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SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

MICHAL BOBEK

vom 7. September 2017 ( 1 )

Rechtssache C-305/16

Avon Cosmetics Ltd

gegen

The Commissioners for Her Majesty’s Revenue and Customs

(Vorabentscheidungsersuchen des First-tier Tribunal [Tax Chamber] [Gericht erster Instanz, (Steuerkammer), Vereinigtes Königreich])

„Mehrwertsteuer – Abweichende Maßnahme – Verkäufe durch nicht mehrwertsteuerpflichtige Zwischenhändler – Berücksichtigung einer fiktiven Vorsteuer“

I. Einleitung

1.

Die Avon Cosmetics Limited (im Folgenden: Avon) vertreibt ihre Schönheitsprodukte im Vereinigten Königreich an Vertreter, umgangssprachlich „Avon-Damen“ genannt, die ihrerseits Einzelhandelsverkäufe an ihre eigenen Kunden tätigen (im Folgenden: Direktvertriebsmodell). Viele dieser Avon-Damen sind nicht als mehrwertsteuerpflichtig eingetragen. Folglich unterliegen ihre Gewinnspannen normalerweise nicht der Mehrwertsteuer.

2.

Das Problem des „Mehrwertsteuerverlusts“ bzw. der „Mehrwertsteuervermeidung“ auf der letzten Stufe der Lieferkette ist typisch für Direktvertriebsmodelle. Um dem zu begegnen, beantragte und erhielt das Vereinigte Königreich eine Ermächtigung zur Abweichung von der Grundregel, dass Mehrwertsteuer auf den tatsächlichen Verkaufspreis erhoben wird. Im Fall von Avon ermächtigte diese abweichende Maßnahme Her Majesty’s Revenue and Customs (Steuerbehörde des Vereinigten Königreichs, im Folgenden: HMRC) im Wesentlichen, Avon die Mehrwertsteuer nicht auf der Grundlage des von den nicht als mehrwertsteuerpflichtig eingetragenen Avon-Damen gezahlten Großhandelspreises aufzuerlegen, sondern stattdessen auf der Grundlage des Einzelhandelspreises, zu dem diese die Waren an den Endkunden verkaufen.

3.

Die abweichende Maßnahme wird jedoch so angewandt, dass weder die Kosten berücksichtigt werden, die den nicht als steuerpflichtig eingetragenen Vertreterinnen bei ihren Einzelhandelstätigkeiten entstehen, noch die Vorsteuer, die sie normalerweise hätten zum Abzug bringen können, wenn sie als mehrwertsteuerpflichtig eingetragen gewesen wären (im Folgenden: fiktive Vorsteuer). Insbesondere wenn Avon-Damen Waren zu Vorführzwecken erwerben (nicht, um sie zu verkaufen, sondern um sie als Verkaufshilfen zu benutzen), können sie auf diese Erwerbe keine Mehrwertsteuer als Vorsteuer abziehen.

4.

Infolgedessen bleibt die nicht berücksichtigte fiktive Vorsteuer im Zusammenhang mit solchen Kosten in der Lieferkette „hängen“ und erhöht die Gesamtmehrwertsteuer, die im Rahmen des Direktvertriebsmodells erhoben wird, gegenüber derjenigen, die auf Verkäufe durch normale Einzelhandelsgeschäfte erhoben wird.

5.

Im Rahmen eines Rechtsstreits, in dem Avon einen an sie ergangenen Mehrwertsteuerbescheid anficht, stellt das vorlegende Gericht eine Reihe von Fragen bezüglich der Auslegung und Gültigkeit der abweichenden Maßnahme. Insbesondere fragt das vorlegende Gericht, i) ob es eine Verpflichtung gibt, die fiktive Vorsteuer von Direktwiederverkäufern wie den Avon-Damen zu berücksichtigen, ii) ob das Vereinigte Königreich verpflichtet war, die Europäische Kommission mit der Frage der fiktiven Vorsteuer zu befassen, als es die abweichende Maßnahme beantragte, und iii) welche Folgen die Nichtbeachtung einer dieser Verpflichtungen hätte/hat.

II. Rechtlicher Rahmen

A.  Unionsrecht

1.  Mehrwertsteuerrichtlinien 77/388 und 2006/112

6.

Die zum Zeitpunkt der betreffenden Vereinbarungen geltenden maßgeblichen unionsrechtlichen Bestimmungen sind für Zeiträume vor dem 1. Januar 2007 in der Mehrwertsteuerrichtlinie 77/388/EWG ( 2 ) (im Folgenden: Sechste Richtlinie) enthalten. Für Zeiträume danach sind sie in der Mehrwertsteuerrichtlinie 2006/112/EG ( 3 ) (im Folgenden: Mehrwertsteuerrichtlinie) enthalten.

7.

Außer einigen wenigen unten genannten Unterschieden sind die maßgeblichen Bestimmungen der Sechsten Richtlinie mit denen der Mehrwertsteuerrichtlinie identisch. In diesem Abschnitt werden im Folgenden die Bestimmungen der Sechsten Richtlinie angeführt, während auf die entsprechenden Bestimmungen der Mehrwertsteuerrichtlinie in Fußnoten verwiesen wird. Zur Erleichterung der Darstellung werden in diesen Schlussanträgen nur die maßgeblichen Bestimmungen der Sechsten Richtlinie aufgeführt, wobei die entsprechenden Bestimmungen der Mehrwertsteuerrichtlinie entsprechend Anwendung finden.

8.

In Art. 2 der Sechsten Richtlinie ( 4 ) heißt es:

„Der Mehrwertsteuer unterliegen

1.

Lieferungen von Gegenständen und Dienstleistungen, die ein Steuerpflichtiger als solcher im Inland gegen Entgelt ausführt“.

9.

Art. 4 der Sechsten Richtlinie ( 5 ) bestimmt:

„(1)

Als Steuerpflichtiger gilt, wer eine der in Absatz 2 genannten wirtschaftlichen Tätigkeiten selbständig und unabhängig von ihrem Ort ausübt, gleichgültig zu welchem Zweck und mit welchem Ergebnis.“

10.

In Art. 11 Teil A Abs. 1 Buchst. a der Sechsten Richtlinie ( 6 ) heißt es:

„A. Im Inland

(1)

Die Besteuerungsgrundlage ist:

a)

bei Lieferungen von Gegenständen und Dienstleistungen, die nicht unter den Buchstaben b), c) und d) genannt sind, alles, was den Wert der Gegenleistung bildet, die der Lieferer oder Dienstleistende für diese Umsätze vom Abnehmer oder Dienstleistungsempfänger oder von einem Dritten erhält oder erhalten soll, einschließlich der unmittelbar mit dem Preis dieser Umsätze zusammenhängenden Subventionen“.

11.

Art. 27 der Sechsten Richtlinie ( 7 ) lautet:

„(1)   Der Rat kann auf Vorschlag der Kommission einstimmig jeden Mitgliedstaat ermächtigen, von dieser Richtlinie abweichende Sondermaßnahmen einzuführen, um die Steuererhebung zu vereinfachen oder Steuerhinterziehungen oder -umgehungen zu verhüten. Die Maßnahmen zur Vereinfachung der Steuererhebung dürfen den Betrag der im Stadium des Endverbrauchs fälligen Steuer nur in unerheblichem Maße beeinflussen.

(2)   Der Mitgliedstaat, der die in Absatz 1 bezeichneten Maßnahmen einführen möchte, befasst die Kommission damit und übermittelt ihr alle zur Beurteilung zweckdienlichen Angaben. …

(5)   Die Mitgliedstaaten, die am 1. Januar 1977 Sondermaßnahmen von der Art der in Absatz 1 genannten angewandt haben, können sie aufrechterhalten, sofern sie diese der Kommission vor dem 1. Januar 1978 mitteilen und unter der Bedingung, dass diese Sondermaßnahmen – sofern es sich um Maßnahmen zur Erleichterung der Steuererhebung handelt – dem in Absatz 1 festgelegten Kriterium entsprechen.“

2.  Entscheidung 89/534/EWG des Rates (im Folgenden: abweichende Maßnahme)

12.

Die Erwägungsgründe 3 bis 5 der abweichenden Maßnahme ( 8 ) lauten:

„Bestimmte Vertriebssysteme, bei denen Steuerpflichtige zwecks Weiterverkaufs auf der Einzelhandelsstufe Waren an nichtsteuerpflichtige Personen verkaufen, ermöglichen eine Umgehung der Steuern im Stadium des Endverbrauchs.

Zur Verhinderung solcher Steuerumgehungen wendet das Vereinigte Königreich eine Maßnahme an, der zufolge die Steuerbehörden Verwaltungsbeschlüsse fassen können mit dem Ziel, die Lieferungen von Steuerpflichtigen, die derartige Vertriebssysteme in Anspruch nehmen, auf der Grundlage des Normalwerts auf der Einzelhandelsstufe zu besteuern.

Diese Maßnahme stellt eine Abweichung von Artikel 11 Teil A Absatz 1 Buchstabe a) der Sechsten Richtlinie dar, demzufolge im Inland bei Lieferungen von Gegenständen die Besteuerungsgrundlage alles ist, was den Wert der Gegenleistung bildet, die der Lieferer für diese Umsätze vom Abnehmer oder einem Dritten erhält oder erhalten soll.“

13.

In den Erwägungsgründen 9 und 10 wird erläutert:

„Der Gerichtshof hat in seinem Urteil vom 12. Juli 1988 unter anderem für Recht erkannt, dass Artikel 27 der Sechsten Richtlinie eine derartige abweichende Maßnahme erlaubt, sofern die daraus resultierende unterschiedliche Behandlung durch objektive Umstände gerechtfertigt ist.

Um zu beurteilen, ob diese Bedingung erfüllt ist, muss die Kommission von den Verwaltungsbeschlüssen in Kenntnis gesetzt werden, die die Steuerbehörden im Rahmen der betreffenden Ausnahmeregelung gegebenenfalls fassen.“

14.

Art. 1 der abweichenden Maßnahme sieht vor:

„In Abweichung von Artikel 11 Teil A Absatz 1 Buchstabe a) der Sechsten Richtlinie wird das Vereinigte Königreich ermächtigt, in den Fällen, in denen ein auf der Lieferung von Gegenständen unter Einschaltung nichtsteuerpflichtiger Personen basierendes Vertriebssystem zu einer Nichtbesteuerung im Stadium des Endverbrauchs führt, Lieferungen an diese Personen auf der Grundlage des Normalwerts des Gegenstandes in diesem letzten Stadium zu besteuern.“

B.  Nationales Recht

1.  Value Added Tax Act 1994 (Mehrwertsteuergesetz von 1994)

15.

Die Sechste Richtlinie und nunmehr die Mehrwertsteuerrichtlinie wurden vom Vereinigten Königreich mit dem Value Added Tax Act 1994 (Mehrwertsteuergesetz von 1994, im Folgenden: VATA 1994) in nationales Recht umgesetzt. Section 1 VATA 1994 bestimmt:

„Gemäß den Bestimmungen dieses Gesetzes unterliegen der Mehrwertsteuer

(a)

alle Lieferungen von Gegenständen und Dienstleistungen im Vereinigten Königreich …“

16.

Section 19 und Schedule 6 VATA 1994 legen den Wert der Lieferung von Gegenständen fest, auf die Mehrwertsteuer zu entrichten ist. Section 19(2) lautet:

„Erfolgt die Lieferung für eine Gegenleistung in Geld, so ist ihr Wert der Betrag, der zuzüglich der zu erhebenden Mehrwertsteuer der Gegenleistung entspricht.“

17.

Gemäß der abweichenden Maßnahme erlaubt die aktuelle Fassung von Schedule 6(2) VATA 1994 es HMRC, Weisung zu erteilen, dass sich der Wert einer Lieferung von Gegenständen durch einen Steuerpflichtigen nach dem Normalwert auf der Einzelhandelsstufe richtet (was eine höhere Wertfestsetzung im Vergleich zu derjenigen bedeutet, die sich aus Art. 11 Teil A Abs. 1 Buchstabe a der Sechsten Richtlinie ergeben würde), wenn diese Gegenstände von nicht steuerpflichtigen Personen weiterverkauft werden sollen. Er sieht vor:

„Wenn

(a)

die Geschäftstätigkeit eines Steuerpflichtigen ganz oder zum Teil darin besteht, an eine Anzahl von Personen Gegenstände zu liefern, die entweder durch diese oder durch andere im Einzelhandel verkauft werden sollen, und

(b)

diese Personen nicht steuerpflichtig sind,

können die Commissioners durch schriftlichen Bescheid an den Steuerpflichtigen anordnen, dass sich der Wert jeder derartigen Lieferung durch ihn nach Zugang des Bescheids oder nach einem gegebenenfalls darin bezeichneten späteren Zeitpunkt nach dem Normalwert dieser Lieferung bei einem Verkauf im Einzelhandel bestimmt“ (im Folgenden: Weisung).

2.  Weisung

18.

Am 27. Juni 1985 richtete HMRC eine Weisung an Avon, die noch immer in Kraft ist. In ihr heißt es:

„Gemäß [Schedule 6(2) VATA 1994] erteilen die Commissioners of Customs and Excise [(Steuer- und Zollverwaltung, Vereinigtes Königreich)] hiermit die Weisung, dass ab 1. Juli 1985 als Normalwert, auf den Mehrwertsteuer auf steuerpflichtige Lieferungen von Gegenständen

(a)

durch Sie an nicht steuerpflichtige Personen …

(b)

zum Einzelhandelsverkauf durch die unter (a) genannten Personen oder durch andere Personen

erhoben wird, der Wert dieser Gegenstände bei einem Verkauf im Einzelhandel zugrunde gelegt wird.“

III. Sachverhalt, Verfahren und Vorlagefragen

19.

Avon bedient sich im Vereinigten Königreich eines Direktvertriebsmodells. Im Rahmen dieses Modells verkauft Avon die Produkte des Unternehmens an Vertreterinnen, die Avon-Damen, die wiederum mit einer Handelsspanne Einzelhandelsverkäufe an ihre Kunden tätigen. Wenn Avon beispielsweise ein Produkt zu einem Preis von 75 Pfund Sterling (GBP) an die Avon-Damen verkauft, könnten die Avon-Damen dieses Produkt zu einem Preis von 100 GBP weiterverkaufen.

20.

Die Schwelle, ab der man sich als mehrwertsteuerpflichtig eintragen lassen muss, ist im Vereinigten Königreich mit 100000 GBP hoch. Einige Avon-Damen haben sich für eine Eintragung als mehrwertsteuerpflichtig entschieden. Viele bleiben jedoch unter der Schwelle für die Eintragungspflicht und haben entschieden, sich nicht eintragen zu lassen.

21.

Folglich unterlägen die Gewinnspannen dieser nicht als mehrwertsteuerpflichtig eingetragenen Avon-Damen normalerweise nicht der Mehrwertsteuer. In dem oben genannten Beispiel unterliegt somit der „Großhandelspreis“ von 75 GBP der Mehrwertsteuer, nicht aber die „Einzelhandelsgewinnspanne“ von 25 GBP, die die nicht als mehrwertsteuerpflichtig eingetragenen Avon-Damen erwirtschaften. Dieses Problem der auf der letzten Stufe der Lieferkette „entgangenen“ Mehrwertsteuer kann auch im Rahmen anderer Direktvertriebsmodelle auftreten (zum Beispiel in bestimmten Fällen von Haustürgeschäften).

22.

Um das Problem der durch die Verwendung des Direktvertriebsmodells entgangenen Mehrwertsteuer zu lösen, ist das Vereinigte Königreich zur Abweichung von der Grundregel ermächtigt worden, dass Mehrwertsteuer auf den tatsächlichen Verkaufspreis zu erheben ist (Art. 11 Teil A Abs. 1 Buchst. a der Sechsten Richtlinie).

23.

Die abweichende Maßnahme erlaubt es HMRC in Fällen, in denen das Direktvertriebsmodell angewandt wird, im Wesentlichen, die Mehrwertsteuer nicht auf den Großhandelspreis zu erheben (d. h. in diesem Fall auf den an Avon gezahlten Preis), sondern auf den Einzelhandelspreis (oder bestmöglich geschätzten Preis), den der Endkunde an den Wiederverkäufer, d. h. an die Avon-Damen, zahlt.

24.

Die abweichende Maßnahme wurde mit Hilfe von „Weisungen“ in nationales Recht umgesetzt und durchgeführt. Die Behörden des Vereinigten Königreichs richteten Weisungen an rund 40 Unternehmen, darunter Avon.

25.

Die abweichende Maßnahme wird nicht unterschiedslos auf alle Verkäufe von Avon angewandt.

26.

Eine kleine Anzahl von Avon-Damen ist mehrwertsteuerpflichtig. Ihre Umsätze unterliegen den normalen Mehrwertsteuerregeln. Avon muss die Ausgangsmehrwertsteuer also auf der Grundlage des Preises berechnen, den das Unternehmen den mehrwertsteuerpflichtigen Avon-Damen in Rechnung stellt. Diese Avon-Damen müssen die Ausgangsmehrwertsteuer auf der Grundlage des Verkaufspreises an den Endkunden berechnen. Sie können aber die Vorsteuer in Bezug auf die entsprechenden Einkäufe bei Avon abziehen.

27.

HMRC und Avon haben auch zwei Anpassungen bei der Anwendung der abweichenden Maßnahme vereinbart. Erstens behalten manche Avon-Damen einige der Produkte, die sie von Avon kaufen, für ihren persönlichen Gebrauch. Sie werden also in Bezug auf diese Produkte selbst Endkunden. Zweitens gewähren Avon-Damen gelegentlich kleine Ermäßigungen. In beiden Fällen würde die Anwendung der abweichenden Maßnahme dazu führen, dass zu viel Mehrwertsteuer in Rechnung gestellt würde. Daher wird der Anteil der Verkäufe in diesen beiden Kategorien von Avon und HMRC regelmäßig ermittelt. Der Vorlageentscheidung zufolge werden sehr präzise Zahlen erhoben, um beide Gesichtspunkte widerzuspiegeln.

28.

Die geschilderten Fälle sind Beispiele für Sachverhalte, bei denen es keinen grundsätzlichen Streit über die Nichtanwendung oder geänderte Anwendung der abweichenden Maßnahme auf Verkäufe von Avon gibt. Der vorliegende Fall betrifft einen streitigen Fall der Anwendung der abweichenden Maßnahme, und zwar den Verkauf von Vorführprodukten.

29.

Avon verkauft den Avon-Damen bestimmte Produkte zu Vorführzwecken. Sie werden typischerweise mit einem größeren Nachlass als üblich verkauft. Einige der Vorführprodukte werden bestimmungsgemäß verwandt, beispielsweise als Verkaufshilfen. Andere behalten die Avon-Damen zum Eigengebrauch. Zwischen Avon und HMRC ist unstreitig, dass rund 50 % der als Vorführartikel verkauften Produkte stattdessen letztlich von den Avon-Damen selbst verbraucht werden. Das scheint der Grund dafür zu sein, dass Avon Vorführprodukte nicht verschenkt. In diesen Fällen sind die Avon-Damen Endkunden, und die Mehrwertsteuer wird gemäß der Grundregel des Art. 11 Teil A Abs. 1 Buchst. a der Sechsten Richtlinie auf den an Avon gezahlten Preis erhoben. Der Rechtsstreit bezieht sich nicht auf diese Vorführprodukte.

30.

Der Rechtsstreit betrifft die rund 50 % der Vorführprodukte, die tatsächlich bestimmungsgemäß verwendet werden, d. h., sie werden nicht wiederverkauft, sondern als Geschäftsmittel benutzt, um andere Verkäufe zu steigern. Für mehrwertsteuerpflichtige Wiederverkäufer hätte die auf den Erwerb dieser Produkte gezahlte Mehrwertsteuer normalerweise einen Vorsteuerabzug zur Folge. Diese Kosten werden jedoch bei der Anwendung der abweichenden Maßnahme nicht berücksichtigt. Folglich ist die Mehrwertsteuerbelastung bei Verkäufen durch nicht mehrwertsteuerpflichtige Avon-Damen höher als in den wenigen Fällen, in denen Avon-Damen mehrwertsteuerpflichtig sind. Sie übersteigt auch die Höhe der Steuer beim Verkauf durch mehrwertsteuerpflichtige Verkäufer an Endkunden.

31.

Der Vorlageentscheidung zufolge hat die Außerachtlassung dieser Kosten im Zeitraum von 1997 bis 2013 zu einer Mehrwertsteuersteigerung von rund 16 Mio. GBP geführt.

32.

Im Ausgangsverfahren ficht Avon die Art und Weise der Anwendung der abweichenden Maßnahme durch HMRC an. Avon macht geltend, die abweichende Maßnahme sollte so angewandt werden, dass sie sicherstelle, dass Avon nicht übermäßig besteuert werde und dass der im Rahmen der abweichenden Maßnahme eingenommene Betrag stärker in Einklang mit der „umgangenen“ Mehrwertsteuer gebracht werde. Wenn die abweichende Maßnahme nicht so ausgelegt werden könne, sei sie unwirksam. Schließlich sei das Vereinigte Königreich bei der Beantragung der abweichenden Maßnahme verpflichtet gewesen, auf das Problem hinzuweisen, dass es unmöglich sei, Vorsteuern abzuziehen, und auf die Auswirkungen auf die Höhe der „umgangenen“ Steuer. Die Tatsache, dass das Vereinigte Königreich dies nicht getan habe, sei ein Grund für die Nichtigkeit der abweichenden Maßnahme.

33.

In Anbetracht der vorstehenden Erwägungen legt das First-tier Tribunal (Tax Chamber) (Gericht erster Instanz [Steuerkammer], Vereinigtes Königreich) dem Gerichtshof folgende Fragen vor:

1.

Verkauft ein Direktverkäufer Waren („Verkaufshilfen“) an einen nicht steuerpflichtigen Wiederverkäufer oder erwirbt ein nicht steuerpflichtiger Wiederverkäufer Waren oder Dienstleistungen von Dritten („von Dritten erworbene Waren und Dienstleistungen“), die in beiden Fällen von dem nicht steuerpflichtigen Wiederverkäufer zur Unterstützung seiner Wirtschaftstätigkeit genutzt werden, die darin besteht, andere Waren zu vertreiben, die ebenfalls von dem Direktverkäufer erworben werden und die Gegenstand von Verwaltungsvereinbarungen sind, die aufgrund einer abweichenden Maßnahme erlassen wurden, zu der zuletzt die Entscheidung des Rates vom 24. Mai 1989 (89/534/EWG) ermächtigt hat („abweichende Maßnahme“), verstoßen dann die relevanten Ermächtigungen, Durchführungsvorschriften und/oder Verwaltungsvereinbarungen insoweit gegen einschlägige Vorschriften und/oder Grundsätze des Unionsrechts, als sie den Direktverkäufer verpflichten, die Mehrwertsteuer auf der Grundlage des Verkaufspreises der anderen Waren des nicht steuerpflichtigen Wiederverkäufers zu berechnen, ohne dass die vom nicht steuerpflichtigen Wiederverkäufer auf solche Verkaufshilfen und/oder von Dritten erworbenen Waren und Dienstleistungen gezahlte Mehrwertsteuer abgezogen werden kann?

2.

War das Vereinigte Königreich verpflichtet, als es beim Rat die Ermächtigung für die abweichende Maßnahme beantragte, die Kommission zu informieren, dass nicht steuerpflichtige Wiederverkäufer Mehrwertsteuern auf den Erwerb von Verkaufshilfen und/oder von Dritten erworbene Waren und Dienstleistungen zu zahlen haben, die sie für die Zwecke ihrer Wirtschaftstätigkeit nutzen, und dass die abweichende Maßnahme folglich angepasst werden sollte, um nicht erstattungsfähige Vorsteuern oder überzahlte Mehrwertsteuern zu berücksichtigen?

3.

Für den Fall, dass Frage 1 und/oder Frage 2 zu bejahen ist/sind:

a)

Können und sollten die relevanten Ermächtigungen, Durchführungsvorschriften oder Verwaltungsvereinbarungen dahin ausgelegt werden, dass Folgendes zu berücksichtigen ist: entweder i) von nicht steuerpflichtigen Wiederverkäufern gezahlte nicht erstattungsfähige Mehrwertsteuern auf Verkaufshilfen oder von Dritten erworbene Waren und Dienstleistungen, die von diesen nicht steuerpflichtigen Wiederverkäufern für die Zwecke ihrer Wirtschaftstätigkeit genutzt werden, oder ii) über die umgangenen Steuern hinausgehende Mehrwertsteuern, die von Her Majesty’s Revenue & Customs eingetrieben wurden, oder iii) der mögliche unlautere Wettbewerb zwischen Direktverkäufern, ihren nicht steuerpflichtigen Wiederverkäufern und nicht im Direktvertrieb tätigen Unternehmen?

b)

Ferner:

i)

War die Ermächtigung des Vereinigten Königreichs zu der Abweichung von Art. 11 Teil A Abs. 1 Buchstabe a der Sechsten Richtlinie rechtswidrig?

ii)

Ist neben einer Abweichung von Art. 11 Teil A Abs. 1 Buchstabe a eine Abweichung von Art. 17 der Sechsten Richtlinie notwendig? Wenn ja, handelte das Vereinigte Königreich rechtswidrig, indem es bei der Kommission oder beim Rat keine Ermächtigung zu einer Abweichung von Art. 17 beantragte?

iii)

Handelt das Vereinigte Königreich rechtswidrig, weil die Mehrwertsteuerverwaltung nicht so gestaltet ist, dass Direktverkäufer eine Gutschrift für Mehrwertsteuern verlangen können, die nicht steuerpflichtige Wiederverkäufer für die Zwecke ihrer Wirtschaftstätigkeit auf Verkaufshilfen oder von Dritten erworbene Waren und Dienstleistungen gezahlt haben?

iv)

Sind daher alle oder Teile der relevanten Ermächtigungen, Durchführungsvorschriften und/oder Verwaltungsvereinbarungen ungültig und/oder rechtswidrig?

c)

Ist die geeignete Abhilfemaßnahme seitens des Gerichtshofs der Europäischen Union oder seitens des innerstaatlichen Gerichts:

i)

die Weisung, dass der Mitgliedstaat verpflichtet ist, der abweichenden Maßnahme im innerstaatlichen Recht Wirkung zu verleihen, indem in Bezug auf folgende Punkte eine angemessene Anpassung vorgesehen wird: a) von nicht steuerpflichtigen Wiederverkäufern gezahlte nicht erstattungsfähige Mehrwertsteuern auf Verkaufshilfen oder von Dritten erworbene Waren und Dienstleistungen, die von diesen nicht steuerpflichtigen Wiederverkäufern für die Zwecke ihrer Wirtschaftstätigkeit genutzt werden, oder b) über die umgangenen Steuern hinausgehende Mehrwertsteuern, die von Her Majesty’s Revenue & Customs eingetrieben wurden oder c) der mögliche unlautere Wettbewerb zwischen Direktverkäufern, ihren nicht steuerpflichtigen Wiederverkäufern und nicht im Direktvertrieb tätigen Unternehmen; oder

ii)

die Feststellung, dass die Ermächtigung zu der abweichenden Maßnahme und demnach die abweichende Maßnahme selbst unwirksam sind; oder

iii)

die Feststellung, dass die innerstaatliche Gesetzgebung ungültig ist; oder

iv)

die Feststellung, dass die Weisung ungültig ist; oder

v)

die Feststellung, dass das Vereinigte Königreich verpflichtet ist, eine Ermächtigung zu einer weiteren Abweichung zu beantragen, um in Bezug auf folgende Punkte eine angemessene Anpassung vorzusehen: a) von nicht steuerpflichtigen Wiederverkäufern gezahlte nicht erstattungsfähige Mehrwertsteuern auf Verkaufshilfen oder von Dritten erworbene Waren und Dienstleistungen, die von diesen nicht steuerpflichtigen Wiederverkäufern für die Zwecke ihrer Wirtschaftstätigkeit genutzt werden, oder b) über die umgangenen Steuern hinausgehende Mehrwertsteuern, die von Her Majesty’s Revenue & Customs eingetrieben wurden; oder c) der mögliche unlautere Wettbewerb zwischen Direktverkäufern, ihren nicht steuerpflichtigen Wiederverkäufern und nicht im Direktvertrieb tätigen Unternehmen?

4.

Sind die „Steuerhinterziehungen oder -umgehungen“ im Sinne von Art. 27 der Sechsten Richtlinie (Art. 395 der Mehrwertsteuerrichtlinie) als Nettosteuerverlust (unter Berücksichtigung der gezahlten Mehrwertsteuer und der erstattungsfähigen Vorsteuer in der zur Steuerhinterziehung oder -umgehung führenden Struktur) für den Mitgliedstaat oder als Bruttosteuerverlust (unter Berücksichtigung lediglich der Mehrwertsteuer in der zur Steuerhinterziehung oder -umgehungen führenden Struktur) für den Mitgliedstaat zu verstehen?

34.

Avon, die Regierung des Vereinigten Königreichs, die Kommission und der Rat der Europäischen Union haben schriftliche Erklärungen abgegeben. Die Beteiligten, die am schriftlichen Verfahren teilgenommen haben, haben in der Sitzung vom 31. Mai 2017 mündlich Stellung genommen.

IV. Bewertung

35.

Diese Schlussanträge sind wie folgt gegliedert: Zunächst werde ich die erste und die vierte Frage des vorlegenden Gerichts prüfen. Da ich vorschlage, die erste Frage zu verneinen (1), ist es nicht notwendig, die vierte vom nationalen Gericht gestellte Frage zu prüfen (2). Des Weiteren schlage ich vor, auch die zweite Frage des nationalen Gerichts zu verneinen (3). Somit braucht auch die dritte Frage nicht geprüft zu werden (4).

1.   Zur ersten Frage

36.

Verstoßen die abweichende Maßnahme oder die nationalen Maßnahme zu ihrer Umsetzung insoweit gegen die Sechste Richtlinie und/oder ihre allgemeinen Anwendungsgrundsätze, als sie Mehrwertsteuer auf der Grundlage des Normalwerts von Produkten auferlegen, die von nicht mehrwertsteuerpflichtigen Wiederverkäufern vertrieben werden, ohne dass sie eine fiktive Vorsteuer auf Vorführartikel oder andere Waren oder Dienstleistungen berücksichtigen, die diese Wiederverkäufer von Dritten erworben haben? Dies ist im Wesentlichen die erste Frage des vorlegenden Gerichts.

a)  Allgemeine Grundsätze für Abweichungen gemäß Art. 27 der Sechsten Richtlinie

37.

Art. 27 Abs. 1 der Sechsten Richtlinie sieht die Ermächtigung zu „von dieser Richtlinie abweichende[n] Sondermaßnahmen“ vor, „um … Steuerhinterziehungen oder -umgehungen zu verhindern“.

38.

Der vorliegende Fall betrifft eine Abweichung von Art. 11 Teil A Abs. 1 Buchst. a der Sechsten Richtlinie, der den Begriff „Besteuerungsgrundlage“ definiert. Eine Abweichung von den übrigen Bestimmungen der Sechsten Richtlinie oder ihren allgemeinen Grundsätzen ist nicht vorgesehen. Sie alle bleiben daher voll anwendbar ( 9 ).

39.

Eine Abweichung von allgemein anwendbaren Bestimmungen geht definitionsgemäß von diesen Bestimmungen ab. Daher ist es nur logisch, dass das Endergebnis ein anderes ist als dasjenige, das sich aus der vollständigen Anwendung dieser allgemeinen Bestimmungen ergeben hätte ( 10 ).

40.

Wie bei jeder Ausnahme sind jedoch Abweichungen gemäß Art. 27 Abs. 1 eng auszulegen. Sie werden hinsichtlich spezifischer Bestimmungen der Richtlinie ( 11 ) gewährt und nur, um entweder die Steuereintreibung zu vereinfachen oder um Steuerhinterziehungen oder -umgehungen zu verhüten. Darüber hinaus „dürfen [sie] von der in Artikel 11 geregelten Besteuerungsgrundlage für die Mehrwertsteuer nur insoweit abweichen, als dies für die Erreichung dieses Ziels unbedingt erforderlich ist“ ( 12 ). Sie müssen auch erforderlich und geeignet sein, das von ihnen verfolgte konkrete Ziel zu erreichen, und die Ziele und Grundsätze der Sechsten Richtlinie geringstmöglich beeinträchtigen ( 13 ).

41.

Art. 27 Abs. 1 bestimmt auch, dass Abweichungen „den Gesamtbetrag der von dem Mitgliedstaat im Stadium des Endverbrauchs erhobenen Steuer nur in unerheblichem Maße beeinflussen [dürfen]“ (Hervorhebung nur hier). Er sieht ausdrücklich vor, dass sich die Einschränkungen „Gesamtbetrag“ und „in unerheblichem Maße“ auf Vereinfachungsmaßnahmen beziehen. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs stehen diese Einschränkungen „im Einklang mit dem … Grundprinzip der Sechsten Richtlinie“ und gelten gleichermaßen für Abweichungen zur Verhinderung von Steuerhinterziehungen oder -umgehungen ( 14 ).

b)  Das Grundanliegen hinsichtlich der Nichtberücksichtigung einer fiktiven Vorsteuer

42.

In diesem Fall wurde dem Vereinigten Königreich die von Art. 11 Teil A Abs. 1 Buchst. a abweichende Maßnahme zwecks Verhinderung von Steuerhinterziehungen oder -umgehungen gewährt. Auf diese Weise wollte es einer Besonderheit des von Avon und anderen Geschäftstreibenden angewandten Direktvertriebsmodells entgegenwirken, und zwar der Nichterhebung von Mehrwertsteuer auf der letzten Stufe der Vertriebskette, mit dem Ergebnis einer entsprechenden Verringerung der Ausgangssteuer.

43.

Avon hat in den mündlichen Ausführungen und in den Schriftsätzen darauf beharrt, dass die abweichende Maßnahme auch die Verhinderung einer Wettbewerbsverfälschung anstrebe. Da Art. 27 Abs. 1 der Sechsten Richtlinie jedoch nur die Gewährung von Abweichungen mit dem Ziel der Verhinderung von Steuerhinterziehungen oder -umgehungen vorsieht (und Vereinfachung nicht geltend gemacht wird), ist die abweichende Maßnahme hauptsächlich anhand dieses Ziels zu prüfen.

44.

Es ist unstreitig, dass das von Avon und anderen angewandte Direktvertriebsmodell zu Steuerumgehungen im Stadium des Endverbrauchs führen könnte. Eine Abweichung nach Art. 27 Abs. 1 kann also grundsätzlich gerechtfertigt sein.

45.

Avon ist jedoch der Ansicht, dass die abweichende Maßnahme falsch angewandt werde. HMRC berücksichtige nur die Ausgangssteuer, die die Avon-Damen normalerweise auf ihre Handelsspanne zahlen würden, wenn sie mehrwertsteuerpflichtig wären. HMRC versäume es, der Vorsteuer Rechnung zu tragen, die die Avon-Damen normalerweise abziehen könnten, wenn sie mehrwertsteuerpflichtig wären (insbesondere Vorsteuer auf Verkaufshilfen). Avon argumentiert, dass dieses Versäumnis zu einer „Überkorrektur“ des ursprünglichen Problems führe (nämlich der Nichterhebung von Mehrwertsteuer auf der letzten Stufe der Lieferkette). Diese Überkorrektur führe zu einer Verletzung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes. Sie verletze auch den Grundsatz der steuerlichen Neutralität, da der zu viel berechnete Betrag zu einem Wettbewerbsnachteil gegenüber Ladengeschäften führe. Schließlich gehe sie über die Grenzen von Art. 27 Abs. 1 der Sechsten Richtlinie hinaus.

46.

Ich stimme aus folgenden Gründen nicht mit der Ansicht von Avon überein, dass die Weigerung von HMRC, einer fiktiven Vorsteuer Rechnung zu tragen, zwangsläufig problematisch sei.

47.

Erstens sieht die abweichende Maßnahme die Berücksichtigung einer fiktiven Vorsteuer einfach nicht vor bzw. erlaubt sie nicht. In diesem Sinne kann die abweichende Maßnahme also nicht in „abgeänderter“ Form angewandt werden, um einer solchen fiktiven Vorsteuer Rechnung zu tragen (Abschnitt c).

48.

Zweitens ist die abweichende Maßnahme nicht dazu bestimmt, in einer Weise angewandt zu werden, die die steuerliche Lage nachbildet, die bestehen würde, wenn alle Avon-Damen mehrwertsteuerpflichtig wären (Abschnitt d).

49.

Drittens verletzt die Tatsache, dass die abweichende Maßnahme die Berücksichtigung einer fiktiven Vorsteuer nicht vorsieht bzw. erlaubt, für sich genommen nicht die Grundsätze der steuerlichen Neutralität oder Verhältnismäßigkeit und überschreitet auch nicht die Grenzen von Art. 27 der Sechsten Richtlinie. Es ist vorstellbar, dass die Anwendung der abweichenden Maßnahme angesichts dieser Grundsätze und Bestimmungen Fragen aufwerfen könnte, wenn sich die Nichtberücksichtigung einer fiktiven Ausgangsmehrwertsteuer nicht unerheblich auf die Höhe der im Stadium des Endverbrauchs erhobenen Mehrwertsteuer auswirken würde. Meiner Meinung nach ist dies vorbehaltlich der vom vorlegenden Gericht vorzunehmenden abschließenden Würdigung im vorliegenden Fall jedoch eine eher theoretische Möglichkeit (Abschnitt e).

c)  Umfang der abweichenden Maßnahme

50.

Gemäß dem Wortlaut von Art. 27 Abs. 1 der Sechsten Richtlinie und dem allgemeinen Grundsatz, dass Ausnahmen eng auszulegen sind ( 15 ), werden Abweichungen in Bezug auf konkrete Bestimmungen dieser Richtlinie gewährt.

51.

In diesem Fall wurde die abweichende Maßnahme ausdrücklich in Bezug auf Art. 11 Teil A Abs. 1 Buchst. a gewährt und gestattet ein Abweichen von den normalerweise für die Berechnung der „Besteuerungsgrundlage“ geltenden Bestimmungen, d. h. des Betrags, auf dessen Grundlage die Ausgangsmehrwertsteuer erhoben wird. Daher sind gemäß dem Wortlaut von Art. 1 der abweichenden Maßnahme „Lieferungen an [nicht steuerpflichtige Wiederverkäufer] auf der Grundlage des Normalwerts des Gegenstandes in diesem letzten Stadium zu besteuern“.

52.

Wie oben in Nr. 27 ausgeführt, möchte HMRC mittels zweier Anpassungen sicherstellen, dass die unter Anwendung der abweichenden Maßnahme berechnete Besteuerungsgrundlage den vom Endkunden tatsächlich gezahlten Einstandspreis bestmöglich widerspiegelt. Dies entspricht der Feststellung des Gerichtshofs im Urteil Direct Cosmetics II zu der vorangegangenen abweichenden Maßnahme ( 16 ), dass „unter dem Normalwert im Sinne der in Frage stehenden abweichenden Regelung … der Wert zu verstehen [ist], der dem … wirklich von dem Endverbraucher gezahlten Preis … so nahe wie möglich kommt“ ( 17 ).

53.

Hingegen wurde keine Abweichung beantragt, was die allgemeinen auf den Vorsteuerabzug anwendbaren Vorschriften angeht, insbesondere Art. 17 Abs. 1 der Sechsten Richtlinie ( 18 ). In der abweichenden Maßnahme wird eine Berücksichtigung der Kosten nicht steuerpflichtiger Wiederverkäufer bei der Berechnung des Normalwerts der verkauften Waren nicht erwähnt. Soweit die Avon-Damen nicht steuerpflichtig sind, besteht kein Abzugsrecht. Nach den allgemeinen Vorschriften sind Vorsteuern in Bezug auf ihnen entstandene Kosten, wie zum Beispiel die Kosten für Verkaufshilfen, nicht erstattungsfähig. Aus dem Verweis auf die vorstehende Nr. 52 wird darüber hinaus klar, dass Bestehen und Umfang einer dem Wiederverkäufer entstandenen fiktiven Vorsteuer keine Auswirkungen auf den tatsächlich vom Endkunden gezahlten Preis haben.

54.

Im Ergebnis bin ich angesichts des ausdrücklichen Umfangs der abweichenden Maßnahme der Auffassung, dass eine Anpassung in Bezug auf fiktive Vorsteuern nicht vorgesehen oder erlaubt ist. Dieses Ergebnis folgt bereits aus der Rechtsnatur einer engen Ausnahme. Jenseits eines solchen wörtlichen und systematischen Arguments würde die vorgeschlagene Ausweitung von Ausnahmen Fragen der Rechtssicherheit aufwerfen, wenn eine entweder nur für Vorsteuern oder nur für Ausgangssteuern beantragte und gewährte Abweichung den Mitgliedstaaten gleichwohl die Wahl ließe, die jeweils andere Steuerart zu berücksichtigen.

55.

Aufgrund der vorstehenden Erwägungen bin ich der Ansicht, dass die Anwendung der abweichenden Maßnahme nicht dahin abgeändert werden kann, dass einer fiktiven Vorsteuer Rechnung getragen werden kann, die nicht steuerpflichtigen Wiederverkäufern entstanden ist.

d)  Der Berücksichtigung alternativer Geschäftsmodelle und das Fehlen vollkommener Lösungen

56.

Avon ist im Wesentlichen der Auffassung, dass die gegenwärtig unter Anwendung der abweichenden Maßnahme vorgenommenen Anpassungen der „Besteuerungsgrundlage“ weiterentwickelt werden könnten. Aufgrund dieser Weiterentwicklung würde die den nicht als steuerpflichtig eingetragenen und nicht steuerpflichtigen Avon-Damen entstandene fiktive Vorsteuer (insbesondere bezüglich Verkaufshilfen) berücksichtigt. Avon zufolge „würde sich [das Unternehmen] auf diese Weise so weit wie möglich einer umfassend steuerpflichtigen Lieferkette annähern“. Da solche Anpassungen möglich seien, müssten sie vorgenommen werden, um die Grundsätze der Verhältnismäßigkeit und der steuerlichen Neutralität sowie die Grenzen von Art. 27 Abs. 1 der Sechsten Richtlinie zu wahren.

57.

Tatsächlich trifft es zu, dass die Berücksichtigung der Kosten für Verkaufshilfen das Ergebnis der vermiedenen fiktiven Nettosteuer annähern würde, wenn man annehmen würde, dass die Avon-Damen in Wahrheit als steuerpflichtig eingetragen wären. Aus den oben in Abschnitt c) dargelegten Gründen erlaubt der Wortlaut der abweichenden Maßnahme meiner Meinung nach jedoch solche Abänderungen nicht.

58.

Darüber hinaus bezweckt die abweichende Maßnahme auch nicht, zu versuchen, eine Art virtueller paralleler Wirklichkeit zu schaffen, die derjenigen so nah wie möglich kommt, die bestehen würde, wenn die nicht steuerpflichtigen Avon-Damen als steuerpflichtig eingetragen wären, und dann zu ermitteln, wie die mehrwertsteuerliche Lage gewesen wäre. Die abweichende Maßnahme bezweckt die Verhinderung von Steuerumgehungen unter voller Anerkennung dessen, dass die Mehrwertsteuerbestimmungen von den allgemeinen Regeln abweichend auf einen konkreten Sachverhalt angewandt werden.

59.

Avon bemerkt, dass die abweichende Maßnahme ( 19 ) die Lösung eines Problems anstrebe (Nichtbesteuerung auf der letzten Stufe der Lieferkette und Verletzung des Grundsatzes der steuerlichen Neutralität zum Nachteil der Wettbewerber von Avon) und dabei ein anderes schaffe (Verletzung des Grundsatzes der steuerlichen Neutralität zum Nachteil von Avon, wodurch das Unternehmen einer „Überkorrektur“ seiner Mehrwertsteuerrechnung ausgesetzt sei).

60.

Es trifft zu, dass die abweichende Maßnahme mit ihr eigenen Problemen verbunden ist. Mit ihr wird jedoch die Lösung dieser mit dem Direktvertriebsmodell verbundenen Probleme angestrebt, insbesondere desjenigen, dass die Mehrwertsteuer eine Verbrauchsteuer ist, dass aber Umsätze Nichtsteuerpflichtiger mit Endkunden der Mehrwertsteuer entgehen. Ferner hat die abweichende Maßnahme den Vorteil, dass das Direktvertriebsmodell den Anforderungen des Mehrwertsteuersystems gerecht werden und weiter verwendet werden kann. Wie Avon ausführlich dargelegt hat, ist das Ergebnis nicht „vollkommen“ in dem Sinne, dass es genau die Situation widerspiegelt, die ohne die fehlende Anmeldung der Avon-Damen als mehrwertsteuerpflichtig bestünde. Solche Unterschiede sind jedoch dem Nebeneinander zweier alternativer und recht unterschiedlicher Geschäftsmodelle eigen. Obgleich es möglich ist, verschiedenen Modellen innerhalb des Mehrwertsteuersystems gerecht zu werden, kann dies nicht so weit gehen, dass tatsächlich detaillierte parallele Regelungen geschaffen werden.

61.

Dies führt mich zu meinem nächsten Punkt, den ich in diesem Fall für wesentlich halte, und zwar der Wahl des Geschäftsmodells. Die Avon-Damen haben die Wahl, sich als mehrwertsteuerpflichtig anzumelden. Obwohl die Schwelle für die Pflicht einer Anmeldung als mehrwertsteuerpflichtig im Vereinigten Königreich hoch ist, können die Avon-Damen sich unterhalb dieser Schwelle anmelden. Avon hat auch die Wahl, mit angemeldeten oder mit nicht angemeldeten Wiederverkäufern zu arbeiten. Avon und die Avon-Damen haben sicherlich Gründe für ihre Entscheidung für das eine oder das andere, beispielsweise um nach dem wettbewerbsfähigsten Geschäftsmodell zu arbeiten oder um den belastenden Verwaltungsaufwand zu vermeiden, mit dem die mehrwertsteuerliche Anmeldung einhergeht.

62.

Nicht steuerpflichtig zu sein hat jedoch auch andere Auswirkungen, einschließlich der fehlenden Möglichkeit, die Vorsteuer abzuziehen. Wie der Gerichtshof mehrfach bestätigt hat, haben Wirtschaftsbeteiligte das Recht, ihre Tätigkeiten so zu gestalten, dass sich ihre Steuerschuld in Grenzen hält ( 20 ). Dennoch umfasst diese Wahlfreiheit es nicht, sich für ein bestimmtes Geschäftsmodell zu entscheiden und dann einen À-la-carte-Zugang zu den Mehrwertsteuerregeln zu haben, die normalerweise für andere Modelle gelten.

63.

In der Sitzung hat Avon darauf hingewiesen, dass es, wenn die allgemeinen Rechtsvorschriften auf ihre Umsätze anwendbar wären, überhaupt keine Anpassungen in Bezug auf die Ausgangssteuer geben müsste. Die abweichende Maßnahme diene de facto dazu, ihre Steuerschuld zu erhöhen. Anders gesagt verlange Avon keine À-la-carte-Anwendung der Mehrwertsteuerregeln. Avon wolle, so ihre Äußerung in der Sitzung, nicht „alles zugleich haben“. Vielmehr strebe HMRC selbst die selektive Anwendung der Mehrwertsteuerregeln durch eine spezifische Abweichung an. HMRC wolle alles zugleich haben.

64.

Die Streitfrage, wer genau im vorliegenden Fall alles zugleich haben möchte, deutet auf eine grundsätzlichere Meinungsverschiedenheit hin: Wessen Handeln hat die Notwendigkeit einer Anpassung des normalen Mehrwertsteuersystems ausgelöst? Avon ist der Ansicht, die Probleme seien der abweichenden Maßnahme bzw. ihrer falschen Anwendung zuzuschreiben. Hätte das Vereinigte Königreich sie nicht beantragt, wären die normalen Mehrwertsteuerregeln anwendbar. Es gäbe kein Problem. Nach Ansicht des Vereinigten Königreichs wurde die abweichende Maßnahme hingegen erst als Reaktion auf das Direktvertriebsmodell beantragt, d. h., um ein Problem zu beheben, das bereits bestanden und der Funktionsweise dieses Modells innegewohnt habe. Die zugrunde liegende Logik sei somit gewesen, dieses Modell beibehalten zu können, jedoch vorbehaltlich der durch die abweichende Maßnahme ermöglichten Anpassungen.

65.

Diese Erörterung führt direkt zu dem vorstehend angesprochenen Punkt zurück, dass nämlich einige Unterschiede bei der mehrwertsteuerlichen Behandlung wegen des Nebeneinanders zweier alternativer und recht unterschiedlicher Geschäftsmodelle unvermeidlich sind. Es gibt keine vollkommene Lösung. Die Tatsache, dass mit der abweichenden Maßnahme keine vollkommene Lösung angestrebt wird und dass ihre Anwendung zu „unvollkommenen“ Ergebnissen führt, ist für sich genommen nicht problematisch ( 21 ).

66.

Nach diesem allgemeinen Bemerkungen wende ich mich nun den einzelnen Gesichtspunkten zu, die Avon geltend gemacht hat, und zwar Verhältnismäßigkeit, Art. 27 Abs. 1 der Sechsten Richtlinie und steuerliche Neutralität.

e)  Kein Verstoß gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, gegen Art. 27 der Sechsten Richtlinie oder gegen den Grundsatz der steuerlichen Neutralität

1) Verhältnismäßigkeit und Art. 27 Abs. 1

67.

Mit dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz sind Maßnahmen nur dann vereinbar, wenn sie erforderlich und geeignet sind, das von ihnen verfolgte konkrete Ziel zu verwirklichen, und die Ziele und Grundsätze der Sechsten Richtlinie geringstmöglich beeinträchtigen ( 22 ).

68.

Wie bereits erwähnt ( 23 ), verfolgt die abweichende Maßnahme das legitime Ziel, Steuerumgehungen zu verhindern ( 24 ). Sie ermöglicht auch die Begrenzung von Wettbewerbsverzerrungen zum Nachteil von Unternehmen, die ein anderes Vertriebsmodell übernehmen ( 25 ).

69.

Darüber hinaus werden Anpassungen der Besteuerungsgrundlage vorgenommen, um Fälle zu berücksichtigen, in denen der vom Endkunden gezahlte Preis unterhalb des vollen „Katalogpreises“ liegt ( 26 ). Insoweit ist die auferlegte Ausgangssteuer verhältnismäßig. Es handelt sich genau um das, was normalerweise aufgrund der Eigenschaft der Mehrwertsteuer als Verbrauchsteuer erforderlich ist.

70.

Ferner habe ich oben dargelegt, warum meines Erachtens nicht erwartet werden kann, dass die abweichende Maßnahme so angewandt wird, dass die steuerliche Lage, die im Fall einer umfassend steuerpflichtigen Lieferkette bestehen würde, so gut wie möglich nachgebildet wird. Die bloße Tatsache, dass die fiktive Vorsteuer „außer Betracht gelassen“ wird, was zu einer steuerlichen Lage führt, die von derjenigen abweicht, die im Fall einer umfassend steuerpflichtigen Lieferkette bestünde, ist somit für sich genommen nicht mit dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz unvereinbar ( 27 ).

71.

Ist es dennoch möglich, dass der Gesamtbetrag der außer Betracht gelassenen fiktiven Vorsteuer so erheblich ist, dass die Anwendung der abweichenden Maßnahme zu einer Verletzung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes führen würde?

72.

Dies ist meiner Ansicht nach theoretisch möglich, und läge eine solche Verletzung vor, so wäre die Lösung, dass die abweichende Maßnahme nicht auf Avon angewandt werden könnte. Vorbehaltlich der endgültigen Beurteilung durch das vorlegende Gericht halte ich dies jedoch im vorliegenden Fall für sehr unwahrscheinlich. In dieser Hinsicht möchte ich zu i) Risiko und Beweis, ii) Komplexität und Verwaltungsaufwand sowie iii) Wesentlichkeit Folgendes ausführen.

73.

Was erstens Risiko und Beweis angeht, ist daran zu erinnern, dass die abweichende Maßnahme die Verhinderung von Steuerhinterziehungen und -umgehungen bezweckt. Die Avon-Damen sind nicht steuerpflichtig und unterliegen nun einmal nicht den Dokumentierungs- und Nachweispflichten steuerpflichtiger Personen, was ihnen den Nachweis ermöglichen würde, dass (und in welcher Höhe) ihnen ein Abzugsrecht zugestanden hätte, wenn sie als steuerpflichtig eingetragen gewesen wären. Eine mögliche Berücksichtigung einer fiktiven Vorsteuer würde zum Nachweis, dass solche Kosten angefallen sind, von der Vorlage hinreichender schriftlicher Beweise ( 28 ) durch Avon abhängen.

74.

Zweitens hat der Gerichtshof im Urteil Sudholz festgestellt, dass eine übermäßige Erschwerung der Anwendung einer Abweichung die Neutralisierung ihrer Vorteile bewirken kann ( 29 ). Der Versuch, fiktive Vorsteuern zu berechnen, erhöht unbestreitbar den Grad der Komplexität bei der Anwendung der abweichenden Maßnahme, insbesondere angesichts des Fehlens vollständiger Aufzeichnungen bezüglich der relevanten Kosten. Zwar betraf die Rechtssache Sudholz eine Abweichung, die auf eine Vereinfachung abzielte. Die damaligen Bedenken hinsichtlich zusätzlicher Komplexität gelten meines Erachtens jedoch ebenso für die abweichende Maßnahme im vorliegenden Fall. Ein Vorteil des Direktvertriebsmodells ist gerade der geringere Verwaltungsaufwand. Diesen Aufwand in der Praxis durch die Hintertür wiedereinzuführen, indem ein Verwaltungsaufwand, gegen den sich die Avon-Damen entschieden haben ( 30 ), (teilweise) der öffentlichen Verwaltung aufgebürdet wird, ist nach meinem Dafürhalten ebenso problematisch wie in der Rechtssache Sudholz.

75.

Drittens sind angesichts der zwei vorgenannten Gesichtspunkte klare und zweifelsfreie Beweise für Kosten, die fiktive Vorsteuern jenseits einer Wesentlichkeitsschwelle entstehen lassen, erforderlich, damit eine uneingeschränkte Nichtberücksichtigung dieser Kosten für unverhältnismäßig gehalten werden könnte.

76.

Wo liegt diese Wesentlichkeitsschwelle?

77.

Zur Beantwortung dieser Frage ist bei Art. 27 Abs. 1 der Sechsten Richtlinie anzusetzen, der den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz im Rahmen dieser konkreten Bestimmung erfasst ( 31 ) und vorsieht, dass Abweichungen „den Gesamtbetrag der von dem Mitgliedstaat im Stadium des Endverbrauchs erhobenen Steuer nur in unerheblichem Maße beeinflussen [dürfen]“.

78.

Meines Erachtens muss eine Wesentlichkeitsschwelle objektiv sein. Um die steuerliche Gleichbehandlung zu gewährleisten und den oben genannten Wortlaut von Art. 27 Abs. 1 widerzuspiegeln, kann sie nicht von den konkreten Umständen eines bestimmten Steuerzahlers abhängen, sondern muss im Hinblick auf die Mehrwertsteuereinnahmen des Mitgliedstaats beurteilt werden.

79.

Indes ist nicht klar, welcher Vergleichsmaßstab zur Bestimmung dessen gilt, was „unerheblich“ ist und was nicht. Somit könnte dem Wortlaut „Gesamtbetrag der von dem Mitgliedstaat im Stadium des Endverbrauchs erhobenen Steuer“ eine Reihe von Bedeutungen ziemlich unterschiedlicher Größenordnungen zugeschrieben werden.

80.

Es kommen mindestens drei Möglichkeiten in Betracht, je nachdem, ob für den Erheblichkeitsvergleich abgestellt wird auf:

die Gesamtheit der Mehrwertsteuer-Eigenmittel der Union; für diese Auslegung sprechen die Erwägungsgründe der Richtlinie 2004/7/EG ( 32 ), mit der der Ausdruck „Gesamt-“ in Art. 27 Abs. 1 eingefügt und ausdrücklich festgelegt wurde, dass die Beurteilung „global unter Bezugnahme auf die makroökonomischen Schätzungen des wahrscheinlichen Einflusses der Maßnahme auf die Mehrwertsteuer-Eigenmittel der Gemeinschaft erfolgt“ ( 33 );

die Gesamtheit der Mehrwertsteuermittel eines Mitgliedstaats; diese Auslegung entspricht eher der wörtlichen Bedeutung von „der von dem Mitgliedstaat im Stadium des Endverbrauchs erhobenen Steuer“, denn dem Wortlaut lässt sich klar entnehmen, dass auf die von dem Mitgliedstaat erhobene Steuer abgestellt wird und nicht auf die von der Gemeinschaft erhobene Steuer;

Mehrwertsteuereinnahmen aus einer konkreten Lieferkette oder aus einzelnen Waren oder Umsätzen; für diese Auslegung spricht beispielsweise das Urteil Vandoorne ( 34 ). In diesem Fall hat der Gerichtshof im Wesentlichen festgestellt, dass die Erstattung der Mehrwertsteuer nicht unerheblich wäre, weil sie 100 % der für Lieferungen an einen einzigen Kunden gezahlten Mehrwertsteuer ausmachen würde ( 35 ).

81.

Ich bin der Ansicht, dass sowohl Wortlaut als auch Sinn und Zweck von Art. 27 Abs. 1 der Sechsten Richtlinie und der Richtlinie 2004/7 eher für einen der makro-ökonomischen Vergleichsmaßstäbe sprechen, nämlich auf Unionsebene oder auf der Ebene des einzelnen Mitgliedstaats. Meiner Meinung nach geht der „Vandoorne“-Ansatz zu stark in die entgegengesetzte Richtung. Er kommt dem Erfordernis eines detaillierten Ansatzes ähnlich dem oben in den Nrn. 60 bis 62 abgelehnten nahe. Er könnte die Anwendung einer Abweichung tatsächlich ernsthaft beeinträchtigen. Zu beachten ist auch, dass die Umstände in Vandoorne recht spezifisch waren, insbesondere der Umstand, dass die Mehrwertsteuer im Voraus von dem Lieferanten gezahlt wurde.

82.

Ich bin jedoch der Auffassung, dass der Gerichtshof im Rahmen dieses Falles nicht ausführlich auf diese Frage eingehen muss, weil (vorbehaltlich der Prüfung des Sachverhalts durch das vorlegende Gericht) keine der oben genannten Schwellen überschritten zu sein scheint. In makro-ökonomischer Hinsicht sind die betreffenden Zahlen verschwindend klein. Auch auf mikro-ökonomischer Ebene, d. h. auf dem Niveau des einzelnen Geschäftsvorgangs, erscheinen die Beträge noch immer sehr gering.

83.

Vor diesem Hintergrund lässt sich meiner Meinung nach nicht argumentieren, dass die Weigerung, eine mit Verkaufshilfen verbundene fiktive Vorsteuer zu berücksichtigen, nicht unerhebliche Auswirkungen auf den „[Gesamt-]Betrag der von dem Mitgliedstaat im Stadium des Endverbrauchs erhobenen Steuer“ hätte. Vorbehaltlich der abschließenden Beurteilung durch das vorlegende Gericht bin ich im Ergebnis der Ansicht, dass keine Verletzung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes oder der Grenzen des Art. 27 Abs. 1 der Sechsten Richtlinie vorliegt.

2) Steuerliche Neutralität

84.

Der Grundsatz der steuerlichen Neutralität lässt es nicht zu, gleichartige Waren und Dienstleistungen hinsichtlich der Mehrwertsteuer unterschiedlich zu behandeln ( 36 ).

85.

In dieser Hinsicht soll angenommen werden, dass der Vertrieb von Waren durch Direktvertriebsstrukturen wie die von Avon und der durch traditionellere Einzelhandelsverkaufsstellen tatsächlich als „gleichartig“ im Sinne der Rechtsprechung des Gerichtshofs angesehen werden können, obgleich dies meiner Meinung nach nicht auf der Hand liegt.

86.

Selbst wenn dies aber der Fall wäre, ergibt sich sowohl mit der abweichenden Maßnahme als auch ohne sie ein Problem der steuerlichen Neutralität, und zwar im ersten Fall zum Nachteil von Avon, im zweiten Fall zum Nachteil ihrer Wettbewerber ( 37 ). Wie Avon vorbringt, würde bei der Lösung eines Problems ein anderes geschaffen.

87.

In dieser Hinsicht verweise ich auf meine Ausführungen oben in Nr. 60, wonach vollkommene Gleichbehandlung in Fällen wie dem vorliegenden, die sehr unterschiedliche Geschäftsmodelle betreffen, einfach nicht erreichbar ist.

88.

Dennoch könnte man geltend machen, dass eine „gleichere“ Behandlung in diesem Fall möglich wäre. Dies ist meiner Meinung nach jedoch lediglich eine Umformulierung des Verhältnismäßigkeitsarguments, das oben bereits zurückgewiesen worden ist.

89.

Im Licht des Vorstehenden sind die abweichende Maßnahme und ihre Anwendung durch das Vereinigte Königreich insoweit, als eine „fiktive Vorsteuer“ im Allgemeinen und konkret in Bezug auf Verkaufshilfen nicht berücksichtigt wird, mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und der steuerlichen Neutralität oder mit Art. 27 Abs. 1 der Sechsten Richtlinie nicht unvereinbar.

f)  Ergebnis zur ersten Frage

90.

Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor, auf die erste Frage des vorlegenden Gerichts wie folgt zu antworten:

Weder die abweichende Maßnahme noch – vorbehaltlich der abschließenden Beurteilung durch das vorlegende Gericht – die diese Entscheidung umsetzenden nationalen Maßnahmen verletzen die Grundsätze der Verhältnismäßigkeit und der steuerlichen Neutralität oder verstoßen gegen Art. 27 Abs. 1 der Sechsten Richtlinie oder Art. 395 der Richtlinie 2006/112, soweit diese Entscheidung und diese nationalen Maßnahmen dazu führen, dass Mehrwertsteuer auf den Normalwert von Produkten erhoben wird, die von nicht mehrwertsteuerpflichtigen Wiederverkäufern vertrieben werden, ohne dass eine nicht erstattungsfähige Vorsteuer auf Vorführartikel oder andere Waren und Dienstleistungen, die diese Wiederverkäufer von Dritten erworben haben, berücksichtigt wird.

2.   Zur vierten Frage

91.

Im Wesentlichen fragt das vorlegende Gericht mit seiner vierten Frage, ob mit der „hinterzogenen oder umgangenen“ Steuer i) die Nettosteuer unter Berücksichtigung der Ausgangssteuer und der Vorsteuer in der zur Hinterziehung bzw. Umgehung führenden Struktur oder ii) die Bruttosteuer unter Berücksichtigung lediglich der Ausgangssteuer gemeint ist?

92.

Da die erste Frage verneint wurde, ist die vierte Frage nicht zu prüfen.

3.   Zur zweiten Frage

93.

Art. 27 Abs. 2 der sechsten Richtlinie sieht vor, dass ein Mitgliedstaat, der eine Abweichung einführen möchte, „der Kommission … alle erforderlichen Angaben [übermittelt]“. Mit seiner zweiten Frage möchte das nationale Gericht im Wesentlichen wissen, ob das Vereinigte Königreich aufgrund dieser Bestimmung das Problem der nicht erstattungsfähigen Vorsteuer in diesem Fall hätte ansprechen müssen, damit es in der abweichenden Maßnahme hätte berücksichtigt werden können.

a)  Zulässigkeit

94.

Die Regierung des Vereinigten Königreichs macht geltend, dass die zweite Frage unzulässig sei. Es sei unklar, warum die Frage gestellt werde, der Gerichtshof habe nicht den nötigen tatsächlichen und rechtlichen Hintergrund, um sie beantworten zu können, und außerdem sei die Frage hypothetisch.

95.

Ich stimme dem nicht zu.

96.

Zunächst weise ich darauf hin, dass eine Vermutung für die Entscheidungserheblichkeit der Vorlagefragen nationaler Gerichte an den Gerichtshof spricht ( 38 ). Im vorliegenden Fall scheint es entgegen den Argumenten der Regierung des Vereinigten Königreichs recht eindeutig, warum das vorlegende Gericht seine zweite Frage stellt und warum die Antwort Auswirkungen auf den Ausgang der Rechtssache haben könnte.

97.

Würde Art. 27 der Sechsten Richtlinie einem Mitgliedstaat eine Rechtspflicht auferlegen, der Kommission im Rahmen eines Antrags auf eine Abweichung konkrete Angaben zu übermitteln, leuchtet mir ein, warum das Fehlen solcher Angaben Auswirkungen auf die Gültigkeit der letztlich gewährten Abweichung haben könnte.

98.

Zum Fehlen hinreichender Anhaltspunkte für eine sachdienliche Beantwortung der Frage durch den Gerichtshof verweist die Regierung des Vereinigten Königreichs insbesondere auf ein Schreiben von Avon an HMRC, in dem das Unternehmen die Frage der „entgangenen Vorsteuer“ anspricht, und macht geltend, der Gerichtshof sei nicht in der Lage, die Bedeutung einzuschätzen, die diesem Schreiben hätte beigemessen werden müssen. Meines Erachtens möchte das vorlegende Gericht jedoch mit der zweiten Frage auf einer grundsätzlicheren Ebene wissen, ob eine Verpflichtung bestand, gegenüber der Kommission bestimmte Fragen aufzuwerfen, und weniger, welche bestimmten tatsächlichen Angaben im vorliegenden Fall hätten übermittelt werden müssen.

99.

Schließlich macht die Regierung des Vereinigten Königreichs geltend, dass die zweite Frage hypothetisch sei, weil Angaben zu den bei Direktvertriebshändlern angefallenen Kosten nur in Bezug auf eine Abweichung von den normalerweise auf den Vorsteuerabzug anwendbaren Regeln nach Art. 17 der Sechsten Richtlinie erheblich wären. Im vorliegenden Fall sei jedoch keine solche Abweichung beantragt worden.

100.

Hierzu genügt die Feststellung, dass mit diesem Argument das Pferd von hinten aufgezäumt wird. Bei der Feststellung, ob eine rechtliche Verpflichtung besteht, bestimmte Angaben nach Art. 27 zu übermitteln, ist die Hauptfrage gerade, ob diese wirklich relevant sind.

101.

Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor, das Vorbringen der Regierung des Vereinigten Königreichs zur Unzulässigkeit zurückzuweisen und die zweite Frage für zulässig zu erklären.

b)  Zur Begründetheit

102.

Zunächst trifft es zu, dass der Gerichtshof im Urteil Direct Cosmetics II die Gültigkeit des Beschlusses 85/389 des Rates – des von 1985 bis 1987 geltenden Vorläufers der abweichenden Maßnahme – bestätigt und dabei entschieden hat, dass „in der Mitteilung des Vereinigten Königreichs an die Kommission ausreichend auf die Bedürfnisse hingewiesen [wurde], denen mit der beantragten Maßnahme entsprochen werden sollte; sie enthielt auch alle für die Feststellung des verfolgten Ziels wesentlichen Angaben“ ( 39 ).

103.

Dieses Urteil entscheidet jedoch das in der zweiten Frage des nationalen Gerichts aufgeworfene Problem nicht endgültig, da es formal eine frühere – wenn auch sehr ähnliche und mit der abweichenden Maßnahme zusammenhängende – vom Vereinigten Königreich beantragte Abweichung betraf. Wie Avon betont, beurteilte der Gerichtshof die Frage, ob die Angaben ausreichend“ waren, auch nicht unter dem Gesichtspunkt der steuerlichen Neutralität.

104.

Art. 27 Abs. 2 enthält meines Erachtens jedenfalls kein Erfordernis, Angaben wie die in der zweiten Frage des vorlegenden Gerichts enthaltenen zu übermitteln.

105.

Art. 27 Abs. 2 der Sechsten Richtlinie legt solche spezifischen Anforderungen nicht ausdrücklich fest. Ich stimme auch mit der Kommission überein, dass ein Antrag auf eine Abweichung – zumindest bis zu einem gewissen Grad – naturgemäß abstrakt formuliert sein muss.

106.

Zugegebenermaßen schließen diese Gesichtspunkte allein kein implizites Erfordernis der Übermittlung konkreter Angaben aus, die beispielsweise bedeutende Auswirkungen auf die Höhe der von der Abweichung betroffenen Kosten hätte. Letztlich halte ich es jedoch nicht für notwendig, die genauen Umrisse des Informationserfordernisses nach Art. 27 Abs. 2 zu erörtern.

107.

Avon argumentiert im Einzelnen, dass das Vereinigte Königreich verpflichtet gewesen sei, der Kommission entweder mitzuteilen, dass i) die nicht als steuerpflichtig eingetragenen Wiederverkäufer Mehrwertsteuer auf den Erwerb von Verkaufshilfen und/oder auf andere relevante Eingangsumsätze zu zahlen hätten, die sie für ihre Wirtschaftstätigkeit benutzen, oder sie darüber zu informieren, dass ii) das Vereinigte Königreich die abweichende Maßnahme so auslege, dass es nicht möglich sei, einem Direktanbieter bei der Berechnung der auf der Grundlage des Verkaufspreises des nicht als steuerpflichtig eingetragenen Wiederverkäufers von dem Direktanbieter zu zahlenden Mehrwertsteuer eine Ermäßigung für die bei dem nicht als steuerpflichtig eingetragenen Wiederverkäufer entstandene Ausgangssteuer auf Verkaufshilfen und/oder andere relevante Eingangsumsätze zu gewähren.

108.

Meiner Meinung nach war das Vereinigte Königreich aus einem einfachen Grund nicht verpflichtet, irgendeinen dieser beiden Punkte ausdrücklich anzusprechen, um den Anforderungen von Art. 27 Abs. 2 der Sechsten Richtlinie zu genügen: Beide Punkte sind offensichtlich, da sie entweder dem Mehrwertsteuersystem innewohnen (erster Punkt) oder angesichts des Umfangs der beantragten Abweichung vollkommen logisch und vorhersehbar sind (zweiter Punkt).

109.

In Bezug auf den ersten Punkt ist es schwierig, sich einen Wirtschaftsbeteiligten vorzustellen, dem in Verbindung mit seinem Geschäft keine Eingangskosten entstehen, unabhängig davon, wie geringfügig seine Tätigkeit ist. Darüber hinaus ist die Verrechnung der Vorsteuer mit der Ausgangssteuer eine derart grundsätzliche Eigenart des Mehrwertsteuersystems, dass es sich eindeutig nicht um einen Punkt handelt, der der Kommission gegenüber ausdrücklich angesprochen werden muss.

110.

Was den zweiten Punkt angeht, so wurde die abweichende Maßnahme in Bezug auf Art. 11 Teil A Abs. 1 Buchst. a der Sechsten Richtlinie beantragt und gewährt. Daher und aus den oben in den Nrn. 50 bis 54 erläuterten Gründen sollte für die Kommission klar gewesen sein, dass jegliche Berücksichtigung einer fiktiven Vorsteuer im Rahmen der abweichenden Maßnahme ausgeschlossen war.

111.

Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor, auf die zweite Frage wie folgt zu antworten:

Als das Vereinigte Königreich beim Rat eine Ermächtigung für die abweichende Maßnahme beantragte, die mit der Entscheidung 89/534 des Rates gewährt wurde, war es nicht verpflichtet, die Kommission darüber zu informieren, dass nicht steuerpflichtige Wiederverkäufer Mehrwertsteuern auf den Erwerb von Waren zu zahlen haben, die sie für die Zwecke ihrer Wirtschaftstätigkeit nutzen.

4.   Dritte Frage

112.

Das vorlegende Gericht stellt seine dritte Frage nur für den Fall der Bejahung der ersten und/oder der zweiten Frage.

113.

Da ich vorschlage, die erste und die zweite Frage zu verneinen, braucht die dritte Frage nicht beantwortet zu werden.

V. Schlussfolgerung

114.

In Anbetracht der vorstehenden Erwägungen schlage ich dem Gerichtshof vor, die Fragen des First-tier Tribunal (Tax chamber) (Gericht erster Instanz [Steuerkammer], Vereinigtes Königreich) wie folgt zu beantworten:

Erste Frage

Weder die Abweichung, zu der das Vereinigte Königreich mit der Entscheidung des Rates 89/534/EWG vom 24. Mai 1989 zur Ermächtigung des Vereinigten Königreichs zur Anwendung einer Sondermaßnahme bezüglich bestimmter Lieferungen an nichtsteuerpflichtige Wiederverkäufer in Abweichung von Artikel 11 Teil A Absatz 1 Buchstabe a) der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern ermächtigt wurde, noch – vorbehaltlich der abschließenden Beurteilung durch das vorlegende Gericht – die diese Entscheidung umsetzenden nationalen Maßnahmen verletzen die Grundsätze der Verhältnismäßigkeit und der steuerlichen Neutralität oder verstoßen gegen Art. 27 Abs. 1 der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage oder Art. 395 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem, soweit diese Entscheidung und diese nationalen Maßnahmen dazu führen, dass Mehrwertsteuer auf den Normalwert von Produkten erhoben wird, die von nicht mehrwertsteuerpflichtigen Wiederverkäufern vertrieben werden, ohne dass eine nicht erstattungsfähige Vorsteuer auf Vorführartikel oder andere Waren und Dienstleistungen, die diese Wiederverkäufer von Dritten erworben haben, berücksichtigt wird.

Zweite Frage

Als das Vereinigte Königreich beim Rat eine Ermächtigung für die abweichende Maßnahme beantragte, die mit der Entscheidung 89/534 des Rates gewährt wurde, war es nicht verpflichtet, die Kommission darüber zu informieren, dass nicht steuerpflichtige Wiederverkäufer Mehrwertsteuern auf den Erwerb von Waren zu zahlen haben, die sie für die Zwecke ihrer Wirtschaftstätigkeit nutzen.

Dritte und vierte Frage

Angesichts der Antworten auf die erste und die zweite Frage brauchen die dritte und die vierte Frage nicht beantwortet zu werden.


( 1 ) Originalsprache: Englisch.

( 2 ) Sechste Richtlinie des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage (ABl. 1977, L 145, S. 1).

( 3 ) Richtlinie des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. 2006, L 347, S. 1).

( 4 ) Art. 2 der Mehrwertsteuerrichtlinie.

( 5 ) Art. 9 der Mehrwertsteuerrichtlinie.

( 6 ) Art. 73 der Mehrwertsteuerrichtlinie.

( 7 ) Art. 395 der Mehrwertsteuerrichtlinie. Der Wortlaut von Art. 395 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie weicht leicht und unerheblich von dem des Art. 27 Abs. 1 der Sechsten Richtlinie ab.

( 8 ) Entscheidung des Rates vom 24. Mai 1989 zur Ermächtigung des Vereinigten Königreichs zur Anwendung einer Sondermaßnahme bezüglich bestimmter Lieferungen an nichtsteuerpflichtige Wiederverkäufer in Abweichung von Artikel 11 Teil A Absatz 1 Buchstabe a) der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern (ABl. 1989, L 280, S. 54).

( 9 ) Vgl. in diesem Sinne Urteile vom 19. September 2000, Ampafrance und Sanofi (C-177/99 und C-181/99, EU:C:2000:470, Rn. 68), und vom 27. Januar 2011, Vandoorne (C-489/09, EU:C:2011:33, Rn. 33).

( 10 ) Wie der Gerichtshof bereits ausdrücklich bestätigt hat, ist dies der Fall bei Vereinfachungsmaßnahmen. Vgl. beispielsweise Urteile vom 29. April 2004, Sudholz (C-17/01, EU:C:2004:242, Rn. 62), und vom 27. Januar 2011, Vandoorne (C-489/09, EU:C:2011:33, Rn. 31). Es gilt jedoch gleichermaßen für alle Abweichungen.

( 11 ) Eine von der Kommission zusammengestellte Übersicht bestehender Abweichungen und der Bestimmungen, auf die sie sich beziehen, findet sich auf https://ec.europa.eu/taxation_customs/sites/taxation/files/resources/documents/taxation/vat/key_documents/table_derogations/vat_index_derogations_en.pdf.

( 12 ) Urteil vom 10. April 1984, Kommission/Belgien (324/82, EU:C:1984:152, Rn. 29). Vgl. auch Urteil vom 29. Mai 1997, Skripalle (C-63/96, EU:C:1997:263, Rn. 24).

( 13 ) Urteile vom 19. September 2000, Ampafrance und Sanofi (C-177/99 und C-181/99, EU:C:2000:470, Rn. 60), und vom 29. April 2004, Sudholz (C-17/01, EU:C:2004:242, Rn. 46).

( 14 ) Urteil vom 12. Juli 1988, Direct Cosmetics und Laughtons Photographs (138/86 und 139/86, EU:C:1988:383, Rn. 52).

( 15 ) Siehe Nrn. 40 und 41 der vorliegenden Schlussanträge.

( 16 ) 85/369/EWG: Anwendung von Artikel 27 der sechsten Mehrwertsteuerrichtlinie des Rates vom 17. Mai 1977 (Genehmigung einer vom Vereinigten Königreich beantragten abweichenden Maßnahme zur Verhinderung bestimmter Steuerumgehungen) (ABl. 1985, L 199, S. 60).

( 17 ) Urteil vom 12. Juli 1988, Direct Cosmetics und Laughtons Photographs (138/86 und 139/86, EU:C:1988:383, Rn. 53).

( 18 ) Art. 167 der Mehrwertsteuerrichtlinie.

( 19 ) Oder zumindest ihre Anwendung durch das Vereinigte Königreich.

( 20 ) Urteil vom 21. Februar 2006, Halifax u. a. (C-255/02, EU:C:2006:121, Rn. 73).

( 21 ) Vgl. auch die oben in Fn. 10 angeführte Rechtsprechung.

( 22 ) Urteile vom 19. September 2000, Ampafrance und Sanofi (C-177/99 und C-181/99, EU:C:2000:470, Rn. 60), und vom 29. April 2004, Sudholz (C-17/01, EU:C:2004:242, Rn. 46).

( 23 ) Siehe Nr. 44 der vorliegenden Schlussanträge.

( 24 ) Vgl. in diesem Sinne auch Urteil vom 12. Juli 1988, Direct Cosmetics und Laughtons Photographs (138/86 und 139/86, EU:C:1988:383, Rn. 48), bezüglich der vorangegangenen abweichenden Maßnahme (Entscheidung des Rates 85/369).

( 25 ) Vgl. Urteil vom 12. Juli 1988, Direct Cosmetics und Laughtons Photographs (138/86 und 139/86, EU:C:1988:383, Rn. 39).

( 26 ) Siehe oben, Nr. 27.

( 27 ) Siehe oben, Fn. 13.

( 28 ) Vgl. in diesem Sinne den Verweis auf „objektive Umstände“ im Urteil vom 29. Mai 1997, Skripalle (C-63/96, EU:C:1997:263, Rn. 26).

( 29 ) Vgl. in diesem Sinne Urteil vom 29. April 2004, Sudholz (C-17/01, EU:C:2004:242, Rn. 63).

( 30 ) Siehe Nr. 60 der vorliegenden Schlussanträge.

( 31 ) Vgl. in diesem Sinne Urteil vom 12. Juli 1988, Direct Cosmetics und Laughtons Photographs (138/86 und 139/86, EU:C:1988:383, Rn. 52).

( 32 ) Richtlinie des Rates vom 20. Januar 2004 zur Änderung der Richtlinie 77/388 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem bezüglich des Verfahrens zur Annahme von Ausnahmeregelungen und der Zuweisung von Durchführungsbefugnissen (ABl. 2004, L 27, S. 44).

( 33 ) Hervorhebung nur hier.

( 34 ) Urteil vom 27. Januar 2011, Vandoorne (C-489/09, EU:C:2011:33).

( 35 ) Der Fall betraf eine Abweichung, der zufolge die Mehrwertsteuer auf Zigaretten auf der Grundlage des erwarteten Endverkaufspreises (Steuerzeichen) im Voraus vom Hersteller gezahlt wurde. Aufgrund der Insolvenz eines ihrer Kunden und Nichtzahlung durch diesen Kunden begehrte Vandoorne Erstattung eines an ihren Lieferanten gezahlten Geldbetrags in Höhe dieser Mehrwertsteuer (genau genommen handelte es sich nicht um die Mehrwertsteuer, denn diese war bereits vom Hersteller gezahlt worden, aber diese Kosten waren in der Lieferkette auf Vandoorne abgewälzt worden).

( 36 ) Urteil vom 10. November 2011, Rank Group (C-259/10 und C-260/10, EU:C:2011:719, Rn. 41 und 42).

( 37 ) Vgl. in diesem Sinne Urteil vom 12. Juli 1988, Direct Cosmetics und Laughtons Photographs (138/86 und 139/86, EU:C:1988:383, Rn. 49).

( 38 ) Vgl. z. B. Urteil vom 11. November 2015, Pujante Rivera (C-422/14, EU:C:2015:743, Rn. 20).

( 39 ) Urteil vom 12. Juli 1988, Direct Cosmetics und Laughtons Photographs (138/86 und 139/86, EU:C:1988:383, Rn. 36).