt werden könne, wenn das Pferd im Hinblick auf seine Schlachtung geliefert werde, um für die Zubereitung von Nahrungs- oder Futtermitteln verwendet zu werden, obwohl die Lieferung von Pferden im Allgemeinen nicht zu einem ermäßigten Satz besteuert werden könne.


24 – Vgl. Mehrwertsteuerausschuss, Leitlinien aus der 54. Sitzung vom 16. bis 18. Februar 1998, abrufbar unter http://ec.europa.eu/taxation_customs/resources/documents/taxation/vat/key_documents/vat_committee/2012_guidelines-vat-committee-meetings_de.pdf.


25 – KOM(2008) 428 endg.


26 – ABl. L 116, S. 18.