Available languages

Taxonomy tags

Info

References in this case

Share

Highlight in text

Go

SCHLUSSANTRÄGE DER GENERALANWÄLTIN

Juliane Kokott

vom 6. November 2014(1)

Rechtssache C-499/13

Marian Macikowski – in seiner Funktion als Gerichtsvollzieher beim Sąd Rejonowy w Chojnicach (Amtsgericht Chojnice)

gegen

Dyrektor Izby Skarbowej w Gdańsku (Direktor der Finanzkammer Danzig)

(Vorabentscheidungsersuchen des Naczelny Sąd Administracyjny [Polen])

„Steuerrecht – Mehrwertsteuer – Art. 193, Art. 199 Abs. 1 Buchst. g sowie Art. 204 bis 206 der Richtlinie 2006/112/EG – Lieferung einer Immobilie im Wege einer Zwangsversteigerung – Pflicht des beteiligten Gerichtsvollziehers zur Ermittlung, Einziehung und Entrichtung der Mehrwertsteuer – Haftung für die nicht entrichtete Steuer – Grundsatz der Verhältnismäßigkeit – Grundsatz der steuerlichen Neutralität“





I –    Einleitung

1.        Jedes Steuergesetz bleibt wirkungslos, wenn seine effektive Durchsetzung nicht gewährleistet ist. Es nimmt daher nicht wunder, dass die Mitgliedstaaten der Union letzterem Gesichtspunkt mit besonderer Aufmerksamkeit zugetan sind. So mangelt es ihnen nicht an Ideen zur Auferlegung vielfältiger Pflichten, um die Steuereinnahmen des Fiskus tatsächlich sicherzustellen.

2.        Dem vorliegenden Vorabentscheidungsersuchen liegt eine mehrwertsteuerpflichtige Lieferung zugrunde, die durch die Zwangsversteigerung einer Immobilie bewirkt wurde. Dem an diesem Vorgang beteiligten Gerichtsvollzieher kommen nach polnischem Recht spezielle Pflichten im Hinblick auf die entstehende Mehrwertsteuer zu, weil man dem Schuldner im Zwangsversteigerungsverfahren die Entrichtung der Steuer selbst nicht zutraut. Handelt der Gerichtsvollzieher pflichtwidrig, wird er in Haftung genommen.

3.        Der Gerichtshof wird im vorliegenden Verfahren zu klären haben, ob derartige Pflichten des Gerichtsvollziehers im Einklang mit dem Mehrwertsteuerrecht der Union stehen.

II – Rechtlicher Rahmen

A –    Unionsrecht

4.        Die Mehrwertsteuer wurde in der Union in dem Zeitraum, der für den Ausgangsrechtsstreit maßgeblich ist, auf der Grundlage der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem(2) (im Folgenden: Mehrwertsteuerrichtlinie) erhoben.

5.        Nach Art. 9 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie gilt als „Steuerpflichtiger“, „wer eine wirtschaftliche Tätigkeit unabhängig von ihrem Ort, Zweck und Ergebnis selbstständig ausübt“.

6.        Titel XI der Mehrwertsteuerrichtlinie handelt von den „Pflichten der Steuerpflichtigen und bestimmter nichtsteuerpflichtiger Personen“. Innerhalb des ersten Kapitels („Zahlungspflicht“) dieses Titels finden sich in den Art. 192a bis 205 Bestimmungen zum „Steuerschuldner gegenüber dem Fiskus“.

7.        Art. 193 der Mehrwertsteuerrichtlinie lautet:

„Die Mehrwertsteuer schuldet der Steuerpflichtige, der Gegenstände steuerpflichtig liefert oder eine Dienstleistung steuerpflichtig erbringt, außer in den Fällen, in denen die Steuer gemäß den Artikeln 194 bis 199 sowie 202 von einer anderen Person geschuldet wird.“

8.        Nach Art. 199 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie können die Mitgliedstaaten vorsehen, dass „der steuerpflichtige Empfänger die Mehrwertsteuer schuldet, an den folgende Umsätze bewirkt werden:

[…]

g)       Lieferung von Grundstücken, die vom Schuldner im Rahmen eines Zwangsversteigerungsverfahrens verkauft werden“.

9.        Art. 204 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie bestimmt:

„Ist der Steuerschuldner gemäß den Artikeln 193 bis 197 sowie 199 und 200 ein Steuerpflichtiger, der nicht in dem Mitgliedstaat ansässig ist, in dem die Mehrwertsteuer geschuldet wird, können die Mitgliedstaaten ihm gestatten, einen Steuervertreter zu bestellen, der die Steuer schuldet.

Wird der steuerpflichtige Umsatz von einem Steuerpflichtigen bewirkt, der nicht in dem Mitgliedstaat ansässig ist, in dem die Mehrwertsteuer geschuldet wird, und besteht mit dem Staat, in dem dieser Steuerpflichtige seinen Sitz oder eine feste Niederlassung hat, keine Rechtsvereinbarung über Amtshilfe, deren Anwendungsbereich mit dem der Richtlinie 76/308/EWG sowie der Verordnung (EG) Nr. 1798/2003 vergleichbar ist, können die Mitgliedstaaten Vorkehrungen treffen, nach denen ein von dem nicht in ihrem Gebiet ansässigen Steuerpflichtigen bestellter Steuervertreter die Steuer schuldet.“

10.      Art. 205 der Mehrwertsteuerrichtlinie sieht vor:

„In den in den Artikeln 193 bis 200 sowie 202, 203 und 204 genannten Fällen können die Mitgliedstaaten bestimmen, dass eine andere Person als der Steuerschuldner die Steuer gesamtschuldnerisch zu entrichten hat.“

11.      Die folgenden Artikel befassen sich mit den „Einzelheiten der Entrichtung“. Dort regelt Art. 206 der Mehrwertsteuerrichtlinie:

„Jeder Steuerpflichtige, der die Steuer schuldet, hat bei der Abgabe der Mehrwertsteuererklärung nach Artikel 250 den sich nach Abzug der Vorsteuer ergebenden Mehrwertsteuerbetrag zu entrichten. Die Mitgliedstaaten können jedoch einen anderen Termin für die Zahlung dieses Betrags festsetzen oder Vorauszahlungen erheben.“

12.      Im Rahmen des fünften Kapitels („Erklärungspflichten“) von Titel XI bestimmt Art. 250 der Mehrwertsteuerrichtlinie auszugsweise:

„(1)      Jeder Steuerpflichtige hat eine Mehrwertsteuererklärung abzugeben, die alle für die Festsetzung des geschuldeten Steuerbetrags und der vorzunehmenden Vorsteuerabzüge erforderlichen Angaben enthält, gegebenenfalls einschließlich des Gesamtbetrags der für diese Steuer und Abzüge maßgeblichen Umsätze sowie des Betrags der steuerfreien Umsätze, soweit dies für die Feststellung der Steuerbemessungsgrundlage erforderlich ist.

[…]“

13.      Art. 252 der Mehrwertsteuerrichtlinie lautet:

„(1)      Die Mehrwertsteuererklärung ist innerhalb eines von den einzelnen Mitgliedstaaten festzulegenden Zeitraums abzugeben. Dieser Zeitraum darf zwei Monate nach Ende jedes einzelnen Steuerzeitraums nicht überschreiten.

(2)      Der Steuerzeitraum kann von den Mitgliedstaaten auf einen, zwei oder drei Monate festgelegt werden.

Die Mitgliedstaaten können jedoch andere Zeiträume festlegen, sofern diese ein Jahr nicht überschreiten.“

14.      Innerhalb des siebten Kapitels („Verschiedenes“) von Titel XI bestimmt schließlich Art. 273 der Mehrwertsteuerrichtlinie:

„Die Mitgliedstaaten können vorbehaltlich der Gleichbehandlung der von Steuerpflichtigen bewirkten Inlandsumsätze und innergemeinschaftlichen Umsätze weitere Pflichten vorsehen, die sie für erforderlich erachten, um eine genaue Erhebung der Steuer sicherzustellen und um Steuerhinterziehung zu vermeiden, sofern diese Pflichten im Handelsverkehr zwischen den Mitgliedstaaten nicht zu Formalitäten beim Grenzübertritt führen.

Die Möglichkeit nach Absatz 1 darf nicht dazu genutzt werden, zusätzlich zu den in Kapitel 3 genannten Pflichten weitere Pflichten in Bezug auf die Rechnungsstellung festzulegen.“

B –    Nationales Recht

15.      Art. 18 der Ustawa o podatku od towarów i usług vom 11. März 2004 (im Folgenden: polnisches Umsatzsteuergesetz) bestimmt:

„[…] Gerichtsvollzieher, die Zwangsvollstreckungsmaßnahmen im Sinne der Vorschriften der Zivilprozessordnung durchführen, sind zur Zahlung der Steuer auf im Wege der Zwangsvollstreckung vorgenommene Lieferungen von Waren, die Eigentum des Schuldners sind oder sich unter Verletzung der geltenden Vorschriften in seinem Besitz befinden, verpflichtet.“

16.      Art. 8 der Ustawa Ordynacja podatkowa vom 29. August 1997 (im Folgenden: polnische Abgabenordnung) definiert den „Steuerzahler“ als u. a. „eine natürliche Person, eine juristische Person oder eine Organisationseinheit ohne eigene Rechtspersönlichkeit, die aufgrund der Vorschriften des Steuerrechts verpflichtet ist, die Steuer des Steuerpflichtigen zu ermitteln, sie einzuziehen und innerhalb der festgelegten Frist der Steuerbehörde zu entrichten“.

17.      Art. 30 der polnischen Abgabenordnung lautet auszugsweise:

„§ 1 Der Steuerzahler, der seine in Art. 8 festgelegten Pflichten nicht erfüllt hat, haftet für die nicht eingezogene oder die eingezogene, aber nicht entrichtete Steuer.

[…]

§ 3 Der Steuerzahler […] haftet für die in [§ 1] genannten Forderungen mit seinem gesamten Vermögen.

§ 4 Stellt die Steuerbehörde im Laufe des Steuerverfahrens die in [§ 1] genannten Umstände fest, so erlässt sie einen Bescheid über die Steuerhaftung des Steuerzahlers […], in dem sie die Höhe der Forderung für die nicht eingezogene oder eingezogene, aber nicht entrichtete Steuer festlegt.“

III – Ausgangsrechtsstreit und Verfahren vor dem Gerichtshof

18.      Der Ausgangsrechtsstreit betrifft die Haftung des Herrn Macikowski für Mehrwertsteuer, die aufgrund einer Zwangsversteigerung entstanden ist.

19.      Im Februar 2007 hatte Herr Macikowski in seiner Funktion als Gerichtsvollzieher im Rahmen eines Vollstreckungsverfahrens gegen ein in Polen ansässiges Unternehmen die Zwangsversteigerung einer in dessen Eigentum befindlichen Immobilie durchgeführt. Der Zuschlagspreis wurde von den Erwerbern vollständig auf das Hinterlegungskonto bei Gericht eingezahlt und der Eigentumsübergang im August 2007 rechtskräftig.

20.      Im Juni 2009 erließ die Steuerbehörde auf der Grundlage von Art. 18 des polnischen Umsatzsteuergesetzes in Verbindung mit den Art. 8 und 30 §§ 1, 3 und 4 der polnischen Abgabenordnung einen Bescheid über die Haftung von Herrn Macikowski als Steuerzahler, da er die für den Verkauf der Immobilie fällige Mehrwertsteuer nicht entrichtet hatte. Der Steuerbehörde zufolge hätte er bereits im November 2007 eine Mehrwertsteuerrechnung über den Vorgang ausstellen und die Steuer in der Folge im Namen des steuerpflichtigen Lieferers der Immobilie entrichten müssen. Herr Macikowski informierte die Steuerbehörde schließlich im September 2009 über die von ihm vorgenommene Entrichtung der Steuer.

21.      Herr Macikowski focht die Entscheidung über seine Haftung als Steuerzahler beim Direktor der Finanzkammer Danzig an, nachdem sie trotz seines bei der Steuerbehörde eingelegten Einspruchs aufrechterhalten wurde. Unter anderem machte er geltend, dass er nicht über den Versteigerungserlös aus dem Verkauf der Immobilie habe verfügen können, da sich der Erlös auf dem Hinterlegungskonto des Gerichts befunden habe. Solange der von ihm Ende Oktober 2008 vorgelegte Aufteilungsplan vom Gericht nicht rechtskräftig bestätigt worden sei, sei er nicht in der Lage gewesen, die Steuer zu entrichten.

22.      Der mittlerweile mit dem Rechtsstreit befasste Naczelny Sąd Administracyjny (Verwaltungsgerichtshof) bezweifelt die Vereinbarkeit der genannten polnischen Bestimmungen mit dem Unionsrecht und hat sich am 16. September 2013 gemäß Art. 267 AEUV mit den folgenden Fragen an den Gerichtshof gewandt:

1.      Ist im Lichte des Mehrwertsteuersystems, das auf der Mehrwertsteuerrichtlinie beruht, insbesondere im Hinblick auf die Art. 9 und 193 in Verbindung mit Art. 199 Abs. 1 Buchst. g, eine Vorschrift des innerstaatlichen Rechts wie Art. 18 des polnischen Umsatzsteuergesetzes zulässig, die Ausnahmen von den allgemeinen mehrwertsteuerrechtlichen Grundsätzen einführt, vor allem in Bezug auf die Rechtssubjekte, die zur Ermittlung und Einziehung der Steuer verpflichtet sind, indem sie das Institut des Steuerzahlers schafft, d. h. eines Rechtssubjekts, das verpflichtet ist, für den Steuerpflichtigen die Höhe der Steuer zu ermitteln, sie von dem Steuerpflichtigen einzuziehen und fristgerecht der Steuerbehörde zu entrichten?

2.      Für den Fall, dass Frage 1 zu bejahen ist:

2.1      Ist im Lichte des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes als allgemeinem Grundsatz des Unionsrechts eine Vorschrift des innerstaatlichen Rechts wie Art. 18 des polnischen Umsatzsteuergesetzes zulässig, wonach u. a. die Steuer auf die Lieferung von Immobilien im Wege der Zwangsvollstreckung in Waren, die Eigentum des Schuldners sind oder sich unter Verletzung der geltenden Vorschriften in seinem Besitz befinden, von dem mit der Durchführung der Zwangsvollstreckungsmaßnahmen betrauten Gerichtsvollzieher ermittelt, eingezogen und entrichtet werden, der als Steuerzahler für die Nichterfüllung dieser Pflicht haftet?

2.2      Ist im Lichte der Art. 206, 250 und 252 der Mehrwertsteuerrichtlinie und des sich aus ihr ergebenden Neutralitätsgrundsatzes eine Vorschrift des innerstaatlichen Rechts wie Art. 18 des polnischen Umsatzsteuergesetzes zulässig, die dazu führt, dass der in dieser Vorschrift genannte Steuerzahler verpflichtet wird, die Mehrwertsteuer auf im Wege der Zwangsvollstreckung vorgenommene Lieferungen von Waren, die Eigentum des Steuerpflichtigen sind oder sich unter Verletzung der geltenden Vorschriften in seinem Besitz befinden, zu ermitteln, einzuziehen und zu entrichten, und zwar innerhalb des für den Steuerpflichtigen geltenden Steuerzeitraums in Höhe des Betrages, der das Produkt des aus dem Verkauf der Ware erzielten Erlöses verringert um die Mehrwertsteuer und dem entsprechenden Steuersatz darstellt, ohne von diesem Betrag den Betrag der ab Beginn des Steuerzeitraums bis zum Datum der Einziehung der Steuer von dem Steuerpflichtigen angefallenen Vorsteuer abzuziehen?

23.      Im Verfahren vor dem Gerichtshof haben Herr Macikowski, die Republik Polen und die Europäische Kommission schriftliche Erklärungen abgegeben. An der mündlichen Verhandlung vom 4. September 2014 haben der Direktor der Finanzkammer Danzig, die Republik Polen sowie die Kommission teilgenommen.

IV – Rechtliche Würdigung

24.      Für das Verständnis des vorliegenden Verfahrens ist es entscheidend, zwei verschiedene Pflichtenkreise eines Gerichtsvollziehers nach den polnischen Bestimmungen zu unterscheiden.

25.      Zum einen hat der Gerichtsvollzieher im Rahmen einer Zwangsversteigerung gemäß Art. 18 des polnischen Umsatzsteuergesetzes und Art. 8 der polnischen Abgabenordnung für den Steuerpflichtigen die Höhe der Steuer zu ermitteln, sie von dem Steuerpflichtigen einzuziehen und fristgerecht der Steuerbehörde zu entrichten. Der Gerichtsvollzieher soll also mit den Geldmitteln des Steuerpflichtigen für die Erfüllung von dessen Steuerschuld Sorge tragen (im Folgenden: Einziehungspflicht).

26.      Zum anderen existiert darüber hinaus unter Umständen eine eigene Haftung des Gerichtsvollziehers für die Steuer. Erfüllt der Gerichtsvollzieher nämlich seine Einziehungspflicht nicht, so hat er die Mehrwertsteuer gemäß Art. 30 §§ 1 und 3 der polnischen Abgabenordnung aus dem eigenen Vermögen zu bezahlen (im Folgenden: Haftung).

A –    Zur Einziehungspflicht

27.      Das vorlegende Gericht möchte mit seiner ersten Vorlagefrage nun zunächst klären, ob die Bestimmungen der Mehrwertsteuerrichtlinie der Einziehungspflicht des Gerichtsvollziehers entgegenstehen.

1.      Zu den Art. 193 und 199 Abs. 1 Buchst. g der Mehrwertsteuerrichtlinie

28.      In erster Linie zieht das vorlegende Gericht in Zweifel, ob die fraglichen polnischen Vorschriften mit den Art. 193 und 199 Abs. 1 Buchst. g der Mehrwertsteuerrichtlinie vereinbar sind.

29.      Nach der Grundregel des Art. 193 der Mehrwertsteuerrichtlinie schuldet die Mehrwertsteuer der Steuerpflichtige, der Gegenstände steuerpflichtig liefert. Zudem sieht die Bestimmung aber vor, dass die Steuer auch nach den Art. 194 bis 199 und 202 der Mehrwertsteuerrichtlinie „von einer anderen Person“ geschuldet werden kann. Eine dieser Ausnahmen ist Art. 199 Abs. 1 Buchst. g der Mehrwertsteuerrichtlinie. Er ermächtigt die Mitgliedstaaten, im Fall der Lieferung von Grundstücken im Rahmen eines Zwangsversteigerungsverfahrens den Erwerber des Grundstücks, sofern er Steuerpflichtiger ist, als Steuerschuldner zu bestimmen.

30.      Herr Macikowski ist der Ansicht, dass in den Art. 193 bis 205 der Mehrwertsteuerrichtlinie abschließend geregelt wird, wer die Steuer zu zahlen hat. Die Mitgliedstaaten könnten nur die dort genannten Personen für die Zahlung der Steuer heranziehen. Der Gerichtsvollzieher einer Zwangsversteigerung falle aber unter keine dieser Bestimmungen.

31.      Diese Sicht verkennt jedoch, dass zu unterscheiden ist zwischen einem Steuerschuldner und einer Person wie dem „Steuerzahler“ nach polnischem Recht, die nur zur Einziehung der vom Steuerschuldner geschuldeten Mehrwertsteuer verpflichtet ist. Die Art. 193 bis 205 der Mehrwertsteuerrichtlinie regeln nur die Frage, wer Steuerschuldner ist.

32.      Der Gerichtsvollzieher wird aber durch die polnischen Vorschriften zur Einziehungspflicht nicht selbst zum Steuerschuldner. Ihm obliegt es lediglich, mit den Mitteln des Schuldners, in dessen Vermögen vollstreckt wird, dessen Steuerschuld für einen einzelnen Umsatz zu begleichen. Steuerschuldner bei der Lieferung einer Immobilie durch Zwangsversteigerung bleibt – nichts anderes ergibt sich aus den Angaben des vorlegenden Gerichts – der Vollstreckungsschuldner als Lieferer. Folglich weichen die polnischen Vorschriften zur Einziehungspflicht des Gerichtsvollziehers auch nicht von den Art. 193 und 199 Abs. 1 Buchst. g der Mehrwertsteuerrichtlinie ab.

33.      Somit steht Art. 193 in Verbindung mit Art. 199 Abs. 1 Buchst. g der Mehrwertsteuerrichtlinie einer innerstaatlichen Vorschrift nicht entgegen, nach der bei der Lieferung einer Immobilie im Zuge einer Zwangsversteigerung dem beteiligten Gerichtsvollzieher die Pflicht zur Ermittlung, Einziehung und Entrichtung der fälligen Mehrwertsteuer für den Steuerschuldner auferlegt wird.

2.      Zu Art. 204 der Mehrwertsteuerrichtlinie

34.      Darüber hinaus trägt jedoch Herr Macikowski vor, dass Art. 204 der Mehrwertsteuerrichtlinie der fraglichen polnischen Regelung entgegenstehe, da letztere den Gerichtsvollzieher von Gesetzes wegen zum Steuervertreter bestimme, ohne dass dieser Fall in Art. 204 der Mehrwertsteuerrichtlinie vorgesehen sei.

35.      Nach Art. 204 Abs. 1 Unterabs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie können die Mitgliedstaaten gestatten, dass ein Steuervertreter bestellt wird, der die Steuer schuldet, falls es sich beim eigentlichen Steuerschuldner um einen Steuerpflichtigen handelt, der nicht in dem Mitgliedstaat ansässig ist, in dem die Mehrwertsteuer geschuldet wird. Zur Bestellung eines Steuervertreters verpflichtet werden kann der Steuerpflichtige nach Unterabs. 2 der Vorschrift nur, falls mit dem Ansässigkeitsstaat keine Amtshilfevereinbarung besteht, was innerhalb der Union nicht der Fall ist. Wie sich aus dem siebten Erwägungsgrund der Richtlinie 2000/65/EG(3) ergibt, auf der Art. 204 beruht, wird der Steuervertreter entweder anstelle des nichtansässigen Steuerpflichtigen Steuerschuldner, oder er agiert nur als sein Bevollmächtigter. Ein Steuervertreter dient dem Fiskus somit als nationaler Ansprechpartner, wenn der Steuerpflichtige im Ausland ansässig ist(4).

36.      Die Regelung des Art. 204 der Mehrwertsteuerrichtlinie wurde mit dem Ziel eingeführt, das Mehrwertsteuersystem zu vereinfachen, indem die Mitgliedstaaten den im Binnenmarkt ansässigen Steuerpflichtigen im Gegensatz zur früheren Rechtslage nicht mehr verbindlich vorschreiben können, einen Steuervertreter zu bestellen(5). Nicht zuletzt wurde damit auch eine Marktzugangshürde beseitigt. Art. 204 verhindert deshalb, dass in der Union ansässige Wirtschaftsteilnehmer ihren mehrwertsteuerlichen Pflichten gegenüber ausländischen Steuerbehörden nicht unmittelbar, sondern nur unter Einschaltung eines Vertreters nachkommen können(6).

37.      Im vorliegenden Fall wird der Gerichtsvollzieher durch die Einziehungspflicht jedoch nicht zum Steuervertreter im Sinne des Art. 204 der Mehrwertsteuerrichtlinie. Weder wird er dadurch – wie gesehen(7) – selbst zum Steuerschuldner, noch handelt er als genereller Bevollmächtigter des Steuerpflichtigen. Die Einziehungspflicht des Gerichtsvollziehers bezieht sich lediglich auf einen einzelnen steuerpflichtigen Umsatz. Er vertritt den Steuerpflichtigen hingegen nicht in all seinen mehrwertsteuerlichen Angelegenheiten gegenüber den inländischen Steuerbehörden. Im Übrigen ist nicht erkennbar, wie die Einziehungspflicht des Gerichtsvollziehers dem Ziel des Art. 204 entgegenstehen kann, da sie keine Pflichten speziell für ausländische Steuerpflichtige aufstellt.

38.      Im Ergebnis steht damit auch Art. 204 der Mehrwertsteuerrichtlinie der Einziehungspflicht des Gerichtsvollziehers nicht entgegen.

3.      Zur Erforderlichkeit einer unionsrechtlichen Ermächtigung

39.      Damit ist die Vereinbarkeit der fraglichen Regelung mit der Mehrwertsteuerrichtlinie jedoch noch nicht geklärt. Wie nämlich die Kommission zutreffend ausgeführt hat, erlegt das polnische Recht Gerichtsvollziehern mehrwertsteuerliche Pflichten auf, die in der Mehrwertsteuerrichtlinie nicht vorgesehen sind.

40.      Nun bestehen zwar sehr wohl Fälle, in denen die Steuerschuld – ohne dass hierfür eine eigene Rechtsgrundlage nach der Mehrwertsteuerrichtlinie besteht oder es einer solchen bedarf – nicht im engeren Sinne vom Steuerschuldner selbst beglichen wird. So haben etwa gesetzliche Vertreter einer juristischen Person oder Verwalter im Rahmen eines Insolvenzverfahrens schon aufgrund des Umstands der Vertretung bzw. Verwaltung eines mehrwertsteuerpflichtigen Rechtssubjekts für die Erfüllung von dessen Steuerschuld Sorge zu tragen. Für diese Pflichten bedarf es ohne Zweifel keiner Ermächtigung durch die Mehrwertsteuerrichtlinie, da sie das nicht harmonisierte Zivilrecht betreffen.

41.      Im vorliegenden Fall aber beruht die Einziehungspflicht des Gerichtsvollziehers auf einer gesonderten abgabenrechtlichen Verpflichtung, nach welcher punktuell eine Steuerschuld bei einem bestimmten Geschäft zu erfüllen ist, und nicht auf einer allgemein geltenden Vertretungsberechtigung. In dieser Hinsicht bestimmt aber Art. 206 Satz 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie bereits, dass die Mehrwertsteuer vom Steuerschuldner zu entrichten ist. Will ein Mitgliedstaat im Rahmen einer Einziehungspflicht wie der vorliegenden für die Entrichtung der Mehrwertsteuer neben dem Steuerschuldner eine weitere Person heranziehen, bedarf es deshalb einer entsprechenden Ermächtigung in der Mehrwertsteuerrichtlinie.

a)      Art. 273 der Mehrwertsteuerrichtlinie

42.      Art. 273 der Mehrwertsteuerrichtlinie könnte eine solche Rechtsgrundlage für die vorliegende Einziehungspflicht sein. Nach dieser Vorschrift haben die Mitgliedstaaten die Befugnis, über die Bestimmungen der Mehrwertsteuerrichtlinie hinaus weitere Pflichten vorzusehen, die sie für erforderlich erachten, um eine genaue Erhebung der Steuer sicherzustellen und um Steuerhinterziehung zu vermeiden. Der Erlass derartiger Pflichten darf nach dem Wortlaut der Norm aber keine Beeinträchtigung des Handelsverkehrs zwischen den Mitgliedstaaten oder eine Ungleichbehandlung der von Steuerpflichtigen bewirkten Inlandsumsätze und innergemeinschaftlichen Umsätze zur Folge haben. Ferner dürfen nach Art. 273 Abs. 2 keine weiteren Pflichten in Bezug auf die Rechnungsstellung zusätzlich zu den in der Mehrwertsteuerrichtlinie hierzu bereits genannten Pflichten festgelegt werden.

43.      Die Einziehungspflicht des Gerichtsvollziehers ist eine Pflicht im Sinne des Art. 273 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie. Mit ihr soll die Zahlung der Steuer auf eine Lieferung sichergestellt werden, die durch eine Zwangsversteigerung bewirkt wurde. Dies dient dem in der Vorschrift genannten Zweck einer genauen Erhebung der Steuer sowie der Vermeidung von Steuerhinterziehung, da die Entrichtung der Mehrwertsteuer durch den Steuerschuldner selbst, d. h. durch den Lieferer der Immobilie, in dieser Situation zweifelhaft ist.

44.      Es ist außerdem nicht ersichtlich, dass die Tätigkeit des Gerichtsvollziehers den Handelsverkehr zwischen den Mitgliedstaaten beeinträchtigt oder eine Ungleichbehandlung in- und ausländischer Umsätze mit sich bringt. Insoweit es dem Gerichtsvollzieher auch obliegen sollte, eine Mehrwertsteuerrechnung über die Lieferung auszustellen, ist darin zudem keine unzulässige weitere Pflicht im Sinne des Art. 273 Abs. 2 der Mehrwertsteuerrichtlinie zu sehen, da die bestehende Pflicht zur Rechnungsstellung lediglich dem Gerichtsvollzieher überantwortet, nicht aber um weitere Anforderungen ergänzt wird.

45.      Zwar hat der Gerichtshof im Urteil Federation of Technological Industries u. a. zur Vorgängervorschrift des Art. 273 der Mehrwertsteuerrichtlinie festgestellt, dass auf deren Grundlage keinen anderen Personen als den nach der Richtlinie „bestimmten Schuldnern der Mehrwertsteuer und den danach bestimmten Personen, die sie gesamtschuldnerisch zu entrichten haben“, weitere Verpflichtungen auferlegt werden können(8). Danach könnten einer Person wie dem Gerichtsvollzieher, die nicht Steuerschuldner ist, gemäß Art. 273 der Mehrwertsteuerrichtlinie keine Pflichten auferlegt werden. In späteren Urteilen hat der Gerichtshof den Anwendungsbereich dieser Vorschrift jedoch weiter gefasst. So prüft er mittlerweile in diesem Rahmen auch Pflichten, die Steuerpflichtigen auferlegt werden, welche nur ein Recht auf Vorsteuerabzug geltend machen, aber nicht Steuerschuldner im Hinblick auf die fraglichen Umsätze sind(9). Auch Maßnahmen, die von Steuerpflichtigen noch vor Entfaltung einer effektiven wirtschaftlichen Tätigkeit verlangt werden, können nach der neueren Rechtsprechung Art. 273 unterfallen(10).

46.      Selbst wenn man voraussetzen wollte, dass nur Steuerpflichtigen nach Art. 273 Pflichten auferlegt werden können, ist dies vorliegend erfüllt, da den Gerichtsvollzieher nicht nur eine Einziehungspflicht im Hinblick auf die Steuerschuld des Lieferers der Immobilie trifft, sondern er den Angaben des vorlegenden Gerichts zufolge vielmehr auch selbst Steuerpflichtiger im Sinne des Art. 9 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie ist, indem er steuerpflichtige Dienstleistungen in Form der Durchführung von Zwangsversteigerungen erbringt.

47.      Art. 273 der Mehrwertsteuerrichtlinie ist daher eine taugliche Rechtsgrundlage für die Einziehungspflicht des Gerichtsvollziehers.

b)      Verhältnismäßigkeit

48.      Zu prüfen bleibt jedoch, ob die Regelung auch dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit genügt.

49.      Im Rahmen der Ausübung einer unionsrechtlichen Befugnis müssen die Mitgliedstaaten gemäß dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit Mittel einsetzen, die es einerseits zwar erlauben, die vom innerstaatlichen Recht verfolgten Ziele wirksam zu erreichen, die aber andererseits die Ziele und Grundsätze des einschlägigen Unionsrechts möglichst wenig beeinträchtigen(11). Insoweit dürfen die auf der Grundlage des Art. 273 der Mehrwertsteuerrichtlinie erlassenen Maßnahmen nicht über das hinausgehen, was zur Erreichung der Ziele einer genauen Erhebung der Steuer und Bekämpfung der Steuerhinterziehung erforderlich ist(12).

50.      Was die Erforderlichkeit der Einziehungspflicht betrifft, können die Mitgliedstaaten in Fällen der Lieferung von Grundstücken durch Zwangsversteigerung die Steuerschuld zwar grundsätzlich nach Art. 199 Abs. 1 Buchst. g der Mehrwertsteuerrichtlinie umkehren und damit verhindern, dass sich der Lieferer der Steuerschuld entzieht. Diese Maßnahme stellt allerdings von vornherein kein gleich geeignetes Mittel zur Erreichung der mit der Einziehungspflicht verfolgten Ziele dar, da die Anwendbarkeit der Bestimmung auf Lieferungen an steuerpflichtige Empfänger beschränkt ist.

51.      Allerdings lassen die Ausführungen des vorlegenden Gerichts die Verhältnismäßigkeit fraglich erscheinen. Demnach ist dem Gerichtsvollzieher die ordnungsgemäße Erfüllung seiner Pflichten nur im Einvernehmen mit dem für die Zwangsversteigerung zuständigen Gericht möglich. Dieses muss den Erlös erst freigeben, was jedoch – nach den Angaben des vorlegenden Gerichts – nicht immer innerhalb jener abgabenrechtlichen Frist geschieht, binnen welcher der Gerichtsvollzieher die Steuer zu entrichten hat. Das Gericht selbst handelt lediglich nach Maßgabe der zivilprozessrechtlichen Vorschriften und ist nicht gehalten, die Pflichten des Gerichtsvollziehers im Zusammenhang mit der Entrichtung der Mehrwertsteuer zu berücksichtigen.

52.      Die Republik Polen bestreitet nachdrücklich die Darstellung des vorlegenden Gerichts, wonach es dem Gerichtsvollzieher nicht immer möglich sei, seine Pflichten fristgerecht zu erfüllen. Diesen Widerspruch, der sich auf das nationale Recht bezieht, zu klären, ist allerdings nicht Aufgabe des Gerichtshofs. Im Rahmen der Verteilung der Zuständigkeiten zwischen den Unionsgerichten und denen der Mitgliedstaaten ist in Bezug auf den tatsächlichen und rechtlichen Rahmen, in den sich die Vorabentscheidungsfragen einfügen, vielmehr von den Feststellungen des vorlegenden Gerichts auszugehen(13). Im Hinblick auf dessen Ausführungen kann die Auferlegung der Einziehungspflicht aber jedenfalls nur dann als verhältnismäßig angesehen werden, soweit ein mit gebotener Sorgfalt vorgehender Gerichtsvollzieher objektiv überhaupt in der Lage ist, pflichtgemäß zu handeln. Dies ist zu verneinen, wenn er durch das von ihm nicht beeinflussbare Tun eines Dritten, wie etwa des Gerichts, daran gehindert ist. Eine nicht erfüllbare Pflicht kann schon nicht als geeignete Maßnahme angesehen werden, um die mit ihr angestrebten Ziele wirksam zu erreichen.

53.      Auf der Grundlage von Art. 273 der Mehrwertsteuerrichtlinie können die Mitgliedstaaten daher eine Einziehungspflicht wie die vorliegend in Rede stehende vorsehen, soweit ein mit gebotener Sorgfalt handelnder Gerichtsvollzieher dieser Pflicht auch tatsächlich nachkommen kann.

4.      Antwort auf die erste Vorlagefrage

54.      Die erste Vorlagefrage ist folglich dahin zu beantworten, dass die Mehrwertsteuerrichtlinie einer innerstaatlichen Vorschrift nicht entgegensteht, nach der bei der Lieferung einer Immobilie im Zuge einer Zwangsversteigerung dem an dieser Maßnahme beteiligten Gerichtsvollzieher die Pflicht zur Ermittlung, Einziehung und Entrichtung der fälligen Mehrwertsteuer auferlegt wird, soweit der Gerichtsvollzieher nicht durch das Tun eines Dritten, auf das er keinen Einfluss hat, daran gehindert ist, pflichtgemäß zu handeln.

B –    Zur Haftung

55.      Die zweite Vorlagefrage (Frage 2.1) bezieht sich auf die Haftung des Gerichtsvollziehers. Kommt dieser seiner Einziehungspflicht nicht nach, so haftet er für die Steuer mit seinem gesamten Vermögen. Das vorlegende Gericht fragt im Wesentlichen, ob diese Regelung den Anforderungen genügt, die sich aus dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ergeben.

1.      Rechtsgrundlage

56.      Für die Beantwortung dieser Frage ist zunächst zu klären, ob die dem Gerichtsvollzieher auferlegte Haftung durch eine Rechtsgrundlage innerhalb der Mehrwertsteuerrichtlinie gedeckt ist.

57.      Die Republik Polen und die Kommission sehen wiederum Art. 273 der Mehrwertsteuerrichtlinie als Rechtsgrundlage für diese Haftung an.

58.      Die Haftung eines Dritten für eine fremde Steuer wird jedoch durch Art. 205 der Mehrwertsteuerrichtlinie geregelt. Danach können die Mitgliedstaaten insbesondere im hier vorliegenden Fall des Art. 193 „bestimmen, dass eine andere Person als der Steuerschuldner die Steuer gesamtschuldnerisch zu entrichten hat“. Eben dies liegt vor, wenn der Gerichtsvollzieher für die Steuerschuld des Schuldners, in dessen Vermögen vollstreckt wird, mit seinem eigenen Vermögen haftet, falls er seiner Einziehungspflicht nicht nachkommt.

59.      In der mündlichen Verhandlung verneinten die Republik Polen und die Kommission demgegenüber die Anwendbarkeit von Art. 205 der Mehrwertsteuerrichtlinie, da keine Situation vorliege, in der sich der Fiskus alternativ an den Gerichtsvollzieher oder den Steuerschuldner, d. h. den steuerpflichtigen Lieferer, wenden könne. Wurde die Steuer nicht fristgerecht eingezogen oder entrichtet, könnten die Steuerbehörden sie nur gegenüber dem Gerichtsvollzieher geltend machen.

60.      Dieses Vorbringen indiziert, dass die Verantwortlichkeit für die Steuerschuld allein dem Gerichtsvollzieher übertragen wird. Sollte dies der Fall sein, so läge aber ein Verstoß des polnischen Rechts gegen die Art. 193 bis 205 der Mehrwertsteuerrichtlinie vor. Diese Bestimmungen regeln abschließend, wer Steuerschuldner gegenüber dem Fiskus ist, und sehen keinen Fall vor, in dem ein Lieferer von seiner gemäß Art. 193 der Mehrwertsteuerrichtlinie bestehenden Steuerschuld nachträglich befreit wird, weil ein Dritter in einem bestimmten Fall die Haftung übernimmt. Der Lieferer darf daher im vorliegenden Fall gar nicht aus seiner Verantwortlichkeit für die Steuerschuld entlassen werden.

61.      Aus den Angaben des vorlegenden Gerichts geht allerdings auch in keiner Weise hervor, dass die Steuerschuld des Lieferers nach polnischem Recht im Falle der Haftung des Gerichtsvollziehers erlischt. Kommt es zur Verwirklichung des Haftungstatbestands, ist der Gerichtsvollzieher als Konsequenz daher vielmehr als weiterer Steuerschuldner anzusehen.

62.      Damit ist die polnische Regelung zur Haftung des Gerichtsvollziehers grundsätzlich durch Art. 205 der Mehrwertsteuerrichtlinie gestattet.

2.      Verhältnismäßigkeit

63.      Bei der Ausübung ihrer Befugnis nach Art. 205 der Mehrwertsteuerrichtlinie haben die Mitgliedstaaten aber insbesondere den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu beachten. Beim Erlass von Maßnahmen, die auf der Grundlage dieser Bestimmung zum möglichst wirksamen Schutz der Ansprüche der Staatskasse ergriffen werden, darf folglich nicht über das hierzu Erforderliche hinausgegangen werden(14). Außerhalb dieses Rahmens liegt es, eine verschuldensunabhängige Haftung festzulegen(15), da es nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs als offenkundig unverhältnismäßig anzusehen ist, eine Person bedingungslos für den Verlust von Steuereinnahmen einstehen zu lassen, obwohl dieser durch das Tun eines Dritten verursacht wurde, auf das sie keinen Einfluss hat(16).

64.      Nach den Ausführungen der Republik Polen handelt es sich beim Gerichtsvollzieher um einen Amtsträger und damit um eine Person des öffentlichen Vertrauens. Zu Recht kann von ihm daher eine besondere Sorgfalt erwartet werden, wenn er im Rahmen seiner Tätigkeiten Steuern für den Fiskus einzieht. Dies rechtfertigt auch, hohe Anforderungen an die Verantwortlichkeit des Gerichtsvollziehers zu stellen und im Falle pflichtwidrigen Handelns eine Haftung mit dessen eigenem Vermögen vorzusehen.

65.      Wie allerdings oben(17) bereits ausgeführt wurde, ist es den Angaben des vorlegenden Gerichts zufolge nicht ausgeschlossen, dass der Gerichtsvollzieher aufgrund nicht in seiner Verantwortung liegender Umstände daran gehindert ist, für die fristgerechte Entrichtung der Steuer zu sorgen. Auch in solchen Fällen kann die Haftung eintreten. Der Gerichtsvollzieher hätte damit für eine fremde Verbindlichkeit einzustehen, ohne schuldhaft gehandelt zu haben. Die streitige polnische Regelung kann aber nur dann als verhältnismäßig angesehen werden, wenn die Haftung des Gerichtsvollziehers an ein ihm persönlich vorwerfbares Verhalten geknüpft ist.

3.      Antwort auf die zweite Vorlagefrage

66.      Daher ist auf die zweite Vorlagefrage zu antworten, dass der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit einer innerstaatlichen Vorschrift nicht entgegensteht, nach welcher ein Gerichtsvollzieher, der verpflichtet ist, die Steuer auf die Lieferung von Immobilien im Wege der Zwangsvollstreckung zu ermitteln, einzuziehen und zu entrichten, im Falle der Nichterfüllung dieser Pflicht mit seinem gesamten Vermögen haftet, es sei denn, die Nichterfüllung wurde durch das Tun eines Dritten verursacht, auf das er keinen Einfluss hatte.

C –    Zur Berücksichtigung der Vorsteuer

67.      Schließlich möchte das vorlegende Gericht mit seiner dritten Vorlagefrage (Frage 2.2) klären, ob die Mehrwertsteuerrichtlinie der Einziehungspflicht des Gerichtsvollziehers entgegensteht, wenn Letzterer den auf die Lieferung der Immobilie angefallenen Steuerbetrag entrichten muss, ohne davon die beim Lieferer seit Beginn des Steuerzeitraums bis zum Datum der Einziehung der Steuer angefallene Vorsteuer abziehen zu können.

68.      Wie das vorlegende Gericht ausführt, könnte die Nichtberücksichtigung der Vorsteuer mit den Art. 206, 250 und 252 der Mehrwertsteuerrichtlinie und dem Grundsatz der steuerlichen Neutralität unvereinbar sein.

69.      Aus Art. 206 der Mehrwertsteuerrichtlinie folgt, dass ein Steuerschuldner bei der – durch die Art. 250 und 252 näher geregelten – Abgabe der Steuererklärung lediglich den um die Vorsteuer reduzierten Mehrwertsteuerbetrag zu entrichten hat. Nachdem der Gerichtsvollzieher eine fremde Steuerschuld erfüllt, muss es ihm grundsätzlich gleichfalls möglich sein, den von ihm zu entrichtenden Steuerbetrag mit der Vorsteuer zu verrechnen. Gegebenenfalls hätte er effektiv eine geringere oder gar keine Zahlung mehr zu leisten und könnte damit auch das Ausmaß seiner Haftung entsprechend reduzieren.

70.      Nach Art. 206 Satz 2 der Mehrwertsteuerrichtlinie ist es den Mitgliedstaaten allerdings gestattet, Vorauszahlungen auf die Mehrwertsteuer zu erheben. Diesbezüglich teile ich die Ansicht der Republik Polen, dass die vom Gerichtsvollzieher für einen einzelnen Umsatz entrichtete Steuer als eine solche Vorauszahlung angesehen werden kann. Diese Vorauszahlung kann dann im Rahmen der Steuererklärung des Lieferers für den betreffenden Steuerzeitraum Berücksichtigung finden.

71.      Insoweit Herr Macikowski demgegenüber argumentiert, dass die Mitgliedstaaten bei der Ausgestaltung der Vorauszahlungsmodalitäten nicht frei seien, und sich dabei auf das Urteil Balocchi(18) beruft, ist ihm nicht zu folgen. Die Anwendung der in jener Rechtssache in Rede stehenden innerstaatlichen Rechtsvorschriften hätte zur unionsrechtswidrigen Folge haben können, dass Steuerpflichtige Mehrwertsteuer für künftige Geschäfte zu entrichten hätten(19). Im vorliegenden Fall erfolgt die Entrichtung der Mehrwertsteuer aber aufgrund eines bereits stattgefundenen Vorgangs, nämlich der Lieferung einer Immobilie.

72.      Ferner steht der Nichtberücksichtigung der Vorsteuer auch der Grundsatz der steuerlichen Neutralität nicht entgegen. Nach diesem Grundsatz soll jeder Unternehmer durch den Mechanismus des Vorsteuerabzugs vollständig von der im Rahmen seiner wirtschaftlichen Tätigkeit geschuldeten oder entrichteten Mehrwertsteuer entlastet werden(20). Wie der Gerichtshof aber klargestellt hat, handelt es sich dabei um eine Auslegungshilfe, dem keine übergesetzliche Bedeutung zukommt(21). Die Befugnis der Mitgliedstaaten, Vorauszahlungen zu erheben, ergibt sich jedoch ausdrücklich aus Art. 206 Satz 2 der Mehrwertsteuerrichtlinie.

73.      Auf die dritte Vorlagefrage ist daher zu antworten, dass die Art. 206, 250 und 252 der Mehrwertsteuerrichtlinie und der Grundsatz der steuerlichen Neutralität einer innerstaatlichen Regelung nicht entgegenstehen, nach der ein Gerichtsvollzieher, der zur Ermittlung, Einziehung und Entrichtung der Steuer auf eine im Wege der Zwangsversteigerung vorgenommene Lieferung einer Immobilie verpflichtet ist, diese Steuer ohne Abzug der seit Beginn des Steuerzeitraums beim Steuerschuldner angefallenen Vorsteuer zu entrichten hat.

V –    Ergebnis

74.      Aufgrund der vorstehenden Erwägungen schlage ich dem Gerichtshof vor, die Fragen des Naczelny Sąd Administracyjny wie folgt zu beantworten:

Die Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem steht einer innerstaatlichen Regelung nicht entgegen, nach der bei der Lieferung einer Immobilie im Zuge einer Zwangsversteigerung dem an dieser Maßnahme beteiligten Gerichtsvollzieher die Pflicht zur Ermittlung, Einziehung und Entrichtung der fälligen Mehrwertsteuer ohne Berücksichtigung der seit Beginn des Steuerzeitraums beim Steuerschuldner angefallenen Vorsteuer auferlegt wird und er im Falle der Nichterfüllung dieser Pflicht mit seinem gesamten Vermögen haftet, soweit der Gerichtsvollzieher nicht durch das Tun eines Dritten, auf das er keinen Einfluss hat, daran gehindert ist, pflichtgemäß zu handeln.


1 – Originalsprache: Deutsch.


2 –      ABl. L 347, S. 1.


3 –      Richtlinie 2000/65/EG des Rates vom 17. Oktober 2000 zur Änderung der Richtlinie 77/388/EWG bezüglich der Bestimmung des Mehrwertsteuerschuldners (ABl. L 269, S. 44).


4 –      Vgl. Urteil Athesia Druck (C-1/08, EU:C:2009:108, Rn. 34) zu Art. 2 Abs. 3 der Dreizehnten Richtlinie 86/560/EWG des Rates vom 17. November 1986 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern – Verfahren der Erstattung der Mehrwertsteuer an nicht im Gebiet der Gemeinschaft ansässige Steuerpflichtige (ABl. L 326, S. 40).


5 –      Vgl. Erwägungsgründe 4 und 7 der Richtlinie 2000/65/EG (zitiert in Fn. 3).


6 –      Vgl. in diesem Sinne Urteile Kommission/Finnland (C-249/05, EU:C:2006:411, Rn. 46) und Kommission/Frankreich (C-624/10, EU:C:2011:849, Rn. 36).


7 –      Siehe oben, Nr. 32.


8 – Vgl. Urteil Federation of Technological Industries u. a. (C-384/04, EU:C:2006:309, Rn. 44) in Bezug auf Art. 22 Abs. 8 der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage (ABl. L 145, S. 1).


9 –      Vgl. Urteile Nidera Handelscompagnie (C-385/09, EU:C:2010:627, Rn. 49 bis 51), Klub (C-153/11, EU:C:2012:163, Rn. 34, 50 und 51) und Mahagében und Dávid (C-80/11 und C-142/11, EU:C:2012:373, Rn. 57 bis 59). Siehe auch bereits Urteil Gabalfrisa u. a. (C-110/98 bis C-147/98, EU:C:2000:145, Rn. 52 bis 54).


10 –      Vgl. Urteil Ablessio (C-527/11, EU:C:2013:168, Rn. 29 und 30).


11 –      Vgl. Urteile Molenheide u. a. (C-286/94, C-340/95, C-401/95 und C-47/96, EU:C:1997:623, Rn. 46), Teleos u. a. (C-409/04, EU:C:2007:548, Rn. 52), X (C-84/09, EU:C:2010:693, Rn. 36) und BDV Hungary Trading (C-563/12, EU:C:2013:854, Rn. 30).


12 –      Urteile Gabalfrisa u. a. (C-110/98 bis C-147/98, EU:C:2000:145, Rn. 52), Profaktor Kulesza, Frankowski, Jóźwiak, Orłowski (C-188/09, EU:C:2010:454, Rn. 26), Ablessio (C-527/11, EU:C:2013:168, Rn. 30) und Maks Pen (C-18/13, EU:C:2014:69, Rn. 43).


13 –      Siehe nur Urteil Oberbank u. a. (C-217/13 und C-218/13, EU:C:2014:2012, Rn. 52 und die dort angeführte Rechtsprechung).


14 –      Vgl. Urteile Federation of Technological Industries u. a. (C-384/04, EU:C:2006:309, Rn. 29 und 30) und Vlaamse Oliemaatschappij (C-499/10, EU:C:2011:871, Rn. 20 bis 22).


15 –      Vgl. Urteile Federation of Technological Industries u. a. (C-384/04, EU:C:2006:309, Rn. 32) und Mahagében und Dávid (C-80/11 und C-142/11, EU:C:2012:373, Rn. 48).


16 –      Vgl. Urteil Vlaamse Oliemaatschappij (C-499/10, EU:C:2011:871, Rn. 24).


17 –      Siehe oben, Nr. 51.


18 –      C-10/92, EU:C:1993:846.


19 –      Urteil Balocchi (C-10/92, EU:C:1993:846, Rn. 27).


20 –      Siehe nur Urteile Zimmermann (C-174/11, EU:C:2012:716, Rn. 47) und NCC Construction Danmark (C-174/08, EU:C:2009:669, Rn. 27 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).


21 –      Urteil Deutsche Bank (C-44/11, EU:C:2012:484, Rn. 45).