Available languages

Taxonomy tags

Info

References in this case

Share

Highlight in text

Go

SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

YVES BOT

vom 9. Juli 2015(1)

Rechtssache C-335/14

Les Jardins de Jouvence SCRL

gegen

État belge

(Vorabentscheidungsersuchen der Cour d’appel de Mons [Belgien])

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Steuerrecht – Sechste Richtlinie 77/388/EWG – Befreiungstatbestände – Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. g – Dem Gemeinwohl dienende Tätigkeiten – Eng mit der Sozialfürsorge und der sozialen Sicherheit verbundene Dienstleistungen durch Einrichtungen des öffentlichen Rechts oder andere als Einrichtungen mit sozialem Charakter anerkannte Einrichtungen – Einrichtungen für betreutes Wohnen“





1.        Im vorliegenden Fall geht es um die Auslegung von Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. g der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage(2). Nach dieser Bestimmung sind die eng mit der Sozialfürsorge und der sozialen Sicherheit verbundenen Dienstleistungen und Lieferungen von Gegenständen, einschließlich derjenigen der Altenheime, durch Einrichtungen des öffentlichen Rechts oder andere von dem betreffenden Mitgliedstaat als Einrichtungen mit sozialem Charakter anerkannte Einrichtungen von der Mehrwertsteuer befreit.

2.        Diese Rechtssache bietet dem Gerichtshof Gelegenheit, u. a. den Begriff der „Sozialfürsorge“ im Sinne von Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. g der Sechsten Richtlinie auszulegen, um zu bestimmen, ob die Dienstleistungen, die von einer Einrichtung für betreutes Wohnen erbracht werden, als im Sinne dieser Bestimmung eng mit der Sozialfürsorge verbundene Dienstleistungen anzusehen sind.

3.        In den vorliegenden Schlussanträgen werde ich darlegen, warum ich der Meinung bin, dass Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. g der Sechsten Richtlinie dahin auszulegen ist, dass eine Einrichtung für betreutes Wohnen wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende, die Senioren ab 60 Unterkünfte, die ihnen ein unabhängiges Leben ermöglichen, und damit im Zusammenhang stehende entgeltliche Dienstleistungen, die auch von anderen als den Bewohnern in Anspruch genommen werden können, anbietet und die keine staatlichen Fördermittel erhält, als „als Einrichtung mit sozialem Charakter anerkannte Einrichtung“ einzustufen ist, die Dienstleistungen erbringt, die im Sinne dieser Bestimmung „eng mit der Sozialfürsorge verbunden“ sind. Zu diesem Zweck wird das nationale Gericht zu bestimmen haben, ob diese Einstufung in Anbetracht des Gesellschaftszwecks dieser Einrichtung für betreutes Wohnen und des Inhalts der von ihr angebotenen Dienstleistungen den Ermessensspielraum überschreitet, den diese Bestimmung den Mitgliedstaaten für eine solche Einstufung einräumt, und ob die Tätigkeiten dieser Einrichtung für betreutes Wohnen in den Bereich der Sozialfürsorge fallen. In diesem Zusammenhang wird das nationale Gericht eine Reihe von Gesichtspunkten zu berücksichtigen haben, anhand deren sich feststellen lässt, ob diese Tätigkeiten die Unterstützung hilfsbedürftiger Menschen zum Ziel haben. Das nationale Gericht wird auch festzustellen haben, ob die von der Einrichtung für betreutes Wohnen angebotenen Leistungen für die Ausübung solcher Tätigkeiten unerlässlich sind.

I –    Rechtlicher Rahmen

A –    Unionsrecht

4.        Art. 13 Teil A der Sechsten Richtlinie sieht vor:

„(1)      Unbeschadet sonstiger Gemeinschaftsvorschriften befreien die Mitgliedstaaten unter den Bedingungen, die sie zur Gewährleistung einer korrekten und einfachen Anwendung der nachstehenden Befreiungen sowie zur Verhütung von Steuerhinterziehungen, Steuerumgehungen und etwaigen Missbräuchen festsetzen, von der Steuer:

g)      die eng mit der Sozialfürsorge und der sozialen Sicherheit verbundenen Dienstleistungen und Lieferungen von Gegenständen, einschließlich derjenigen der Altenheime, durch Einrichtungen des öffentlichen Rechts oder andere von dem betreffenden Mitgliedstaat als Einrichtungen mit sozialem Charakter anerkannte Einrichtungen;

(2)      a)      Die Mitgliedstaaten können die Gewährung der unter Absatz 1 Buchstaben b), g), h), i), l), m) und n) vorgesehenen Befreiungen für Einrichtungen, die keine Einrichtungen des öffentlichen Rechts sind, von Fall zu Fall von der Erfüllung einer oder mehrerer der folgenden Bedingungen abhängig machen:

–        Die betreffenden Einrichtungen dürfen keine systematische Gewinnerzielung anstreben; etwaige Gewinne, die trotzdem anfallen, dürfen nicht verteilt, sondern müssen zur Erhaltung oder Verbesserung der erbrachten Leistungen verwendet werden.

–        Leitung und Verwaltung müssen im wesentlichen ehrenamtlich durch Personen erfolgen, die weder selbst noch über zwischengeschaltete Personen ein unmittelbares oder mittelbares Interesse an den Ergebnissen der betreffenden Tätigkeiten haben.

–        Es müssen Preise angewendet werden, die von den zuständigen Behörden genehmigt sind oder solche, die die genehmigten Preise nicht übersteigen; bei Tätigkeiten, für die eine Preisgenehmigung nicht vorgesehen ist, müssen Preise angewendet werden, die unter den Preisen liegen, die von der Mehrwertsteuer unterliegenden gewerblichen Unternehmen für entsprechende Tätigkeiten gefordert werden.

–        Die Befreiungen dürfen nicht zu Wettbewerbsverzerrungen zuungunsten von der Mehrwertsteuer unterliegenden gewerblichen Unternehmen führen.

b)      Von der in Absatz 1 Buchstaben b), g), h), i), l), m) und n) vorgesehenen Steuerbefreiung sind Dienstleistungen und Lieferungen von Gegenständen ausgeschlossen, wenn

–        sie zur Ausübung der Tätigkeiten, für die Steuerbefreiung gewährt wird, nicht unerlässlich sind;

–        sie im Wesentlichen dazu bestimmt sind, der Einrichtung zusätzliche Einnahmen durch Tätigkeiten zu verschaffen, die in unmittelbarem Wettbewerb mit Tätigkeiten von der Mehrwertsteuer unterliegenden gewerblichen Unternehmen durchgeführt werden.“

B –    Belgisches Recht

5.        Art. 44 Abs. 2 Nr. 2 des Mehrwertsteuergesetzbuchs(3) in seiner bis zum 21. Juli 2005 geltenden Fassung sieht vor, dass eng mit der Sozialfürsorge verbundene Dienstleistungen und Lieferungen von Gütern, die von Einrichtungen erbracht werden, deren Aufgabe die Betreuung von Senioren ist und die als solche von der zuständigen Behörde anerkannt sind und die, soweit sie Einrichtungen des Privatrechts sind, unter sozialen Bedingungen handeln, die mit denen der Einrichtungen öffentlichen Rechts vergleichbar sind, von der Mehrwertsteuer befreit sind.

6.        Diese Bestimmung wurde durch das Programmgesetz vom 11. Juli 2005(4), in Kraft getreten am 22. Juli 2005, ersetzt. Der neue Art. 44 Abs. 2 Nr. 2 sieht vor, dass von der Mehrwertsteuer eng mit der Sozialhilfe, der sozialen Sicherheit und dem Kinder- und Jugendschutz verbundene Dienstleistungen und Lieferungen von Gütern, die von öffentlich-rechtlichen Einrichtungen oder von anderen Einrichtungen bewirkt werden, die von der zuständigen Behörde als soziale Einrichtungen anerkannt sind, befreit sind. Diese neue Bestimmung erfasst gerade „Einrichtungen, die die Betreuung von Betagten zum Auftrag haben“.

7.        Art. 2 Nr. 1 des Erlasses vom 5. Juni 1997 über Altersheime, Einrichtungen für betreutes Wohnen und Tagesbetreuungszentren für Senioren sowie zur Schaffung des Wallonischen Seniorenrats(5) definiert ein Altersheim als „Einrichtung zur Beherbergung von Senioren ab sechzig Jahren, die dort ihren gewöhnlichen Aufenthalt haben und gemeinschaftliche Leistungen der Familien- und Haushaltsfürsorge, Hilfe im Alltagsleben und gegebenenfalls Krankenpflege oder sonstige Leistungen des Gesundheitswesens in Anspruch nehmen“.

8.        Die Einrichtung für betreutes Wohnen wird in Art. 2 Nr. 2 des Erlasses vom 5. Juni 1997 definiert als „ein oder mehrere Gebäude, die unabhängig von ihrer Bezeichnung eine funktionelle Einheit darstellen, in der Senioren ab sechzig Jahren private Unterkünfte, die ihnen ein unabhängiges Leben ermöglichen, zur Verfügung gestellt werden und in der ihnen Dienstleistungen angeboten werden müssen, die sie nach Belieben in Anspruch nehmen können“. Diese Bestimmung stellt außerdem klar, dass „[d]ie gemeinschaftlichen Räumlichkeiten, Ausstattungen und Dienstleistungen der Einrichtung für betreutes Wohnen … auch anderen Senioren ab sechzig Jahren zugänglich sein [können]“.

9.        In ihrer Vorlageentscheidung stellt die Cour d’appel de Mons (Belgien) klar, dass eine Einrichtung für betreutes Wohnen an festgelegte Preise unter der Aufsicht des Wirtschaftsministeriums gebunden ist.

II – Sachverhalt des Ausgangsverfahrens und Vorlagefragen

10.      Die Les Jardins de Jouvence SCRL (im Folgenden: Les Jardins de Jouvence) ist eine Gesellschaft belgischen Rechts, die im Jahr 2004 gegründet wurde. Ihr Zweck ist, Pflegeeinrichtungen zu betreiben und zu verwalten und alle Tätigkeiten auszuüben, die direkt oder indirekt mit der Gesundheitsversorgung und Hilfe insbesondere für Kranke und behinderte alte Menschen zusammenhängen.

11.      Les Jardins de Jouvence teilte der Mehrwertsteuerverwaltung am 20. Oktober 2004 die Aufnahme ihrer Tätigkeit der „Vermietung von Studios an nicht behinderte Personen“ mit. Am 27. Oktober 2006 erhielt sie von den zuständigen wallonischen Behörden eine vorläufige Betriebsgenehmigung für die Zeit vom 28. Juni 2006 bis 27. Juni 2007. Die Gesellschafterversammlung vom 27. März 2007 beschloss, den Gesellschaftszweck auf den „Betrieb von Restaurants, Cafés und Brasserien, Gaststätten, Snackbars, Empfangsräumen und Schankwirtschaften oder ähnlichen Einrichtungen“ sowie auf den „Betrieb von Friseursalons, Kosmetikdienstleistungen und Maniküre“ auszudehnen.

12.      Konkret stellt Les Jardins de Jouvence ihren Mietern Wohnungen für ein oder zwei Personen zur Verfügung, die aus ausgestatteter Küche, Wohnzimmer, Schlafzimmer und ausgestattetem Badezimmer bestehen. Über die Unterbringung hinaus werden den Mietern sowie anderen Personen, die nicht Mieter sind, verschiedene Leistungen entgeltlich angeboten: ein Restaurant mit Bar, ein Friseur- und Schönheitssalon, ein Physiotherapieraum, Ergotherapie, eine Wäscherei, eine Ambulanz mit Blutentnahmedienst, eine Arztpraxis.

13.      Um die Einrichtung für betreutes Wohnen betreiben zu können, führte Les Jardins de Jouvence umfangreiche Bauarbeiten durch und versah die Gebäude mit der für ihren Gesellschaftszweck notwendigen Ausstattung. Diese Arbeiten, die Anfang August 2004 begannen und im September 2006 endeten, hatten den Anbau eines neuen Gebäudes – die Einrichtung für betreutes Wohnen dieser Gesellschaft – an das bereits bestehende Altersheim zum Ziel.

14.      Les Jardins de Jouvence war der Ansicht, sie sei mehrwertsteuerpflichtig, und zog daher in ihren Steuererklärungen der Jahre 2004 bis 2006 die für die Errichtung dieses neuen Gebäudes entrichtete Mehrwertsteuer ab.

15.      Am 5. Oktober und am 14. November 2006 führte die Unternehmens- und Einkommensteuerverwaltung, Abteilung Mehrwertsteuer, bei Les Jardins de Jouvence eine Kontrolle durch, bei der sie die korrekte Anwendung der Mehrwertsteuervorschriften für den Zeitraum vom 30. August 2004 bis zum 30. September 2006 prüfte. Am 25. Januar 2007 erstellte sie ein Protokoll, in dem sie die Auffassung vertrat, dass diese Gesellschaft eine steuerbefreite Mehrwertsteuerpflichtige sei und dass alle von der Einrichtung für betreutes Wohnen realisierten Umsätze nach Art. 44 Abs. 2 Nr. 2 des Mehrwertsteuergesetzbuchs in seiner bis zum 21. Juli 2005 anwendbaren Fassung von der Mehrwertsteuer befreit seien. Die Steuerverwaltung kam zu dem Schluss, dass die steuerbefreite Steuerpflichtige die auf den Bau, den Grunderwerb für den fraglichen Verwendungszweck und alle Kosten angefallenen Steuern nicht habe in Abzug bringen können. Daher treffe diese Gesellschaft gegenüber dem belgischen Staat eine Zahlungsverpflichtung in Höhe eines Betrags von 663 437,25 Euro, der der in den Steuererklärungen zu Unrecht abgezogenen Mehrwertsteuer entspreche.

16.      Im Übrigen vertrat die Steuerverwaltung die Ansicht, dass, da Les Jardins de Jouvence eine von der Steuer befreite Steuerpflichtige sei, auf den von den Unternehmern ausgestellten Rechnungen ein Steuersatz von 12 % für die Bauarbeiten am Gebäude im engeren Sinne und ein Steuersatz von 21 % für die Gartenarbeiten hätte berechnet werden müssen, ohne dass Les Jardins de Jouvence ein Abzugsrecht hätte ausüben können.

17.      Daher fordert der belgische Staat auf Grundlage des genannten Protokolls 436 132,69 Euro an geschuldeter Mehrwertsteuer, 43 610 Euro an gestaffelten Geldbußen für Steuerverstöße und gesetzliche Zinsen von 0,80 % für jeden Verzugsmonat, die auf den Betrag der seit dem 21. Oktober 2006 fälligen Mehrwertsteuer zu berechnen sind.

18.      Mit Schreiben vom 25. Januar 2007 setzte der Mehrwertsteuerprüfer von Dour (Belgien) Les Jardins de Jouvence von seiner Entscheidung, ihr Mehrwertsteuerkonto mit Wirkung vom 30. September 2006 zu löschen, in Kenntnis.

19.      Auf Grundlage des genannten Protokolls wurde Les Jardins de Jouvence am 13. Februar 2007 ein Zahlungsbefehl zugestellt. Diesen focht Les Jardins de Jouvence mit am 20. Februar 2007 bei der Kanzlei des Tribunal de première instance de Mons eingegangener Klageschrift an. Mit Urteil vom 19. Juni 2012 wies das Tribunal de première instance die Klage von Les Jardins de Jouvence ab, wogegen diese Berufung einlegte.

20.      Da die Cour d’appel de Mons Zweifel bezüglich der Auslegung von Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. g der Sechsten Richtlinie hatte, hat sie beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof die folgenden Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.       Ist eine Einrichtung für betreutes Wohnen im Sinne des Dekrets vom 5. Juni 1997, die mit Gewinnerzielungsabsicht private Wohnungen für ein oder zwei Personen mit ausgestatteter Küche, Wohnzimmer, Schlafzimmer und ausgestattetem Badezimmer zur Verfügung stellt, welche diesen Personen die Führung eines unabhängigen Lebens ermöglichen, sowie ebenfalls mit Gewinnerzielungsabsicht verschiedene entgeltliche fakultative Dienstleistungen erbringt, die nicht nur auf die Bewohner dieser Einrichtung beschränkt sind (Restaurant und Bar, Friseur- und Schönheitssalon, Kinesiotherapieraum, Ergotherapie, Waschküche und Wäscherei, Ambulanz und Blutentnahmedienst, Arztpraxis), eine Einrichtung mit im Wesentlichen sozialem Charakter, die „eng mit der Sozialfürsorge und der sozialen Sicherheit verbundene Dienstleistungen und Lieferungen von Gegenständen“ im Sinne von Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. g der Sechsten Richtlinie erbringt?

2.      Fällt die Antwort auf diese Frage anders aus, wenn die fragliche Einrichtung für betreutes Wohnen für die Erbringung solcher Dienstleistungen Zuschüsse oder jegliche andere Form von Vorteil oder der finanziellen Begünstigung seitens der öffentlichen Hand erhält?

III – Rechtliche Würdigung

21.      Mit seinen Fragen, die meines Erachtens zusammen zu erörtern sind, möchte das vorlegende Gericht vom Gerichtshof wissen, ob Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. g der Sechsten Richtlinie dahin auszulegen ist, dass eine Einrichtung für betreutes Wohnen wie die des Ausgangsverfahrens, die Senioren ab 60 Unterkünfte, die ihnen ein unabhängiges Leben ermöglichen, und daneben weitere Dienstleistungen, die auch von anderen als den Bewohnern der Einrichtung in Anspruch genommen werden können, anbietet und die keine finanziellen Hilfen seitens der öffentlichen Hand erhält, als „als Einrichtung mit sozialem Charakter anerkannte Einrichtung“ anzusehen ist, die im Sinne dieser Bestimmung „eng mit der Sozialfürsorge und der sozialen Sicherheit verbundene“ Dienstleistungen erbringt.

22.      Tatsächlich enthält diese Bestimmung zwei kumulative Voraussetzungen für die Befreiung von der Mehrwertsteuer. Zunächst muss die betroffene Einrichtung als Einrichtung mit „sozialem Charakter“ anerkannt sein. Des Weiteren müssen die Dienstleistungen und Lieferungen von Gegenständen, die diese Einrichtung erbringt, „eng mit der Sozialfürsorge und der sozialen Sicherheit“ verbunden sein(6). Zwar ist die Rechtsprechung zur ersten Voraussetzung hinreichend aufschlussreich, um eine sachdienliche Beantwortung der Frage des vorlegenden Gerichts zu ermöglichen, dies gilt jedoch nicht für die zweite Voraussetzung, die, soweit ersichtlich, bisher noch nicht Gegenstand einer Auslegung war.

A –    Zum Begriff „als Einrichtungen mit sozialem Charakter anerkannte Einrichtungen“

23.      Wie ich in der vorangehenden Nummer ausgeführt habe, ist die Rechtsprechung zum Begriff der „als Einrichtungen mit sozialem Charakter anerkannten Einrichtungen“ im Sinne der Sechsten Richtlinie verhältnismäßig umfangreich.

24.      So hat der Gerichtshof zu diesem Begriff entschieden, dass es grundsätzlich Sache des innerstaatlichen Rechts jedes Mitgliedstaats ist, die Regeln aufzustellen, nach denen Einrichtungen, die dies beantragen, eine Anerkennung gewährt werden kann. Die Mitgliedstaaten verfügen insoweit über einen Ermessensspielraum(7).

25.      Jedoch ist es, so der Gerichtshof, „bei der Bestimmung der Einrichtungen, deren ‚sozialer Charakter‘ im Sinne von Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. g der Sechsten Richtlinie für die Zwecke dieser Bestimmung anzuerkennen ist, Sache der nationalen Behörden …, im Einklang mit dem Unionsrecht und unter der Kontrolle der nationalen Gerichte mehrere Gesichtspunkte zu berücksichtigen. Zu ihnen können das Bestehen spezifischer Vorschriften – seien es nationale oder regionale, Rechts- oder Verwaltungsvorschriften, Steuervorschriften oder Vorschriften im Bereich der sozialen Sicherheit –, das mit den Tätigkeiten des betreffenden Steuerpflichtigen verbundene Gemeinwohlinteresse, die Tatsache, dass andere Steuerpflichtige mit den gleichen Tätigkeiten bereits in den Genuss einer ähnlichen Anerkennung kommen, und der Gesichtspunkt zählen, dass die Kosten der fraglichen Leistungen unter Umständen zum großen Teil von Krankenkassen oder anderen Einrichtungen der sozialen Sicherheit übernommen werden“(8).

26.      Im vorliegenden Fall fallen Einrichtungen für betreutes Wohnen meines Erachtens sehr wohl unter die spezifischen Vorschriften der regionalen belgischen Regelung.

27.      Aus den Akten geht nämlich hervor, dass Art. 2 Nr. 2 des Dekrets vom 5. Juni 1997 im Einzelnen festlegt, was unter dem Begriff „betreutes Wohnen“ zu verstehen ist. Außerdem bedürfen die Einrichtungen für betreutes Wohnen nach diesem Dekret einer Genehmigung seitens der Behörden, um zugelassen zu werden und betrieben werden zu dürfen(9). Insbesondere müssen diese Einrichtungen für betreutes Wohnen bestimmten, auch für Altenheime geltenden Vorschriften genügen, etwa betreffend die Anpassung der Preise für die Beherbergung oder Betreuung, die Buchführung, die Mindest- und Höchstkapazitäten für Beherbergung oder Betreuung, die Voraussetzungen im Hinblick auf Erfahrung und Qualifikation sowie die Mindestanforderungen im Hinblick auf die Tätigkeit und die tatsächliche Anwesenheit, die für die Ausübung der Funktion eines Direktors erforderlich sind(10). Ebenso müssen die Einrichtungen für betreutes Wohnen, um zugelassen zu werden, gewissen Vorschriften im Hinblick auf die Organisation eines Bereitschaftsdienstes für etwaige Notmaßnahmen für die Bewohner sowie die Verpflichtung zur Erbringung oder Bereitstellung gewisser fakultativer Dienstleistungen, die die Bewohner in Anspruch nehmen können, genügen(11).

28.      Meines Erachtens steht der dem Gemeinwohl dienende Charakter der von Les Jardins de Jouvence angebotenen Dienstleistungen außer Zweifel. Der Zweck dieser Gesellschaft besteht nämlich darin, Wohnungen an nicht behinderte Personen ab 60 zu vermieten und alle Tätigkeiten auszuüben, die direkt oder indirekt mit der Gesundheitsversorgung und Hilfe insbesondere für Kranke und behinderte alte Menschen zusammenhängen.

29.      Les Jardins de Jouvence ist der Auffassung, dass die Gewinnerzielungsabsicht ihrer Einrichtung für betreutes Wohnen und der Umstand, dass im Gegensatz zu Altenheimen weder sie noch ihre Bewohner Zuschüsse oder finanzielle Hilfen irgendeiner Art seitens öffentlicher Stellen erhielten, zeigten, dass sie nicht als Einrichtung angesehen werden könne, die eine „als Einrichtung mit sozialem Charakter anerkannte Einrichtung“ im Sinne von Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. g der Sechsten Richtlinie sei.

30.      Diese Ansicht teile ich nicht. Zunächst ist daran zu erinnern, dass die Mitgliedstaaten hinsichtlich der Anerkennung eines solchen Charakters über einen Ermessensspielraum verfügen. Des Weiteren ergibt sich aus der Rechtsprechung, dass der in dieser Bestimmung enthaltene Begriff der „Einrichtung“ weit genug ist, um auch private Einrichtungen mit Gewinnerzielungsabsicht zu erfassen(12). Schließlich hat der Gerichtshof den nationalen Behörden zwar einige Anhaltspunkte gegeben, anhand deren sie bestimmen können, ob eine Einrichtung als Einrichtung mit „sozialem Charakter“ im Sinne dieser Bestimmung anerkannt ist, dabei ist aber eine mögliche öffentliche Förderung seitens des Mitgliedstaats nur ein Gesichtspunkt, den sie berücksichtigen „können“. Es handelt sich bei diesen Anhaltspunkten nicht um eine erschöpfende Liste, der die fragliche Einrichtung genügen muss. Daher werden die nationalen Behörden anhand einer Reihe von Gesichtspunkten, die ein Bündel von Indizien darstellen, bestimmen können, ob eine Einrichtung als „als Einrichtung mit sozialem Charakter anerkannte Einrichtung“ im Sinne von Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. g der Sechsten Richtlinie angesehen werden kann.

31.      Nach den vorstehenden Erwägungen bin ich daher der Ansicht, dass Les Jardins de Jouvence als Einrichtung angesehen werden kann, die eine „als Einrichtung mit sozialem Charakter anerkannte Einrichtung“ im Sinne dieser Bestimmung ist. Es wird Aufgabe des nationalen Gerichts sein, im Hinblick auf den Gesellschaftszweck dieser Gesellschaft und auf den Inhalt der von ihr angebotenen Dienstleistungen zu prüfen, ob diese Einstufung den Ermessensspielraum überschreitet, den diese Bestimmung den Mitgliedstaaten für eine solche Einstufung einräumt.

B –    Zum Begriff „eng mit der Sozialfürsorge und der sozialen Sicherheit verbundene Dienstleistungen“

32.      Vorab kann meines Erachtens ausgeschlossen werden, dass die von Les Jardins de Jouvence erbrachten Dienstleistungen unter die eng mit der sozialen Sicherheit verbundenen Dienstleistungen fallen. Der Bereich der sozialen Sicherheit umfasst nämlich alle Regelungen, die die Bevölkerung im Wege von Ausgleichsleistungen vor unterschiedlichen sozialen Risiken wie Krankheit, Mutterschaft, Alter oder Arbeitsunfällen schützen sollen. Les Jardins de Jouvence hat offensichtlich nicht die Erbringung solcher Dienstleistungen zum Gegenstand, ebenso wenig wie die Lieferung von Gegenständen.

33.      Daher sind folgende Punkte zu erörtern. Zunächst gilt es, festzulegen, was vom Begriff der „Sozialfürsorge“ im Sinne von Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. g der Sechsten Richtlinie umfasst ist. Anschließend werde ich darlegen, was meiner Ansicht nach unter den Worten „eng verbunden“ im Sinne dieser Bestimmung zu verstehen ist. Schließlich wird festzustellen sein, ob die Verwendung der Konjunktion „und“ zwischen den Begriffen „Sozialfürsorge“ und „soziale Sicherheit“ impliziert, dass die Erbringung von Dienstleistungen zwingend mit beiden eng verbunden sein muss. Sollte meine Analyse nämlich ergeben, dass die von Les Jardins de Jouvence erbrachten Dienstleistungen unter den Begriff „Sozialfürsorge“ fallen, setzt diese Konjunktion aber voraus, dass sie gleichzeitig unter diesen Begriff und den Begriff „soziale Sicherheit“ fallen, können Einrichtungen für betreutes Wohnen wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende nicht als von der Steuer befreite Steuerpflichtige angesehen werden.

34.      Zunächst lässt sich feststellen, dass der Gerichtshof den Begriff „Sozialfürsorge“, auch wenn die Rechtsprechung zu Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. g der Sechsten Richtlinie recht umfangreich ist, nie im Zusammenhang mit der Sechsten Richtlinie definiert hat. Er hat lediglich im Urteil Kügler(13) festgestellt, dass „Leistungen der Grundpflege und der hauswirtschaftlichen Versorgung, die körperlich oder wirtschaftlich hilfsbedürftigen Personen … von einem ambulanten Pflegedienst erbracht werden, grundsätzlich mit der sozialen Hilfe verbunden sind, so dass sie unter den Begriff ‚eng mit der Sozialfürsorge und der sozialen Sicherheit verbundene Dienstleistungen‘ gemäß Buchstabe g dieser Bestimmung fallen“(14).

35.      Art. 13 Teil A Abs. 1 der Sechsten Richtlinie ist mit „Befreiungen bestimmter dem Gemeinwohl dienender Tätigkeiten“ überschrieben und gehört zu Abschnitt X („Steuerbefreiungen“) dieser Richtlinie. Wie der Gerichtshof in seinem Urteil Kingscrest Associates und Montecello(15) in Bezug auf die Ziele, die mit den in Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. g und h der Sechsten Richtlinie vorgesehenen Steuerbefreiungen verfolgt werden, klargestellt hat, geht aus dieser Bestimmung hervor, dass diese Befreiungen dadurch, dass sie für bestimmte im sozialen Sektor erbrachte Leistungen, die dem Gemeinwohl dienen, eine günstigere Mehrwertsteuerbehandlung gewähren, darauf abzielen, die Kosten dieser Leistungen zu senken und dadurch diese Leistungen dem Einzelnen, der sie in Anspruch nehmen könnte, zugänglicher zu machen(16).

36.      Diese Rechtsprechung macht deutlich, dass die Mehrwertsteuerbefreiung im Rahmen von Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. g der Sechsten Richtlinie den Zugang zu Dienstleistungen erleichtern soll, die als Dienstleistungen von gesellschaftlichem Nutzen betrachtet werden, da sie zum Ziel haben, hilfsbedürftigen Personen Hilfe zu leisten, wobei diese Dienstleistungen normalerweise in den Bereich der hoheitlichen Befugnisse fallen. Der Sozialfürsorge liegt also zugrunde, dass einer Person Hilfe geleistet wird, was meiner Ansicht nach im Übrigen durch die Änderung dieser Bestimmung durch die Richtlinie 2006/112 bestätigt wird, in deren französischer Sprachfassung nunmehr der Begriff „aide sociale“ verwendet wird(17).

37.      Zwar sind nach ständiger Rechtsprechung die Begriffe, mit denen die in Art. 13 der Sechsten Richtlinie vorgesehenen Steuerbefreiungen umschrieben sind, eng auszulegen, ich bin jedoch der Auffassung, dass die vom Gerichtshof vorzunehmende Auslegung des Begriffs „Sozialfürsorge“ nicht dazu führen darf, dass sie der Bestimmung, zu der dieser Begriff gehört, jede praktische Wirkung nimmt(18), zumal mit dieser Bestimmung die Inanspruchnahme von Dienstleistungen von gesellschaftlichem Nutzen erleichtert werden soll.

38.      Im Gegensatz zu Dienstleistungen der sozialen Sicherheit ist die Sozialfürsorge durch eine individuelle Prüfung der Bedürfnisse gekennzeichnet(19). Gerade weil die soziale Sicherheit diesen Bedürfnissen nicht Rechnung trägt, erweist sich meiner Ansicht nach eine Übernahme durch eine Einrichtung des öffentlichen Rechts oder eine von dem Mitgliedstaat als Einrichtung mit sozialem Charakter anerkannte Einrichtung für die betroffene Person als erforderlich, ja sogar lebenswichtig. Dies trifft auf die Betreuung von älteren oder behinderten Menschen zu, die die Bereitstellung von Wohnungen, die ihrer Hilfsbedürftigkeit gerecht werden, und Pflegeleistungen notwendig macht.

39.      Die Bedürfnisse dieser Personen sind nicht zwangsläufig nur physischer Art. Sie können auch eine finanzielle Unterstützung erfordern, um das Fehlen der wirtschaftlichen Ressourcen, das diese Personen besonders hilfsbedürftig macht, auszugleichen.

40.      Auf den ersten Blick fallen die Tätigkeiten privater Einrichtungen wie die von Les Jardins de Jouvence in den Bereich der Sozialfürsorge, da sie darin bestehen, Senioren altersgerechte Wohnungen anzubieten. Zwar bieten Einrichtungen für betreutes Wohnen wie Les Jardins de Jouvence, anders als etwa Altersheime, bei deren Bewohnern es sich häufig um Senioren handelt, die nicht in der Lage sind, ihre Angelegenheiten selbst zu besorgen und die für alle Verrichtungen des täglichen Lebens medizinischer Betreuung bedürfen, unabhängigen Senioren Wohnungen an. Allerdings kann es sein, dass diese Personen angesichts der in ihrem Leben eingetretenen Änderungen ihr Leben nicht mehr so wie bisher führen können. Sie entscheiden sich daher dafür, in einer Einrichtung zu wohnen, die ihren speziellen Bedürfnissen angepasst erscheint, etwa dadurch, dass der für sie notwendige Aufzug vorhanden ist, dass es sich um eine kleinere Wohnung handelt, die so gestaltet ist, dass Stürze leicht vermieden werden können oder dass die Gebäudetechnik entsprechend adaptiert ist. Die Einrichtung für betreutes Wohnen ist eine Unterkunft, in der sich diese Personen sicher sein können, dass Hilfe erreichbar ist, falls dies erforderlich sein sollte, und die ihnen alle Garantien für Ruhe und Wohlergehen bietet. Sie wissen auch, dass in einer solchen Unterkunft Dienstleistungen angeboten werden müssen, die es ihnen ermöglichen, sich nicht um Alltagserledigungen (Haushaltsführung, Mahlzeiten) oder mögliche Autofahrten kümmern zu müssen, weil bestimmte Dienstleistungen, wie etwa ein Friseursalon oder Maniküre, vor Ort angeboten werden.

41.      In der mündlichen Verhandlung hat die AXA Belgium SA, die Streithelferin im Ausgangsverfahren, die Ansicht vertreten, dass Tätigkeiten im Zusammenhang mit der Sozialfürsorge zwangsläufig einer öffentlichen Körperschaft obliegen müssten, was hier nicht der Fall sei. Diese Sichtweise teile ich nicht. Meines Erachtens wäre es insbesondere widersinnig, anzunehmen, dass eine Einrichtung, die nicht öffentlich-rechtlich ist, mit Gewinnerzielungsabsicht handelt und keine finanzielle Unterstützung erhält, im Sinne von Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. g der Sechsten Richtlinie als Einrichtung mit sozialem Charakter anerkannt werden kann und dass ihre Tätigkeit, gerade weil sie keine finanzielle Unterstützung seitens des Staates erhält, nicht als Tätigkeit der Sozialfürsorge angesehen werden kann.

42.      In jedem Fall denke ich, dass es Sache des nationalen Gerichts sein wird, zu bestimmen, ob eine als Einrichtung mit sozialem Charakter anerkannte Einrichtung Tätigkeiten ausübt, die im Sinne dieser Bestimmung mit der Sozialfürsorge im Zusammenhang stehen. Insoweit wird das nationale Gericht einer Reihe von Umständen Rechnung tragen müssen, anhand deren sich bestimmen lässt, ob diese Tätigkeiten die Unterstützung hilfsbedürftiger Personen zum Ziel haben.

43.      Was ferner den in Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. g der Sechsten Richtlinie enthaltenen Begriff „mit der Sozialfürsorge eng verbundene Dienstleistungen“ betrifft, ergibt sich aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs, dass er beinhaltet, dass diese Dienstleistungen mit Tätigkeiten der Sozialfürsorge verbunden sind, wenn sie tatsächlich als Nebenleistungen zu dieser Tätigkeit erbracht werden(20).

44.      Hierzu verweise ich darauf, dass Art. 13 Teil A Abs. 2 Buchst. b erster Gedankenstrich der Sechsten Richtlinie bestimmt, dass Dienstleistungen und Lieferungen von Gegenständen von der in Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. g der Richtlinie vorgesehenen Steuerbefreiung ausgeschlossen sind, wenn sie zur Ausübung der Tätigkeiten, für die die Steuerbefreiung gewährt wird, nicht unerlässlich sind. Außerdem hat der Gerichtshof festgestellt, dass eine Leistung als Nebenleistung zu einer Hauptleistung anzusehen ist, wenn sie keinen eigenen Zweck erfüllt, sondern das Mittel darstellt, um die Hauptdienstleistung des Erbringers unter optimalen Bedingungen in Anspruch zu nehmen(21).

45.      Meiner Ansicht nach besteht unter Berücksichtigung der vorstehend erörterten Punkte kein Zweifel daran, dass die von Les Jardins de Jouvence angebotenen Dienstleistungen im Sinne von Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. g der Sechsten Richtlinie eng mit der Sozialfürsorge verbunden sind.

46.      Wie wir nämlich gesehen haben, ist Ziel der Einrichtungen für betreutes Wohnen, Senioren ein Leben in einer altersgerechten Umgebung zu ermöglichen. Die von Les Jardins de Jouvence angebotenen obligatorischen und fakultativen Leistungen ermöglichen ihnen, unter optimalen Bedingungen die Hauptleistung, nämlich die Zurverfügungstellung von geeigneten Wohnungen in einem angenehmen Rahmen, in Anspruch zu nehmen. Die Tätigkeit dieser Gesellschaft bildet eine Einheit, die mir untrennbar erscheint. Wie verhielte es sich, wenn sie ihren Bewohnern nur Wohnungen zur Verfügung stellte? Würden sich diese dafür entscheiden, in dieser Einrichtung zu leben? Die Antwort ist meines Erachtens negativ. Sinn und Zweck der Einrichtungen für betreutes Wohnen ist, wie ihr Name im Übrigen sagt, Senioren eine Wohnung mit Dienstleistungen, die sie nach Belieben in Anspruch nehmen können, anzubieten und ihnen damit ein unabhängiges und sorgenfreies Leben zu ermöglichen.

47.      Dies gilt dagegen nicht für die Dienstleistungen, die Personen erbracht werden, die keine Bewohner sind. Es ist offensichtlich, dass die Dienstleistungen in einem solchen Fall nicht mehr Nebenleistungen, sondern von der Hauptleistung vollkommen losgelöst sind. Daher genügen sie meiner Auffassung nach nicht der Voraussetzung in Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. g der Sechsten Richtlinie, nämlich, dass sie eng mit der Sozialfürsorge verbunden sein müssen.

48.      Was schließlich die Verwendung der Konjunktion „und“ in dieser Bestimmung angeht, meine ich nicht, dass ihr eine kumulative Wirkung beizumessen ist. In diesem Zusammenhang verweise ich darauf, dass der Gerichtshof in seinen Urteilen Kommission/Frankreich(22) und Dornier(23) im Rahmen der in Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. b der Sechsten Richtlinie vorgesehenen Steuerbefreiung eine kumulative Wirkung dieser Konjunktion offenbar verneint hat. Er hat nämlich im ersten Urteil festgestellt, dass diese Bestimmung „keine Definition des Begriffes der mit der Krankenhausbehandlung oder ärztlichen Heilbehandlung ‚eng verbundenen‘ Umsätze“ enthält(24).

49.      Eine kumulative Wirkung dieser Konjunktion anzunehmen, liefe meiner Ansicht nach außerdem dem mit Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. g der Sechsten Richtlinie verfolgten Ziel zuwider, nämlich dafür zu sorgen, dass die Befreiung bestimmter im sozialen Sektor erbrachter Leistungen, die dem Gemeinwohl dienen, die Kosten dieser Leistungen senken und diese Leistungen dadurch für den Einzelnen zugänglicher machen kann.

50.      In diesem Zusammenhang ist hervorzuheben, dass nicht alle mit der Sozialfürsorge verbundenen Dienstleistungen unbedingt auch in den Bereich der sozialen Sicherheit fallen. Dies gilt nach Ansicht von Les Jardins de Jouvence im Übrigen auch für die Dienstleistungen, für die die Bewohner keine Unterstützung seitens des Institut national d’assurance maladie invalidité (Staatliche Anstalt für Kranken- und Invaliditätsversicherung), der Einrichtung, die die soziale Sicherheit finanziert, erhalten.

51.      Nach diesen Erwägungen bin ich der Ansicht, dass eine Einrichtung für betreutes Wohnen wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende als Einrichtung angesehen werden kann, die Dienstleistungen erbringt, die im Sinne von Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. g der Sechsten Richtlinie „eng mit der Sozialfürsorge verbunden“ sind. Es wird Aufgabe des nationalen Gerichts sein, festzustellen, ob die Tätigkeiten dieser Einrichtung für betreutes Wohnen in den Bereich der Sozialfürsorge fallen. Dabei wird es eine Reihe von Gesichtspunkten zu berücksichtigen haben, anhand deren sich bestimmen lässt, ob diese Tätigkeiten auf die Unterstützung hilfsbedürftiger Menschen gerichtet sind. Es wird auch festzustellen haben, ob die von dieser Einrichtung für betreutes Wohnen angebotenen Dienstleistungen für die Ausübung dieser Tätigkeiten unerlässlich sind.

IV – Ergebnis

52.      Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor, auf die Fragen der Cour d’appel de Mons wie folgt zu antworten:

Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. g der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage ist dahin auszulegen, dass eine Einrichtung für betreutes Wohnen wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende, die Senioren ab 60 Unterkünfte, die ihnen ein unabhängiges Leben ermöglichen, und damit im Zusammenhang stehende entgeltliche Dienstleistungen, die auch von anderen als den Bewohnern in Anspruch genommen werden können, anbietet und die keine staatliche Förderung erhält, als „als Einrichtung mit sozialem Charakter anerkannte Einrichtung“ angesehen werden kann, die Dienstleistungen erbringt, die „eng mit der Sozialfürsorge verbunden“ sind.

Zu diesem Zweck wird das nationale Gericht Folgendes festzustellen haben:

–        Überschreitet diese Einstufung in Anbetracht des Gesellschaftszwecks dieser Einrichtung für betreutes Wohnen und des Inhalts der von ihr angebotenen Dienstleistungen den Ermessensspielraum, der den Mitgliedstaaten durch diese Bestimmung für eine solche Einstufung eingeräumt ist?

–        Fallen die Tätigkeiten dieser Einrichtung für betreutes Wohnen in den Bereich der Sozialfürsorge? In diesem Zusammenhang wird das nationale Gericht eine Reihe von Gesichtspunkten zu berücksichtigen haben, anhand deren sich feststellen lässt, ob diese Tätigkeiten die Unterstützung hilfsbedürftiger Personen zum Ziel haben.

–        Sind die von ihr angebotenen Dienstleistungen für die Ausübung solcher Tätigkeiten unerlässlich?


1 – Originalsprache: Französisch.


2 – ABl. L 145, S. 1, im Folgenden: Sechste Richtlinie.


3 – Moniteur belge vom 3. Juli 1969, S. 7046.


4 – Moniteur belge vom 12. Juli 2005, S. 32180.


5 – Moniteur belge vom 26. Juni 1997, S. 17043, im Folgenden: Erlass vom 5. Juni 1997.


6 – Urteil Kingscrest Associates und Montecello (C-498/03, EU:C:2005:322, Rn. 34).


7 – Urteil Zimmermann (C-174/11, EU:C:2012:716, Rn. 26 und die dort angeführte Rechtsprechung).


8 – Ebd. (Rn. 31 und die dort angeführte Rechtsprechung). Vgl. zu einer neueren Auslegung durch den Gerichtshof unter der Geltung der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. L 347, S. 1, Berichtigung in ABl. 2007, L 335, S. 60) Urteil „go fair“ Zeitarbeit (C-594/13, EU:C:2015:164, Rn. 21, 26 und 29).


9 – Vgl. Art. 5 Abs. 1 Unterabs. 1 dieses Dekrets.


10 – Vgl. Art. 5 Abs. 5 Unterabs. 2 des Dekrets vom 5. Juni 1997, der auf die in den Nrn. 1 bis 8       seines Abs. 2 geregelten Bereiche verweist.


11 – Vgl. Art. 5 Abs. 5 Unterabs. 2 Nrn. 3 und 4 dieses Dekrets.


12 – Urteil „go fair“ Zeitarbeit (C-594/13, EU:C:2015:164, Rn. 27 und die dort angeführte Rechtsprechung).


13 – C-141/00, EU:C:2002:473.


14 – Rn. 44.


15 – C-498/03, EU:C:2005:322.


16 – Rn. 30.


17 – Vgl. Art. 132 Abs. 1 Buchst. g dieser Richtlinie.


18 – Urteil Zimmermann (C-174/11, EU:C:2012:716, Rn. 22 und die dort angeführte Rechtsprechung).


19 – Vgl. Urteile Frilli (1/72, EU:C:1972:56, Rn. 14), Biason (24/74, EU:C:1974:99, Rn. 10) und Hosse (C-286/03, EU:C:2006:125, Rn. 37).


20 – Vgl. Urteil CopyGene (C-262/08, EU:C:2010:328, Rn. 38 und 39 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).


21 – Ebd. (Rn. 40).


22 – C-76/99, EU:C:2001:12.


23 – C-45/01, EU:C:2003:595.


24 – Urteil Kommission/Frankreich (C-76/99, EU:C:2001:12, Rn. 22). Hervorhebung nur hier.